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Rundbrief_2009_4.pdf

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Kindergeschichte<br />

Hermann lachte immer noch. Nursultan dagegen<br />

schien keine Miene zu verziehen.<br />

„Aber nein! Wir haben in Alexandertal gewohnt,<br />

das ist in Russland, in der Sowjetunion, verstehst<br />

du?“<br />

„Aber ihr Deutsche? Deutschen sind Feinde der<br />

Sowjetunion. Feinde sind böse. Deutsche haben böse<br />

Führer. Wir in Schule gelernt.“<br />

„Wir kommen aber nicht aus einem anderen Land“,<br />

erklärte Hermann. „Wir sind zwar Deutsche, aber<br />

wir wohnen in der Sowjetunion. Und wir sind nicht<br />

eure Feinde. Wir sind überhaupt niemandes Feinde.<br />

Wir glauben an Gott.“<br />

„Gott?“, nun war Nursultan derjenige, der verständnislos<br />

dreinblickte. „Wer ist das?“<br />

„Du weißt nicht, wer Gott ist?“, rief Mimi. Hermann<br />

musste schmunzeln. Es klang so lustig, wenn<br />

sie russisch sprach. Sie hatte einen ganz starken<br />

Akzent. Er wusste nicht, dass auch bei ihm selbst<br />

der deutsche Akzent<br />

deutlich zu hören war.<br />

„Gott ist im Himmel!<br />

Er hat alles geschaffen.<br />

Auch dich und<br />

mich. Und man muss zu<br />

Ihm beten.“<br />

Nursultan sah sie<br />

an. „Wir glauben an<br />

Allah“, sagte er nur.<br />

***<br />

Mama hatte<br />

sich so gut es<br />

ging bemüht,<br />

das Zimmerchen, in<br />

dem sie nun hausten, etwas wohnlicher zu machen.<br />

Das Stroh, das sie von den kasachischen Hauswirten<br />

bekommen hatten, hatte sie ordentlich an der<br />

Wand ausgebreitet. Darauf hatte sie die Bettdecken<br />

gelegt, die sie aus Alexandertal mitgenommen hatten.<br />

In die Mitte des Raumes hatte sie die größte<br />

Gepäckkiste gestellt. Das war der Esstisch. Mama<br />

hatte sogar ein gehäkeltes Deckchen darauf gelegt.<br />

Eine kleinere Kiste war der Schrank. Darin stand das<br />

Geschirr. Es war nicht viel – für jeden nur eine Tasse<br />

und ein Teller.<br />

Gleich am zweiten Tag bekamen sie Besuch. Zwei<br />

kasachische Frauen aus der Nachbarschaft standen<br />

in der Tür. Sie lächelten Mama freundlich an, nickten<br />

ihr zu und traten ein. Sie sprachen kasachisch untereinander<br />

und schienen kein russisches Wort zu<br />

verstehen. Sie sahen sich ganz ungehemmt im Zimmer<br />

um. Mit einem entzückten Schrei stürzte die<br />

kleinere von ihnen auf Mamas „Tisch“ zu. Sie nahm<br />

das Deckchen hoch und zeigte es der anderen. Diese<br />

wandte sich gleich darauf den Betten zu, strich über<br />

die Decken, drückte darauf und staunte, wie weich<br />

sie waren. Erschrocken sahen die Janzens ihnen zu.<br />

Mama wollte ihnen wehren, aber sie schienen es nicht<br />

zu verstehen.<br />

Diese ersten Besucherinnen blieben nicht die einzigen.<br />

Es hatte sich wohl im Dorf herumgesprochen,<br />

welche schönen Sachen die deutschen Frauen mitgebracht<br />

hatten. In den nächsten Tagen kamen immer<br />

wieder Frauen vorbei, die sich die schönen Deckchen,<br />

Tassen und Betten anschauen wollten.<br />

„Mama, kannst du ihnen nicht sagen, dass sie<br />

weggehen sollen? Sie sind so schmutzig!“, rief Mimi<br />

eines Tages ungeduldig. „Sie machen unsere schönen<br />

Sachen dreckig. Und was ist, wenn sie was kaputt<br />

machen?“<br />

Mama versuchte, sich mit den Frauen zu verständigen.<br />

Aber sie schienen es nicht zu begreifen, dass<br />

jemand seine schönen Sachen nicht gerne von allen<br />

anderen bewundern ließ. Einige baten Mama sogar, ihnen<br />

etwas davon zu schenken.<br />

Doch vorläufig lehnte<br />

Mama es ab. Sie merkten<br />

mit der Zeit, dass die<br />

jüngeren Frauen eigentlich<br />

Russisch verstanden und<br />

auch reden konnten, wenn<br />

auch nur gebrochen.<br />

Von Nursultan erfuhr<br />

Hermann, dass das Dorf, in<br />

dem sie nun leben sollten<br />

„Ajubek“ hieß. Die Kasachen<br />

nannten es Aul, das<br />

war das kasachische Wort<br />

für Dorf. Der Aul Ajubek<br />

bestand aus 17 Erdhütten.<br />

„Lehmbuden“ nannten die<br />

Janzens sie. Außer den Janzens waren noch sechs<br />

andere Familien aus Alexandertal in Ajubek. Darunter<br />

waren auch Onkel Jakob und Tante Tina mit den<br />

vier Mädchen. Sie waren bei einer Kasachen-Familie<br />

am anderen Ende des Dorfes untergebracht.<br />

Hermann und Nursultan trafen sich fast täglich<br />

auf der Straße. Hermann und Heinrich lernten auch<br />

andere Kasachenjungen kennen. Ihre Namen klangen<br />

so fremd und waren nicht leicht zu behalten: Ruslan,<br />

Tamerlan, Nurschol, Sopar. Für die Kasachen waren<br />

die deutschen Namen nahezu unaussprechlich und sie<br />

benannten sie auf ihre Weise. Aus Hermann wurde<br />

German, aus Heinrich Chani, aus Gerhard Grat. Nur<br />

Mimi blieb Mimi und wenn sie „Paul“ sagten, dann<br />

hörte sich das fast richtig an.<br />

Nursultan wusste nicht genau, wie alt er war, aber<br />

er schien ungefähr in Hermanns Alter zu sein. Er war<br />

eifrig bestrebt, Hermann Kasachisch beizubringen,<br />

und Hermann war kein schlechter Schüler.<br />

Als Hermann seinen neuen Freunden einmal von<br />

der Friedrich-Engels-Kolchose in Alexandertal er-<br />

30 Aquila 4/09

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