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Orientierung durch Philosophieren - Fachverband Philosophie e.V.

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so starb er auch als nordischer Märtyrer. Doch darf man wirklich sagen, er hätte sich seine „Seele<br />

gepudert", wenn er zwar zur Kirche geht, also den christlichen Glauben nach außen hin annimmt,<br />

aber im Kopf noch den alten Herren Asgards huldigt? Ist er sich untreu geworden, weil er mehr an<br />

seinem Leben und dem Ruf seiner Familie als an Würde und persönlichem Stolz hängt? Macht ihn<br />

diese Entscheidung zu einem schlechteren Menschen?<br />

Besser noch lässt sich das an der Zeit des Nationalsozialismus erklären. Heute sind wir uns sicher,<br />

dass es absolut nötig gewesen wäre, mehr Widerstandskämpfer gehabt zu haben. Wir wissen, dass<br />

es enorm mutig war, aktiv und landesintern der Opposition angehört zu haben, wie die Geschwister<br />

Scholl. Wir tun uns schwer damit, die Mitläufer zu bewerten. Und wir verurteilen alle, die aktiv und<br />

entzückt das Terrornetz der Nazis unterstützten. Wir wissen außerdem, dass es falsch war, sich von<br />

einer Ideologie blenden zu lassen, die sich auf gezielten Genozid und sogar Nostradamus berief.<br />

Heute sehen wir die Widersprüchlichkeit Hitlers, der klein an Körpergröße, jedoch groß an Stimmgewalt<br />

war; der den Erhalt der Reinheit des deutschen Volkes predigte und selbst Österreicher war.<br />

Hitler war weder blond, noch hatte er blaue Augen.<br />

Würde ich an dieser Stelle Ihnen, meinen Lesern, gegenübersitzen, so würde ich Sie auffordern, die<br />

Augen zu schließen. Ich würde Ihnen von einem meiner Träume berichten, der mir widerfuhr, nachdem<br />

ich das Jüdische Museum in Halberstadt besucht und am Abend den Roman Polanski-Film<br />

„Der Pianist" gesehen hatte. Eine Frau in grauem Kostüm steht am geöffneten Fenster. Ich bin körperlos,<br />

betrachte sie von hinten. Ihr langes, brünettes Haar trägt sie offen, was nicht recht zur altmodisch<br />

eingerichteten Wohnung passen mag. Die leicht gebeugte Haltung, der schräg angelegte<br />

Kopf, die hängenden Schultern erinnern mich an jemanden. Amüsiert stelle ich fest, dass ich selbst<br />

diese Frau bin. Nun spähe ich über ihre rechte Schulter, um zu sehen, was sie beobachtet. Dort unten<br />

ist eine lange Straße und eine große graue Kolonne zieht auf ihr vorüber. Ich sehe Hüte; Koffer;<br />

resigniert dreinschauende Frauen mit plärrenden Kindern auf den Armen. Tristesse und kaltes<br />

Grauen überkommen mich. Nackte Angst, als mir von dort unten aus der leichenzugähnlichen Menschenmasse<br />

höhnisch die gelben Sterne ins Gesicht grinsen.<br />

Dieser Traum eröffnete mir völlig neue Sichtweisen. Seither frage ich mich, was ich wohl damals getan<br />

hätte. Wäre ich von der Euphorie der Masse angesteckt, infiziert, und anfällig für die giftige Propaganda<br />

gewesen? Mitläufer mit schlechtem Gewissen? Hätte ich Juden Schutz gewährt? Mein eigenes<br />

Leben riskiert im aktiven Widerstand? Ein Freund erzählte mir, wäre er damals geboren worden<br />

mit seinem heutigen Denken, er hätte so schnell es noch irgend zu Beginn möglich gewesen<br />

wäre, die Flucht aus Deutschland angetreten. Im Ausland hätte er dann Leute auf die politischen<br />

Missstände aufmerksam gemacht, eine Opposition gegründet und auf diese Weise (aus sicherer<br />

Ferne) Widerstand geleistet.<br />

Was ich sagen möchte, ist, dass Außenstehende die Fehler der Menschen stets begreifen und zu<br />

berichtigen, zu kritisieren suchen. Aber ist man selbst in solch einer Extremsituation, verschwimmen<br />

die Konturen von Wahr und Falsch nur allzu schnell. Ich will diesen Teil meiner Argumentation mit<br />

einem Aphorismus von Nietzsche bekräftigen: „Bedenklich. - Einen Glauben annehmen, bloß weil<br />

er Sitte ist, - das heißt doch: unredlich sein, feige sein, faul sein! - Und so wären Unredlichkeit, Feigheit<br />

und Faulheit die Voraussetzungen der Sittlichkeit?"<br />

Auch ist es mit Schwierigkeiten verbunden, als Deutscher nach außen hin Nationalstolz zu zeigen.<br />

Dann ist man gleich Nazi. Aber ich bekunde offen, auch auf Reisen im Ausland (doch zugegebenermaßen<br />

nur dann, wenn ich danach gefragt werde): ich mag Deutschland. Ich stehe zu meinem<br />

Herkunftsland, zu seiner Geschichte. Warum auch nicht? Es ist, bei weitem kein vollkommener<br />

Staat, nichts, das besser wäre als andere Staaten. Aber hier liegen meine Wurzeln, im sogenannten<br />

Land der Dichter und Denker. Es gab ein Deutschland vor den Weltkriegen und auch eines danach.<br />

Doch ebenso gehört die Mitte dazwischen zu unserer Geschichte, lässt sich nicht verschweigen -<br />

soll sie auch nicht! (Die Trümmerliteratur hat da mit Böll und dem jungen Wolfgang Borchert respektable<br />

Aufarbeitung geleistet.) So ist Weimar ein gutes Beispiel des Zusammenwirkens von<br />

FACHVERBAND PHILOSOPHIE E.V.

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