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cc 02_2010 - Cusanus.net

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Cusaner<br />

Correspondenz<br />

Andere Länder - Andere Sittten


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Aus der Reda<strong>cc</strong>tion<br />

04 Reda<strong>cc</strong>tionelles<br />

05 Editorial<br />

Thema<br />

06 Einführung<br />

08 Impuls | Das Fremde und das Eigene<br />

10 Interview | Muhammad Yunus<br />

14 Aufsatz | Moskito<strong>net</strong>ze zum Fischen?<br />

16 Cusana Columna | ¡Ay, qué calor!<br />

17 Künstlerische Arbeit<br />

23 Nachgedacht<br />

24 Kulturtipps | Fremd gelesen<br />

26 Pinnwand<br />

27 Künstlerische Arbeit | Treibgut<br />

Himmlisches<br />

28 Aufsatz | Ein Bett voller Flöhe<br />

32 Reisetipps | Andere Kirchen<br />

34 Impuls | Kaderschmiede?<br />

Focusanus<br />

36 Aus der Geschäftsstelle | Referentin<br />

38 Von der Basis | Klimaschutz-Bündnis<br />

40 Studentenfutter | Indien verstehen<br />

44 Studentenfutter | Über 2.000 Meter<br />

Ausbli<strong>cc</strong><br />

46 Herbstausgabe<br />

47 Impressum<br />

03


Reda<strong>cc</strong>tionelles<br />

DIE AUSLANDSCCORRESPONDENTEN<br />

Hannah Hufnagel (KI)<br />

feiert Mittsommer auf<br />

Åland, ganz traditionell!<br />

15:25 Uhr<br />

Christian Gogolin (D)<br />

hat den vietnamesischen<br />

Höllenritt überlebt.<br />

7:12 Uhr<br />

Laura Pennington (WÜ) nimmt<br />

den Aasee unter die Lupe.<br />

12:34 Uhr<br />

Alex Gebarowski (HH)<br />

sucht Arielle vor<br />

Korsika. 17.49 Uhr<br />

Philipp Schönecker (HD) kämpfte sich durch den<br />

bolivianischen Chaco zu uns ins Team. 10:51 Uhr<br />

Julia Schulz (HI) besucht den Hamburger Bürgermeister. 20:03 Uhr<br />

Andere Länder - Andere Sitten<br />

Die Welt ist schwarz-weiß. Es gibt Schurkenstaaten und die Achse des Guten. Dazwischen<br />

gibt es – nichts, keine Abstufungen, keine Zwischentöne. Der Eine steckt die Andere in<br />

Schubladen, um das eigene Weltbild zu sortieren. Schwarz und weiß, das ist einfach und<br />

klar. Graustufen machen es nur kompliziert.<br />

Schwarz und Weiß gehören in dieser Ausgabe zusammen: “Black and white, unite, unite!”*<br />

Und dazwischen liegt das goldene Mittelmaß, die Neutralität: Grau. Dunkelgrau, Mittelgrau,<br />

Hellgrau: Unser Themenblock mit euren Erfahrungen in anderen Ländern und deren<br />

Sitten, himmlische Erlebnisse und Ideen zwischen Himmel und Erde sowie abschließend<br />

der Focusanus.<br />

Die Welt ist voller Vielfalt, Nuancen und Unterschiede. Also nichts wie raus in die Fremde,<br />

empfiehlt Christian Kölzer in seiner Einführung. Kerstin Humberg macht es vor: Für ihre<br />

Doktorarbeit recherchierte sie fünf Monate lang in Bangladesh und interviewt in dieser<br />

Ausgabe Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus. Dabei gilt es, im Austausch mit<br />

dem „Anderen“ den eigenen kulturellen Rucksack einfach mal abzusetzen, auch wenn es<br />

schwer fällt – wie Cecilia Colloseus resümiert.<br />

Über andere Länder und andere Sitten erfahren wir auch in den folgenden Teilen, zum<br />

Beispiel von ökumenischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Ostseeraum, von ungewöhnlichen<br />

Sakralbauten aus aller Welt oder von den Eindrücken der letzten Auslandsakademie<br />

in Indien.<br />

Im Focusanus stellen wir euch außerdem eine weitere Referentin und verschiedene cusanische<br />

Aktivitäten vor. Unter Himmlisches regt Michael Fipper zu einer Diskussion über<br />

die cusanische Verantwortung in der katholischen Kirche an.<br />

Eine anregende Reise durch das Heft wünscht Euch<br />

Eure Reda<strong>cc</strong>tion<br />

*(Wolf Biermann, Ballade vom Briefträger William L. Moore)<br />

04<br />

05<br />

Editorial


Einführung<br />

Raus aus dem heimischen Goldfischglas!<br />

Dr. Christian Kölzer<br />

„Warum wollen Sie denn ins Ausland?<br />

Bleiben Sie lieber hier, und machen Sie ein gutes Examen<br />

– nach dem Ausland fragt später bei der Einstellung<br />

kein Mensch mehr.“ Der Rat des stellvertretenden<br />

Schulleiters, den er uns Anglistikstudierenden<br />

am Ende unseres Schulpraktikums an einem mittelhessischen<br />

Gymnasium glaubte mit auf den Weg geben zu<br />

müssen, konnte kaum deutlicher sein. Und auch kaum<br />

ignoranter. Ich bin froh, dass ich ihm nicht gefolgt bin.<br />

Und ich bin froh, dass ich im Rahmen meiner Tätigkeit<br />

im <strong>Cusanus</strong>werk immer wieder beobachten kann,<br />

wie auch andere ‚Unfolgsame‘ den Erfahrungsschatz<br />

des Auslandsaufenthaltes bergen wollen, weil sie das<br />

schnellst beste Inlandsstudium eben nicht als größten<br />

Reichtum betrachten, den die Studienzeit bereit hält.<br />

Warum wollen Sie denn ins Ausland?<br />

— Weil dort Erfahrungen warten, die im eigenen Land<br />

nicht zu machen sind. Das sich an das Zurücklassen<br />

des vertrauten Lebensumfeldes anschließende Neusortieren<br />

aller Aspekte des täglichen Lebens und der<br />

zwischenmenschlichen Beziehungen bedarf mitunter<br />

einer großen Kraftanstrengung, birgt aber noch weitaus<br />

mehr vielfältige Chancen des persönlichen Neu-<br />

anfangs, der Selbstgestaltung, der Entfaltung, welche<br />

im Goldfischglas der heimischen Vertrautheit bislang<br />

gehemmt waren. Auch wenn die Auslandserfahrungen<br />

immer individuelle Sonderwege sind, so stimmen viele<br />

Jahres- und Auslandsberichte darin überein, dass die<br />

Zeit im Ausland auch ein Reifeprozess war, der mit all<br />

den mit ihm verbundenen Hoch- und Tiefpunkten als<br />

wichtiger Schritt auf dem Weg zum persönlichen Profil<br />

verbucht werden kann.<br />

Warum wollen Sie denn ins Ausland?<br />

— Weil das direkte Erleben einer anderen Kultur in<br />

keiner Weise mit ihrem rein theoretischen Studium<br />

aufgewogen werden kann. Indien — das Ziel der letzten<br />

Auslandsakademie — ist mehr als die Summe der<br />

mit diesem Land verbundenen Begriffe, ist mehr als<br />

‚exotisch‘ und ‚Schwellenland‘, mehr als ‚Kastenwesen‘<br />

und ‚Call Center‘. Im heißschwülen Staub des Marktverkehrs<br />

im Karol Bagh Nordwestdelhis zu stehen und<br />

sich den Eindrücken hinzugeben, die die Sinne förmlich<br />

bestürmen, belagern und letztlich erobern, bedeutet<br />

nicht, Indien zu verstehen. Aber ebenso wenig bedeutet<br />

die Lektüre von wissenschaftlichen Texten über die<br />

Geschichte, die Gesellschaftsstruktur und die religiöse<br />

Tradition Indiens, dieses Land zu begreifen. Erst die Verbindung<br />

von Hintergrundwissen und direktem Erleben<br />

kann die Annäherung an ein Verständnis ermöglichen.<br />

Und was für Indien gilt, so die geteilte Erfahrung vieler<br />

Reisender, gilt ebenso auch für das direkte Nachbarland,<br />

das vor Ort auch weitaus anders, fremder, alternativenreicher<br />

ist, als es aus der Ferne scheinen mag.<br />

Warum wollen Sie denn ins Ausland?<br />

— Weil dort Kompetenzen erworben werden können,<br />

die in der heutigen globalen und multikulturell aufgestellten<br />

Gesellschaft eben doch gefragt sind. Wer sich<br />

und seine Kultur der Fremde aussetzt, sieht sich in<br />

vielen Situationen herausgefordert, das eigene Selbstverständliche<br />

mit dem Selbstverständlichen des Anderen<br />

zu verhandeln. Vom Alltäglich-Banalen zu existentiellen<br />

Fragen wird somit vieles aufs Neue bewusst<br />

und besinnt, in manchen Fällen gar bezaubert. Das<br />

Verhandlungsgeschick, das hier notwendig ist, um den<br />

vielbesungenen Kulturschock zu einem Kulturimpuls zu<br />

machen, die Selbständigkeit, mit der die vielen kleinen<br />

und großen Aufgaben der Lebensorganisation im Ausland<br />

zu meistern sind, und die Fähigkeit, einen tolerantleichtfüßigen<br />

Umgang mit weiterhin fremd bleibenden<br />

06 07<br />

Einführung<br />

Kulturaspekten zu unterscheiden von einem selbstbewussten<br />

Entgegenstehen an solchen Stellen, wo kulturübergreifende<br />

Werte entwürdigt werden — diese<br />

Kompetenzen, die im homogenen Umfeld der eigenen<br />

Kultur selten trainiert werden können, müssen als unverzichtbare<br />

Fähigkeiten für alle verstanden werden,<br />

die, an welcher Stelle auch immer, zentrale Positionen<br />

in Gesellschaft, Wissenschaft, Politik oder Wirtschaft<br />

anstreben. Die Biographieförderung des <strong>Cusanus</strong>werks<br />

möchte mit der in diesem Rahmen möglichen<br />

Unterstützung von Auslandsaufenthalten die Stipendiatinnen<br />

und Stipendiaten in die Lage versetzen, eben diese<br />

Erfahrungen und Kompetenzen zu erwerben und auf<br />

diese einzigartige Weise persönlich wachsen zu können.<br />

Warum wollen Sie denn ins Ausland?<br />

— Vor dem Hintergrund meiner eigenen Auslandserfahrungen,<br />

die ich zu den prägendsten und bereicherndsten<br />

in meinem Leben zähle, möchte ich nun<br />

dem stellvertretenden Schulleiter von damals antworten,<br />

indem ich ihm in der Sprache der Kultur, die ich<br />

in meiner Auslandszeit kennenlernen durfte, erwidere:<br />

„There’s more to life than this.“ (Björk)


Impuls Impuls<br />

Das Fremde und das Eigene<br />

Ein kleiner kulturanthropologischer Denkanstoß<br />

Cecilia Colloseus<br />

Wenn wir eine Reise antreten, nehmen wir üblicherweise<br />

eine ganze Menge Gepäck mit. Man weiß ja nie,<br />

was man so alles braucht, und in so einen Koffer geht<br />

ja auch einiges hinein. Das größte und unhandlichste<br />

Gepäckstück jedoch nehmen wir meist völlig unfreiwillig<br />

mit und merken im schlimmsten Falle gar nicht, wie<br />

schwer wir manchmal daran zu tragen haben: unser<br />

„kultureller Rucksack“ vollgepackt mit alltäglichen Gewohnheiten,<br />

Werten, Weltbildern und Überzeugungen.<br />

Im Grunde tragen wir ihn überall und jederzeit mit uns<br />

herum, ihn abzulegen ist nahezu unmöglich. Sind wir<br />

zuhause fällt er uns gar nicht auf, da ja jeder um uns<br />

herum den gleichen Rucksack mit dem gleichen Inhalt<br />

trägt. Dies kommt uns in jedem Falle zugute. Denn<br />

müssten wir immer wieder neu ausloten, wie unsere<br />

Mitmenschen ticken, welche Normen gelten etc., wären<br />

unsere ohnehin schon stark geforderten Sinne wohl<br />

restlos überfordert. Gewohntes, Vertrautes, Konsensfähiges,<br />

ja auch Triviales und Bagatellisiertes ist also<br />

dazu da, uns das (Zusammen-)Leben zu erleichtern,<br />

weshalb es auch durch Enkulturation und Sozialisation<br />

immer weiter tradiert wird. Wenn wir jedoch in ein anderes<br />

Land, in eine andere Kultur eintreten, wird der<br />

Rucksack plötzlich sehr präsent: Hier ist aus unserer<br />

Perspektive nichts gewohnt, vertraut oder konsensfähig<br />

und selbst im Trivialen und Bagatellisierten dieser<br />

Kultur sehen wir etwas Besonderes und Exotisches.<br />

REAKTIONEN AUF „DAS FREMDE“: ZWISCHEN<br />

ALLOPHILIE UND XENOPHOBIE<br />

Das Spektrum der Reaktionen auf eine solche Konfrontation<br />

reicht dann von der Liebe für alles Fremde<br />

(Allophilie) über den Fremdenhass (Xenophobie) bis<br />

hin zur Ablehnung der eigenen Kultur (Homöophobie)<br />

oder ihrer übersteigerten Verehrung (Chauvinismus).<br />

Gemeinsam ist allen diesen Abgrenzungs- bzw. Selbstfindungskonzepten<br />

die Definition des Eigenen über das<br />

Fremde und umgekehrt. Am verbreitetsten ist hier<br />

nach wie vor eine ethnozentristische und chronozentristische<br />

Sicht auf das Fremde, die noch nicht einmal<br />

abwertend gemeint sein muss. Wie oft hört man Touristen<br />

angesichts ungewohnter Lebensverhältnisse<br />

sagen: „Ach Gott! Die leben ja hier wie vor hundert<br />

Jahren!“ Der eigene Lebensstandard, die eigene Kultur<br />

wird zum erstrebenswerten Maßstab erhoben und<br />

alles Darunterliegende bemitleidet. Auch im Vergleich<br />

der Wertesysteme tritt eine solche Überheblichkeit<br />

noch oft an den Tag.<br />

ES GILT, DEN EIGENEN „KULTURELLEN RUCKSACK“<br />

ZEITWEISE ABZUSETZEN<br />

So werden auf Mythen basierende Tabus oder ein ehrfürchtiger<br />

Umgang mit Sakralem als unaufgeklärt belächelt<br />

und man klopft sich stolz auf die westliche erhabene<br />

Schulter. Die Dichotomie „Zivilisierte“ und „Wilde“<br />

rückt somit, ohne dass man es merkt, erschreckend<br />

nah. An dieser Stelle gilt es einzulenken, innezuhalten<br />

und das Unhinterfragte, das uns das Leben erleichtern<br />

soll, möglicherweise doch zu hinterfragen. Wenn<br />

wir nämlich den kulturellen Rucksack doch einmal für<br />

kurze Zeit absetzen und sozusagen als Ethnographen<br />

mit Außenperspektive in der eigenen, vertrauten Kultur<br />

unterwegs sind, uns mit ihrem komplexen Ganzen,<br />

in dem alles miteinander in Beziehung steht und jedes<br />

Teil über sich auf das Ganze hinausweist, auseinandersetzen<br />

und nichts als selbstverständlich und trivial<br />

hinnehmen, erschließen sich uns Möglichkeiten, das<br />

„Eigene“ und das „Fremde“ ganz neu zu definieren.<br />

Möglicherweise finden wir Verhaltensweisen, die wir<br />

in der fremden Kultur belächelt haben, in der eigenen<br />

wieder, bloß an einer ganz anderen Stelle. Oder wir finden<br />

es plötzlich merkwürdig, was bei uns alles so normal<br />

und selbstverständlich ist. Es kann mitunter sehr<br />

unterhaltsam sein, das Vertraute so zu betrachten,<br />

als wäre es etwas völlig Neues, man sieht sich selbst<br />

und seine Mitmenschen in einem ganz anderen Licht<br />

und seinen Horizont erweitert man<br />

damit allemal. Probiert es einfach<br />

selber mal aus! In einer postmodernen<br />

Welt, die auf Konzepte<br />

der Globalisierung und<br />

Hybridisierung setzt, sind das<br />

„Eigene“ und das „Fremde“ an<br />

sich keine trennscharfen Kategorien<br />

mehr. Dennoch gibt es<br />

eine bunte Vielfalt an kulturellen<br />

Eigenheiten, die es zu entdecken<br />

gilt und die uns immer wieder<br />

zum Staunen bringen kann.<br />

Gerade hierfür ist es wichtig,<br />

sein kulturelles Gepäck einmal<br />

auszumisten, es jedoch<br />

ebenso wie das Fremde anzunehmen<br />

als das, was es<br />

ist, und an<br />

einem ernsthaften interkulturellen<br />

Dialog zu arbeiten.<br />

Die Konfrontation<br />

mit dem Fremden öff<strong>net</strong> uns<br />

ganz neue Welten – sogar<br />

unsere eigene Alltagswelt.<br />

Der Andersdenkende ist kein<br />

Idiot, er hat sich eben eine andere<br />

Wirklichkeit konstruiert.<br />

Paul Watzlawick<br />

08 09


Interview Interview<br />

Profit für die Armen<br />

Interview mit Nobelpreisträger<br />

Prof. Muhammad Yunus<br />

Kerstin Humberg<br />

Professor Yunus lehrt Ökonomie an der Chittagong Universität in Bangladesch und ist Gründer der Grameen<br />

