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Rahel Rosa Neubauer - Collegium Carolinum

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RAHEL ROSA NEUBAUER: DISSERTATIONSPROJEKT 1<br />

<strong>Rahel</strong> <strong>Rosa</strong> <strong>Neubauer</strong><br />

Die Sozialisation der Autorin Irma (Miriam) Singer<br />

im Umfeld der Prager KulturzionistInnen<br />

als Entstehungshintergrund ihrer jüdischen Märchen<br />

Dissertationsprojekt an der Universität Wien<br />

(Betreuer: Univ. Doz. Mag. Dr. Ernst Seibert, Institut für Germanistik, Abteilung<br />

für Kinder- und Jugendliteraturforschung)<br />

Irma/Miriam Singer (Tochovice 1898-1989 Deganya)<br />

Das Leben und Schaffen der Schriftstellerin, Lyrikerin, Journalistin, Übersetzerin, Chaluza<br />

und Kibbuz-Kindergärtnerin Irma Singer aus Prag, die 1920 gemeinsam mit Hugo<br />

Bergmann nach Palästina emigrierte, ist in der Geschichtsforschung wie auch in der Literaturwissenschaft<br />

bis heute völlig unbekannt geblieben. Und das, obwohl ihr Leben und<br />

Werk in vielerlei Hinsicht hochinteressante Aspekte zur deutsch-jüdischen Literatur, zum<br />

deutschsprachigen Judentum in Prag, zur Situation der deutschsprachigen Juden in Palästina<br />

und nicht zuletzt zur gesellschaftlichen Entwicklung des „Vorzeigekibbuz“ Deganya<br />

liefert.<br />

Sie nahm zwei Jahre lang mit Franz Kafka und Felix Weltsch bei Jiřί Langer, einem Verwandten<br />

Max Brods, Privatunterricht in Hebräisch, gehörte zum Kreis um Max Brod und<br />

die Familie Hugo Bergmann, nahm an Diskussionen mit Martin Buber teil und führte A.<br />

D. Gordon, mit dem sie später ebenso wie mit der israelischen Dichterin Rachel in derselben<br />

Unterkunft im Kibbuz Deganya lebte, durch Prag. Briefe von ihr an andere Wandrerinnen<br />

des „Jüdischen Wanderbundes Blau-Weiß“ wurden von Siegfried Bernfeld in einer<br />

seiner Zeitschriften für die jüdische Jugend abgedruckt; ihre 1918 erstmals publizierte<br />

Sammlung jüdischer Märchen stellte für Schalom Ben Chorin einen wesentlichen Anstoß<br />

für das „Entdecken“ seiner jüdischen Identität dar. Ihre Reportagen für diverse europäische<br />

und israelische Periodika sowie ihre Gedichte liefern einen einzigartigen Eindruck<br />

vom Leben in Deganya, dem ersten Kibbuz Erez Israels, wo sie mit ihrem Mann, dem<br />

Chaluz Ja’akov Berkovič, beinahe siebzig Jahre lang lebte und arbeitete. Sie führte als<br />

deutschsprachige Chaluza Albert Einstein und T. G. Masaryk durch den Kibbuz, lernte<br />

Lord Balfour und Max Warburg kennen. Ihre in Europa bis heute vollkommen unbekannten<br />

Veröffentlichungen stellen einen wesentlichen Beitrag zur Kibbuzliteratur dar.<br />

Nur vereinzelt wurden im Laufe der vergangenen zehn Jahre Teile ihres literarischen<br />

Schaffens rezipiert. Ihr Bericht über den Hebräisch-Unterricht mit Franz Kafka war und ist<br />

für die Kafka-Forschung von großem Interesse; für die Golem-Forschung ist von Bedeutung,<br />

dass sie 1918, drei Jahre nach Erscheinen des Romans Gustav Meyrinks, die erste<br />

Bearbeitung des Golem-Stoffes in der Gattung Märchen lieferte.<br />

Im Rahmen der Projekt-Vorarbeiten konnte nun der Nachlass der Autorin aufgefunden<br />

werden, der die Grundlage für eine umfassende biobibliographische Darstellung liefert.<br />

Stand der Forschung zur jüdischen Kinder- und Jugendliteratur<br />

Von der noch jungen Forschung zur jüdischen Kinder- und Jugendliteratur wurde in den<br />

vergangenen fünfzehn Jahren die Bedeutung des kinderliterarischen Werkes Irma bzw.<br />

später Miriam Singers erkannt und gewürdigt. Ihre Märchensammlung Das verschlossene<br />

