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Orientierung durch Philosophieren - Fachverband Philosophie e.V.

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Mandy Telle (Gymnasium Stadtfeld, Wernigerode)<br />

Verbrannte Erde, angesengtes Selbst<br />

und Wahrhaftigkeit<br />

Ich möchte mich in meinem Essay mit dem Zitat des Montaigne auseinandersetzen: „Man darf die<br />

Maske und den Schein nicht mit dem wirklichen Wesen verwechseln. [...] Es reicht, sich das Gesicht<br />

zu pudern; müssen wir uns auch noch die Seele pudern?"<br />

Mir ist schlecht. Schlecht von all den Maskenmenschen um mich herum, mit ihren grinsenden Gesichtern<br />

und ihrer geheuchelten Bewunderung für die neuen Flipflops ihres Gegenübers.<br />

Gemeinschaftsfrühstück der Klasse 11b. Abschlussfrühstück vor den Sommerferien. Alle hocken<br />

auf einem Haufen, wie Aasgeier auf ihrer Beute. Sie geben mit vollen Mündern krümelspuckend Belanglosigkeiten<br />

von sich. Gerade eben lacht das Mädel mit dem fett aufgetragenen Neonpink-<br />

Lidschatten und den wasserstoffblondgefärbten Engelslocken über die Physiklehrerin. Letztere hat<br />

mühsam das Frühstück vorbereitet, so auch das Marmeladenbrot, auf dem der Blondschopf euphorisch<br />

mit offenem Mund kaut. Das Mädchen wirft den Kopf in den Nacken, ihr Push-Up-BH drückt<br />

dabei im vibrierenden Rhythmus ihres Hyänengegeifers ihre Brüste nach oben.<br />

Ich seufze, doch dieses Geräusch geht im Lärm der Menge unter. Außerdem sitze ich mit einem<br />

Schreibblock in der Hand zu weit abseits dieser Leute, als dass sie mich hören könnten. Abgekapselt,<br />

sozusagen. - Wie stolz ich doch manchmal darüber bin, anders zu sein. Nicht an dieser allgemeinen<br />

Hysterie teilnehmen zu müssen. Stolz, wahrhaftig zu sein; im Sportunterricht über jene Diven<br />

lachend, die sich bei Ballspielen einen Fingernagel abbrechen. Eine Freundin riet mir einmal, in<br />

dieser Situation das zu sagen: „Kauf dir doch einen neuen." Denn natürlich sind die Nägel künstlich.<br />

Wie so vieles hier. Wie so viele.<br />

Es ist wie mit geschlossenen Türen: stehe ich davor, so wage ich es nicht, hineinzugehen. Aus<br />

Angst vor dem, was mich erwartet. Aus Furcht, enttäuscht zu werden. So lausche ich auf die Geräusche<br />

hinter der Schranke zwischen mir und den anderen Individuen. So gedämpft klingen die<br />

Töne ihres Gesprächs zu mir, dass ich mir gerade sicher sein kann, sie mir nicht eingebildet zu haben.<br />

Doch wie peinlich wäre es, wenn die Tür plötzlich aufginge und man mich lauschend davor<br />

fände? Also trete ich einige Schritt weit zurück. Ins Verborgene. Ich muss nun angestrengter horchen.<br />

Dabei bilde ich mir im Stillen eine Meinung über die noch gesichtslosen Leute hinter der Tür.<br />

Wer sind sie? Was denken sie wohl über mich?<br />

Ist es dann so weit und die Tür öffnet sich, fragende Blicke nähern sich mir, misstrauische, neutrale,<br />

neugierige, verschleiere ich dann nicht mein Gesicht? Wer will schon sagen, er hätte jemanden willentlich<br />

belauscht? Schlage ich bei der Frage, was ich hier täte, nicht die Augen nieder? Um zu<br />

murmeln „Ich suche das Klo."? Und deutet dann nicht mein Verhörmeister in erfragte Richtung, mit<br />

einem schiefen Lächeln, das die Augen nicht erreicht? In solchen Momenten bin ich nicht besser,<br />

als diese Leute: Sie hüten ihre Geheimnisse hinter verschlossenen Türen, selbst wenn sie wissen,<br />

dass sie noch andere Mitbewohner haben. Und ich? Ich brauche nicht einmal eine Tür, um mich<br />

nicht entdecken zu lassen. Ich habe die Maske vor meinem Gesicht.<br />

So vergeht der Stolz auf meine Andersartigkeit. Ich sehe mich gezwungen zu erkennen, dass ich<br />

nichts weiter als ein Zombie der Gesellschaft bin. Wie wir alle. Dabei gibt es keine Täter oder Opfer,<br />

nur viele Individuen. Diese können noch so einsiedlerisch sein, Möchtegern-Eremiten, unter denen<br />

es kein Wir gibt. Aber wenn da eine fremde Gruppe kommt und sie als IHR beschimpft, raufen sie<br />

sich da nicht zusammen, all die Solisten? Um zu sagen „WIR sind nicht so"?<br />

Soeben las ich die letzte Seite des Oscar Wilde - Romans „The Picture of Dorian Gray" und mein<br />

Hirn ist am Kochen; alles Blut pulsiert dort, weshalb meine Hände unberührt von der lebenserhaltenden<br />

Flüssigkeit bleiben. Sätze, Bilder, Geschichten, Stimmungen und Musik im Kopf (Chopin) -<br />

alles zusammen. Mit Abstand eines der besten Bücher, welches ich bisher las. Oscar Wilde hat ei-<br />

FACHVERBAND PHILOSOPHIE E.V.

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