Bank, die Mikrokredite an Arme vergibt. Für sein Engagement erhielt er im Jahr 2006 den Friedensnobelpreis.<br />

Kerstin Humberg arbeitet im Rahmen ihrer Doktorarbeit zum Thema „Poverty Reduction through Social Business<br />

– Lessons learnt from Bangladesh“ mit dem Yunus Centre in Dhaka zusammen und war fünf Monate vor<br />

Ort.<br />

Herr Yunus, Ihre Vision, Armut mit Hilfe von Social<br />

Business ins Museum der menschlichen Geschichte zu<br />

verbannen, hat ihren Reiz. Andererseits erscheint das<br />

Ziel unmöglich. Welche Reaktionen erhalten Sie, wenn<br />

Sie für Ihren neuartigen Unternehmenstypus werben?<br />

Im Allgemeinen ist die Reaktion sehr positiv — in der<br />

Wirtschaft genauso wie in der Wissenschaft. Zurzeit<br />

entstehen viele neue Institutionen, die das Thema Social<br />

Business weiter vorantreiben. Zum Beispiel das<br />

Institute of Social Business an der California State University<br />

oder das Grameen Creative Lab in Wiesbaden.<br />

Kürzlich habe ich mich mit Vertretern der Glasgow Caledonian<br />

University getroffen. Auch sie wollen die Auseinandersetzung<br />

mit Social Business unter ihren Studenten<br />

und in der Wirtschaft Großbritanniens fördern.<br />

Ob in den USA, Europa oder Japan – bislang habe ich<br />

sehr positive Rückmeldungen bekommen.<br />

Auch beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos?<br />

So ist es. Im Januar hatten wir in Davos eine eigene<br />

Einheit zum Thema Social Business — mit dem Ergebnis,<br />

dass es von nun an jedes Jahr eine solche Session<br />

geben wird. Das ist großartig! Diese Treffen werden<br />

Menschen zusammenbringen, die sich für Social Business<br />

engagieren, Menschen, die erstmals mit diesem<br />

Ansatz in Berührung kommen, und solche, die dem Ansatz<br />

skeptisch gegenüber stehen.<br />

Was sagen Ihre Kritiker dazu?<br />

Auf der negativen Seite hören wir eigentlich nichts<br />

Neues — außer dem alten Argument. Dass Social Business<br />

in der Wirtschaft vermutlich wenig Anklang fin-<br />

den wird, da die Leute letztlich Geld verdienen wollen.<br />

„Wer interessiert sich schon für Geschäfte, in denen<br />

Geld keine Rolle spielt?“, heißt es dann.<br />

Wie gehen Sie damit um?<br />

Ich antworte, dass eine solche Auffassung aus genau<br />

jener Welt kommt, die nur eine Art von Unternehmen<br />

kennt: gewinnorientierte Unternehmen. Etwas anderes<br />

gibt es in dieser Weltanschauung nicht. Doch wenn Social<br />

Business erst einmal existiert, werden wir sehen,<br />

ob sich Menschen dafür engagieren oder nicht.<br />

Wie sieht der Praxistest aus?<br />

Tatsächlich sind bereits mehrere Social Businesses<br />

im Einsatz. Eins davon ist Grameen Danone Food Ltd.,<br />

ein Unternehmen, das wir 2006 gegründet haben, um<br />

die Mangelernährung unter armen Kindern in Bangladesch<br />

zu bekämpfen. Dieses Gemeinschaftsunternehmen<br />

produziert einen mit wichtigen Mineralstoffen angereicherten<br />

Joghurt zu einem Preis von 6 Takas, den<br />

sich selbst die Ärmsten leisten können. Ein anderes<br />

Beispiel ist Grameen Veolia Water Ltd., ein Gemeinschaftsunternehmen,<br />

das armen Landbewohnern Zugang<br />

zu sauberem Trinkwasser verschaffen möchte.<br />

Was steht als nächstes auf Ihrer Agenda?<br />

Weitere Social Businesses sind in der Pipeline. Zum<br />

Beispiel Grameen Employment Service, eine Arbeitsagentur,<br />

die Leute aus Bangladesch für den ausländischen<br />

Arbeitsmarkt trainieren und entsprechende<br />

Jobs vermitteln will. Wir wollen diesen Menschen ein<br />

anständiges Leben ermöglichen, frei vom Missbrauch<br />

durch andere, die nur Geld an ihnen verdienen wollen.<br />

Was schätzen die Befürworter an Social Business?<br />

Die Tatsache, dass der Ansatz einen neuen Spielraum<br />

schafft. Niemand zwingt sie dazu. Social Business ist<br />

eine neue Option. Für Stiftungen zum Beispiel. Anstatt<br />

das Geld für wohltätige Zwecke zu spenden, könnten<br />

Stiftungen in Zukunft in ein Social Business investieren.<br />

Spenden haben nur ein Leben, während sich ein Social<br />

Business auf Dauer finanziell selbst tragen kann. Wenn<br />

das Geschäftsmodell funktioniert, wird das investierte<br />

Kapital immer wieder zurückfließen und deutlich mehr<br />

Menschen zugute kommen. Aus meiner Sicht ist das<br />

ein deutlich effektiverer Einsatz von Mitteln, von der<br />

auch die bilaterale und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit<br />