Buch von 1918 1 , zu deren Publikation sie niemand Geringerer als Max Brod ermutigte, der<br />

1 Singer, Irma: Das verschlossene Buch. Jüdische Märchen [Nachwort von Max Brod], 1. Ausg. illustr. v.<br />

12. Münchner Bohemisten-Treffen, 7. März 2008 — Exposé Nr. 25


<strong>Rahel</strong> <strong>Rosa</strong> <strong>Neubauer</strong> 2<br />

auch den Kontakt zum Wiener Verlag R. Löwit herstellte, stellt ein herausragendes Beispiel<br />

jüdischer Kunstmärchen im 20. Jahrhundert dar und gilt als eines der Werke, die die<br />

Gattung der zionistischen Kinderliteratur überhaupt erst begründeten. Ihr Kinderroman<br />

Benni fliegt ins Gelobte Land von 1936 2 ist das erste in Österreich-Ungarn erschienene<br />

Werk dieser Gattung und zählt zu einem der bedeutendsten Romane zionistischer Kinderliteratur.<br />

Die vom Keren Kaijemet Lejisrael in der Reihe „Heimat. Palästina-Bibliothek für Kinder“<br />

beim jungen Tel Aviver Omanuth-Verlag herausgegebene Erzählung Die Sage von Dilb 3<br />

ist eines der ersten Kinderbücher im deutschsprachigen Raum, in der die „blaue Büchse“<br />

des Jüdischen Nationalfonds als Motiv vorkommt (warum das Exemplar der Deutschen<br />

Bücherei Leipzig den Stempel „Geheim“ erhielt, wird noch zu eruieren sein). Völlig unbeachtet<br />

jedoch und im europäischen Bibliothekenverbund nicht vorhanden blieb bisher<br />

allerdings Kelle und Schwert. Aus den Heldentagen von Dagania 4 , das einen Beitrag zum<br />

Einsatz für friedliches Miteinander zwischen den jüdischen Siedlern und den palästinensischen<br />

Bewohnern des Landes darstellte.<br />

Noch vollkommen unbekannt ist der europäischen Forschung zur jüdischen Kinderliteratur<br />

bislang der zweite, außerordentlich bedeutende Teil des (kinder-)literarischen Schaffens<br />

Irma (nunmehr Miriam) Singers. In sämtlichen bisherigen Bibliographien fehlen ihre<br />

zahlreichen Werke, die nach 1936 erschienen. Nach der Ermordung ihres Wiener Verlegers<br />

durch die Nationalsozialisten wurden ihre Werke nie wieder im deutschsprachigen<br />

Originaltext, sondern nurmehr in hebräischer und zum Teil in französischer und italienischer<br />

Übersetzung publiziert. Es ist dringend an der Zeit, die in der einschlägigen Forschung<br />

bis heute immer wieder kolportierten fälschlichen bio- und bibliographischen Daten<br />

zu korrigieren und zu ergänzen.<br />

Israelisches Archivmaterial und Quellenrecherche<br />

Während einiger Forschungsaufenthalte in Israel konnte der literarische Nachlass Irma<br />

Singers in diversen israelischen Archiven aufgefunden und gesichtet werden. Mittels dieser<br />

Archivalien sowie ausführlicher Gespräche mit ihrem jüngsten Sohn kann erstmals die<br />

Biographie Irma Singers nachgezeichnet sowie eine vollständige Bibliographie ihrer Publikationen<br />

erstellt werden. Das aufgefundene Archivmaterial belegt eine aktive und engagierte<br />

Tätigkeit der jungen Autorin im Umfeld der Prager KulturzionistInnen. Sie war seit<br />

1916 Mitglied des Prager „Jüdischen Wanderbundes Blau-Weiß“ und stand damit in engem<br />

Kontakt zum Jüdischen Turnverein „Makkabi“, zum „Verein jüdischer Hochschüler<br />

Bar-Kochba“ sowie zum „Klub jüdischer Frauen und Mädchen“ und gehörte seit 1918<br />

zum engeren Kreis der Familie Hugo Bergmann, mit der sie Anfang 1920 gemeinsam<br />

nach Palästina auswanderte und bei der sie das erste halbe Jahr in Jerusalem lebte. Im<br />

