NEUE NATIONALGALERIE RECTO VERSO
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NEUE NATIONALGALERIE RECTO VERSO
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X FAC<br />
Jean Pierre Cêtre, Neue Nationalgalerie Recto Verso<br />
Aus: Faces 47, 1999-2000<br />
Übersetzung durch clipper AG, Zürich<br />
Ludwig Mies van der Rohe unter dem Dach der Neuen Nationalgalerie durchfahrend (Baustellenfoto, doc.<br />
Heinz Oeter)<br />
<strong>NEUE</strong> <strong>NATIONALGALERIE</strong><br />
<strong>RECTO</strong> <strong>VERSO</strong><br />
Die Wogen des Ozeans, die kleinen Wellen, die auf dem Sand sterben, die harmonische Kurve einer<br />
Bucht, die Linie der Hügel am Horizont, die Form der Wolken, alle diese Erscheinungen sind genau so<br />
rätselhaft in der Welt der Form, wie sie Probleme in der Welt der Morphologie sind.<br />
D’Arcy Thompson, Forme et Croissance, 1917<br />
Man sagt über die Metallträger eigenartiger Weise, dass sie eine >Seele< und zwei >Sohlen< haben<br />
(Anmerkung des Übersetzers: dieses Sprachbild ist im Deutschen ungebräuchlich, âme=Seele bedeutet<br />
Steg und semelle=Sohle bedeutet Flantsch) verfestigte Bilder, die das ganze Wissen der Fachsprache<br />
ausmachen. Weil das im Lärm der Eisengiesserei, der Schmiede und der Baustelle, der Schiffswerft oder<br />
der Eisenbahnwerkstatt, wo sie geboren sind, so stimmt. Dazu kommen noch die wissenschaftlichen und<br />
technologischen Behandlungen des metallurgischen Labors, um die Schweissnaht perfekt zu machen, die<br />
dann dem zusammengesetzten Träger seine definitive Form gibt, sauber, glatt, endlich von den warzigen<br />
Flächen der genieteten Konstruktion befreit.<br />
Als Mies van der Rohe ihnen den bekannten Ruhm, den man von der Crown Hall in Chicago und der<br />
Neuen Nationalgalerie in Berlin her kennt, verschaffte, hat er ihnen in einer gewissen Art eine zweite, ganz<br />
spirituelle >Seele< gegeben, jene, die gleichermassen von den griechischen Tempeln und von der<br />
industriellen Moderne her stammt.<br />
1/1
In einer Sprache der Moral würde man sagen: „Das ist nur gerecht.“ Vereinigen sie nicht die an ebene,<br />
horizontale Räume angepasste geometrische Schlichtheit, die mechanische Wirksamkeit für die<br />
Übertragung von schweren Lasten auf die vertikalen Säulen und die Rationalität der Ausführung in den<br />
geraden Bahnen des Walzwerkes? Schliesslich eine idyllische Übereinstimmung von architektonischem<br />
Raum, Statik und Konstruktion.<br />
Oder mindestens ein guter Kompromiss, denn in der Realität bestimmen vielmehr die Statik und die<br />
Ökonomie des Materials eine veränderliche Höhe, um der Biegemomentenlinie zu folgen und ein gegen<br />
die Mitte angepassten Steg, der Verteilung der Querkräfte folgend. Aber braucht es nicht beim<br />
Konstruieren, um schliesslich von einer wirklichen sozialen Koexistenz zu profitieren, eine globale<br />
Ökonomie der Mittel, conditio sine qua non für eine allgemeine Anerkennung? Kristallisiert sich also<br />
vielleicht das wertvolle, widerstandsfähige Material der Träger in einer Form, von der man versucht wäre,<br />
sie als „natürlich“ zu bezeichnen, während seine >tektonische< Adelung nichts anderes ist, als die<br />
letztliche Anerkennung der Treue seiner Dienste.<br />
Karl Friedrich Schinkel, Altes Museum, Berlin. Ludwig Mies van der Rohe<br />
Blick auf die Säulen und das Hauptgebälk des Neue Nationalgalerie Berlin, 1967<br />
Eingangs (Foto Claude Willemin)<br />
Heiliges Netz?<br />
Das Dach der Neuen Nationalgalerie scheint zunächst ganz einfach aus Trägern mit vollen Stegen zu<br />
bestehen. Sie gehört damit effektiv zu Gebilden, mit denen man den Begriff einer planen Struktur verbindet.<br />
In Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine Addition oder Überlagerung von Trägern, sondern um deren<br />
räumliche Anwendung: um einen Trägerrost. Im vorliegenden Fall ein grossartiger Trägerrost aus<br />
monolithischer Trägern von 65 auf 65 m Spannweite, an jeder Seite von 2 schlanken und monumentalen<br />
Säulen getragen. Diese räumliche Anordnung unterscheidet sie fundamental von Trägern, sowohl<br />
substanzmässig wie auch inhaltsmässig. Was die Substanz betrifft, genügt es, an den monolithischen<br />
Charakter zu denken, der alle Lasten auf die ganze Struktur verteilt. Für den Inhalt sind die Ideen der<br />
räumlichen Lösung, der Maschen oder des Gewebes, der Isotropie und der Zentralsymmetrie, der<br />
Endlosigkeit und der geometrischen Abstraktion wesentlich. Er verdient daher seine eigene Identität. Bei<br />
der Neuen Nationalgalerie, wo diese Dachkonstruktion die erste bekannte Struktur dieser Art ist, sind die<br />
Feen zur Taufe am Tag ihrer Geburt zusammengerufen worden! Die Paraphrase des Alten Museums von<br />
Schinkel wird manifest auf der Seite, die auf die Säulen des Peristyls ausgerichtet ist. Die vollkommene<br />
Zentralsymmetrie des modularen Grundrisses in Form von quadratischen Kästen bilden die Entsprechung<br />
einer Kuppel, die erste flache und biegebeanspruchte, die von diesem Tag an die voluminöse, dichte<br />
Konstruktion aus Holz ersetzen muss, die seit Jahrhunderten die grossen zentrischen Räume überdeckt<br />
hat. Im Zeitalter des Stahls werden diese flach und sehr gross sein…… oder ohne Begrenzung. Und ist<br />
dieser Rost nicht „das Emblème des modernen Ehrgeizes“? Welche Taufpaten! Aber die Taufe ist nur ein<br />
Guthaben, die Heiligsprechung bedarf einiger Beweise des heiligen Lebens.<br />
Ausgehend von der Idee, dass die Suche nach der Übereinstimmung von Statik und Konstruktion diesen<br />
Prozess nützlich beeinflussen könnte, sei es um der Sache der Engel willen oder des Satans, habe ich eine<br />
technische Betrachtung unternommen, im besonderen um zu verstehen, ob die evidenten Probleme der<br />
Trägerroste sich bewahrheiten oder ob sie sich durch ein Wunder lösen.<br />
2/2
Ideale Statik<br />
Die erste Phase ist die Betrachtung der Geometrie. Die zweite die statische Berechnung. Das war 1960<br />
kompliziert, aber heute ist das nichts mehr. Hingegen haben sich die Eigenschaften und die Probleme, die<br />
diese statische Überprüfung zu Tage bringen, jedoch nicht geändert.<br />
Statisch ist die Struktur in Form eines Trägerrostes sehr kohärent. Ihr globales Verhalten ist ähnlich dem<br />
einer Platte; das Tragverhalten in beiden Richtungen gestattet eine gegenseitige Entlastung der Träger in<br />
beiden Richtungen, soweit dass jede Trägerschar nur die Hälfte der Lasten übernimmt. Ausserdem<br />
entsteht eine günstige Verteilung der örtlichen Lasten und eine räumliche Entlastung der Auskragungen.<br />
Schliesslich ergibt sich unter dem Strich die Möglichkeit zur Verringerung der statischen Höhe, d.h. der<br />
Dicke des Daches.<br />
Schweissnähte. Synoptische Tabelle der benachbarten Verbindungen<br />
Anordnung der am Bau ausgeführten Schweisspunkte<br />
LTr = Längsträger; RTr = Randträger;GTr = Querträger<br />
GTr = Querträger; W = Materialien; B = Baustelle<br />
3/3
Ludwig Mies van der Rohe, Vorprojekt für die neue Nationalgalerie<br />
Wir halten auch fest, dass bei dieser zweiachsigen Arbeitsweise das gleiche Material des Dachbleches<br />
zwei Mal verwendet wird, indem dieses als der gleiche Obergurt für 2 Balkenläufe dient.<br />
Nichtsdestoweniger ändern sich die Art und Grösse der Lasten ziemlich von einem Punkt zum anderen. Es<br />