profitieren könnte.<br />

Für wohltätige Organisationen mag das stimmen. Aber<br />

warum sollten sich Unternehmen, die sich im freien<br />

Wettbewerb behaupten müssen, mit Social Business<br />

auseinandersetzen?<br />

Geld, das für Maßnahmen im Bereich Corporate Social<br />

Responsibility vorgesehen ist, aber letztlich für PR-<br />

Zwecke eingesetzt wird, könnte stattdessen in eine<br />

Social-Business-Investition umgemünzt werden. Das<br />

Kerngeschäft würde keinen Schaden nehmen. Gleichzeitig<br />

ergeben sich dadurch neue Möglichkeiten, die<br />

vorhandenen Mittel besser einzusetzen.<br />

Wie klappt die Zusammenarbeit mit multinationalen<br />

Unternehmen?<br />

Vertreter aus der traditionellen Geschäftswelt empfinden<br />

eine große Freude an dieser Arbeit. Der komplette<br />

Denkprozess macht eine gewaltige Veränderung<br />

durch. Wir beschäftigen uns mit Fragen, mit denen wir<br />

uns nie zuvor auseinandergesetzt haben – und das mit<br />

Begeisterung. Ohne Druck. Niemand zwingt uns. Sogar<br />

Mitarbeiter, die nicht direkt involviert sind, waren Feuer<br />

und Flamme. Gemeinsam entwickeln wir winzige Prototypen<br />

— und wenn wir nachweisen können, dass diese<br />

Prototypen funktionieren, haben wir damit im Prinzip<br />

einen Samen entwickelt. Der Rest ist eine Frage der<br />

Multiplikation.<br />

Wie im Falle der Grameen Bank?<br />

In diesem Zusammenhang sind Mikrokredite ein gutes<br />

Beispiel. Mikrokredite sind in einem Dorf entstanden.<br />

Sobald es dort funktionierte, war der Samen entwickelt<br />

— und nachdem wir mit der Replikation begonnen<br />

haben, kann nun jeder dieses Geschäftsmodell<br />

replizieren. Inzwischen sind Mikrokredite ein globales<br />

Phänomen. Eines Tages wird sich wahrscheinlich auch<br />

die Grameen Danone Food Ltd. zu einem globalen Phänomen<br />

entwickeln, weil wir alle wissen, was zu tun ist.<br />

Die Idee wird zur Standardlösung, mit der wir Mangelernährung<br />

beheben können. Das ist der Clou: Im Social<br />

Business gibt es keine Patente.<br />

Mit Patent meinen Sie das Schutzrecht auf eine Erfindung?<br />

Ja, doch im Social Business machen wir unsere Erfahrungen<br />

öffentlich. Wir veröffentlichen unser Wissen, damit sich<br />

jeder einbringen und helfen kann. Die Entwicklung von<br />

„Samen“ ist das Allerwichtigste. Sobald wir einen „Samen“<br />

entwickelt haben, kann die Idee weitere Früchte tragen.<br />

10 11


Interview Interview<br />

Was für Wachstumsbeschwerden zeigen sich im Fall<br />

der Grameen Danone Food Ltd.?<br />

Von Beschwerden kann keine Rede sein. Wir haben<br />

Spaß dabei, weil wir etwas Neuartiges ausprobieren.<br />

Eine kleine Fabrik, ein kleines Vorhaben. Die Investition<br />

war nicht größer als eine halbe Millionen Dollar. Eine<br />

wirklich kleine Summe, die wir riskieren, um eine Lösung<br />

für das Problem Mangelernährung zu finden.<br />

Wie hat sich die Wirtschafts- und Finanzkrise bislang<br />

auf Ihre Social Business-Aktivitäten ausgewirkt?<br />

Bislang sind die Auswirkungen positiv, weil sich bei den<br />

Menschen ein Gefühl einstellt, dass gewinnorientierte<br />

Unternehmen allein nicht die Lösung für unsere globalen<br />

Herausforderungen sind. Das Vertrauen, das die<br />

Menschen in die Marktmechanismen hatten — in den<br />

freien Markt mit der Maximierung von Gewinnen hat<br />

Schaden genommen. Es hat nicht funktioniert. Wenn<br />

wir in dieser Situation, in der viele Menschen voller<br />

Zweifel und frustriert sind, von Social Business sprechen,<br />

macht dieser Ansatz für viele plötzlich Sinn. „Ja,<br />

warum nicht? Warum müssen wir immer dem Geld<br />

hinterher rennen? Warum probieren wir nicht einfach,<br />

ein neues Gleichgewicht zu finden? Wir können uns im<br />

profitorientierten Bereich der Wirtschaft anstrengen<br />

— und unsere Talente und Kreativität gleichzeitig im<br />

Social Business nutzen, um die Probleme dieser Welt<br />

zu lösen“.<br />

Die Krise als Chance?<br />

Die Finanzkrise hat ein sehr günstiges Umfeld geschaffen,<br />

in dem die Menschen bereit sind zuzuhören. Solange<br />

die Wirtschaft boomt, weiteres Wachstum gesichert<br />

ist und keine Risiken bestehen, sagen die Leute:<br />

„Komm schon, es läuft doch. Funke uns nicht dazwischen.<br />

Lass es laufen“. Doch heute befinden wir uns in<br />

einem anderen Kontext.<br />

Was passiert vor Ort? Wenn der Milchpreis steigt,<br />

können Sie den Joghurtpreis nicht einfach erhöhen —<br />

das könnten sich Ihre armen Kunden nicht leisten. Das<br />

wäre das Ende der Wachstumsstory.<br />

Entweder steigt der Milchpreis oder — wenn der Ölpreis<br />

anzieht, steigt der Strompreis. Die Temperatur<br />

fällt, die Leute essen keinen Joghurt mehr… Das sind<br />

reale Situationen, die nicht alles in Frage stellen, uns<br />

aber zwingen, unsere Kreativität einzusetzen. Als der<br />

Milchpreis gestiegen ist, haben wir uns gefragt, wie wir<br />

den Milchanteil reduzieren können. Wie wäre es zum<br />

Beispiel mit einem Joghurtdrink, der mehr Wasser enthält?<br />

Dabei noch schmeckt, gesund ist und den Preis<br />

niedrig hält. Es gibt viele Möglichkeiten, die Armen mit<br />

gesunder Nahrung zu versorgen. Vielleicht ändert sich<br />

das Vehikel, aber die Mission bleibt dieselbe. Wir sind<br />

keine Joghurtverkäufer – wir versuchen nur ein Vehikel<br />

für Nahrung zu finden. In einer Form, die Kinder lieben.<br />

Wenn sich die Rahmenbedingungen ändern, müssen<br />

wir eben andere Mechanismen finden.<br />

Könnte es sein, dass es Ihren Partnerunternehmen<br />

gar nicht um Social Business geht, sondern darum, einen<br />

Wachstumsmarkt zu erschließen?<br />

Vielleicht ist das ihre Strategie. Meine Strategie ist es,<br />

diese Unternehmen für Social Business zu gewinnen.<br />

Manche Leute sagen: „Hey, Danone benutzt Dich!“ Und<br />

ich antworte: „Ich dachte, ich benutze Danone“. Wahrscheinlich<br />

benutzen wir uns gegenseitig. In jedem Fall<br />

wird dieser Prozess Danone verändern. Social Business<br />

verändert jeden. Angenommen, Danone hatte ein<br />

Geschäft im Sinn, die Intention, einen neuen Markt zu<br />

erschließen und langfristig vielleicht sogar finanzielle<br />

Rendite zu erwirtschaften. In der Zwischenzeit hat sich<br />

die Sichtweise vermutlich verändert: „Vielleicht ist Social<br />

Business eine gute Idee, weil es die Denkweise so<br />

vieler Menschen in unserem Unternehmen verändert<br />

hat“. Die anfängliche und spätere Sichtweise sind nicht<br />

unbedingt identisch.<br />

Sie planen weitere Gemeinschaftsunternehmen. Was<br />

sind die größten Hindernisse dabei?<br />

Letztlich geht es darum, die Menschen mit dem Konzept<br />

vertraut zu machen. Jetzt, nachdem BASF den<br />

ersten Schritt in Deutschland gemacht hat, werden<br />

andere deutsche Unternehmen sagen: „Sind die verrückt?<br />

Warum macht BASF Geschäfte in Bangladesch<br />

und nennt es Social Business? Andere Unternehmen<br />

bekommen Interesse und werden Gefallen an dieser<br />

Idee finden, weil sie günstig ist: Warum machen wir so<br />

etwas nicht? Für einen Dollar investiertes Kapital bekommen<br />

wir eine Publicity im Wert von einer Millionen<br />

Dollar. Lasst uns diese Publicity nutzen!“<br />

Das allein ist aber noch keine soziale Mission.<br />

Nein, aber wir sollten die Unternehmen aus der Geschäftsecke<br />

kommen lassen. In der Zwischenzeit werden<br />

viele neue Dinge geschehen. Die Denkweise der jun-<br />

gen Leute in den Schulen wird sich verändern: „Wenn<br />

ich groß bin, werde ich ein Social Business betreiben.<br />

Ich weiß schon, was für ein Social Business ich machen<br />

möchte!“ Wir sollten Schritt für Schritt weitermachen.<br />

Soll auch das Danone-Modell ausgeweitet werden?<br />

Natürlich. Geplant sind insgesamt 50 Werke, so dass<br />

wir das ganze Land abdecken können. Davon sind wir<br />

nicht abgerückt – und in der Zwischenzeit sind sogar<br />

neue Initiativen zur Sprache gekommen. Wir schaffen<br />

einen Social Business Fonds, um überall auf der Welt<br />

weitere Social Business Aktivitäten zu finanzieren.<br />

In gewinnorientierten Unternehmen lassen sich die<br />

Ergebnisse relativ einfach an Zahlen messen. Woran<br />

aber machen Sie den Erfolg Ihrer Social Businesses<br />

fest?<br />

Wer die sozialen Ergebnisse nicht misst, betreibt kein<br />

Social Business. Wer Geld verdienen will, meldet: Dies<br />

ist der Nettogewinn. Der Bruttoverdienst beträgt so<br />

und so viel, der Gewinn vor Steuern ist… Dann weiß<br />

jeder, ob das Unternehmen erfolgreich ist oder nicht.<br />

Aber wie beurteilen wir den Geschaftsführer in einem<br />

Social Business? Grameen Danone hat das Ziel, Mangelernährung<br />

zu beseitigen. Inwieweit erreichen wir das<br />

Ziel? Wir müssen die Kinder testen, um nachzuweisen,<br />

dass sich ihre Gesundheit tatsächlich verbessert. Allerdings<br />

müssen wir dafür eine Faustregel entwickeln.<br />

Eine aufwendige Untersuchung, die jedes Detail analysiert,<br />

können wir uns nicht leisten. Schließlich können<br />

wir nicht mehr Geld für die Evaluierung der Effekte ausgeben<br />

als für das Unternehmen insgesamt.<br />

Die ersten Social Business – Praxisbeispiele versuchen<br />

Mangelernährung zu beheben oder die Armen in<br />

Entwicklungsländern mit sauberem Trinkwasser oder<br />

Informationstechnologie zu versorgen. Welche Möglichkeiten<br />

sehen Sie darüber hinaus?<br />

Armutsbekämpfung ist nur ein Bereich von Social Business.<br />

Letztlich adressiert Social Business all jene Herausforderungen,<br />

die gewinnorientierte Unternehmen<br />

nicht bewältigen können. Ein Social Business, von dem<br />

die Umwelt profitiert, kommt letztlich allen Menschen<br />

zu Gute. Ob Reiche, Arme oder Mittelschicht – Social<br />

Business ist für jeden da. Ob Gesundheit, Ernährung,<br />

Wasser, Hygiene – Social Business sollte sich idealer<br />

Weise allen gesellschaftlichen Herausforderungen annehmen,<br />

die bislang unbewältigt geblieben sind.<br />

Was ist mit dem Schutz von Menschenrechten?<br />

Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber irgendein<br />

schlauer Kopf wird herausfinden, wie sich der Schutz<br />

von Menschenrechten in ein Social Business übertragen<br />

lässt. Nicht, dass damit alle Probleme gelöst wären,<br />

aber so, dass es hilft. Jemand könnte ein Versicherungsunternehmen<br />

für Menschenrechte gründen:<br />

Wer eine kleine Gebühr bezahlt, wird beschützt. So wie<br />

wir uns gegen Krankheiten absichern, könnten wir versuchen,<br />

uns auch gegen Menschenrechtsverletzungen<br />

zu versichern.<br />

Wie reagieren die Menschen in Bangladesch auf Ihre<br />

Aktivitäten?<br />

In Bangladesch schenkt uns kaum jemand wirklich Beachtung.<br />

Warum nicht?<br />

Das ist keine Überraschung, denn im Grunde denken<br />

die Leute, dass das Wissen bislang meist aus dem<br />

Westen gekommen ist. Die Leute achten nicht auf jemanden,<br />

der nebenan verrückte Dinge tut.<br />

12 13


Aufsatz Aufsatz<br />

Moskito<strong>net</strong>ze zum Fischen?<br />

Social Business geht anders<br />

Kerstin Humberg<br />

Noch steht der Begriff „Social Business“ in keinem Wirtschaftslexikon<br />

— und Gnade dem, der dieses amorphe<br />

Etwas definieren soll. Wer bestimmt eigentlich, was in<br />

der Wirtschaft sozial ist? „Sozial ist, was Arbeit schafft“,<br />

propagiert Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Friedensnobelpreisträger<br />

Muhammad Yunus pocht auf die<br />

Gemeinnützigkeit und sagt: „Social Business? It‘s not for<br />

me. It‘s for others!“ Und was sagt der Papst? Der Papst<br />

glaubt (laut Enzyklika „Caritas in Veritate“), dass die<br />

Wirtschaft zutiefst menschlich sei und daher nach „moralischen<br />

Gesichtspunkten“ organisiert werden müsse.<br />

Klingt einleuchtend, aber wer garantiert uns die Moral?<br />

Auch wenn „Social Business“ in Deutschland oft mit<br />

Yunus‘ Vision vom sozial motivierten Unternehmen (das<br />

profitabel wirtschaftet, aber keine Dividenden ausschüttet)<br />

in Verbindung gebracht wird, ist der Begriff kei-<br />

neswegs geschützt, sondern interpretationsbedürftig.<br />

Was ich persönlich als sozial empfinde, müssen Menschen<br />

in einem Land wie Bangladesch, wo ich gerade zu<br />

diesem Thema forsche, noch längst nicht sozial finden.<br />

Was als sozial gilt, ist normen- und kontextabhängig.<br />

Genaugenommen ist auch der Wirtschaftsprofessor<br />

Yunus flexibel in seiner Definition von Social Business.<br />

Während er auf der einen Seite Dividendenverzicht<br />

fordert, erlaubt er mit Blick auf seine „Grameen Bank“<br />

eine grundsätzliche Ausnahme: Wenn sich Unternehmen<br />

im Besitz von Armen befinden, sind Profitorientierung<br />

und Dividenden seiner Ansicht nach in Ordnung.<br />

Auch sein neuestes Social Business-Engagement sorgt<br />

in der Wissenschaft für begriffliche Konfusion: Gemeinsam<br />

mit der Hamburger Versandhandelsgruppe OTTO<br />

will Yunus ein Textilunternehmen in Bangladesch er-<br />

richten. Die „Zukunftsfabrik“ soll die Textilien ebenso<br />

nachhaltig wie ethisch korrekt produzieren und Löhne<br />

entsprechend dem lokalen Mindestlohnniveau von<br />

19 bis 65 Euro im Monat zahlen. „Die Grameen Otto<br />

Textile Company wird zeigen, dass es durchaus möglich<br />

ist, ökologische und soziale Kriterien mit ökonomischen<br />

Zielen in Einklang zu bringen“, so Michael Otto.<br />

Anders als die bisherigen Social Business Joint Ventures,<br />

die Yunus mit Unternehmen wie Danone, Veolia,<br />

Intel oder BASF zur Versorgung der lokalen Bevölkerung<br />

mit Nährstoffen, Trinkwasser oder technischen<br />

Diensten gegründet hat, wird die Grameen Otto Textile<br />

Company keine Produkte oder Dienstleistungen für die<br />

Armen anbieten. Stattdessen soll die Schaffung von bis<br />

zu 700 Arbeitsplätzen zur Armutsbekämpfung beitragen.<br />

Hört, hört — das klingt nach Kanzlerin. Zwar soll<br />

die neue Otto-Tochter Yunus‘ Kriterien (soziales Ziel,<br />

profitables Geschäftsmodell, keine Dividenden für Otto<br />

und die Grameen Bank) erfüllen, doch lässt dieser neue<br />

„Grameen Social Business“-Typus die Grenzen zum<br />

klassischen Fair Trade-Modell verschwimmen.<br />

FAIR TRADE 2.0?<br />

Für die Praxis ist diese Frage zweitrangig. Was zählt,<br />

ist das Ergebnis. Gutes tun und damit neue Märkte<br />

erschließen? Warum nicht. In der marktbasierten Armutsbekämpfung<br />

liegt die Zukunft — und klar kann die<br />

Entwicklungszusammenarbeit vom Kapital, dem wirtschaftlichen<br />

Sachverstand und der technischen Expertise<br />

multinationaler Unternehmen profitieren. Allerdings<br />

sind Billigvarianten westlicher Produkte (wie der<br />

geplante 1-Euro Schuh von Adidas) allein noch keine Lösung.<br />

Wer extreme Armut bekämpfen will, muss auch<br />

die Produktivkräfte der Armen freisetzen. Zum Beispiel<br />

durch die Einführung technischer Innovationen, wie es<br />

Grameen Phone mit einem pfiffigen Geschäftsmodell,<br />

den Village Phone Ladies und der Einführung von Mobiltelefonen<br />

im ländlichen Bangladesch gelungen ist.<br />

Wer konsumieren soll, braucht Geld, ein einigermaßen<br />

gesichertes Einkommen. Nicht ohne Grund nutzen<br />

Menschen, die hungern, subventionierte Moskito<strong>net</strong>ze<br />

lieber zum Fischfang.<br />

WIRTSCHAFT FÜR DEN MENSCHEN<br />

Und was ist die Moral von der Geschicht‘? Yunus‘ „Social<br />

Business“-Ansatz ist vor allem ein Plädoyer für die effiziente<br />

und effektive Nutzung philanthropischer Ressourcen.<br />

Ein Beitrag zur (auch wirtschaftlich nachhaltigen)<br />

Lösung gesellschaftlicher Probleme durch unternehmerisches<br />

Denken und Handeln. Sei es durch multinationale<br />

Unternehmen, Stiftungen oder Privatpersonen.<br />

Letztlich geht es um die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle,<br />

die einen Mehrwert für diejenigen schaffen,<br />

die bislang von den Märkten ausgeschlossen sind.<br />

Auch wenn sich an der Frage der Dividenden die Geister<br />

in der Social Business-Szene scheiden, geht diese<br />

Debatte aus Praxissicht am Ziel vorbei. Schließlich<br />

sind Unternehmen, die auf Dividenden verzichten,<br />

nicht automatisch sozialer als profitorientierte Unternehmen.<br />

Gute Intentionen produzieren noch lange<br />

keine positiven Ergebnisse. Ob ein Business tatsächlich<br />

sozial ist, sollte deshalb auch weniger an der Mission<br />

oder Dividendenpolitik, sondern an den realen<br />

Effekten gemessen werden. Wie viele Leben hat ein<br />

Business nachhaltig verbessert oder (noch besser)<br />

gerettet?<br />

Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn verleitet, den<br />

Gleichdenkenden höher zu achten, als den Andersdenkenden.<br />

Friedrich Nietzsche<br />

14 15


Cusana Columna<br />

„¡Ay, qué calor!“<br />

Von English tea, Vin Rouge und Abendbrot<br />

Maria Magdalena Schäfer<br />

Ein Sprung über den Ärmelkanal und wir befinden uns<br />

in… richtig, in England! Nicht nur die Uhren ticken dort<br />

anders, sondern auch die Essgewohnheiten unterscheiden<br />

sich doch hier und da deutlich von dem, was<br />

man vielleicht von zu Hause so gewohnt ist. Die Liebhaber<br />

des „Deutschen Brots“ werden wohl erstmal in<br />

den sauren Apfel beißen müssen… hier gibt’s ab jetzt<br />

jeden morgen Toast. Für diejenigen, die gerne Tee trinken<br />

ist es jedoch hingegen wohl wie im Schlaraffenland:<br />

Bei jeder <strong>net</strong>ten Gelegenheit — sei es, bevor man aus<br />

dem Haus geht, von der Arbeit kommt oder kurzfristig<br />

die Nachbarin zu Besuch kommt — lautet die Standardfrage:<br />

„Would you like a cup of tea?“ „Oh yes, please!“<br />

„With one or two sugar?!“ Und das natürlich in der Intonation<br />

der englischen Sprache — herrlich!<br />

WIE EIN AUSSERIRDISCHER<br />

Zurück durch den Eurotunnel — in der Hoffnung, dass<br />

der Eurostar nicht mal wieder stecken bleibt — landen<br />

wir bei unseren lieben Nachbarn des Savoir-vivre. Hier<br />

ist es absolut ratsam, Stenographie perfekt zu beherrschen,<br />

besonders für den Uni-Alltag. Denn das, was der<br />

Professor sagt, wird nun mal mitgeschrieben oder besser<br />

gesagt, wortwörtlich aufgezeich<strong>net</strong>. Mitdenken oder<br />

sogar kritisch hinterfragen, geschweige denn eine Diskussion<br />

mit dem Professor und den Kommilitonen anzufangen,<br />

sollte man sich gut überlegen. Es könnte sein,<br />

dass man sich wie ein Außerirdischer vorkommt, der das<br />

französische System wohl noch nicht verstanden hat.<br />

Was wir noch probieren sollten, bevor es uns weiter<br />

nach Spanien zieht, ist ein frisches Baguette direkt von<br />

der Boulangerie um die Ecke. Dazu noch ein Stück Camembert<br />

und ein schöner Vin Rouge…<br />

LIEBER MORGEN ALS HEUTE<br />

In Spanien angekommen, sollten wir uns darauf einstellen,<br />

dass wir zu Verabredungen prinzipiell nicht<br />

pünktlich zu kommen brauchen. Eine viertel Stunde<br />

früher oder später, was macht das schon, Hauptsache<br />

man kommt nicht in Stress. Ein wichtiges Wort in<br />

diesem Zusammenhang ist „mañana“ (morgen). Egal,<br />

ob man sich immatrikulieren will, den Mietvertrag unterschreibt<br />

oder einen Handwerker rufen muss, so ist<br />

die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass man ein gelassenes<br />

Gegenüber vor sich hat, das lieber morgen<br />

als noch heute vorbeikommt. Und falls nicht morgen,<br />

dann halt übermorgen usw. — auf jeden Fall „mañana“.<br />

Im Sommer hört man auf den Plätzen und in den Gassen<br />

überwiegend den Ausruf: „¡Ay, qué calor!“ (..was für<br />

eine Hitze!)<br />

Nachdem man wahrscheinlich überlegt, ob<br />

man die Siesta nicht vielleicht doch noch verlängern<br />

sollte…17 Uhr ist ja vielleicht wirklich etwas<br />

„früh“, um die Geschäfte wieder aufzumachen.<br />

Und um sämtlichen Ausrufen noch mehr Deutlichkeit<br />

zu verleihen, setzen die Spanier das Ausrufungszeichen<br />

auch besser gleich schon am Anfang.<br />

Zurück in Deutschland freuen wir uns auf ein leckeres<br />

Abendbrot, zu dem wir noch einige Freunde eingeladen<br />

haben, die wie verabredet um Punkt 20 Uhr auf der<br />

Matte stehen.<br />

Als deutscher Tourist im Ausland<br />

steht man vor der Frage,<br />

ob man sich anständig benehmen<br />

muss, oder ob schon deutsche<br />

Touristen dagewesen sind.<br />

Kurt Tucholsky<br />

Künstlerische Arbeit<br />

Alex Gebarowski | Spanien<br />

16 17


Künstlerische Arbeit<br />

Philipp Schönecker | Peru<br />

Künstlerische Arbeit<br />

Christian Gogolin | Kambodscha<br />

18 19


Künstlerische Arbeit Künstlerische Arbeit<br />

Christian Gogolin | Vietnam<br />

Philipp Schönecker | Bolivien<br />

20 21


Künstlerische Arbeit Nachgedacht<br />

Hannah Hufnagel | Schweden<br />

Dazwischen zu Hause<br />

Das Motto „Andere Länder, Andere Sitten“ ist eine mir ziemlich geläufige Aussage.<br />

In meiner Familie treffen drei „Länder“ aufeinander. Ich bin in Deutschland geboren<br />

und mit drei Sprachen aufgewachsen, da mein Vater Kroate ist und meine Mutter<br />

aus Polen kommt. Obwohl die kulturellen Unterschiede zwischen Polen, Kroatien und<br />

Deutschland nicht so groß sind wie z.B. zwischen Deutschland und einem afrikanischen<br />

oder asiatischen Land, kann man doch von „anderen Sitten“ reden. Ich bin mit<br />

den Unterschieden und dem ständigen Vergleich, wie etwas in Deutschland und Kroatien<br />

bzw. Polen ist, aufgewachsen. Diese Gegebenheiten empfinde ich aber als große<br />