Rahmen intensiver Quellenrecherche vor allem der Prager „Selbstwehr“, der „Blau-Weiß-<br />

Blätter“ und der „Jüdischen Turnzeitung“ konnten zu allen der genannten Prager Vereine<br />

bislang unbekannte Informationen eruiert und neue Erkenntnisse gewonnen werden.<br />

Interdisziplinäre Methodik<br />

Bei diesem Dissertationsprojekt werden Methoden der Geschichts-, insbesondere der Exil-<br />

Agathe Löwe, Wien/Berlin: Löwit 1918; 2. Ausg. illustr. v. Jakob Löw, Wien/Berlin: 1920; 3. Ausg. illustr.<br />

v. Kosel-Gibson, Wien/Leipzig: Löwit 1925.<br />

2<br />

Singer, Mirjam: Benni fliegt ins Gelobte Land. Ein Buch für jüdische Kinder, illustr. v. Franz Reisz,<br />

Wien/Jerusalem: Löwit 1936.<br />

3<br />

Singer, Irma: Die Sage von Dilb, illustr. v. G. [Grete] Wolf Krakauer, hg. v. KKL Jerusalem u. „Omanuth“,<br />

Tel Aviv, Copyright 1935 [Bd.1 der Reihe Heimat. Palästina-Bibliothek für Kinder].<br />

4<br />

Singer, Irma: Kelle und Schwert. Aus den Heldentagen von Dagania, illustr. v. Otte [Otto] Wallisch hg. v.<br />

KKL Jerusalem u. „Omanuth“, Tel Aviv, Copyright [Bd. 3 der Reihe Heimat. Palästina-Bibliothek für<br />

Kinder].


RAHEL ROSA NEUBAUER: DISSERTATIONSPROJEKT<br />

und Biographieforschung, der Germanistik sowie der Komparatistik, vor allem der „Vergleichenden<br />

Sozialgeschichte der Literaturen“, kombiniert. Es sollen die sozialhistorischen,<br />

gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der Autorin, die in einer<br />

Zeit der aufgrund des zunehmenden Antisemitismus sich zunehmend ändernden Lebensbedingungen<br />

zu publizieren begann, untersucht werden. Es ist Ziel des Projekts, die Kinderliteratur<br />

Irma Singers in ihrem kulturellen Kontext und als Form ihrer Auseinandersetzung<br />

mit der Frage nach Identität und einer erfüllenden Lebensform zu erfassen. Die Bedeutung<br />

ihrer Kinderbücher als zeitgeschichtliche Dokumente soll herausgearbeitet werden<br />

– sie sollten Mut und Selbstbewusstsein der jüdischen Kinder stärken, ihnen Perspektiven<br />

geben und mit der Vorstellung Erez Israels konkrete Alternativen zum Alltag in Europa,<br />

wo sie als Juden stets Fremde blieben, aufzeigen.<br />

Aber nicht nur das literarische Werk Irma Singers ist hochinteressant und Ausdruck einer<br />

bedeutenden kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Bewegung des deutschsprachigen<br />

Judentums – auch ihr Prager Freundeskreis und die Institutionen, denen sie angehörte,<br />

das soziale Umfeld, in dem sie bis zu ihrer Auswanderung 1920 aktiv und äußerst<br />

engagiert wirkte, ist von außerordentlichem Interesse sowohl für die Literaturwissenschaft<br />

als auch für die Geschichtsforschung. So war sie seit ihrer frühen Jugend Wandrerin des<br />

Prager „Jüdischen Wanderbundes Blau-Weiß“, engagierte sich in dessen sozialen und kulturellen<br />

Einrichtungen, vor allem im Rahmen der galizischen Flüchtlingshilfe, und publizierte<br />

in der Monatsschrift „Blau-Weiß-Blätter“. Damit gehörte sie zu den sogenannten<br />

Prager KulturzionistInnen und stand in engem Kontakt mit den Mitgliedern und Aktivitäten<br />

des „Jüdischen Turnvereins Makkabi“, des „Klubs jüdischer Hochschüler Bar Kochba“<br />

und des „Klubs jüdischer Frauen und Mädchen“ bzw. des „Mädchenklubs“. In diesem<br />

Zusammenhang wird zudem ein ganz neuer „Prager Kreis“ offenbar, bestehend aus aktiven<br />

und engagierten jüdischen Mädchen und Frauen.<br />

Der Beitrag der Prager KulturzionistInnen zur Schaffung jüdischer Kinderliteratur<br />