stellt sich daher das Problem einer optimalen Materialverteilung. Bei einem grossen Brückenträger sind die<br />
Schnitte beim Auflager und im Feld nicht die gleichen. Eine gleich bleibende Höhe kann nicht immer<br />
realisieret werden oder sie stellt eine synthetische Wahl dar, die sich aus Gründen der Nutzung – freies<br />
Durchgangsprofil, Verkehr-, der Einfachheit der Konstruktion, Ausdruck der Form oder der Landschaft<br />
aufdrängt. Man erreicht die gleiche Höhe durch eine Anpassung der Dicke der Stege und der Gurte. Wenn<br />
es sich um Stahlbeton handelt, werden die Bügel gegen das Auflager dichter, die Längsarmierung<br />
konzentriert sich auf die unteren Partien im Feld, wechseln dann in die obere Zone bei den Auflagern. Der<br />
gleich bleibende Querschnitt eines kleinen Trägers ist lediglich eine glückliche Verbindung oder eine<br />
konstruktive und kommerzielle „Bequemlichkeit“. Im Fall des Trägerrostes der Neuen Nationalgalerie stellt<br />
sich die Frage einer Spezialausbildung vor allem zwischen den direkt aufgelagerten Feldern und den<br />
dazwischen liegenden Balken. Sie sind tatsächlich sehr verschiedenen Kräften unterworfen und die<br />
Gleichwertigkeit zwischen den Feldern und den Balken dazwischen kommt nicht von selbst. Die Anordnung<br />
von 2 Auflagern und grossen Auskragungen gestattet einen Ausgleich der Kräfte und die Verwendung von<br />
mehr oder weniger gleichen Trägern, sowohl im Feld wie auch in den zentralen Teilen. Die nicht zu<br />
vernachlässigenden konstruktiven Veränderungen sind in Wirklichkeit unsichtbar; sie betreffen die Dicke<br />
der Stege und der Flansche, und – selten- die Qualität des Stahls, die je nach Beanspruchung zwischen<br />
Stahl 52 im Zentrum und bei den Auflagern und Stahl 37 im Allgemeinen wechselt.<br />
Die Frage der Spezialausbildung gewisser Träger, besonders in den Auflagerzonen, erscheint klar in einer<br />
Variante des Vorprojektes, wo der Architekt nur ein Auflager pro Feld anordnete. Das ist von der Stabilität<br />
her ausreichend, aber verursacht wesentlich höhere Kräfte in den Feldern. Daher sind sie mit variabler<br />
Höhe projektiert. Man kann sich vorstellen, dass das ein Resultat der Kohärenz zwischen den Feldträgern<br />
und den dazwischen liegenden Trägern ist.<br />
Oder denken wir auch an die Stege der Feldträger im Bereich des Auflagers, wo weder eine grössere<br />
Dicke noch zusätzliche Netzmaschen gestattet sind, um die gewaltigen, in diesen Punkten konzentrierten<br />
Scherkräfte aufzunehmen.<br />
Es muss auch erwähnt werden, dass die Wahl des Auflagerpunktes der Felder nicht optimal ist. Säulen, in<br />
der Ebene der gläsernen Aussenhaut angeordnet, wären wegen der beachtlichen Verringerung der<br />
Spannweite und dem Gleichgewicht zwischen dem Zentrum und dem so erzeugten Vordach vorteilhafter<br />
gewesen.<br />
Kurz, man sieht, dass bei gründlicher Untersuchung diese Konstruktion nur aus dem einzigen Blickwinkel<br />
der Statik eine grosse Anzahl von Problemen auftaucht, die uns bereits einwenig von der grossartigen<br />
Einfachheit, die auf den ersten Blick zu vermuten ist, entfernen. Wenn man aber ein globale statische<br />
Beurteilung abgeben müsste, würde ich die gute räumliche Aufteilung und die Finesse der grossen Platte<br />
festhalten, um meine Zufriedenheit auszudrücken: ja, das ist ein „gutes“ statisches System.<br />
4/4
Trägerrost<br />
Tatsache ist, ein statisches System ist im Gleichgewicht oder nicht. Es gibt keine statischen „Qualitäten“.<br />
Man muss vielmehr die strukturellen Systeme mit der Elle ihrer konstruktiven oder räumlichen Kosten mit<br />
einander vergleichen. Und daher kann man bezüglich des Trägerrostes gewisse Zweifel haben. Bezüglich<br />