Bereicherung, da dadurch mein Blick und mein Verständnis für die noch so geringen<br />

Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen geschärft wurden.<br />

Obwohl dieses „Sich-dazwischen-befinden“ meistens von Vorteil ist, bringt es aber<br />

auch Schwierigkeiten mit sich. Oft werde ich gefragt, als was ich mich nun fühle, als<br />

Deutsche, Kroatin oder Polin. Meine Antwort darauf lautet, dass ich mich als eine<br />

„Mischung“ fühle. Für viele Freunde, Bekannte und auch die Familie ist das nicht<br />

nachvollziehbar. Man muss sich ja schließlich zu einer Nationalität zugehörig fühlen.<br />

Einige Bekannte, die ebenfalls im Einfluss mehrer Kulturen aufgewachsen sind,<br />

erzählen mir, dass sie manchmal das Gefühl der Zerrissenheit empfinden. Zugegeben,<br />

in manchen Augenblicken geht es mir genauso, besonders dann, wenn mir die häufige<br />

Frage gestellt wird, wo ich am liebsten leben würde: in Deutschland, Kroatien oder Polen.<br />

Aber wenn ich in einem Land bin, habe ich Sehnsucht nach den anderen und umgekehrt.<br />

Es ist wie eine nicht zu Ende gehende Reise, die mich ständig dazu antreibt,<br />

meine drei Heimatländer und deren Menschen immer wieder neu kennen zu lernen<br />

und mich gleichzeitig auch auf mir noch fremde Kulturen neugierig macht.<br />

Magdalena Rusan<br />

22 23


Kulturtipps Kulturtipps<br />

Fremd gelesen<br />

zusammengestellt von Slavka Rude-Porubska<br />

Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau<br />

1945. Siedler Verlag, 2003.<br />

Breslau hat im Laufe seiner Geschichte<br />

viele Herrscher gesehen. Aber nur<br />

1945 folgte auf die Verschiebung der<br />

Staatsgrenzen ein vollständiger Bevölkerungsaustausch.<br />

Die Deutschen wurden<br />

aus Breslau vertrieben und durch<br />

Polen ersetzt, von denen viele ihrerseits<br />

Vertriebene aus dem an die Sowjetunion<br />

gefallenen Ostpolen waren. Für die<br />

meisten Ansiedler blieb Breslau lange<br />

eine fremde Stadt, die, so die verbreitete<br />

Furcht, früher oder später wieder<br />

an die Deutschen fallen würde. Noch<br />

bis in die fünfziger Jahre war die beim<br />

Kampf um die „Festung“ Breslau in den<br />

letzten Kriegsmonaten zerstörte Stadt<br />

eine Trümmerwüste. Doch im diplomatischen<br />

Ringen um die Oder-Neiße-<br />

Grenze war Breslau von so herausragender<br />

politischer Bedeutung, dass der<br />

polnische Staat und seine Gesellschaft<br />

in gemeinsamer Anstrengung darangingen,<br />

Breslau wieder aufzubauen und<br />

zu einer glänzenden Metropole zu machen.<br />

Der Autor schildert, wie sich der<br />

Bruch von 1945 aus der Perspektive<br />

Breslaus ausnahm, wie man aus einer<br />

deutschen eine polnische Stadt zu machen<br />

versuchte und wie sich dies im<br />

Stadtbild niedergeschlagen hat.<br />

Peter Stamm: In fremden Gärten. Erzählungen.<br />

Arche Verlag, 2003.<br />

Die Helden in Peter Stamms neuem Erzählband<br />

kommen aus den unterschiedlichsten<br />

Orten. Sie leben zu zweit, allein,<br />

haben eine Familie und Kinder - oder<br />

auch nicht. Manche sind jung, andere<br />

alt. Alle sind sie irgendwohin unterwegs,<br />

alle scheinen sie auf etwas zu warten.<br />

Auf einen Zug oder auf ein Schiff, auf<br />

eine Geste der Liebe oder einfach auf<br />

das Ende, wie die kranken Reisenden<br />

auf dem Weg nach Lourdes.<br />

Beqe Cufaj: Der Glanz der Fremde. .<br />

Zsolnay Verlag, 2005.<br />

Zwei Leben, eine Kindheit: Ricky und<br />

Arben wachsen in der mehrheitlich von<br />

Albanern bewohnten Provinz Kosovo<br />

auf. Die Lethargie des Lebens im Abseits<br />

spüren sie mehr, als daß sie davon<br />

wissen. Und auch wenn sie kaum<br />

etwas gemeinsam haben, verbindet<br />

sie ein Wunsch: eine bessere Zukunft.<br />

Auf unterschiedlichen Wegen gelangen<br />

schließlich beide nach Deutschland,<br />

wo sie einander treffen. Vom Glanz<br />

ist jedoch nur die Fremde übriggeblieben.<br />

Beqe Cufaj erzählt die Geschichte<br />

dieses seltsamen Paares, das auf tragikomische<br />

Weise versucht, die Träume<br />

nicht aus den Augen zu verlieren.<br />

Die Welt ist ein Buch.<br />

Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.<br />

Augustinus<br />

Daniel Cil Brecher: Fremd in Zion. Deutsche<br />

Verlags-Anstalt, 2005.<br />

Daniel Brecher, geboren 1951, wuchs<br />

als Sohn einer im Zweiten Weltkrieg<br />

verfolgten jüdischen Familie in Düsseldorf<br />

auf. Hin- und hergerissen zwischen<br />

dem Diasporaleben im Land der Täter<br />

und dem Ruf der Zionisten, entscheidet<br />

er sich für ein Leben in Israel. Die<br />

Realitäten des jungen Staates — das<br />

Beharren auf seinem ausschließlich<br />

jüdischen Charakter, die alltägliche<br />

Diskriminierung der arabischen Bevölkerung,<br />

der ständige Kriegszustand<br />

— desillusionieren ihn bald. Als Historiker<br />

in der Armee beginnt Brecher<br />

sich kritisch mit der Geschichte Israels<br />

auseinanderzusetzen. Deutlich spürt er<br />

den Konformitätsdruck, der die Gesellschaft<br />

prägt. Schließlich verlässt er das<br />

Land. Um seine Zukunft zu sichern, so<br />

Daniel Brechers Ausblick, muss Israel<br />

den Zionismus überwinden und sich<br />

grundlegend erneuern.<br />

Necla Kelek: Die fremde Braut. Kiepenheuer<br />

& Witsch, 2005.<br />

Zeynep ist 28 Jahre alt, Mutter von<br />

drei Kindern und lebt seit zwölf Jahren<br />

in Hamburg. Sie versorgt den Haushalt<br />

ihrer Großfamilie und spricht kein<br />

Wort Deutsch. Die Wohnung verlässt<br />

sie nur zum Koranunterricht. Sie ist<br />

eine ‚Import-Gelin‘, eine Importbraut,<br />

eine moderne Sklavin. Tausende junger<br />

türkischer Frauen werden jedes Jahr<br />

durch arrangierte Ehen nach Deutschland<br />

gebracht. Die demokratischen<br />

Grundrechte gelten für sie nicht, und<br />

niemand interessiert sich für ihr Schicksal.<br />

Die türkisch-muslimische Gemeinde<br />

redet von kulturellen Traditionen, beruft<br />

sich auf Glaubensfreiheit und grenzt<br />

sich von der deutschen Gesellschaft ab.<br />

Und findet dafür Verständnis bei den<br />

liberalen Deutschen, die eher bereit<br />

sind, ihre Verfassung zu ignorieren als<br />

sich den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit<br />

machen zu lassen. Necla Kelek,<br />

Türkin mit deutschem Pass, deckt die<br />

Ursachen dieses Skandals auf.<br />

Sabine Ipsen-Peitzmeier, Markus Kaiser<br />

(Hg.): Zuhause fremd. transcript, 2006.<br />

Seit Beginn der 1990er Jahre, als der<br />

Zuzug von Spätaussiedlern aus der<br />

ehemaligen UdSSR seinen Höhepunkt<br />

erreichte, wächst in Deutschland das<br />

wissenschaftliche Interesse an den<br />

Russlanddeutschen, an ihrer Geschichte,<br />

ihrer Migration sowie ihrer Situation<br />

in der deutschen Gesellschaft. Auch die<br />

Beiträge dieses Bandes widmen sich<br />

diesen Themen. Was sie jedoch über<br />

ihren aktuellen Bezug hinaus auszeich<strong>net</strong>,<br />

ist die deutsch-russische Zusammensetzung<br />

der Autoren, die sich den<br />

Gegenstand aus ihrer jeweils eigenen<br />

Perspektive aneignen und dabei ein vielschichtiges<br />

Bild zeichnen.<br />

24 25


Pinnwand<br />

„Die spinnen, die Anderen...?”<br />

Manchmal bestätigen sich Klischees auch: in Tansania traf<br />

ich auf einen ganz anderen Umgang mit Zeit, der mich als<br />

getriebenen Europäer zu Geduld und Entspannung herausgefordert<br />

hat. So war für die Einheimischen die Verspätung<br />

einer Fähre auf dem Tanganjika-See von über 30 Stunden<br />

ganz selbstverständlich... Irgendwie kommt man schon an!<br />

Ich steige in den Fahrstuhl. Außer mir fährt noch eine weitere<br />

Person in den achten Stock. Die Person steigt aus - und sagt<br />

„Danke“. Vor meinem verwirrten Gesicht schließt sich die Fahrstuhltür.<br />

Warum Danke; noch dazu von einer mir fremden Person<br />

in einer mir nicht geläufigen Sprache? Danke, dass wir es bis hier<br />

her geschafft haben, der Fahrstuhl nicht stecken blieb, kein Feuer<br />

ausbrach?<br />

Alltägliches aus Polen (Sara Esther)<br />

Brasilianische Ästhetik:<br />

neonfarbige, im Dunkeln<br />

leuchtende Plastikrosenkränze.<br />

Bolivianische Erfrischungsgetränke:<br />

vergorener, von den<br />

Frauen des Dorfes vorgekauter<br />

Maisbreisaft (Chicha) –<br />

na dann Prost!<br />

(Philipp)<br />

„Treffen um 19h30?“ - „Ja, ok. Das ist gut,<br />

dann fahren wir alle zusammen los.“ Tja,<br />

schade. Um 20h15 ist immer noch keiner da.<br />

An französische Terminabsprachen muss man<br />

sich erstmal gewöhnen.<br />

Vive la France. (Almuth Sürmann)<br />

Essengehen in den USA: Die Gabel noch im Mund<br />

wird man gefragt, ob man die Reste mitnehmen<br />

möchte. Oder es kann einem passieren, dass man<br />

schon beim Servieren zum baldigen Zahlen aufgefordert<br />

wird. Ein unhöflicher Rausschmiss? Keineswegs,<br />

denn je häufiger man in den USA essen geht,<br />

desto mehr weiß man diesen schnellen Service zu<br />

schätzen. Time is money.<br />

(Judith Suttrup)<br />

Einem Nordrhein-Westfalen sagt man:<br />

„Ich komme aus Bayern.“ Einem Italiener<br />

stellt man sich als Deutscher vor.<br />

Einem<br />

Asiaten gegenüber fühlt man sich dann<br />

als Europäer. Heißt das: Je weiter man<br />

weg ist, desto größer wird die Heimat?<br />

(Cathrin Bengesser)<br />

jeder mensch ist anders<br />

sagt man so und lacht<br />

über den geschmack des<br />

anderen<br />

einzig artig ist der mensch<br />

hab ich gelernt<br />

mit unveräußerlichen rechten<br />

ein anderer mensch<br />

fragt mich am bahnhof nach kleingeld<br />

andererseits.<br />

Aus meinem kanadischem Tagebuch: In<br />

einem Club taucht aus dem Nichts ein<br />

Typ hinter mir auf und schreit: „Bück dich!“<br />

Andere Länder- andere Tanzsitten.<br />

Treibgut<br />

Sie treiben durchs Dasein,<br />

im Alltag verloren,<br />

entfremdet sich Selbst.<br />

Dem Leben gestohlen,<br />

dem Willen entwunden,<br />

dem Schicksal geschenkt.<br />

Die Leere der Blicke,<br />

im Albtraum gefroren,<br />

die Maske des Nichts.<br />

Laura Pennington<br />

Künstlerische Arbeit<br />

26 27


Aufsatz Aufsatz<br />

Ein Bett voller Flöhe<br />

Lebendige Ökumene im Ostseeraum<br />

Hannah Hufnagel<br />

Neun Länder grenzen an die Ostsee, drei christliche Konfessionen prägen die Kultur und ein Eiserner Vorhang<br />

trennte Ost von West. Und dennoch haben die Menschen im Ostseeraum mehr gemeinsam, als sie trennt. Das<br />

baltic intercultural and ecumenical <strong>net</strong>work (bien) regt zum Austausch zwischen jungen Christen an und überspringt<br />

die Grenzen von Sprache, Konfession und Kultur.<br />

Orthodoxe Gesänge wehen durch die warme Sommerluft. Es<br />

wird langsam dunkel. Die ersten Sterne leuchten blass am<br />

graublauen Julihimmel. Vor wenigen Minuten ist die Sonne<br />

im Meer versunken. Die alte Klosterruine St. Klemens wird<br />

heute Abend von zweihundert Kerzen erhellt. Große Schatten<br />

tanzen unruhig an den groben Kalksteinmauern. Von außen<br />

mag es ein gespenstischer Anblick sein. Innerhalb der<br />

Mauern fühlen wir uns sicher und geborgen. Die orthodoxen<br />

Melodien können bald alle mitsingen und wer noch unsicher<br />

ist, hält sich an seinem Liederheft fest.<br />

Mächtige Steinbögen umspannen die Grundmauern der Ruine<br />

und geben den Blick auf den Himmel frei. Wir sehen sonst<br />

nichts von der Außenwelt und haben nur einander. Beinahe<br />

zweihundert junge Menschen in leichten, bunten Sommerkleidern<br />

stehen gen Osten gewandt. Jeder von uns hält eine<br />

Kerze in den Händen. Wir beschließen den Tag mit einem<br />

orthodoxen Abendgebet. Das mittelalterliche Kloster ist eine<br />

besonders eindrucksvolle Kulisse. Als zum Ende des Gebets<br />

der Mond hinter den Rosenranken aufgeht, da ahnen wir,<br />

dass wir diesen Abend so schnell nicht vergessen werden.<br />

Es war der 31. Juli 20<strong>02</strong>, der dritte Tag des bienfestivals in<br />