Auch zu diesem Aspekt konnten im Zuge des Dissertationsprojekts ganz neue Erkenntnisse<br />

gewonnen werden. Weder der Vorreiterrolle Prags in der jüdischen Jugendschriftendebatte<br />

noch dem Mitwirken Max Brods und Hugo Bergmanns in Salman Schockens Berliner<br />

Kulturausschuss wurden bisher eigene Studien gewidmet.<br />

„Kulturarbeit“ war für alle zionistischen Organisationen Prags ein wichtiges Anliegen.<br />

Die bedeutendste Institution des „Kulturzionismus“, der „Verein für jüdische Hochschüler<br />

Bar Kochba“ war sich bereits früh bewusst, dass die „Beschaffung von Materialien zur<br />

jüdischen Jugenderziehung“ 5 der nationaljüdischen Bewegung ein großes Anliegen sein<br />

musste. Im August 1913 forderte der Bundesbruder Hugo Herrmann in der von den „Barkochbanern“<br />

herausgegebenen und für die Zielsetzung des Kulturzionismus programmatischen<br />

Schrift „Vom Judentum“, „eine Sammlung von Märchen“ sowie „Sagen, Erzählungen,<br />

Romane und Novellen als eine jüdische Jugend-Bücherei [zu] schaffen“ 6 . Einige Monate<br />

später hielt der langjährige Obmann Hugo Bergmann ein „Kulturreferat“ auf dem<br />

böhmischen Distriktstag der Zionistischen Organisation, in dem er erneut ganz konkret<br />

forderte, „der jüdischen Mutter sagen [zu] können, welche Märchen sie ihren Kindern erzählen,<br />

welche Bilderbücher sie ihnen zeigen kann“ 7 . Um eine Sichtung und Zusammenstellung<br />

geeigneter jüdischer Kinderliteratur durchführen zu können, forderte er die Einrichtung<br />

eines zionistischen Kulturrates unter der Leitung einer Kulturkommission als<br />

5<br />

Bericht der 39. Ordentlichen Semestral-Generalversammlung des Bar Kochba unter dem Obmann Robert<br />

Weltsch, Selbstwehr, Jg. 6, Nr. 10, 8.3.1912, S. 3f.<br />

6<br />

Herrmann, Hugo: Erziehung im Judentum, in: Vom Judentum. Ein Sammelbuch, hg. v. Verein jüdischer<br />

Hochschüler Bar Kochba, Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1913, S. 186-191, hier S. 188f.<br />

7<br />

Bergmann, Hugo: Die zionistische Kulturarbeit in Böhmen, in: Selbstwehr, 7. Jg., Nr. 49 (5.12.1913), S.<br />

2f., hier S. 3.<br />

3


<strong>Rahel</strong> <strong>Rosa</strong> <strong>Neubauer</strong> 4<br />

Arbeitskommission. In die Kulturkommission wurden führende Bar-Kochba-Mitglieder<br />

gewählt, in den Kulturrat u.a. der Herausgeber der Zeitschrift „Jung Juda“ für jüdische<br />

Kinder und Jugendliche, Filipp Lebenhart.<br />

Im Dezember hielt auf dem Delegiertentag der Zionistischen Vereinigung für Deutschland<br />

Salman Schocken, der spätere Verleger des gleichnamigen jüdischen Verlages, ein „Kulturreferat“,<br />

in dem er die Einrichtung eines „Hauptausschusses für Kultur-Arbeiten“ forderte,<br />

der die Finanzierung von „geistigen Arbeitern“ im Bereich Wissenschaft und Literatur<br />

sicherstellen und deren Forschungen initiieren und fördern sollte. Eine von Schockens<br />

diesbezüglichen Forderungen lautete, „Bücher für den Gebrauch unserer Jugend herauszugeben“.<br />

8 Mitglieder dieses Kulturausschusses wurden neben den Deutschen Schocken,<br />

Buber, Blumenfeld und Calvary auch die Prager Hugo Bergmann und Max Brod.<br />

Im Juni 1917 wurde von diesem Berlin-Prager Kulturausschuss ein „Preisausschreiben für<br />

jüdische Jugenderzählungen“ mit den Preisrichtern Buber, Calvary und Brod veranstaltet,<br />

die in der Folge in der vom Ausschuss gegründeten Reihe „Jüdische Jugendbücher“ veröffentlicht<br />

wurden.<br />

Auch die enge Zusammenarbeit der Prager KulturzionistInnen sowohl mit dem Wiener<br />