ihres statischen Modells, wo die Balken auf sich kreuzende Achsen reduziert sind, ohne etwas von ihrer<br />
ideellen Reinheit zu verlieren, kann man nur die traurige Schwierigkeit bedauern, auf das Thema eines auf<br />
einen bereits bestehenden Träger quer dazu versetzten anderen Trägers einzugehen, in der anderen<br />
Richtung auf dem gleichen Niveau. Kann man dieses Problem vermeiden?<br />
Es gibt wohl einige Ausnahmen, die die Regel bestätigen und präzisieren:<br />
- Ausführung in Stahlbeton, wobei infolge des Gusses im gleichen Arbeitsgang die<br />
Träger beider Richtungen hergestellt werden.<br />
- Überlagerung* der beiden Trägerscharen, oder eventuell „Schichtung“* der Träger.<br />
In beiden Fällen wird die statische Höhe vergrössert<br />
und die räumliche Symmetrie geht verloren.<br />
- banale Entartung durch die Schaffung einer sehr markanten Hierarchie zwischen den beiden<br />
Richtungen der Träger, die das Primärsystem bilden, und die Sekundärträger tragen, die in der<br />
anderen Richtung verlegt sind.<br />
Dieser letzte Fall ist die gewaltige Mehrheit der Böden und Dächer, ausgenommen gewisse Betondecken.<br />
Er ist sehr stark asymmetrisch und die Anwendung dieses Systems könnte selbst anzeigen, dass der<br />
Raum gerichtet sein „muss“, wenn man eine mit der sichtbaren Struktur kohärente Lösung sucht. Die<br />
spezifische Ausbildung von Primär- und Sekundärträgern vereinfacht ihre Anpassung an die Funktionen<br />
der Struktur oder der Hülle.<br />
Und trotzdem ist die Versuchung immer noch da, schöne Roste mit isotropen Balken für symmetrische<br />
Räume zu schaffen, immer wiederkehrend und hartnäckig! Ebenso anziehend wie die Erfindung des<br />
ewigen Motors. Das Problem ist ausserordentlich einfach, hat aber einen paradoxen Aspekt, indem es die<br />
Vermischung des Raumes und seiner Projektion in den Plänen pflegt, oder vielleicht der naive aber<br />
nachhaltige Glaube, dass jede gute mechanische oder geometrische Form eine fehlerfreie konstruktive<br />
Verwirklichung finden muss.<br />
Dank der „Wissenschaft“ der Konstruktion, die uns als Stütze bei der Zerstreuung dieses Rauches dient, ist<br />
es indessen einfach das konstruktive Problem der Roste und der Balken zu verstehen und darin die nicht<br />
umgehbare und tiefgehende Schwierigkeit zu spüren.<br />
Drei „mentale Reduktionen“ werden genügen:<br />
1) Die sich in den Trägern befindenden inneren Zug- und Druckkräfte sind im Wesentlichen eine<br />
mehrfache Vervielfachung der äusseren Kräfte, die wir gewohnt sind, abzuwägen. Nun ändert sich der<br />
Massstab. Dadurch sind die Materialien mit genügenden mechanischen Eigenschaften rar, besonders was<br />
die Zugbeanspruchung betrifft, und sind lokal nicht einfach zu ersetzen. Die Träger sind daher fast nicht<br />
auflösbare Elemente, eine Art „statische Maschinen“, bei denen man nicht einfach Teile abtrennen kann.<br />
Wir kennen die Probleme der Asymmetrie von Druck und Zug bei den Problemen der Zusammenfügung<br />
und des Materials. Im Besondern sind die Schwierigkeiten einer Biegezugverbindung gegenüber einer<br />
reinen Druckverbindung, wie sie bei den Steinen einer Kuppel oder den Elementen eines traditionellen<br />
Dachstuhles bestehen, zu erkennen.<br />
5/5
Schliesslich welche Schwierigkeit, wenn man die Kontinuität eines Trägers durch eine Biegezugverbindung<br />
herstellen muss, sei es in Holz* oder genietet in Stahl* oder geschweisst*.<br />
2) Träger, als lineare Elemente und linear produziert, sind a priori aus anisotropen Materialen hergestellt.<br />
Das ist sicher der Fall beim Holz, aber auch beim Stahl, weil ein Walzblech oder ein Walzprofil die Spuren<br />
