cc 02_2010 - Cusanus.net
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Studentenfutter<br />
sondern die Ganztageskinderbetreuung. Andererseits<br />
machten wir auch grundlegende Unterschiede in der<br />
Auswirkung bestimmter ökonomischer Entwicklungen<br />
aus; beispielsweise den in Indien nicht funktionierenden<br />
Automatismus, dass ein höheres Wirtschaftswachstum<br />
gleichzeitig zu höherem Wohlstand, einem besseren<br />
Lebensstandard und einer gleichmäßigeren Verteilung<br />
der Einkommen führt. Sicherlich — Indien befindet<br />
sich als Schwellenland noch im Anfangsstadium; die<br />
allseits sichtbare Armut war dennoch erschreckend<br />
und befremdend. Andererseits wurden wir von den<br />
renommierten Forscherinnen am „Center for Womens’<br />
Development Studies“ in Delhi mit Begriffen wie „jobless<br />
growth“ und „glass ceiling“ konfrontiert; ihre Forschung<br />
beschäftigt sich neben tödlichen „Haushaltsunfällen“<br />
von Frauen (eine noch immer vorkommende Form, sich<br />
seiner Ehefrau zu entledigen) und der weiblichen nicht<br />
offiziell anerkannten Schwerstarbeit in Familie, Haushalt,<br />
aber auch Straßenbau, zudem mit dem weiterhin<br />
sinkenden Frauenanteil in der Bevölkerung gerade in der<br />
entstehenden Mittelschicht und allem Wachstum zum<br />
Trotz. Und hinter und in alldem: die von uns verkürzt als<br />
Kastensystem wahrgenommene Gesellschaftsordnung,<br />
die noch immer ausschlaggebend für eine Heirat und<br />
allzu oft für den sozialen Status ist. Man erkennt rasch,<br />
eine rein isolierte Betrachtung der verschiedenen<br />
Themenkomplexe ist kaum möglich, auch weil Anspruch<br />
und Wirklichkeit gerade beim Kastenwesen eklatant<br />
auseinanderklaffen. Verfassungsrechtlich abgeschafft,<br />
scheint gerade das Kastenbewusstsein durch Gesetze,<br />
die dazu dienen, die Benachteiligung aufgrund von<br />
Kastenzugehörigkeit zu verbieten, wieder geschärft zu<br />
werden. Plötzlich kämpfen Angehörige niedriger Kasten<br />
ebenfalls darum als „scheduled cast“ gelistet zu werden,<br />
um von den damit verbundenen Vorteilen zu profitieren.<br />
Gleichzeitig behält die Kastenzugehörigkeit trotz ihrer<br />
vehementen und teilweise erfolgreichen Leugnung — von<br />
der UN wird sie nicht automatisch als Diskriminierung<br />
angesehen, weil es nicht um Geschlecht, Religion oder<br />
Ethnie geht und die Verfassung sie verbietet — in Indien<br />
eine alle Lebensbereiche betreffende Gültigkeit. Während<br />
der Akademie konnten wir im direkten Austausch mit<br />
Dalit-Vertretern erfahren, wie unvergleichlich dieses<br />
System mit seinen stabilitätsorientierten Elementen<br />
jedem Individuum in der Gesellschaft seinen festen Platz<br />
zuweist und jedwede Art der tatsächlichen sozialen<br />
Mobilität verbietet. Bildung, hierzulande als das Werkzeug<br />
schlechthin für festes Einkommen und Wohlstand<br />
gepriesen, kann den angeborenen Status innerhalb des<br />
Kastensystems in Indien bislang nur in beispielhaften<br />
Einzelfällen wett machen.<br />
Das Gespräch<br />
mit dem Bischof der<br />
Diözese Chingleput<br />
konnte uns zudem<br />
vor Augen führen, wie<br />
Kastenzuordnungen selbst vor konfessionellen und<br />
religionsspezifischen Grenzen keinen Halt machen, auch<br />
nicht vor den hierarchischen Strukturen der katholischen<br />
Kirche: Ganz nach dem Motto „Kaste sticht Amt“ gibt<br />
es Fälle, in denen katholische Priester den aus einer<br />
Dalit-Familie stammenden Bischof nicht als Leiter der<br />
Diözese anerkennen. Die Annahme, beim Kastensystem<br />
handle es sich um ein dem Hinduismus zuzurechnendes<br />
religiöses System, muss auch anhand anderer Beispiele<br />
hinterfragt werden. Die religiöse Verquickung im Alltag<br />
der Bürger dieser<br />
sich selbst als säkular<br />
verstehenden größten<br />
Demokratie der Welt<br />
mutet fremd an: Die<br />
bereits erwähnte indische<br />
Mittelschicht,<br />
jenes Produkt des<br />
wirtschaftlichen Aufschwungs,<br />
gibt sich<br />
durch die erarbeitete<br />
und neu gewonnene<br />
Kaufkraft keineswegs<br />
säkularer, ganz im<br />
Gegenteil von religiösem<br />
Vakuum kann<br />
nicht die Rede sein,<br />
wenn der sich nun<br />
allmählich einstellende<br />
Wohlstand nicht zu-<br />
Studentenfutter<br />
letzt auch der Göttin des Reichtums, Lakshmi, der Gattin<br />
des Vishnu, gedankt wird. Öffentlicher Anspruch und<br />
private Wirklichkeit gehen augenscheinlich diametral<br />
auseinander. Nach diesen vereinzelten Reflexionen,<br />
die selbstverständlich nur ansatzweise wiedergeben können,<br />
welche Denkanstöße eine solche Bildungsreise auszulösen<br />
vermag, sei angemerkt, dass diese Auslandsakademie<br />
— wir wagen im Namen aller zu sprechen — für uns alle<br />
eine einzigartige und in dieser Form für uns bislang nicht<br />
dagewesene Möglichkeit war, Indien hautnah mit Geist<br />
und allen Sinnen zu erleben, für die wir allen Beteiligten<br />
— allen voran der professionellen wie aufopfernden<br />
Begleitung von Dr.<br />
Kölzer und Pater Dr.<br />
Markus Lubor —<br />
nochmals herzlich<br />
Theodor Fontane<br />
danken möchten.<br />
Hoffentlich werden<br />
noch viele Fortsetzungen folgen, die „barfüßige<br />
Großmacht“ und andere herausfordernde Länder zu<br />
ergründen — wohlwissend, dass andere Länder wie<br />
andere Sitten nie vollkommen zu erfassen sein werden.<br />
Im Rahmen der cusanischen Ferienakademie dieses so<br />
andere Land zu bereisen, war eine einmalige Möglichkeit<br />
von zweiwöchiger Dauer; das „Andere“ zu reflektieren,<br />
ist nun wohl die lebenslange Aufgabe, das Eigene und<br />
das Fremde sowie das Eigene im Fremden fruchtbar<br />
miteinander in Verbindung zu bringen.<br />
Bloßes Ignorieren ist noch keine Toleranz<br />
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