Pädagogen Siegfried Bernfeld als auch mit dem Verleger des Wiener Löwit-Verlages sowie<br />

die jüdische Jugendzeitschrift „Jerubbaal“ als Gemeinschaftswerk Prager und Wiener<br />

ZionistInnen stellen ganz neue Forschungsergebnisse dar.<br />

Gründung des Prager „Jüdischen Wanderbundes Blau-Weiß“<br />

Im Zuge der Recherchen für das Dissertationsprojekt konnte die Gründung des Blau-Weiß<br />

Prag (ebenso wie Blau-Weiß Wien eine Ortsgruppe des Österreichischen Bundes) aufgearbeitet<br />

werden. Diese wird weder in Hackeschmidts Studie zum deutschen Blau-Weiß 9<br />

noch in Meier-Cronemeyers ausführlicher Studie zur jüdischen Jugendbewegung 10 behandelt.<br />

Auch die jüngste detailreiche Studie Kateřina Čapkovás zu Prager zionistischen Vereinigungen<br />

11 streift diese nur, da sie sich auf die Zwischenkriegszeit konzentriert. Ebenso<br />

liegt nach derzeitigem Wissensstand auch in Israel keine diesbezügliche Studie vor. Der<br />

jüngste einschlägige Aufsatz „The Beginnings of ,Blau-Weiss’ in Bohemia“ von Richard<br />

Karpe 12 kann ebenfalls durch das neue Datenmaterial ergänzt werden.<br />

Zudem ergaben sich bislang nicht bekannte Aspekte wie das Engagement des Mitbegründers<br />

des Wiener Blau-Weiß, Sigmund Freuds Sohn Ernst Freud, sowie die Unterstützung<br />

durch Sigmund Freund und Felix Salten und die des Prager Blau-Weiß durch Berta Fanta<br />

und den Vater Max Brods.<br />

Der Prager „Klub jüdischer Frauen und Mädchen“<br />

Zu dem kulturzionistischen Umfeld, von dem Irma Singer geprägt wurde, gehörte neben<br />

dem Prager „Blau-Weiß“ und dem „Klub jüdischer Hochschüler ,Bar-Kochba’“ auch der<br />

„Klub jüdischer Frauen und Mädchen“, der von Else Bergmann, der Tochter Berta Fantas,<br />

geb. Sohr, und Frau Hugo Bergmanns, gegründet wurde. Die Vorsitzenden dieser zionisti-<br />

8<br />

Schocken, Salman: Referat über „Organisation und Inhalt der zionistischen Arbeit in Deutschland“, in:<br />

Jüdische Rundschau, Nr. 1, 5.1.1917, S. 2-4.<br />

9<br />

Hackeschmidt, Jörg: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation, Hamburg:<br />

Europäische Verlagsanstalt 1997.<br />

10<br />

Meier-Cronemeyer, Hermann: Jüdische Jugendbewegung, in: Germania Judaica. Kölner Bibliothek zur<br />

Geschichte des deutschen Judentums, N.F. 27/28, Jg. 8, H. 1/2, 1969, S. 1-56 u. N.F. 29/30, Jg. 8, H. 3/4,<br />

1969, S. 57-122.<br />

11<br />

Čapková, Kateřina: Specific Features of Zionism in the Czech Lands in the Interwar Period, in: Judaica<br />

Bohemiae 38 (2002), Prag: Židovské Muzeum v Praze 2003, S. 106-159.<br />

12<br />

Karpe, Richard: „The Beginnings of ,Blau-Weiss’ in Bohemia“, in: Rhapsody to Tchelet Lavan in<br />

Czechoslovakia, Israel: Association for the History of Tchelet Lavan - El Al in Czechoslovakia 1996, S.<br />

16-20.