der radialen Abkühlung des Barrens in der Giessform*, oder der mechanischen und thermischen<br />
Nachbehandlung infolge des Strangpressvorganges* behalten. Es ist festzuhalten, dass diese Aspekte im<br />
19 Jh. beim Puddel-Eisen mit seiner blätterigen Struktur überwiegend waren, aber auch 1950 noch wichtig<br />
sind, besonders wegen der Schweissfähigkeit. Diese heterogene und radiale Struktur verschwindet<br />
langsam durch das kontinuierliche Giessen und die modernen Strangpressen.<br />
Das Holz, Material mit longitudinalen Fasern ist daher ein gutes Beispiel zum Verständnis der<br />
Schwierigkeiten infolge der grundlegenden Anisotropie von linearen Stücken.<br />
3) Die Verbindung von Elementen unter reiner Druck- oder Zugbeanspruchung zeigen teilweise die<br />
gleichen Probleme. Sie stellen eine nützliche Analogie dar:<br />
Sie können wählen zwischen: Querzug*, Querdruck*, Knoten aus isotropen Material* mit eingeschnittenen<br />
Verbindungen oder Schrägzwänge auf den Flächen einer Winkelverbindung*.<br />
Tatsächlich, es ist einfach, es gibt keine gute Lösung.<br />
Menschliche und materialbedingte Konstruktion<br />
Man könnte meinen, dass man nach 1950 mit den sehr homogenen und perfekt schweissbaren Stählen<br />
einen Ausweg gefunden hat. Das ist teilweise wahr. Heute ist der Stahl ein wunderbar isotropes und<br />
schweissbares Material, bis auf gewisse Reserven, die immer abzuziehen sind. 1967 bedurften die auf der<br />
Baustelle ausgeführten Schweissnähte der Neuen Nationalgalerie dennoch der besonderen Sorgfalt, und<br />
das ist auch heute noch der Fall.<br />
6/6
Ludwig Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Schnitt durch eine Stütze<br />
Man kann auch erwähnen, dass die Abmessungen der Träger der Neuen Nationalgalerie so sind, dass es<br />
sich auf alle Fälle nicht um Strangpressprofile handelt, sondern um aus kleineren Blechen<br />
zusammengesetzte Träger. Sie gehören daher nicht zu den üblichen monolithischen Trägern, und die<br />
Montagestösse müssen, wie auch immer, besonders behandelt werden. Aber alles ist eine Frage der<br />
Quantität.<br />
Das Devis 2 , das gegenüber dem der Ausführung von 1967 vom Zuschnitt von identischen Materialen<br />
ausging, ergibt doppelte oder dreifache Kosten gegenüber einer mit einem optimalen System gebauten<br />
Halle der gleichen Fläche und gleichen Belastungen. Die Analyse ist so negativ infolge einer für diese Zeit<br />
sehr verschiedene Kostenzusammensetzung. Arbeit und Material haben heute eine ganz andere Relation.<br />
Aber es ist sicher, dass die ökonomische Zustimmung eine sehr reale Schwierigkeit im Bauwesen bildet.<br />
Das an diesem Punkt der Untersuchung nützliche Zusammentreffen mit Herrn Heinz Oeter, Ingenieur und<br />
Montageleiter der Firma Krupp, hat es gestattet, gewisse noch unklare Punkte zu klären und die<br />
tatsächliche Schwierigkeit der Operation zu bestätigen.<br />
Die Ausführungspläne, die Fotos, die Kommentare des Unternehmers belegen die aus der systematischen<br />
Kreuzung der beiden Trägerscharen entstehende Komplexität der Arbeit. Und vor allem die durch die<br />
Baustellenfotos klar dargestellten Montageabschnitte, die eine Phase der Ausführung zeigen, die<br />
vollständig der angestrebten sichtbaren Symmetrie widerspricht. In der einen Richtung sind die Träger<br />
vorfabriziert, bestehend aus 3 in situ montierten Stücken, einzeln oder zu zweit mit den als Auflager<br />
dienenden Obergurten und Segmenten der querlaufenden Träger verbunden.<br />
Die grösste Schwierigkeit der Montagebaustelle – und vielleicht die aufschlussreichste für unseren Zweck –<br />
war die Bewältigung der Durchbiegungen und die Gegenmassnahmen im Zentrum und an den Enden der<br />