Visby auf der Insel Gotland. Mitten in der Ostsee treffen sich<br />

196 junge Menschen aus den umliegenden Ländern, um die<br />

Gemeinsamkeiten unseres christlichen Glaubens kennen zu<br />

lernen. Wir haben viel gemeinsam, das spüren wir bald. Es<br />

spielt eigentlich gar keine so große Rolle, welche Sprache<br />

wir sprechen oder welcher Konfession wir angehören. Die<br />

Fragen an unseren Glauben und die Erwartungen an unsere<br />

Zukunft sind die gleichen. Und trotzdem ist da die Geschichte,<br />

die uns trennt. Wir finden, dass es an der Zeit ist, diese<br />

Grenzen gemeinsam zu überwinden.<br />

Bien, das baltic intercultural and ecumenical <strong>net</strong>work, ist<br />

eine junge Initiative. Sie entstand im Jahr 2000 auf Initiative<br />

evangelisch-lutherischer Jugendpastoren. Zehn Jahre<br />

nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schien der Ostseeraum<br />

noch immer zweigeteilt in Ost und West. Die jungen<br />

Menschen diesseits der imaginären Grenze wussten nicht<br />

viel von dem Leben jenseits und drüben kannte man niemanden<br />

von hier. Der christliche Glaube war eine Basis, auf<br />

der sich aufbauen ließ, und so trafen sich im Sommer 2001<br />

die ersten 80 Neugierigen in Riga. Schnell waren Pläne geschmiedet<br />

und ein Kontakt<strong>net</strong>z geknüpft. Die Initiative wuchs<br />

zu einem richtigen Netzwerk, mit dem Ziel, den Austausch<br />

zwischen jungen Christen im Ostseeraum anzuregen.<br />

Bien geht dabei bewusst über Ländergrenzen hinweg, überwindet<br />

Sprachbarrieren und öff<strong>net</strong> Türen in den Mauern der<br />

Konfessionen.<br />

DAS VATER UNSER GLEICHZEITIG IN NEUN<br />

VERSCHIEDENEN SPRACHEN ZU BETEN, VERBINDET<br />

Gelebte Ökumene ist in Deutschland zur Selbstverständlichkeit<br />

geworden, dabei sind wir mit etwa gleich vielen<br />

Katholiken und Protestanten eine Ausnahme. Deutsche<br />

bien-Teilnehmer sind oft überrascht, wenn sie im Gespräch<br />

feststellen, dass in den anderen Ostseeanrainerstaaten die<br />

Ökumene längst nicht so lebendig ist. Das kann wie etwa<br />

in Skandinavien auch daran liegen, dass es dort kaum Katholiken<br />

gibt und nicht jede lutherische Gemeinde eine katholische<br />

Partnergemeinde haben kann. Manchmal können<br />

sich katholische Gemeinden vor Anfragen kaum retten.<br />

Manchmal steht der Ökumene aber auch die nationale Kirchenleitung<br />

im Weg. Doch die Stärke unseres Netzwerkes<br />

ist unsere Unabhängigkeit. Bien ist ein loses Bündnis und keine<br />

feste Institution mit etablierten Strukturen. Streitereien<br />

um die Frauenordination in der lutherischen Kirche mögen<br />

zwar zu Verstimmungen zwischen der Schwedischen und<br />

der Lettischen Kirchenspitze führen, aber das beeinträchtigt<br />

unsere Arbeit an der Basis nicht. Wir machen trotzdem<br />

weiter. Oder gerade deshalb.<br />

Allerdings ist bien auch immer nur so aktiv, wie seine Mitglieder,<br />

also die jungen Menschen und ihre Heimatgemeinden.<br />

Das zentrale bien-Büro wechselt nämlich jährlich Ort<br />

und Mitarbeiterstab und wird von einer lokalen Kirchengemeinde<br />

geführt. Jede Gemeinde hat ihre Kapazitäten und<br />

jedes Team seine Ideen, doch es gibt so etwas wie einen<br />

Konsens und den unverwechselbaren bien spirit, der unser<br />

Netzwerk zusammenhält. Und so haben wir bisher in jedem<br />

Jahr gemeinsam ein internationales Festival feiern können,<br />

eine Mischung aus Happening und Besinnung.<br />

Visby 20<strong>02</strong> war das zweite bienfestival und das erste, an<br />

dem ich teilnahm. Getreu dem Festivalmotto „On the move“<br />

(Lukas 24) haben sich die knapp 200 jungen Christen auf<br />

den Weg gemacht, um fünf Tage lang gemeinsam zu singen<br />

und zu beten, zu diskutieren und zu feiern. Ich erinnere<br />

mich noch sehr genau an meine ersten Erfahrungen in der<br />

internationalen Ökumene, zum Beispiel an die Neugier einer<br />

Protestantin, was junge Katholiken eigentlich vom Papst hal-<br />

ten, oder die Überraschung eines Katholiken, dass die orthodoxen<br />

Frauen während des Gebets ihren Kopf bedecken. Die<br />

zufälligen Gespräche bei den Mahlzeiten und die intensiven<br />

Diskussionen in den einzelnen Workshops sind bereichernd<br />

und anregend. Einen stärkeren Eindruck hinterlassen jedoch<br />

jedes Jahr die Gebete und Gottesdienste einerseits und die<br />

gemeinsamen Aktivitäten und Ausflüge andererseits. Es<br />

ist sehr beeindruckend, die verschiedenen Konfessionen in<br />

einem Morgen- und einem Abendgebet zu erleben, das die<br />

Teilnehmer nach ihrer Tradition selbst gestaltet haben. Nur<br />

einmal, nämlich für den Gottesdienst, teilen wir uns nach<br />

Konfessionen auf und feiern Eucharistie und Abendmahl<br />

getrennt. Aber auch das ist eine Bereicherung, denn jede<br />

Nation bringt sich auf ihre Weise in den Gottesdienst ein. Es<br />

versteht sich von selbst, dass wir Lieder in allen neun Sprachen<br />

des Ostseeraums singen, doch wenn wir dann das<br />

Vater Unser sprechen und jeder in seiner Muttersprache<br />

betet, ist das für mich heute wie vor sieben Jahren in Visby<br />

ein besonders verbindender Moment.<br />

MIT DER EVANGELISCHEN LITURGIE VERTRAUT,<br />

IN DER KATHOLISCHEN MESSE ZU HAUSE<br />

Jedes Festival hat seine besondere Note, die das Vorbereitungsteam<br />

nicht nur durch das Motto, sondern auch durch<br />

Workshops und Visits festlegt. Während der fünf Tage wird<br />

nämlich auch der Austragungsort zum Thema. Unterschiedliche<br />

Ausflüge führen uns auf den Spuren einer Sozialpädagogin<br />

in das besetzte Kopenhagener Stadtviertel Christiania<br />

oder unter der Leitung eines pensionierten Pastors in eine<br />

russisch-lutherischen Kirche, die in der kommunistischen<br />

Ära als Schwimmhalle genutzt wurde. Wir gehen in der St.<br />

Petersburger Station von Radio Maria auf Sendung, besuchen<br />

die Hamburger Seemannsmission und tanken in einem<br />

Exerzitienhaus des Bistums Uppsala Kraft. Der Blick hinter<br />

28 29


Aufsatz Aufsatz<br />

die makellose, touristische Großstadtfassade ist Programm.<br />

Wir wollen verstehen, wie es sich so lebt in Kopenhagen oder<br />

Hamburg und mit welchen Herausforderungen die Christen<br />

in Uppsala oder St. Petersburg zu kämpfen haben.<br />

FÜNF TAGE LEBEN WIE EIN RUSSISCHES WAISENKIND<br />

Das Festival in Visby war in mancher Hinsicht das beste<br />

bienfestival. Die mittelalterliche Hansestadt mit den beeindruckenden<br />

Kirchenruinen, den romantischen Sonnenuntergängen<br />

am Strand, dem pulsierenden Leben und den vielen<br />

verträumten Rosengässchen bot eine malerische Kulisse.<br />

Sicher sind meine Eindrücke auch deshalb so bunt und vielfältig,<br />

weil es mein erster Kontakt mit diesem besonderen<br />

Netzwerk war — und weil ich in Visby meinen Mann kennen<br />

gelernt habe. Die Hafenstadt war für ein bienfestival einfach<br />

perfekt: Was liegt näher, als sich mit einem Ostsee<strong>net</strong>zwerk<br />

auch tatsächlich mitten im Meer zu treffen? Auf den Spuren<br />

der Hanse kamen wir fast alle mit dem Schiff zu der geschichtsträchtigen<br />

Ostseeinsel. Wenn auch nicht alle ganz<br />

so stilecht wie die Nordelbische Jugend, die auf zwei Galeassen<br />

gen Visby segelte und während des Festivals im Hafen<br />

ankerte. Der Gedanke des verbindenden Meeres und des<br />

Schiffs als altem christlichen Symbol setzte sich im letzten<br />

Jahr fort: Eine internationale Besatzung segelte zum bienfestival<br />

nach Turku an der finnischen Küste. In diesem Jahr<br />

geht die Reise nach Klaipeda in Litauen. Ich wurde sofort<br />

vom bien spirit angesteckt. Die Schwedische Kirche faszinierte<br />

mich in Visby ganz besonders. Deshalb entschied<br />

ich mich nach dem Abitur für ein Freiwilliges Soziales Jahr<br />

in Schweden. Als Katholikin ging ich bewusst in den protestantischen<br />

Norden und in eine evangelische Gemeinde.<br />

In Uppsala führte ich das bien-Büro und koordinierte das<br />

Festival 2005. Ein ganzes Jahr lebte ich in einer evangelischen<br />

Gemeinde und lernte die ureigenen Traditionen<br />

der schwedisch-lutherischen Kirche kennen<br />

und schätzen. Manchmal kam mir die Liturgie<br />

sehr vertraut und katholisch vor und dennoch<br />

gab es Momente, in denen ich mich nur in<br />

der Katholischen Messe zu Hause fühlte<br />

— eine Erfahrung, die ich ohne bien nie<br />

gemacht hätte.<br />

Doch so sehr Visby 20<strong>02</strong> meinen<br />

persönlichen Geschmack<br />

getroffen hat und so sehr ich<br />

meine eigenen Ideen in Uppsala<br />

2005 einbringen konnte — ein<br />

in jeder Hinsicht besonderes<br />

Festival fand 2004 in St. Petersburg statt. Seit dem 1. Mai<br />

desselben Jahres wurde die Europäische Union um die Ostseeanrainer<br />

Polen, Estland, Lettland und Litauen erweitert.<br />

Russland ist somit das einzige Land in der Ostseeregion, das<br />

nicht zur EU gehört, und Kaliningrad eine Enklave inmitten<br />

des europäischen Staatenbündnisses. Die Sonderstellung<br />

des Landes spürten wir schon bei der Einreise: Endlose<br />

Passkontrollen und Gepäckdurchsuchungen empfingen uns<br />

an der finnisch-russischen Grenze. Unsere internationale<br />

Reisegruppe erregte Aufsehen. Unsere Aufmerksamkeit<br />

wurde schnell von dem schockierenden Gegensatz zwischen<br />

Arm und Reich gefesselt. Die Bilder von schäbigen<br />

Holzbaracken, die windschief an der überwachungskamerabewehrten<br />

Mauer einer Luxusvilla lehnten sind uns noch<br />

immer im Gedächtnis. Täglich wechselten wir in St. Petersburg<br />

von imponierenden Prachtboulevards zu erschreckend<br />

verkommenen Hinterhöfen. Diese Lebenswirklichkeit hatte<br />

sich niemand aus Westeuropa vorstellen können.<br />

Wir wohnten während der fünf Tage in einem russischen<br />

Waisenhaus. Für den Sommer war das Heim für die Kinder<br />

geschlossen und für unterschiedliche Gruppen geöff<strong>net</strong>.<br />

Wir teilten uns das große Gelände mit einer Gruppe<br />

tschetschenischer Kinder. Die Unterkunft entsprach weder<br />

irgendeinem westeuropäischen Standard noch unseren<br />

bescheidenen Erwartungen, obwohl wir bei den vorangegangenen<br />

Festivals in einfachen Turnhallen und schlichten<br />

Klassenzimmern untergebracht waren. Die Zimmer des<br />

Waisenhauses waren in einem katastrophalen Zustand, von<br />

den Sanitäreinrichtungen ganz zu schweigen. Aber es beschwerte<br />

sich niemand über Ungeziefer im Bett und keiner<br />

klagte über fehlende Toilettentüren. Wir waren ja nur fünf<br />

Tage hier, das ist nichts im Vergleich zu einer ganzen Kindheit<br />

in einem Bett voller Flöhe. Es gab nur kaltes Wasser und<br />

auch das reichte nicht immer für eine Dusche: Für die kleinen<br />

Tschetschenen war fließendes Wasser der pure Luxus und<br />

sie spielten minutenlang unter dem eisigen Wasserstrahl.<br />

Uns haben die Tage in St. Petersburg tief beeindruckt. Der<br />

Blick auf das ungeschönte Bild der Metropole hat uns die<br />

russische Lebenswelt ein Stückchen näher gebracht. Und<br />

es sind genau diese Eindrücke, die wir auch bei den künftigen<br />

Festivals nicht missen wollen. Deshalb kommen jeden<br />

Sommer bis zu zweihundert junge Christen zusammen. Alle<br />

wollen sie jenseits der eigenen Konfession Kontakte knüpfen<br />

und etwas von dem Leben auf der anderen Seite des Meeres<br />

erfahren. Bei mir und meinem Mann war es nicht anders.<br />

Dass wir uns dann ausgerech<strong>net</strong> in einander verliebten, die<br />

wir beide in Hamburg aufgewachsen sind, war so nicht geplant.<br />

Zumindest aber stammen wir aus unterschiedlichen<br />

Konfessionen und leben nun auch den ökumenischen Alltag<br />

in unserer Familie und nicht nur zwischen Nordkap und Mecklenburger<br />

Seenplatte. Bien lebt von den persönlichen Kontakten<br />

und internationalen Freundschaften.<br />

Denn wer an jenem Sommerabend in der alten Klosterruine<br />

die Erfahrung gemacht hat, dass Orthodoxe, Katholiken<br />

und Protestanten einen gemeinsamen Glauben haben und<br />

man eben diesem Glauben auf ganz unterschiedliche Weise<br />

gemeinsam Ausdruck verleihen kann, der lässt sich von<br />

seinem Engagement für die Ökumene nicht mehr so schnell<br />

abbringen.<br />

Wenn Gott sich in einem Hotel eintragen müsste,, er wüsste wahrscheinlich<br />

gar nicht, was er unter „Konfession“ schreiben sollte.<br />

Hans-Dieter Hüsch<br />

30 31


Reisetipps<br />

Andere Länder - Andere Kirchen<br />

Religiöse Bauten weltweit<br />

Hannah Hufnagel und Philipp Schönecker<br />

Die LIBERTY LADY bekennt sich zum Christentum: Statt Leuchte streckt<br />

die Kopie der Freiheitsstatue ein goldenes Kreuz in den Himmel und hält<br />

die zehn Gebote im Arm. Die gut 21 Meter hohe Statue ist das Wahrzeichen<br />

der größten Baptistengemeinde in Memphis.<br />

Schluss mit Totenstille! Der Friedhof VILLA DE GUADALUPE an der mexikanischen<br />

Basilika der Jungfrau von Guadelupe, einem der bekanntesten<br />

Marienheiligtümer der Welt, verwandelt sich an Allerheiligen zu einer<br />

bunten Feiermeile: Familien picknicken auf den Gräbern ihrer Angehörigen,<br />

ausgestattet mit Zuckertotenköpfen und makabren Girlanden. Bis<br />

in die Nacht wird wild gefeiert.<br />

Lust auf einen Ausflug ins Heilige Land zu Zeiten Jesu? Der Bibelpark<br />

in Buenos Aires macht’s möglich: In TIERRA SANTA wird die<br />

Auferstehung des Heilands alle halbe Stunde inszeniert, Martin Luther<br />

und Mutter Theresa sind auch mit von der Partie.<br />

…der hat auf keinen Sand gebaut: 90 Meter unter der Erde liegt die<br />

Untergrundkirche im schwedischen KRISTINEBERG, mitten in einer<br />

Metallgrube, in der noch immer Silber und Gold abgebaut werden.<br />

Die Repression des Sowjetregimes gegenüber den Religionen<br />

machte auch auf vor deren Sakralbauten nicht Halt. Die deutsche<br />

Gemeinde in St. Petersburg wurde in ein öffentliches Schwimmbad<br />

umgewandelt. Heute ist SANKT PETRI wieder ein Gotteshaus, die<br />

Spuren des Umbaus sind noch immer deutlich zu erkennen.<br />

Männer unter sich: In der autonomen Mönchsrepublik auf dem<br />

heiligen Berg ATHOS in Griechenland leben über 2.200 orthodoxe<br />

Klosterbrüder. Frauen ist der Zutritt verboten, weibliche Haustiere<br />

eingeschlossen. Ausgenommen sind lediglich Hennen, deren frischer<br />

Eidotter für die Ikonenmalerei benötigt wird.<br />

In Mali steht das größte Sakralgebäude aus Lehmziegeln: Die mittelalterliche<br />