RAHEL ROSA NEUBAUER: DISSERTATIONSPROJEKT<br />

schen Vereinigung waren u.a. Lise Weltsch (die Schwester von Robert Weltsch) und die<br />

Lyrikerin Trude Thieberger, besser bekannt unter dem Namen Gertrude Urzidil (Schwester<br />

von Nelly Thieberger, die, was in der Forschung meist meist nur am Rande erwähnt<br />

wird, während des Ersten Weltkrieges die Leitung der zionistischen Wochenschrift<br />

„Selbstwehr“ innehatte.<br />

Der Klub organisierte regelmäßig literarische Vortragsabende, an denen „das junge literarische<br />

Prag“ vorgestellt wurde, in deren Rahmen beispielsweise kurz zuvor oder noch gar<br />

nicht publizierte Texte des damals noch unbekannten Franz Kafka oder von Max Brod<br />

vorgetragen wurden und auf diese Weise junge Schriftsteller ein Forum bekamen.<br />

Mittels intensiver Quellenrecherche der „Selbstwehr“ wurde erstmals in der Forschung die<br />

Gründungsgeschichte dieses Vereins sowie dessen außerordentliche Bedeutung als literarisches<br />

Forum vor allem für die jungen AutorInnen des Prager Kreises aufgearbeitet. Die<br />

Bestände des Prager Periodikums weisen im deutschsprachigen Raum zumeist gravierende<br />

Lücken vor allem der entscheidenden Jahrgänge 1911-1915 auf; im Zuge der Projektvorarbeiten<br />

konnten glücklicherweise im Magazin der Österreichischen Nationalbibliothek<br />

die auf Mikrofilm ebenfalls fehlenden Jahrgänge in Druckform aufgefunden und wieder<br />

zugänglich gemacht werden.<br />

Auf diese Weise kann das Gründungsdatum, das von Irma Pollak in ihrem grundlegenden<br />

Aufsatz „The Zionist Women’s Movement“ 13 falsch kolportiert und seither in der einschlägigen<br />

Forschungsliteratur übernommen wurde, korrigiert und die Tätigkeit dieses<br />

Vereins umfassend dargelegt werden.<br />

Die tschechisch-deutsche Sprachproblematik der jüdischen Autorin<br />

2006 erschien in der Reihe „Veröffentlichungen des <strong>Collegium</strong> <strong>Carolinum</strong>“ der Band „Juden<br />

zwischen Deutschen und Tschechen. Sprachliche und kulturelle Identitäten 1800-<br />

1945“ 14 . Auch zu diesem Aspekt liefert der in Israel aufgefundene literarische Nachlass<br />

der Autorin anschauliches biographisches Material. Tschechischsprachig aufgewachsen,<br />

besuchte Irma Singer in Prag deutsche Schulen und bediente sich des Deutschen in der<br />

Folge als Schriftsprache, empfand dies allerdings als schwierigen „Dualismus“, den sie<br />

später in Palästina bzw. Israel wiederholt sah, als sie sich nunmehr des Hebräischen als<br />

mündliche Sprache bediente und weiterhin auf Deutsch schrieb.<br />

Folgeprojekt in Planung<br />

Im Rahmen eines weiteren, in Planung befindlichen Forschungsprojekts soll das Leben<br />

und Wirken der Prager Autorin in Israel nachgezeichnet werden. Im Rahmen dieses Folgeprojekts<br />

wären sollen folgende Themenschwerpunkte mitberücksichtigt werden:<br />

100 Jahre Deganya (2010)<br />

Als Korrespondentin diverser europäischer Periodika lieferte Irma/Miriam Singer zahlreiche<br />

Reportagen über Alltag und Entwicklung des Kibbuzlebens in Palästina/Israel. Als<br />

Erzieherin plante sie gemeinsam mit dem Architekten Leopold Kracauer den Neubau des<br />

13 Polak [recte Pollak], Irma: The Zionist Women’s Movement, in: The Jews of Czechoslovakia. Historical<br />

Studies and Surveys, Bd. 2, N.Y. 1971, S. 137-147.<br />

14 Juden zwischen Deutschen und Tschechen. Sprachliche und kulturelle Identitäten in Böhmen 1800-1945,<br />

hg. v. Marek Nekula u. Walter Koschmal, München 2006 [Veröffentlichungen des <strong>Collegium</strong> <strong>Carolinum</strong>,<br />

Bd. 104].<br />

5


<strong>Rahel</strong> <strong>Rosa</strong> <strong>Neubauer</strong> 6<br />

Kibbuz-Kindergartens, der als typisches Beispiel der Architektur Kracauers in Israel gilt.<br />

Ihre Erzählungen „Geschichten um Deganya“, die 1952 in hebräischer Übersetzung in Tel<br />