Kragarme. Es muss wirklich verstanden werden, dass unter der Einwirkung der Dauerlasten und des<br />
Schnees die Vertikalverformungen fast einen halben Meter erreichen, und es daher nicht möglich war, sie<br />
dem Zufall zu überlassen. Es bedurfte einem genauen, der visuellen Wahrnehmung angepassten<br />
Ausgleich der Verformungen, genau so wie die Griechen die Neigung der Säulen und die Aufwölbung des<br />
Peristyls anpassten. Und Mies van der Rohe hat sich mit dieser Sache besonders beschäftigt. Die<br />
Berechnung und Herstellung eines solchen Verformungsausgleichs an einem einzelnen Träger ist bereits<br />
eine recht hübsche Arbeit, da man die Abschnitte eines Stegs in alles ungleiche, gebogene und<br />
trapezoidförmige Stücke ausschneiden und sie zu einem gebogenen Träger mit einer variablen Kurve<br />
zusammensetzen muss. Die gleiche Arbeit für das räumliche Tragwerk eines Trägerrosts ist ungleich<br />
schwieriger. Nicht nur, dass sich nur Trägerpaare gleichen, und eine grosse Anzahl von ungleichen<br />
Trägermodellen erstellt werden muss, ist es nötig, die Querträger mit Rücksicht auf die Schwindverformung<br />
bei der Schweissmontage auszubilden. Diese verursachen Verformungen in der gesamten Konstruktion,<br />
und die Folgen sind sehr schwer im Voraus zu berechnen. Die ganze Prozedur war von Erfolg gekrönt.<br />
Welche stolze Leistung.<br />
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Schliesslich wird diese ganze Schicht, mehr Artefakt als Natur, mittels einer Hebevorrichtung einige<br />
Zentimeter über ihre definitive Position gehoben. Die 8 Stützen werden an ihren Köpfen bis zur vertikalen<br />
Position hochgezogen und an den Fussenden befestigt. Das Dach wird schliesslich einige Zentimeter<br />
abgesenkt und auf den Stützenköpfen endgültig aufgelagert. Welche Eleganz!<br />
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Verbreitet sich ein zweifelndes Gerücht? Denken manche an die Liberty Ships, jene<br />
Truppentransportboote, die beim Einsatz wegen schadhafter Schweissnähte der Bordwände auseinander<br />
brachen? Tatsache ist, dass der Architekt darauf besteht, sein Vertrauen ostentativ zu beweisen, indem er<br />
mit dem Auto unter der gewaltigen, mit dem Feuer der Schweissnähte zusammengefügten, Stahlmasse<br />
durchfährt.<br />
Wir bewundern nun alle Schwierigkeiten dieser Realisierung, vor allem da wir nun wissen, dass es sich<br />
nicht um Anekdoten handelt, sondern dass sie tief in das Material und den Herstellungsprozess eingraviert<br />
sind. Wir können einige provisorische Achsen der Überlegung entwickeln. Sei es, dass sie direkt die<br />
Debatte um die Tektonik betreffen, sei es, dass sie sich eher auf andere Aspekte des Zusammenhanges<br />
zwischen der Konstruktion und der Form beziehen.<br />
Form oder Form<br />
Zunächst, über welche Form sprechen wir? Man muss zugeben, Form bedeutet in einer gewissen<br />
architektonische Tradition, und sicher bei Mies van der Rohe– nennen wir sie die „architektonische“ Form,<br />
man verzeihe mir diese wenig sorgfältige Erweiterung - die sichtbare, erscheinende Kontur und nicht die<br />
tatsächlich gebaute Form, - nennen wir sie „konstruktiv“. Diese letztere wird allgemein nicht als Träger des<br />
Wortsinns benutzt. Ein treffender Beweis wird uns durch die Kreuzform der Stützen der Neuen<br />
Nationalgalerie geliefert: die sensible Form eines griechischen Kreuzes, die keine der beiden Richtung<br />
bevorzugt, obwohl in Wirklichkeit sehr wohl gerichtet: der Steg in der einen Richtung ist durchgehend, in<br />
der anderen Richtung ist er aus zwei verschiedenen, an den ersteren angeschweissten Blechen<br />