Moschee von DJENNÉ wird jedes Jahr nach Ende der Regenzeit<br />

gemeinschaftlich von den Einwohnern der Stadt repariert.<br />

Einst war sie eines der wichtigsten islamischen Zentren und gilt<br />

bis heute als Höhepunkt der sudanesisch-sahelischen Architektur.<br />

Die größte Kirche der Welt steht in Rom? Falsch: Die Petersdomkopie<br />

an der Elfenbeinküste ist wenige Quadratmeter größer als<br />

das Original. Präsident Félix Houphouët-Boigny gab 1983 den Auftrag<br />

für das Mammutprojekt Basilika NOTRE-DAME-DE-LA-PAIX.<br />

Zu Besuch beim Wüstenscheich: Eine der modernsten Moscheen<br />

ist die SCHAH-FAISAL-MOSCHEE in Islamadad. Die Nationalmoschee<br />

von Pakistan ist mit der quadratischen Gebetshalle einem<br />

traditionellen Beduinenzelt nachempfunden.<br />

Die älteste noch erhaltene Kirche liegt im israelischen MEGIDDO<br />

unterhalb eines modernen Gefängnisses. Das Gotteshaus stammt<br />

aus dem ersten christlichen Jahrhundert.<br />

Unter Ratten: Im indischen KARNI-MATA-TEMPEL werden über<br />

20.000 Ratten als Reinkarnation der Göttin Durga verehrt. Die<br />

barfüßigen Gläubigen essen und trinken aus den Opferschalen der<br />

Nagetiere. Eine über den Fuß huschende Ratte bringt Glück.<br />

Der größte Tempelkomplex der Welt liegt in Kambodscha. In ANG-<br />

32 33<br />

Reisetipps<br />

KOR WAT wurden auf einer Gesamtfläche von mehr als 200 km2<br />

bisher über 1.000 große und kleine Heiligtümer unterschiedlicher<br />

Größe entdeckt.<br />

Ein boomendes Geschäft sind die Tempel der japanischen Wasserkinder,<br />

wie der JOSUT-KANNON-TEMPEL in Tokio. Aus Angst vor<br />

der Rache ihrer abgetriebenen Kinder verehren die Mütter dort<br />

kleine Buddha-Skulpturen in Babyoutfits. Für den Service müssen<br />

sie zahlen.<br />

Den Jesus vom Zuckerberg kennt jeder, aber die MARIENSKULP-<br />

TUR auf den Philippinen soll mit 1<strong>02</strong> noch einmal zwei Meter größer<br />

und damit die höchste Statue der Welt werden.<br />

Typisch Touri: Der ULURU im australischen Outback ist für die Aboriginals<br />

heilig und spielt eine zentrale Rolle im indigenen Mythos des<br />

Landes. Dass jährlich tausende Touristen den Berg erklimmen, ist<br />

Teil der respektlosen Vermarktung des Wahrzeichens.


Impuls Impuls<br />

„Seid ihr nur die Kaderschmiede des Establishments?“<br />

Eine Frage an die cusanische Öffentlichkeit von Michael Fipper<br />

Unlängst folgte ich dem Gespräch zweier pensionierter Schuldirektoren, die zeitlebens in der katholischen Kirche<br />

verwurzelt waren. Obwohl beide jenseits der 70, waren sie doch voller Leidenschaft:<br />

„Wir haben in unserer Kirche eine Vorrevolutionsstimmung wie im Herbst 1989“, meinte der eine. „Selbst treue<br />

und engagierte Katholiken begehren auf. Da kocht viel mehr unter der Oberfläche, als die Schlagzeilen in den Medien<br />

widerspiegeln.“<br />

„Diese Vorrevolutionsstimmung spüre ich auch“, entgeg<strong>net</strong>e sein Gegenüber, „aber ich fürchte, es ist nicht wie<br />

1989, sondern eher wie im März 1848: Jeder weiß, dass es mit ‚Hochwürden’ und ‚Euer Exzellenz’ auf Dauer nicht<br />

weiter geht. Aber was es letztlich heißt, ‚das Reich unter demokratischer Führung zu vereinen’, ist leider unklar.<br />

„Du hast recht“, pflichtete der erste bei. „Viele Diskussionen drehen sich um die alten Kamellen: Frauenpriestertum,<br />

Zölibat, Homosexualität, fehlender Respekt vor dem Engagement der Laien. Jetzt kommt noch das Thema<br />

Kindesmissbrauch hinzu. Das sind aber im Grunde nur die Auslöser der Unzufriedenheit. Das ist nicht der Kern<br />

der Sache.“<br />

Der zweite sprang auf den Gedanken auf: „Genau: So wie der Auslöser des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953<br />

die Erhöhung der Arbeitsnormen gewesen sein mag — im Kern geht es um ganz andere Fragen. Wenn wir nicht<br />

enden wollen wie die Bewegungen von 1848 und 1953, dann brauchen wir eine gemeinsame Vision unter den<br />

Gläubigen, wie wir unsere Kirche eigentlich organisiert sehen wollen.“<br />

Und plötzlich wurde ich in das Gespräch hineingezogen:<br />

„Du bist doch Cusaner. Gibt es unter den Cusanern eigentlich Leute, die alternative Visionen zu den bestehenden<br />

kirchlichen Machtstrukturen und Hierarchien entwickeln? Oder seid Ihr am Ende nur die Kaderschmiede des Establishments?“<br />

Ich zögerte.<br />

„Ihr müsst ja nicht gleich die ganze Organisation infrage stellen, aber als kirchliche Elite werdet ihr derartig zentrale<br />

Fragen doch nicht einfach ausblenden: Was heißt eigentlich Demokratie in der Kirche? Nach welchen Regeln werden<br />

Kirchenobere berufen und abberufen? Womit rechtfertigen sie ihre Macht? In weltlichen Regierungen ist die<br />

Zeit der Herren ‚von Gottes Gnaden’ ja nun vorbei: Wie wird die Kirche aussehen, wenn sie eines Tages nicht nur<br />

Galilei akzeptiert, sondern sich auch mit Kant, Descartes und schließlich Rousseau auseinandersetzt?“<br />

Ich muss zugeben, dass ich von dieser Wendung des Gespräches ein wenig überfordert war. Aber Fragen, gerade<br />

auch kritische Fragen, verdienen es beantwortet zu werden. Und so gebe ich die Frage der beiden alten Herren zur<br />

Diskussion an die Cusanische Öffentlichkeit weiter.<br />

Ist es nicht sonderbar, dass die Menschen so gerne für die Religion<br />

fechten und so ungerne nach ihren Vorschriften leben?<br />

Georg Christoph Lichtenberg<br />

34 35


Aus der Geschäftsstelle<br />

„Worst case: Ein Tag im Büro“<br />

Name: Dr. Ingrid Reul<br />

Alter: Da möchte ich mit einem Zitat von August Strindberg antworten:<br />

„Wenn Sie mich fragen, wie alt ich bin, so weiß ich es nicht. Es kommt darauf an,<br />

mit wem ich spreche.“<br />

Studienfächer: Germanistik, Geschichte, Theater-, Film und Fernsehwissenschaft<br />

Abschluss: Magister | Promotion in Germanistik<br />

Wohnort: Hürth — ganz nah bei Köln<br />

Aufgabenbereich: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungsmanagement, Vertrauensdo-<br />

zenten, Hochschulgruppen, Fachschaftsarbeit, Auswahl- und Bildungsarbeit<br />

Kontakt: ingrid.reul@cusanuswerk.de, <strong>02</strong>28 98384-35<br />

Wie sieht ein typischer Arbeitstag im <strong>Cusanus</strong>werk aus, das<br />

heißt gibt es ihn überhaupt?<br />

Da die Arbeit im <strong>Cusanus</strong>werk sehr abwechslungsreich ist,<br />

sind für einen typischen Arbeitstag die verschiedensten Szenarien<br />

denkbar: ein Tag auf einer Ferienakademie, ein Tag auf<br />

einer Kolloquienreise, ein Tag während einer Auswahlsitzung<br />

oder – worst case – ein Tag im Büro.<br />

Dieser beginnt mit einem ersten Blick auf die Mails, die seit<br />

gestern abend eingetroffen sind; es wird wohl das Beste sein,<br />

sie gleich zu beantworten. Heute möchte ich am Konzept für<br />

die nächste Ferienakademie arbeiten. Ich lege schon mal die<br />

Unterlagen bereit – doch halt: Da klingelt das Telefon. Ein<br />

freundlicher Journalist möchte wissen, wie sich das <strong>Cusanus</strong>werk<br />

zur aktuellen Debatte über Bildungsgerechtigkeit verhält.<br />

Nachdem das geklärt ist, gehe ich kurz in die Küche und mache<br />

mir ein Kännchen Tee. Zurück im Büro, schlage ich die Unterlagen<br />

auf, die ich für die Akademievorbereitung zurechtgelegt<br />

hatte. Eine meiner Kolleginnen kommt herein und plündert<br />

meine — zugegebenermaßen ziemlich großen — Schokoladenvorräte.<br />

Dabei diskutieren wir kurz die Tagesordnungspunkte<br />

der morgigen Hauskonferenz.<br />

Ich muss heute auch unbedingt noch die Bewerberakten zur<br />

Vorbereitung der Kolloquien lesen, die übermorgen beginnen.<br />

Oh, und schnell mal die Homepage aktualisieren – schon wieder<br />

hat eine Cusanerin einen Preis für ihre Dissertation bekommen.<br />

Ganz dringend muss auch die Pressemitteilung zur<br />

nächsten Künstler-Ausstellung verschickt werden. Vorher<br />

sollte ich mich aber noch um die Druckfahnen für den Jahresbericht<br />

und das Programmheft kümmern. Langsam wird<br />

es Zeit für die Mittagspause im Kreis der Kolleginnen und Kollegen.<br />

Wieder am Arbeitsplatz, schreibe ich eine Idee auf, die<br />

mir zur Ferienakademie gekommen ist. Da eilt mein Kollege<br />

herein und bringt mir eine Kiste mit Vorauswahl-Akten — bitte<br />

bald lesen! Was sagen die Mails? Die Universität München<br />

plant einen Informationstag zur Studienfinanzierung; da frage<br />

ich doch gleich mal die Gruppensprecher, ob sie uns dort vertreten<br />

können. Und wir brauchen einen neuen Vertrauensdozenten<br />

— wer käme denn da in Frage? Das Tagungshaus für<br />

die nächste Akademie ruft an und fragt, ob die Teilnehmer<br />

auch in Viererzimmern übernachten können. Nein, auf keinen<br />

Fall! Unbedingt sollte ich heute noch den Eröffnungsreferenten<br />

für die Graduiertentagung anrufen, um die Inhalte seines Vortrags<br />

mit ihm abzustimmen. Was? Schon 18 Uhr? Er ist nicht<br />

mehr im Büro? Na ja, dann versuche ich es morgen wieder.<br />

Ja, so ungefähr läuft es bei mir. Das klingt alles etwas hektisch,<br />

ist aber niemals langweilig. Das wichtigste sind aber die Beratungsgespräche<br />

mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten; sie<br />

liegen mir besonders am Herzen — und dafür ist auf jeden Fall<br />

immer Zeit!<br />

Beschreiben Sie im Unterschied dazu doch mal einen typischen<br />

Urlaubstag.<br />

Mein Urlaubstag findet idealerweise an einem Phantasie-Ort<br />

statt, der die Vorzüge verschiedener Adressen miteinander<br />

vereint. Ich darf Sie also einladen, mir zu folgen: Florenz liegt<br />

am Mittelmeer, ist dicht besiedelt mit Wiener Kaffeehäusern,<br />

englischer Teekultur und italienischer Renaissance. Die Lufttemperatur<br />

liegt bei 26 Grad, die Wassertemperatur auch.<br />

Der Tag beginnt, nachdem ich lange geschlafen habe, mit<br />

einem ausführlichen Frühstück. Dann starte ich in Richtung<br />

Kultur: Kirchen, Museen, Ausgrabungen, Galerien — kurz: Alles,<br />

was mein Phantasie-Ort seit der Antike hervorgebracht<br />

hat, wird besucht. Nach einer Mittagspause an einem ruhigen<br />

Ort geht es an den Strand; dort stürze ich mich in die Wellen,<br />

bevor ich eines der 35 Bücher lese, die mein Gepäck immer<br />

etwas unhandlich werden lassen.<br />

Danach gibt es Tee und — ganz wichtig — Törtchen. So gestärkt,<br />

kann ich einen Stadtspaziergang machen, etwas shoppen<br />

(ein kurz vor dem Urlaub ausgezahlter Lottogewinn wäre<br />

nicht schlecht) und dann ein ausgiebiges Abendessen auf einer<br />

schattigen Terrasse anschließen. (Wenn ich mir dieses Programm<br />

so ansehe, scheint mir, dass mein Urlaubstag deutlich<br />

mehr Stunden haben müsste als mein Arbeitstag…)<br />

Welchen Titel trägt Ihre Traum-Ferienakademie und wie stellen<br />

Sie sich die zwölf Tage vor?<br />

Meine Traum-Ferienakademie geht aus von einem literarischen<br />

Thema, das in Bezug steht zu wissenschaftlichen Entwicklungen<br />

seiner Zeit; unter historischen Gesichtspunkten also so etwas<br />

wie Literatur und Psychoanalyse oder Literatur und Technik,<br />

aber auch im Blick auf gegenwärtige Entwicklungen lassen<br />

Aus der Geschäftsstelle<br />

sich natürlich entsprechende Wechselwirkungen finden: Wie<br />

werden die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung, wie die<br />

Probleme der Bioethik literarisch rezipiert? Welche Bezüge<br />

gibt es zur bildenden Kunst? Dass das Ganze auch interdisziplinär<br />

funktioniert, ergibt sich daraus dann ganz von selbst. Die<br />

12 Tage verbringen wir mit vielen Autorenlesungen, mit Theaterbesuchen,<br />

Literaturverfilmungen und Schreib-Workshops.<br />

Diese Ausgabe der CC widmet sich dem Thema „Andere Länder<br />

— Andere Sitten“. Welche (Un-)Sitten sind Ihnen bisher in<br />

der großen, weiten Welt begeg<strong>net</strong>?<br />

Mark Twain hat geschrieben, Menschen, die viel gereist seien,<br />

erkenne man an ihrem unzufriedenen Gesichtsausdruck. Ob<br />

sich die Unzufriedenheit aus den Reiseeindrücken ergibt oder<br />

ob sie mit der Enttäuschung zu tun hat, immer wieder in den<br />

Alltag zurückkehren zu müssen, läßt er allerdings offen. Aber<br />

im Ernst: Richtig schlimm sind lärmende Touristen, die glauben,<br />

ihnen gehöre die Welt. Ansonsten habe ich an vielen Orten<br />

große Gastfreundschaft erlebt, die sich in den verschiedensten<br />

originellen Sitten widerspiegelt. (Zum Beispiel ist es in<br />

Georgien üblich, bei jedem Trinkspruch, der am Tisch vorgetragen<br />

wird, das Wodka- oder Weinglas vollständig zu leeren. Und<br />

es gibt viele Trinksprüche im Laufe eines Abends…) Eine Unsitte,<br />

die leider immer noch als Touristenmag<strong>net</strong> funktioniert, ist<br />

