AUFSÄTZE - Ja-Aktuell
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AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE POLIZEILICHE WOHNUNGSVERWEISUNG<br />
wird auch die sexuelle Selbstbestimmung 54 erwähnt. Umstritten<br />
ist, ob für die Annahme einer das Einschreiten legitimierenden<br />
Leibesgefahr die Anwendung jeder körperlichen Gewalt<br />
genügt. 55 Primär ist bei der Beantwortung dieser Frage<br />
vom jeweiligen Landesrecht auszugehen. In diesem wird die<br />
Gefahr für Leib oder Leben zum Teil explizit als eine Gefahr<br />
umschrieben, bei der eine nicht nur leichte Körperverletzung<br />
oder der Tod einzutreten droht. 56 Da eine mehrtägige Wohnungsverweisung<br />
einen erheblichen Grundrechtseingriff impliziert<br />
und häufig die Gefahr für Leib und Leben auf einer<br />
Stufe genannt werden, sprechen gute Gründe für eine eher<br />
restriktive Handhabung der Befugnisnorm. 57 Allerdings kann<br />
auch eine geringfügige Körperverletzung ein Indiz für zu<br />
erwartende schwere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit<br />
sein und ein polizeiliches Einschreiten rechtfertigen,<br />
falls mit einer weiteren Gewalteskalation in der Wohnung<br />
zu rechnen ist. 58<br />
II. Gefahr<br />
Wesentliche Voraussetzung für den Erlass einer polizeilichen<br />
Verfügung ist das Vorliegen einer konkreten Gefahr für eines<br />
der genannten Schutzgüter. Nach tradiertem Rechtsverständnis<br />
ist eine Gefahr gegeben, wenn eine Sachlage oder ein Verhalten<br />
bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden<br />
Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in überschaubarer<br />
Zukunft zu einer Beeinträchtigung eines polizeilichen<br />
Schutzguts führen wird. 59 Hinreichende Wahrscheinlichkeit<br />
verlangt einerseits keine Gewissheit, dass der Schaden<br />
tatsächlich eintreten wird. Andererseits genügt die bloß theoretische<br />
Möglichkeit eines Schadenseintritts nicht. 60 Ist nach<br />
dem Landesrecht eine gegenwärtige Gefahr für die Wohnungsverweisung<br />
erforderlich, 61 werden erhöhte Anforderungen<br />
an die zeitliche Nähe und Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts<br />
gestellt. Gegenwärtig ist eine Gefahr, wenn die<br />
Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen<br />
hat oder diese Einwirkung unmittelbar bzw. in allernächster<br />
Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht.<br />
62 Angesichts des Charakters der Wohnungsverweisung<br />
als Dauerverwaltungsakt muss die Gefahr bis zum Abschluss<br />
des Verweisungszeitraums bestehen. 63<br />
1. Ausreichen einer Anscheinsgefahr<br />
Bereits aus der Gefahrendefinition ergibt sich, dass polizeiliche<br />
Gefahrenabwehrmaßnahmen nicht zwingend voraussetzen,<br />
dass die von der Polizei angenommene Gefahrenlage tatsächlich<br />
besteht. Vielmehr ist von einer Gefahr i.S.d. polizeilichen<br />
Befugnisnormen immer schon auszugehen, wenn im Zeitpunkt<br />
des Handelns der Behörde bei verständiger Würdigung der<br />
Sach- und Rechtslage eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für<br />
den Schadenseintritt besteht (sog. ex-ante-Sicht). Selbst wenn<br />
sich eine berechtigterweise als gefährlich eingeschätzte Situation<br />
nachträglich, d.h. aus ex-post-Perspektive, als ungefährlich<br />
herausstellt, wird diese im Fachjargon so bezeichnete Anscheinsgefahr<br />
einer echten Gefahr gleichgestellt. Denn die<br />
Wirksamkeit der Gefahrenabwehr würde erheblich beeinträchtigt,<br />
wenn es für die Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns<br />
stets auf das tatsächliche Drohen eines Schadenseintritts ankäme.<br />
Gerade im Bereich der Gefahrenabwehr müssen die zuständigen<br />
Stellen ihre Entscheidungen oft unter erheblichem<br />
Zeitdruck treffen, der zu einem schnellen Handeln zwingt und<br />
keine hundertprozentige Aufklärung der Gefahrenlage zulässt.<br />
Abgesehen davon, dass die Polizei bei einer Maßgeblichkeit<br />
der ex-post-Perspektive nur noch äußerst zögerlich agieren<br />
würde, kann von ihr kaum ein tatenloses Zusehen erwartet<br />
werden, bis sie sich zwar über das Vorliegen einer reellen<br />