Aviv als Kinderbuch erschienen, wurden gemeinsam mit denen des Kibbuzbegründers<br />

Joseph Baratz in der Schweiz als Zeitzeugenberichte veröffentlicht. 15 Der hundertste Geburtstag<br />

des ersten Kibbuz Israels stellt einen idealen Anlass für eine entsprechende Publikation/Ausstellung/Tagung/Erstveröffentlichung<br />

von „Geschichten um Deganya“ dar.<br />

Über Kooperationsvorschläge bzw. mögliche Einbindungen in andere Projekte wäre ich<br />

sehr dankbar.<br />

Publikation der Werke Miriam Singers nach 1938<br />

Wie bereits dargelegt, wurden nach der Ermordung des Wiener Verlegers Irma/Miriam<br />

Singers durch die Nationalsozialisten ihre Werke nie wieder im deutschsprachigen Originaltext<br />

publiziert und blieben nicht nur der deutschsprachigen Öffentlichkeit, sondern<br />

auch der Forschung bislang vollkommen unbekannt. Die im Nachlass befindlichen<br />

deutschsprachigen Originaltyposkripte sollen im Rahmen einer neuen Reihe mit dem Arbeitstitel<br />

„Kinderbücher als Zeitdokumente“ erstmals veröffentlicht werden.<br />

Nachlassbearbeitung<br />

Der in diversen israelischen Archiven befindliche literarische Nachlass der Prager sowie<br />

israelischen Autorin Irma/Miriam Singer sollte zudem bearbeitet und erschlossen werden.<br />

Für diesbezügliche Tips und Anregungen, vor allem auch Möglichkeiten finanzieller Unterstützung<br />

derartiger Nachlassbearbeitungen wäre ich außerordentlich dankbar.<br />

„Dorten und Gugelhupf“ – Prag in Palästina<br />

1920 emigrierte eine Gruppe von PragerInnen nach Palästina, die in der Folge den Kibbuz<br />

Bet Alpha (Chefziba) mit begründeten, unter ihnen Frieda Löwy, Blau-Weiß-Führerin und<br />

Mitglied des Klubs jüdischer Frauen und Mädchen, und A. Raphael Salus, 1922 eingewandert<br />

und einer der Gründungsmitglieder von Chefziba (ob dieser mit Ella Salus, Mitglied<br />

des Klubs jüdischer Frauen und Mädchen, verwandt war, konnte bisher noch nicht<br />

eruiert werden).<br />

Anfang 1921 berichtet Hugo Bergmann an Robert Weltsch, dass in Jaffa „jetzt eine ganze<br />

tschechoslowakische Kolonie entstanden“ sei, wo man „ganz wie in Prage“ lebe: „es ist<br />

etwas ungemein Wohltuendes hier zu sein, diese gemütliche, vom Elternhaus gewohnte<br />

angenehm philiströse Umgebung mit Dorten und Gugelhupf und all den guten Sachen,<br />

welche meine Mutter so gut zu machen versteht und die es für uns in Jerusalem nicht mehr<br />

gibt.“ Bergmann nahm in Tel Aviv an einer „Sitzung der ,tschechoslowakischen Einwanderer’“<br />

teil, wo man „die Vereinigung der Einwanderer aus der Tschechoslowakei“ beschloss,<br />

die „Nachrichten über die Lage der Dinge nach der Tschechoslowakei vermitteln<br />

und die vielen Anfragen wegen Möglichkeit von Einwanderung, Kapitalsanlage etc. beantworten<br />

soll, gleichzeitig die bestehenden Bande unter uns pflegen, eventuell dem Einzelnen<br />

im Notfall beistehen soll“. 16 Seine Frau Else Bergmann besuchte mehrmals Irma<br />

Singer in Deganya, um das Arbeiten in Palästina zu erlernen.<br />

Es wäre also von größtem Interesse, auch diesem Netzwerk von Prager Einwanderern in<br />

Palästina gezielte Forschungen zu widmen.<br />

15 Histoire de Degania par Miriam Singer, traduites et adaptées par Rose-H. Vaucher, in : Vaucher, Paul:<br />

Degania. L’aventure du premier kibboutz, préface de Philippe Zeissig, Neuchatel 1965, S. 91-203.<br />

16 Bergman, Schmuel Hugo: Tagebücher und Briefe, Bd. 1, Königstein/Ts. 1985, S. 151.

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