meiner Ansicht nach der Stierkampf in Spanien. Ein Land, das<br />

über eine so reiche kulturelle Tradition verfügt, sollte dieses<br />

Spektakel längst abgeschafft haben.<br />

36 37


Von der Basis<br />

Ein christliches Bündnis für den Klimaschutz<br />

Markus Schmidt, Christian Weiß und Sarah Winands<br />

Mit einem Positionspapier zur UN-Klimakonferenz in<br />

Kopenhagen versuchte sich die Initiative 2°C in die<br />

Debatte über Klima- und Umweltschutz einzubringen.<br />

Aus explizit christlicher Sicht formulierten die (alt-)<br />

cusanischen Mitglieder der Initiative konkrete Forderungen<br />

an die Politik, um damit Denkanstöße für die<br />

Entscheidungsträger zu geben.<br />

Der Klimawandel ist eine Herausforderung für die<br />

gesamte Menschheit, der wir nur durch Engagement<br />

auf verschiedensten Ebenen begegnen können.<br />

Diese Auffassung teilend, machte sich die Initiative<br />

2 °C im Oktober 2009 an die Arbeit, sich darüber<br />

Gedanken zu machen, welche Konsequenzen und<br />

Forderungen sich aus dem christlichen Weltbild für<br />

den Klimaschutz ergeben. Diese Überlegungen wurden<br />

dann unter dem Titel „Für einen globalen Bund<br />

in Solidarität und Nachhaltigkeit“ als Positionspapier<br />

formuliert.<br />

Als Christen tragen wir Verantwortung für Gottes<br />

Schöpfung. Herrschaft geht in unserem Verständnis<br />

einher mit dem Auftrag, die Erde als Lebensraum aller<br />

Geschöpfe zu pflegen. Auf heutige Herausforderungen<br />

übertragen bedeutet dies die Verpflichtung,<br />

ein stabiles Klima und die Erhaltung der biologischen<br />

Vielfalt und der Ökosystemfunktionen zu gewährleisten.<br />

Zu einem behutsamen und nachhaltigen Umgang<br />

mit der Umwelt sind wir auch den zukünftigen<br />

Generationen gegenüber verpflichtet. Deren Interessen<br />

müssen bedacht und durch nachhaltiges Handeln<br />

berücksichtigt werden. Vor allem beim Klimapro-<br />

blem mit seiner globalen und langfristigen Dimension<br />

müssen die Kirchen Fürsprecher für diejenigen sein,<br />

die keine Stimme und keinen Einfluss haben. Im Fokus<br />

christlichen Handelns muss die Solidarität mit den<br />

Benachteiligten stehen (vgl. z. B. Mt 25,40). Für sie<br />

muss lautstark und offensiv Partei ergriffen werden.<br />

Wenn wir nichts gegen den Klimawandel unternehmen,<br />

riskieren wir eine humanitäre, ökologische und<br />

ökonomische Katastrophe, deren Ausmaß ihresgleichen<br />

sucht. Dabei ist eine klimaverträgliche Welt<br />

auch mit einem angemessenen Wohlstand möglich,<br />

wenn wir nur die richtigen politischen Weichen stellen.<br />

Wie eine solche Weichenstellung für die Bewahrung<br />

der Erde konkret aussehen kann, beschreibt das<br />

Papier detailliert:<br />

Unter anderem wird eine global wirksame Obergrenze<br />

für CO2-Emissionen im Einklang mit dem 2-Grad-Ziel,<br />

welches natürlich nur ein Mindestziel ist, verlangt und<br />

die Aufteilung dieses CO2-Budgets zugunsten der Entwicklungsländer<br />

gefordert. Diese werden zwar massiv<br />

von den Folgen des Klimawandels betroffen sein,<br />

haben aber kaum zu dessen Verursachung beigetragen.<br />

Weitere Forderungen sind unter anderem Nachbesserungen<br />

beim europäischen Emissionshandel,<br />

eine Verbraucher- und Informationspolitik für transparente<br />

Energiekosten sowie mehr Forschungs- und<br />

Förderprogramme für klimafreundliche Technologien.<br />

Auch wird die Bundesregierung dazu aufgerufen, am<br />

Atomausstieg festzuhalten sowie das Angebot im<br />

öffentlichen Personenverkehr auszubauen. Ein wichtiges<br />

Anliegen der Initiative 2°C war es natürlich auch,<br />

dass ihre Überlegungen und Ansichten in die Öffentlichkeit<br />

getragen und publik gemacht werden. Mit einer<br />

Online-Petition konnte die Initiative 2°C insgesamt<br />

fast 1000 Unterschriften als Unterstützer für ihr<br />

Positionspapier sammeln. Vom Bauhelfer über den<br />

Pfarrer bis hin zur Universitätsprofessorin fand das<br />

Papier in breiten gesellschaftlichen Schichten und<br />

unterschiedlichen politischen Kreisen guten Anklang.<br />

Auch viele Prominente aus Politik und Gesellschaft,<br />

wie etwa der Vize-Präsident des Deutschen Bundestags<br />

Dr. Wolfgang Thierse oder der bekannte Sozialethiker<br />

Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ, setzten<br />

ihre Unterschrift gerne auf die Unterstützerliste. Die<br />

Berichterstattung in den Medien beschränkte sich<br />

aufgrund der großen Anzahl von gesellschaftlichen<br />

Gruppen, die sich zur Klimakonferenz in Kopenhagen<br />

äußerten, auf vereinzelte Pressemitteilungen hauptsächlich<br />

im Inter<strong>net</strong>. Andererseits konnten gute Kontakte<br />

zu verschiedenen und großen Verbänden und<br />

Gruppierungen, wie dem Landeskomitee der Katholiken<br />

in Bayern oder Netzwerk Afrika Deutschland,<br />

geknüpft werden, die auch in Zukunft an einer Zusammenarbeit<br />

zu klimapolitischen Fragen interessiert<br />

sind. Ein besonderer Erfolg ist sicherlich die Einladung<br />

einiger Mitglieder der Initiative ins Bundeskanzleramt<br />

wenige Tage vor den abschließen Verhandlungen in<br />

Kopenhagen. Dort diskutierten sie das Positionspapier<br />

und die darin empfohlenen Maßnahmen gegen<br />

den Klimawandel mit Berthold Goeke, dem Leiter des<br />

Umweltreferates im Bundeskanzleramt. Außerdem<br />

wurde ihm das Papier mit besten Empfehlungen als<br />

Reiselektüre für die Bundeskanzlerin übergeben.<br />

38 39<br />

Von der Basis<br />

Große Hoffnungen wurden wenige Tage später von<br />

vielen Menschen weltweit in die Verhandlungen in Kopenhagen<br />

gesetzt. Doch leider wurden diese in fast<br />

jeder Hinsicht jäh enttäuscht. Der berühmte Satz von<br />

Bertolt Brecht „Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht<br />

kämpft, hat schon verloren“ wird zwar viel zu oft zitiert,<br />

aber nur selten passt er so gut wie beim Klimaschutz:<br />

Wenn wir nicht alle — und alle bedeutet hier konsequent<br />

gedacht letztlich die gesamte Menschheit — an<br />

einem Strang ziehen und jeder auch persönlich dazu<br />

bereit ist, seinen eigenen Teil zum Klimaschutz beizutragen,<br />

verspielen wir endgültig die (höchstwahrscheinlich)<br />

noch vorhandene Chance, unsere Erde für<br />

möglichst viele Menschen heute und insbesondere<br />

für zukünftige Generationen in einem lebenswerten<br />

Zustand zu erhalten. Insbesondere wir als Christen<br />

und Christinnen müssen diese Herausforderung annehmen,<br />

und so unsere Verantwortung für die Erhaltung<br />

der Schöpfung sichtbar werden lassen.<br />

Das gesamte Positionspapier sowie ein Hintergrundpapier<br />

ist nach wie vor auf den Inter<strong>net</strong>seiten der Initiative<br />

2°C unter www.cusanus.<strong>net</strong> abrufbar.