zusammengesetzt. Er ist daher deutlich anisotrop, im Gegensatz zum Ausdruck der absoluten Symmetrie,<br />
welche die Säulen zeigen wollen.<br />
Architektur und Konstruktion<br />
Ludwig Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie<br />
Ist diese „architektonische Form“ wenigstens ein klein wenig Ausdruck der Konstruktion? Wenn man die<br />
üblichen Erzeugnisse des 19. Jahrhunderts vergleicht, ist bei den sichtbaren Konstruktionen der Crown<br />
Hall und der Neuen Nationalgalerie der Wunsch offensichtlich, ihre industrielle Materie zu zeigen. Es stellt<br />
sich nicht mehr die Frage ihrer Camouflage oder der Ergänzung ihrer eigentlichen Natur durch einen<br />
äusserlich inspirierten Dekor. Ihre industrielle Natur wird vielmehr Gegenstand einer veritablen<br />
Inszenierung. Man wird also Zeuge einer Art von „wahrheitlichem Unterfangen“. Je mehr sich die<br />
Betrachtung aber annähert, umso offensichtlicher werden die Differenzen zwischen der konstruktiven<br />
Problematik und der lesbaren architektonischen Form. Was die Neue Nationalgalerie betrifft, könnte der<br />
konstruktive Aspekt scheinbar gegenteiliger Art der Besorgnis sein. Wenn es sich aber um einen<br />
9/9
Ausdruck des Begriffs der „konstruktiven Wahrheit“ handeln soll, fehlt die Hartnäckigkeit in der Gestaltung<br />
und Entwicklung dieser komplexen Zusammenhänge. Es handelt sich um eine ganze andere Sache als um<br />
die „Wahrheit“.<br />
Architektonische Ordnung und konstruktive Unordnung<br />
Ich versuche nicht, den Vorteil des Verhältnisses zwischen der architektonischen Form und der<br />
Konstruktion zu vertiefen, aber ich möchte hervorheben, dass es nicht nur in eine Richtung geht. Es gibt<br />
keine mit eigener Rationalität ausgestattete „Konstruktion“, die einer „Architektur“ vorausgeht, die das auch<br />
verwenden und ausdrücken würde. Ebenso klar kann man sehen, dass ganz im Gegenteil die Architektur<br />
die Konstruktion leitet. Ist sie nicht „Auftraggeber“? In diesem Sinne bestimmt sie die Konstruktion. Die<br />
paradoxe Konstruktion der Neuen Nationalgalerie kann als eine Ermunterung gesehen werden, die<br />
Probleme der räumlichen Isotropie und der Verformung des Tragwerks zu lösen. Und es ist sicher der<br />
Grund, dreidimensionale, räumlich ausgedehnte ebene Strukturen zu untersuchen. Hier besteht ein<br />
programmatischer Effekt. Oder auch noch, um die Unordnung festzustellen, die häufig die dem Auge<br />
verborgene Konstruktion beherrscht – denken wir dabei nur an einen vor kurzem hergestellten Trägerrost,<br />
den des Daches des Kultur- und Kongresszentrums in Luzern von Jean Nouvel – und wir verstehen, dass<br />
vielleicht die räumliche, sichtbare Ordnung die „alleinige“ Ordnung<br />
überhaupt ist. Vielleicht eine für die Konstruktion nützliche Ordnung.<br />
Jean Nouvel, Kultur- und Kongresszentrums in Luzern, 1999.<br />
Isometrie der Knoten der Dachträger<br />
Architektur und Geometrie<br />
In Wirklichkeit regiert die Geometrie. Sie regiert den Kristall und die Pflanze, in einem mikroskopischen<br />
oder makroskopischen Massstab. Bei der „Neuen Nationalgalerie“ sowie bei vielen Bauten bestimmt sie<br />
vom Massstab 1:200 an bis zum Massstab 1:1 die „architektonische Form“, aber die „konstruktive Form“<br />
entgeht ihr. Diese gehorcht, der Reihe von geometrischen Transformationen entsprechend, den<br />
aufeinander folgenden Abläufen des Bauprozesses. Der Ursprung dieses Bruchs ist offensichtlich die<br />
Folge der Schwierigkeiten, die wir beim Dach der Neuen Nationalgalerie angetroffen haben. Der<br />
räumlichen Symmetrie entspricht nicht eine Symmetrie der Materie. Können wir aus dieser Situation einen<br />
Ausweg finden? Man kann die Frage zunächst beantworten, indem man für den Raum weniger<br />
