Orientierung durch Philosophieren - Fachverband Philosophie e.V.
Orientierung durch Philosophieren - Fachverband Philosophie e.V.
Orientierung durch Philosophieren - Fachverband Philosophie e.V.
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
38<br />
so starb er auch als nordischer Märtyrer. Doch darf man wirklich sagen, er hätte sich seine „Seele<br />
gepudert", wenn er zwar zur Kirche geht, also den christlichen Glauben nach außen hin annimmt,<br />
aber im Kopf noch den alten Herren Asgards huldigt? Ist er sich untreu geworden, weil er mehr an<br />
seinem Leben und dem Ruf seiner Familie als an Würde und persönlichem Stolz hängt? Macht ihn<br />
diese Entscheidung zu einem schlechteren Menschen?<br />
Besser noch lässt sich das an der Zeit des Nationalsozialismus erklären. Heute sind wir uns sicher,<br />
dass es absolut nötig gewesen wäre, mehr Widerstandskämpfer gehabt zu haben. Wir wissen, dass<br />
es enorm mutig war, aktiv und landesintern der Opposition angehört zu haben, wie die Geschwister<br />
Scholl. Wir tun uns schwer damit, die Mitläufer zu bewerten. Und wir verurteilen alle, die aktiv und<br />
entzückt das Terrornetz der Nazis unterstützten. Wir wissen außerdem, dass es falsch war, sich von<br />
einer Ideologie blenden zu lassen, die sich auf gezielten Genozid und sogar Nostradamus berief.<br />
Heute sehen wir die Widersprüchlichkeit Hitlers, der klein an Körpergröße, jedoch groß an Stimmgewalt<br />
war; der den Erhalt der Reinheit des deutschen Volkes predigte und selbst Österreicher war.<br />
Hitler war weder blond, noch hatte er blaue Augen.<br />
Würde ich an dieser Stelle Ihnen, meinen Lesern, gegenübersitzen, so würde ich Sie auffordern, die<br />
Augen zu schließen. Ich würde Ihnen von einem meiner Träume berichten, der mir widerfuhr, nachdem<br />
ich das Jüdische Museum in Halberstadt besucht und am Abend den Roman Polanski-Film<br />
„Der Pianist" gesehen hatte. Eine Frau in grauem Kostüm steht am geöffneten Fenster. Ich bin körperlos,<br />
betrachte sie von hinten. Ihr langes, brünettes Haar trägt sie offen, was nicht recht zur altmodisch<br />
eingerichteten Wohnung passen mag. Die leicht gebeugte Haltung, der schräg angelegte<br />
Kopf, die hängenden Schultern erinnern mich an jemanden. Amüsiert stelle ich fest, dass ich selbst<br />
diese Frau bin. Nun spähe ich über ihre rechte Schulter, um zu sehen, was sie beobachtet. Dort unten<br />
ist eine lange Straße und eine große graue Kolonne zieht auf ihr vorüber. Ich sehe Hüte; Koffer;<br />
resigniert dreinschauende Frauen mit plärrenden Kindern auf den Armen. Tristesse und kaltes<br />
Grauen überkommen mich. Nackte Angst, als mir von dort unten aus der leichenzugähnlichen Menschenmasse<br />
höhnisch die gelben Sterne ins Gesicht grinsen.<br />
Dieser Traum eröffnete mir völlig neue Sichtweisen. Seither frage ich mich, was ich wohl damals getan<br />
hätte. Wäre ich von der Euphorie der Masse angesteckt, infiziert, und anfällig für die giftige Propaganda<br />
gewesen? Mitläufer mit schlechtem Gewissen? Hätte ich Juden Schutz gewährt? Mein eigenes<br />
Leben riskiert im aktiven Widerstand? Ein Freund erzählte mir, wäre er damals geboren worden<br />
mit seinem heutigen Denken, er hätte so schnell es noch irgend zu Beginn möglich gewesen<br />
wäre, die Flucht aus Deutschland angetreten. Im Ausland hätte er dann Leute auf die politischen<br />
Missstände aufmerksam gemacht, eine Opposition gegründet und auf diese Weise (aus sicherer<br />
Ferne) Widerstand geleistet.<br />
Was ich sagen möchte, ist, dass Außenstehende die Fehler der Menschen stets begreifen und zu<br />
berichtigen, zu kritisieren suchen. Aber ist man selbst in solch einer Extremsituation, verschwimmen<br />
die Konturen von Wahr und Falsch nur allzu schnell. Ich will diesen Teil meiner Argumentation mit<br />
einem Aphorismus von Nietzsche bekräftigen: „Bedenklich. - Einen Glauben annehmen, bloß weil<br />
er Sitte ist, - das heißt doch: unredlich sein, feige sein, faul sein! - Und so wären Unredlichkeit, Feigheit<br />
und Faulheit die Voraussetzungen der Sittlichkeit?"<br />
Auch ist es mit Schwierigkeiten verbunden, als Deutscher nach außen hin Nationalstolz zu zeigen.<br />
Dann ist man gleich Nazi. Aber ich bekunde offen, auch auf Reisen im Ausland (doch zugegebenermaßen<br />
nur dann, wenn ich danach gefragt werde): ich mag Deutschland. Ich stehe zu meinem<br />
Herkunftsland, zu seiner Geschichte. Warum auch nicht? Es ist, bei weitem kein vollkommener<br />
Staat, nichts, das besser wäre als andere Staaten. Aber hier liegen meine Wurzeln, im sogenannten<br />
Land der Dichter und Denker. Es gab ein Deutschland vor den Weltkriegen und auch eines danach.<br />
Doch ebenso gehört die Mitte dazwischen zu unserer Geschichte, lässt sich nicht verschweigen -<br />
soll sie auch nicht! (Die Trümmerliteratur hat da mit Böll und dem jungen Wolfgang Borchert respektable<br />
Aufarbeitung geleistet.) So ist Weimar ein gutes Beispiel des Zusammenwirkens von<br />
FACHVERBAND PHILOSOPHIE E.V.