Gefahr hinreichend sicher ist, dadurch aber eine Abwendung<br />
des Schadens womöglich zu spät käme. 64<br />
Aus diesem Grund ist eine Gefahr gegeben, wenn der Einsatzbeamte<br />
bei verständiger Würdigung der Sach- und Rechtslage<br />
im Augenblick der Wohnungsverweisung davon ausgehen<br />
durfte, dass die maßgeblichen polizeilichen Schutzgüter<br />
mit der nötigen Wahrscheinlichkeit geschädigt werden. Erforderlich,<br />
aber auch genügend ist insoweit die aus einer hinreichend<br />
objektivierbaren Tatsachenbasis gewonnene ex-ante-<br />
Prognose, dass nach den Verhältnissen und dem möglichen<br />
Erkenntnisstand der polizeilichen Anordnung weiterhin eine<br />
Gefahrensituation für Leib und Leben eines Mitbewohners<br />
besteht. 65 Dabei kann nach der sog. Je-desto-Formel die Einschreitschwelle<br />
umso niedriger liegen, je größer die Wahrscheinlichkeit<br />
der befürchteten Rechtsgutverletzung und je<br />
höher die Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter ist. 66 Weist<br />
eine Person äußerlich Verletzungen auf und wird von mehreren<br />
Personen glaubhaft ausgesagt, dass die Person, die anschließend<br />
aus der Wohnung verwiesen wird, ihre Mitbewohnerin<br />
geschlagen und mehrfach geäußert habe, sie werde sie<br />
umbringen, ist die für eine rechtmäßige Wohnungsverweisung<br />
nötige Gefahr gegeben, auch wenn sich später herausstellen<br />
sollte, dass alle befragten Personen gelogen haben und niemals<br />
eine Gefahr für Leib und Leben der Mitbewohnerin bestanden<br />
hat.<br />
2. Rechtswidrigkeit der Wohnungsverweisung bei einer<br />
Putativgefahr<br />
Von der für ein rechtmäßiges polizeiliches Handeln genügenden<br />
Anscheinsgefahr ist die sog. Schein- oder Putativgefahr<br />
zu unterscheiden. Eine solche liegt vor, wenn der handelnde<br />
Polizist eine Gefahr für gegeben hält, ein gewissenhafter, besonnener<br />
und sachkundiger Polizeibeamter in derselben Situation<br />
dagegen das Vorliegen einer Gefahr verneinen würde.<br />
Während die Anscheinsgefahr auf einer sachgerechten und<br />
sorgfältigen Sachverhaltswürdigung beruht, wird bei der Putativgefahr<br />
vom handelnden Polizisten die Situation wegen<br />
nicht ordnungsgemäßer oder nicht hinlänglich eigener Aufklärung<br />
falsch eingeschätzt. 67 Eine solche Maßnahme ist<br />
rechtswidrig. 68<br />
54 § 17 II 2 NdsSOG; § 18 II 1 ThürPAG.<br />
55 Für jede körperliche Gewalt VG Köln, Beschl. v. 02.04.2003 – 20 L 752/03; Rachor<br />
(Fn. 6) F Rn. 534.<br />
56 § 2 Nr. 1 lit. d NdsSOG; § 3 Nr. 3 lit. d SOG LSA.<br />
57 VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1 K 1855/08; Collin DVBl. 2003, 1499 (1501 f.);<br />
Storr ThürVBl. 2005, 97 (10); Trierweiler (Fn. 2) S. 66 f.; s. auch Eicke (Fn. 19)<br />
S. 180 f.<br />
58 Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173 (178); Trierweiler (Fn. 2) S. 67.<br />
59 BVerwGE 45, 51 (57); 116, 347 (351); OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420 (421); Götz<br />
(Fn. 13) § 6 Rn. 3; Schenke (Fn. 8) § 3 Rn. 69.<br />
60 OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420 (421).<br />
61 § 16 a I 1 BbgPolG; § 14 a I 1 BremPolG; § 17 II 2 NdsSOG; § 34 a I 1 PolG NRW;<br />
§ 18 II 1 ThürPAG.<br />
62 BVerwGE 45, 51 (57 f.); Collin DVBl. 2003, 1499 (1502); Pieroth/Schlink/Kniesel<br />
Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Aufl. 2008, § 4 Rn. 19.<br />
63 Eicke (Fn. 19) S. 203; Petersen-Thrö SächsVBl. 2004, 173 (178); Storr ThürVBl.<br />
2005, 97 (100).<br />
64 VG Aachen, Urt. v. 29.07.2009 – 6 K 112/09.<br />
65 OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420, 421; s. auch VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1K<br />
2338/08.<br />
66 BVerwGE 116, 347 (356); OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420 (421); Petersen-Thrö<br />
SächsVBl. 2004, 173 (178).<br />
67 OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420 (421); VG Münster, Urt. v. 11.12.2009 – 1 K 1855/<br />
08; Guckelberger in: Gröpl/Guckelberger/Wohlfarth, Landesrecht Saarland, 2009,<br />
§ 4 Rn. 41.<br />
68 OVG Saarlouis LKRZ 2009, 420 (421).<br />
1/2011 5<br />
AUFSATZ