Von Studentenfutter<br />

der Basis<br />

Indien verstehen<br />

Auslandsakademie in der Retrospektive – ein Versuch<br />

Simone Hiller und Giulia Mennillo<br />

Nachhaltig prägend war sie, diese Ferienakademie.<br />

Gewiss. Darüber bestand unter den<br />

Teilnehmerinnen und Teilnehmern bereits bei der<br />

Abschlussrunde vor Ort Einigkeit. Wir hatten an einer<br />

Exkursion im Wortsinne teilgenommen: Indien war ein<br />

„Herauslaufen aus dem Gewohnten“ in vielerlei Hinsicht.<br />

Dass diese Erfahrung irreversible Spuren hinterlassen<br />

hatte — keine Frage. Was im Einzelnen und vor allem<br />

im Zusammenhang zu dieser unmittelbaren Intuition<br />

geführt haben mag, war noch eindrucksschwanger im<br />

Sitzkreis auf dem überklimatisierten Hotelfußboden<br />

reflektierend jedoch schwer zu greifen. Nicht ganz zwei<br />

Wochen und nur zwei Orte hatten — gespeist bis in<br />

die letzten Stunden vor der Abreise — ein Mosaik von<br />

Eindrücken, Reflexionen, Erfahrungen und nicht zuletzt<br />

Fragen ausgelegt, das vorerst trotz der erahnten<br />

Existenzialität provisorisch blieb. Offen auch die<br />

Frage, wie sich das Gesammelte und diese spontane<br />

erste Reflexion im realen Alltags-Dasein eines jeden<br />

niederschlagen würden. Und auch drei Monate nach der<br />

Rückkehr vom indischen Subkontinent dürften noch viele<br />

Fragen dieser Art unbeantwortet sein und es wäre mehr<br />

als voreilig, Gegenteiliges zu behaupten. Gleichermaßen<br />

soll der Umstand, dass die Teilnehmenden womöglich<br />

— und hoffentlich — niemals vollständig mit dieser Reise<br />

abschließen werden, keinem Versuch entgegenstehen,<br />

dieses Erlebnis zumindest in Ausschnitten im Lichte<br />

einer mittelfristigen Retrospektive zu betrachten und<br />

den CC-Leserkreis an dieser Reflexion teilhaben zu<br />

lassen.<br />

FÜR „UNS“ UNVORSTELLBARE RELIGIÖSE UND<br />

SPIRITUELLE PLURALITÄT<br />

Zwei inhaltliche Schwerpunkte bestimmten die Akademie:<br />

zum einen die gesellschaftliche Situation der Dalits<br />

(auch unter der umgangssprachlichen Bezeichnung<br />

die „Kastenlosen“ oder die „Unberührbaren“ bekannt),<br />

zum anderen der interreligiöse Dialog im Rahmen<br />

einer für okzidentale Verhältnisse (vielleicht noch) nicht<br />

vorstellbaren religiösen und spirituellen Pluralität. Die<br />

beiden thematischen Stränge erwiesen sich schnell<br />

als Klammer, die das vielseitige Programm zwischen<br />

Taj Mahal, wissenschaftlichen Vorträgen, Besuch<br />

von Forschungsinstituten, Ausflug auf das Land,<br />

Gottesdiensten und Basarbesuchen gewissermaßen<br />

Studentenfutter<br />

zusammenhielt. Sie waren ein roter Faden durch<br />

die Akademie sowohl im Hinblick auf Begegnungen,<br />

Vorträge und Besuche als auch hinsichtlich der<br />

beiden geographischen Stationen unserer Reise, der<br />

Hauptstadt Neu Delhi im Norden mit deren Umland<br />

und der Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu<br />

namens „Chennai“ (früher Madras) mit ihrem ländlichen<br />

Hinterland.<br />

SÄKULARISIERUNG: ZWANGSLÄUFIGE FOLGE DES<br />

WIRTSCHAFTSWACHSTUMS?<br />

Indien, ein Land an der Schwelle zwischen Tradition und<br />

Moderne, so lautete der Titel der Auslandsakademie –<br />

ein Land inmitten von gelebter Herkunft und Zukunft, wo<br />

Tradition und Moderne keine Gegensätze sind und sich<br />

aus unserer Perspektive manchmal doch fundamental<br />

widersprechen, lässt sich nach der Reise differenzierter<br />

formulieren. Egal ob zwischen den engen Gassen Alt-<br />

Delhis, mitten auf den Straßen der etwas „kleineren“<br />

Stadt Chennai in Südindien (im Vergleich zu den ca. 18,5<br />

Millionen Einwohnern in Delhi und Umland „nur“ ca. 8<br />

Millionen Einwohner) oder in den Diskussionsrunden mit<br />

hochrangigen Referenten aus Wissenschaft und Politik:<br />

Wir mussten feststellen, dass wir zum Verstehen<br />

der Wendepunktsituation dieser hochkomplexen<br />

aufstrebenden Atommacht erst einen common<br />

sense, ein Gefühl, dafür entwickeln müssen, welche<br />

Überzeugungen und Muster fest verwurzelt im Habitus<br />

und in der Mentalität der Menschen verankert sind. Es<br />

ist der Versuch, ein wertfreies Verständnis von Tradition<br />

als Ausgangspunkt zu entwickeln – weder verurteilt als<br />

überkommen Althergebrachtes noch glorifiziert als<br />

bewährt Überliefertes. Nur unter dieser Prämisse mag<br />

es überhaupt möglich sein, vom Status Quo Indiens aus<br />

die Einflüsse der Moderne herauszukristallisieren und<br />

deren Wechselwirkungen mit diesem multiethnischen<br />

Land zu erahnen und in Ansätzen nachzuvollziehen. Bei<br />

diesem aufgrund der begrenzten Zeit kurzen, aber dafür<br />

umso intensiveren Lernprozess half streckenweise<br />

ein Vergleich mit unserer westlichen Entwicklung, die<br />

durchaus Parallelen zur indischen aufweist. In anderen<br />

Fällen scheiterte unsere europäische Perspektive; zum<br />

Beispiel, wenn einsichtig wird, dass der erste Schritt<br />

zur Modernisierung eines fernab liegenden „tribal<br />

village“ nicht Brunnenbau und Elektrifizierung sind,<br />

40 41


Studentenfutter<br />

sondern die Ganztageskinderbetreuung. Andererseits<br />

machten wir auch grundlegende Unterschiede in der<br />

Auswirkung bestimmter ökonomischer Entwicklungen<br />

aus; beispielsweise den in Indien nicht funktionierenden<br />

Automatismus, dass ein höheres Wirtschaftswachstum<br />

gleichzeitig zu höherem Wohlstand, einem besseren<br />

Lebensstandard und einer gleichmäßigeren Verteilung<br />

der Einkommen führt. Sicherlich — Indien befindet<br />

sich als Schwellenland noch im Anfangsstadium; die<br />

allseits sichtbare Armut war dennoch erschreckend<br />

und befremdend. Andererseits wurden wir von den<br />

renommierten Forscherinnen am „Center for Womens’<br />

Development Studies“ in Delhi mit Begriffen wie „jobless<br />

growth“ und „glass ceiling“ konfrontiert; ihre Forschung<br />

beschäftigt sich neben tödlichen „Haushaltsunfällen“<br />

von Frauen (eine noch immer vorkommende Form, sich<br />

seiner Ehefrau zu entledigen) und der weiblichen nicht<br />

offiziell anerkannten Schwerstarbeit in Familie, Haushalt,<br />

aber auch Straßenbau, zudem mit dem weiterhin<br />

sinkenden Frauenanteil in der Bevölkerung gerade in der<br />

entstehenden Mittelschicht und allem Wachstum zum<br />

Trotz. Und hinter und in alldem: die von uns verkürzt als<br />

Kastensystem wahrgenommene Gesellschaftsordnung,<br />

die noch immer ausschlaggebend für eine Heirat und<br />

allzu oft für den sozialen Status ist. Man erkennt rasch,<br />

eine rein isolierte Betrachtung der verschiedenen<br />

Themenkomplexe ist kaum möglich, auch weil Anspruch<br />

und Wirklichkeit gerade beim Kastenwesen eklatant<br />

auseinanderklaffen. Verfassungsrechtlich abgeschafft,<br />

scheint gerade das Kastenbewusstsein durch Gesetze,<br />

die dazu dienen, die Benachteiligung aufgrund von<br />

Kastenzugehörigkeit zu verbieten, wieder geschärft zu<br />

werden. Plötzlich kämpfen Angehörige niedriger Kasten<br />

ebenfalls darum als „scheduled cast“ gelistet zu werden,<br />

um von den damit verbundenen Vorteilen zu profitieren.<br />

Gleichzeitig behält die Kastenzugehörigkeit trotz ihrer<br />

vehementen und teilweise erfolgreichen Leugnung — von<br />

der UN wird sie nicht automatisch als Diskriminierung<br />

angesehen, weil es nicht um Geschlecht, Religion oder<br />

Ethnie geht und die Verfassung sie verbietet — in Indien<br />

eine alle Lebensbereiche betreffende Gültigkeit. Während<br />

der Akademie konnten wir im direkten Austausch mit<br />

Dalit-Vertretern erfahren, wie unvergleichlich dieses<br />

System mit seinen stabilitätsorientierten Elementen<br />

jedem Individuum in der Gesellschaft seinen festen Platz<br />

zuweist und jedwede Art der tatsächlichen sozialen<br />

Mobilität verbietet. Bildung, hierzulande als das Werkzeug<br />

schlechthin für festes Einkommen und Wohlstand<br />

gepriesen, kann den angeborenen Status innerhalb des<br />

Kastensystems in Indien bislang nur in beispielhaften<br />

Einzelfällen wett machen.<br />

Das Gespräch<br />

mit dem Bischof der<br />

Diözese Chingleput<br />

konnte uns zudem<br />

vor Augen führen, wie<br />

Kastenzuordnungen selbst vor konfessionellen und<br />

religionsspezifischen Grenzen keinen Halt machen, auch<br />

nicht vor den hierarchischen Strukturen der katholischen<br />

Kirche: Ganz nach dem Motto „Kaste sticht Amt“ gibt<br />

es Fälle, in denen katholische Priester den aus einer<br />

Dalit-Familie stammenden Bischof nicht als Leiter der<br />

Diözese anerkennen. Die Annahme, beim Kastensystem<br />

handle es sich um ein dem Hinduismus zuzurechnendes<br />

religiöses System, muss auch anhand anderer Beispiele<br />

hinterfragt werden. Die religiöse Verquickung im Alltag<br />

der Bürger dieser<br />

sich selbst als säkular<br />

verstehenden größten<br />

Demokratie der Welt<br />

mutet fremd an: Die<br />

bereits erwähnte indische<br />

Mittelschicht,<br />

jenes Produkt des<br />

wirtschaftlichen Aufschwungs,<br />

gibt sich<br />

durch die erarbeitete<br />

und neu gewonnene<br />

Kaufkraft keineswegs<br />

säkularer, ganz im<br />

Gegenteil von religiösem<br />

Vakuum kann<br />

nicht die Rede sein,<br />

wenn der sich nun<br />

allmählich einstellende<br />

Wohlstand nicht zu-<br />

Studentenfutter<br />

letzt auch der Göttin des Reichtums, Lakshmi, der Gattin<br />

des Vishnu, gedankt wird. Öffentlicher Anspruch und<br />

private Wirklichkeit gehen augenscheinlich diametral<br />

auseinander. Nach diesen vereinzelten Reflexionen,<br />

die selbstverständlich nur ansatzweise wiedergeben können,<br />

welche Denkanstöße eine solche Bildungsreise auszulösen<br />

vermag, sei angemerkt, dass diese Auslandsakademie<br />

— wir wagen im Namen aller zu sprechen — für uns alle<br />

eine einzigartige und in dieser Form für uns bislang nicht<br />

dagewesene Möglichkeit war, Indien hautnah mit Geist<br />

und allen Sinnen zu erleben, für die wir allen Beteiligten<br />

— allen voran der professionellen wie aufopfernden<br />

Begleitung von Dr.<br />

Kölzer und Pater Dr.<br />

Markus Lubor —<br />

nochmals herzlich<br />

Theodor Fontane<br />

danken möchten.<br />

Hoffentlich werden<br />

noch viele Fortsetzungen folgen, die „barfüßige<br />

Großmacht“ und andere herausfordernde Länder zu<br />

ergründen — wohlwissend, dass andere Länder wie<br />

andere Sitten nie vollkommen zu erfassen sein werden.<br />

Im Rahmen der cusanischen Ferienakademie dieses so<br />

andere Land zu bereisen, war eine einmalige Möglichkeit<br />

von zweiwöchiger Dauer; das „Andere“ zu reflektieren,<br />

ist nun wohl die lebenslange Aufgabe, das Eigene und<br />

das Fremde sowie das Eigene im Fremden fruchtbar<br />

miteinander in Verbindung zu bringen.<br />

Bloßes Ignorieren ist noch keine Toleranz<br />

42 43


Studentenfutter Studentenfutter<br />

Über 2000 Meter ist man immer per DU!<br />

Ergebnisse einer Feldforschung der Fachschaft Expedition<br />

Peter Kneip, Stefan Zinsmeister und Christoph Lindner<br />

ANDERE LÄNDER, ANDERE GETRÄNKE<br />

„Ein Ferner kann kalben und wenn dir das Wasser ausgeht,<br />

kannst Gletschermilch trinken“. Auf diese Weise wurden die<br />

Expeditionsmitglieder von Dr. Ludwig Braun begrüßt. Aber<br />

um eines gleich klar zu stellen, oberhalb von „2.000 Meter<br />

ü.N.N. ist man immer per Du“, wie Ludwig uns aufklärte. Die<br />

Einweisungen in die besonderen Formen der Bergsprache Tirols<br />

begleitete die Fachschaft Expedition auf ihrer gesamten<br />

Forschungsreise vom 7. - 11. Juli <strong>2010</strong>. Kalbt ein Gletscher,<br />

so kann man sich das getreu des semasiologischen Gehaltes<br />

des Wortes kalben bildlich vorstellen, und wer je ein Kuh kalben<br />

gesehen hat, der weiß wovon die Rede ist. Und auch das<br />

Kompositum Gletschermilch erweckt Bilder einer sahnigfrischen<br />

Flüssigkeit, doch erzeugt durch die Gesteinsanteile,<br />

die das Gletscherwasser mit sich den Berg herunterbringt,<br />

gleicht der Geschmack in keiner Weise einer frischen Alpenmilch.<br />

Es verhält sich eher so, dass die Gletschermilch auf der<br />

Zunge nach und nach zerbröselt und zwischen den Zähnen<br />

knirscht. Trotzdem nahmen einige Teilnehmer einen großen<br />

Schluck aus Ludwigs geschnitztem Becher.<br />

ANDERE TÄLER, ANDERE SITTEN<br />

Dass nicht nur in anderen Ländern andere Sitten herrschen,<br />

sondern bereits in anderen Tälern, lässt sich in Obergurgl und<br />

Vent beobachten. Ursprünglich sind das zwei unscheinbare<br />

Bergdörfer, die je durch ein außergewöhnliches Ereignis in die<br />

Weltöffentlichkeit katapultiert wurden. So weiß der Obmann<br />

des Tourismusverbandes von Obergurgl zu berichten: „Der<br />

bekannte Schweizer Physiker und Erfinder Auguste Pi<strong>cc</strong>ard<br />

musste am 27. Mai 1931 mit seinem Stratosphärenballon<br />

auf dem Gurgler Ferner notlanden. Das bis dato verträumte<br />

Dorf Obergurgl sollte an jenen Tag mit einem Schlag geweckt<br />

werden.“ Nicht nur wurde Obergurgl geweckt, sondern aus<br />

dem verschlafenen 14-Höfe-Nest schossen die Pensionen<br />

wie Pilze aus dem Boden. Aus diesem Übernachtungsgeflecht<br />

ragen heute einige überdimensionierte, ja aufgedunsene „Alpenhütten“<br />

hervor — Hotelanlagen mit allem Komfort. Aber<br />

Obergurgl lässt auch nicht jedermann rein! Man ist vor allem<br />

der Ort der Engländer: „20 Prozent der Übernachtungsgäste<br />

stammen aus England“ und auf Nachfrage wurde ergänzt:<br />

„50-55 Prozent der Gäste kommen aus Deutschland“ mit<br />

dem im für den 400 Seelen Ort überdimensionierten Gemeinderaum<br />

verhallenden Nebensatz „Die heißen wir natürlich<br />

auch gerne willkommen“. Mit ganz anderem Stimmvolumen<br />

berichtete man stolz: „Aber von Osteuropa sind wir verschont<br />

geblieben. Es gibt hier fast keine Russen.“ Da bleibt für den<br />

Obmann des Tourismusverbandes nur zu hoffen, dass im<br />

von Obergurgl sehsüchtig erwarteten Ufo, um wieder wie zu<br />

Pi<strong>cc</strong>ards Zeiten in die Presse zu kommen, kein Russe sitzt.<br />

Doch schon hier lassen sich ethnogeographische Unterschiede<br />

ablesen. Obergurgl wurde durch einen Ausländer<br />

berühmt gemacht, Vent dagegen durch einen Ureinwohner.<br />

Es war im Jahre 1991, als „Der Mann im Eis“ von der Familie<br />

Simon, die sich eigentlich nur erleichtern wollte, am<br />

Tisenjoch gefunden wurde, ehe er vom Bergführer und Tourismusobmann<br />

Louis Pirpamer, den wir auf unserer Expedition<br />

trafen, ausgegraben wurde. Es begann eine Erfolgsgeschichte<br />

für das kleine Örtchen — auch Vent wurde über<br />

Nacht berühmt. Seither hofft Vent wahrscheinlich darauf,<br />

dass eine 75.000 Jahre alte Mumie im Gletschereis gefunden<br />

wird, deren DNA zu 100 Prozent mit Louis Pirpamer<br />

übereinstimmt, getreu seinem Motto: „Vent bleibt Vent“.<br />

Welches Weltereignis die Dörfer demnächst heimsuchen<br />

wird, kann mit Sicherheit nur einer beantworten — der Messner!<br />

Reinhold ist natürlich ein Bergkumpel vom Pirpamer Louis,<br />

der ihn wie seine Westentasche kennt. Der Reinhold konnte<br />

das Alter des Ötzi, als er noch frisch im Schnee lag, freilich auf<br />

dem ersten Blick exakt datieren: „500 Jahre!“. Die 300-400<br />

Jahre vom Louis waren ihm zu pauschal. Wie wir inzwischen<br />

wissen, trennen den Schätzungen von Reinhold und Louis und<br />

das tatsächlichen Alter von Ötzi gerade mal eine Potenz!<br />

ANDERE LÄNDER, ANDERE VERANTWORTUNG<br />

Während einer anderen Etappe unserer Expedition durften<br />

wir nach dem Bezwingen einer schotterigen Bergstraße in<br />

2.000m ü.N.N. nicht nur erleben, wie sehr die erste Reihe in<br />

den Kleinbussen begehrt war, sondern auch selbst unseren<br />

Beitrag zum Schutzwald leisten. Insgesamt wurden in Zusammenarbeit<br />

mit der Gruppe Forst des Landes Tirol 200 Lärchen<br />

und Fichten gepflanzt. Nun ist das Stubaital künftig noch<br />

besser vor Lawinen und Hangrutschen geschützt. Ein <strong>net</strong>ter<br />

Nebeneffekt, auch für uns hier in Deutschland, ist der dabei<br />

neu gewonnene CO2-Speicher „Baum“. Dies schien uns bis<br />

dato auch einleuchtend und vernünftig, bis die Frage kam, wo<br />

die ganzen Viecher denn nun grasen, wenn ihre Weideflächen<br />

zu Wald werden. Ganz einfach, erklärte uns der Dieter, alias<br />

Dr. Stöhr vom Forstamt. Zum Ausgleich für die verlorenen<br />

Weideflächen würden den Stubaier Kühen schon mal Sojapellets<br />

serviert. Der Soja wiederum keime gerne auf den gerodeten<br />

Flächen des brasilianischen Regenwaldes. Aber auch<br />

diese Auswirkung des Carbon Capture and Storage „Made in<br />

Austria“ wird man eines Tages gelöst haben, vielleicht wenn<br />

wir in 50 Jahren ins Stubaital zurückkehren, um unseren<br />

cusanischen Schutzwald zu besuchen, denn viel schneller<br />

wächst dort nichts.<br />

ANDERE TAGUNGSFORMEN, BLEIBENDE EINDRÜCKE<br />

Will man ein Resümee zur ersten Fachschaftstagung im<br />

Expeditionsformat ziehen, so müsste man tief durchatmen<br />

und zu einem langen Absatz ansetzen: über den beeindruckenden<br />

Natur- und Kulturraum Alpen, das Forschen mit<br />

allen Sinnen im Geiste des doppelten Humboldts und die<br />

cusanische Gemeinschaft auf 2.000 m bis 3.000 m ü.N.N.<br />

An Stelle eines solchen Absatzes empfehlen wir jedoch lieber<br />

drei Dinge. Zunächst ein Klick auf www.glaziologie.de,<br />

wo der rauschende Vernagtferner bei seiner Diät zu sehen<br />

ist. Dann greife man zum Telefon und wähle die 089/37<br />

914058, um dem Gletscher beim Schwitzen und ins Talrauschen<br />

zu lauschen. Und zu guter Letzt nutze man die<br />

vielen Möglichkeiten, die das <strong>Cusanus</strong>werk uns bietet, und<br />

entfessle den eigenen Entdeckergeist — eine wissenschaftlich<br />

wie persönlich bereicherte Rückkehr ist garantiert.<br />

So bedanken wir uns ganz herzlich beim <strong>Cusanus</strong>werk für die<br />

Gelegenheit zu dieser Expedition und verbleiben bis zum nächsten<br />

Mal mit einem schallenden „Mach den Humboldt!“<br />

44 45


Herbstausgabe<br />

Die Utopie der Gerechtigkeit<br />

„Das Leben ist ungerecht, aber denke daran: nicht immer zu deinen Ungunsten.“<br />

John F. Kennedy<br />

Demnach ist Gerechtigkeit also nur etwas für hoffnungslose Idealisten?<br />

In der nächsten Ausgabe möchten wir die verschiedenen Aspekte des Themas beleuchten. Fragen der<br />

Bildungsgerechtigkeit sind dabei ebenso aktuell wie der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit.<br />

Allenthalben werden mehr Hochschulabsolventen gefordert, die von der bildungsbasierten deutschen<br />

Wirtschaft dringend benötigt werden. Gleichzeitig ist zu fragen: Wer schafft es an die Universitäten und<br />

Fachhochschulen? Wer bekommt ein Stipendium? In Deutschland spielt dabei die soziale Herkunft eine<br />

im internationalen Vergleich beschämend große Rolle: Bayerische Akademikerkinder haben eine sechsmal<br />

höhere Chance eine Gymnasialempfehlung zu bekommen als die Arbeiterkinder im Freistaat. Ist das<br />

Bildungsgerechtigkeit?<br />

Nicht nur in Deutschland herrscht die Wahrnehmung vor, dass die Schere zwischen Arm und Reich<br />

zunehmend auseinanderklafft, erhitzen sich bei millionenschweren Managerboni in Zeiten der Krise die<br />

Gemüter. Während der Staat die großen Banken rettet, wird bei Hartz IV-Empfängern gespart. Ist das<br />

soziale Gerechtigkeit?<br />

Doch davon nicht genug: Auch beim Thema Gleichberechtigung der Geschlechter gibt es noch Defizite.<br />

Immer noch verdienen Frauen für gleiche Arbeit oft weniger als ihre männlichen Kollegen – nur Folge<br />

ihres mangelnden Verhandlungsgeschicks? Brauchen wir eine Frauenquote für die Chefetage wie etwa<br />

in Norwegen?<br />

Und was ist mit der Generationengerechtigkeit (Rentenpolitik)? Internationaler Gerechtigkeit (Verteilung<br />

und Verbrach der Ressourcen)? Gerechtigkeit in der Rechtsprechung (Gleichheit vor dem Gesetz)? Ja,<br />

gibt es den Gerechten Krieg?<br />

Und schließlich die Frage: Inwieweit tragen wir als privilegierte Stipendiaten, Begünstigte der Technologiehochburg<br />

Deutschland, wohlhabende Europäer und überzeugte Christen für die Verwirklichung der<br />

Utopie bei? Was tun wir für die Annäherung an den idealen Zustand des sozialen Miteinanders, in dem<br />

es einen angemessenen, unparteilichen und einforderbaren Ausgleich der Interessen und der Verteilung<br />

von Gütern und Chancen zwischen den beteiligten Personen oder Gruppen gibt, den man Gerechtigkeit<br />

nennt?<br />

Schickt uns eure Antworten!<br />

Eure Reda<strong>cc</strong>tion<br />

Impressum<br />

REDAKTION UND GESTALTUNG<br />

Alex Gebarowski, Christian Gogolin,<br />

Hannah Hufnagel, Laura Pennington,<br />

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REDAKTIONSSCHLUSS<br />

18. Juli <strong>2010</strong><br />

ISSN 1862-9911<br />

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Herbstausgabe <strong>2010</strong>

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