einschränkende geometrische Systeme wählt – lineare, asymetrische Räume - oder noch reichere, wie<br />
die Vorschläge der Kubisten – siehe das Haus des Menschen von Le Corbusier in Zürich mit einem im<br />
Plan symmetrischen aber im Raum asymmetrischen Dach. Oder man akzeptiert eben ein anderes Material<br />
mit anderen geometrischen Eigenschaften. Zum Beispiel den Beton. Oder einfacher, man umgeht die<br />
Falle, indem man eine geometrische Bruchstelle auf einer Zwischenebene der „architektonischen Form“<br />
einführt, aber nun entfernen wir uns von dem schönen Ideal der Geometrie ….. Das, was Mies van der<br />
Rohe gar nicht behagt. Diesen Balanceakt auf der Suche nach einer geeigneten Bruchstelle zur Lösung<br />
des Problems hat er lange verfolgt, bis er bei der Lösung der Neuen Nationalgalerie ankam. Zwei nicht<br />
realisierte Projekte als Beweis: Das „50x50 Haus“ 3 blieb offensichtlich ohne Fortsetzung und dieser<br />
ankündigende Doppelgänger der Neuen Nationalgalerie, die „Bacardi-Halle“, projektiert in Stahlbeton oder<br />
mit Vorspannung, sollte ebenfalls den topologisches Kopfzerbrechen verursachenden Trägerrosten<br />
entkommen. Hat die kubanische Revolution ihre Verwirklichung verhindert? Wären wir dann nicht mit einer<br />
anderen Frage konfrontiert gewesen: warum eine so schwere Kassettendecke für ein so grosse Dach, wo<br />
es doch viel rationeller ist, mit einer dünnen Membran zu arbeiten?<br />
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Statik und Konstruktion<br />
Wenn die Tyrannis der Geometrie, wie wir sie nun kennen gelernt haben, für die Konklusion meines<br />
Unternehmens der Dekonstruktion vor dem Auge des Architekten dienen kann, ist es ein vollkommen<br />
andere Überlegung, die den Konstrukteur befriedigen wird: jene, die aus dem „Paradoxon der Trägerroste“<br />
entsteht, nämlich die klare Unterscheidung zwischen Mechanik und Konstruktion. De facto ist das Ziel der<br />
Statik relativ abstrakt: sie kümmert sich überhaupt nicht um die konstruktive Realität. Wie die Kategorie der<br />
Architektur leitet sie die Realisierung, aber sie vermischt sich nicht mit ihr. Sie antwortet auf die globalen<br />
Regeln der Physik, die lediglich die Wechselfälle des Umgangs mit dem Material ausmachen. Die Form,<br />
die die Kräfteverteilung in einer Struktur bestimmt, gestattet diese häufige Verwechslung nicht. Die<br />
gebaute Form resultiert aus dem Prozess der materiellen Transformation, wie die Form der Pflanzen aus<br />
dem sensiblen Gleichgewicht der Materie im Gewebe der zellularen Bildung entsteht, die Knospen, die<br />
Wurzelspitzen. Dieser Prozess kann zur Entfernung von den Anweisungen der Statik führen, sei es, um<br />
sich die Konstruktion zu erleichtern, zum Beispiel durch die günstige Anordnung von Exzentrizitäten, sei es,<br />
um andere Aufgaben der Hülle oder der Verteilung zu erfüllen. Eine ebenfalls zu beachtende und an<br />
kreativen Möglichkeiten reiche Verhaltensweise ist es, sich vom dem der Metamorphose des Materials<br />
eigenen Spiel leiten zu lassen, aber das ist mit Sicherheit nicht das, was wir bei der Neuen Staatsgalerie<br />
am Werk sehen.<br />
Jean Pierre Cêtre<br />
Die Dokumente der Archive wurden von Heinz Oeter zur Verfügung gestellt.<br />
1 Rosalinde Krauss, L’originalité de l’avent-garde et autres mythes modernistes, Ed. Macula, Paris 1993<br />
2 Philippe Hertig, Bauingenieure EPFL, Firma Geilinger, Yvonand,<br />
3 Stefan Polonyi, Mit zaghafter Konsequenz, Aufsätze und Vorträge zum Tragwerksentwurf, 1961-1987,<br />
Friedr. Vieweg & Sohn Verlag, Braunschweig, 1987.<br />
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