NEUE NATIONALGALERIE RECTO VERSO
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Ausdruck des Begriffs der „konstruktiven Wahrheit“ handeln soll, fehlt die Hartnäckigkeit in der Gestaltung<br />
und Entwicklung dieser komplexen Zusammenhänge. Es handelt sich um eine ganze andere Sache als um<br />
die „Wahrheit“.<br />
Architektonische Ordnung und konstruktive Unordnung<br />
Ich versuche nicht, den Vorteil des Verhältnisses zwischen der architektonischen Form und der<br />
Konstruktion zu vertiefen, aber ich möchte hervorheben, dass es nicht nur in eine Richtung geht. Es gibt<br />
keine mit eigener Rationalität ausgestattete „Konstruktion“, die einer „Architektur“ vorausgeht, die das auch<br />
verwenden und ausdrücken würde. Ebenso klar kann man sehen, dass ganz im Gegenteil die Architektur<br />
die Konstruktion leitet. Ist sie nicht „Auftraggeber“? In diesem Sinne bestimmt sie die Konstruktion. Die<br />
paradoxe Konstruktion der Neuen Nationalgalerie kann als eine Ermunterung gesehen werden, die<br />
Probleme der räumlichen Isotropie und der Verformung des Tragwerks zu lösen. Und es ist sicher der<br />
Grund, dreidimensionale, räumlich ausgedehnte ebene Strukturen zu untersuchen. Hier besteht ein<br />
programmatischer Effekt. Oder auch noch, um die Unordnung festzustellen, die häufig die dem Auge<br />
verborgene Konstruktion beherrscht – denken wir dabei nur an einen vor kurzem hergestellten Trägerrost,<br />
den des Daches des Kultur- und Kongresszentrums in Luzern von Jean Nouvel – und wir verstehen, dass<br />
vielleicht die räumliche, sichtbare Ordnung die „alleinige“ Ordnung<br />
überhaupt ist. Vielleicht eine für die Konstruktion nützliche Ordnung.<br />
Jean Nouvel, Kultur- und Kongresszentrums in Luzern, 1999.<br />
Isometrie der Knoten der Dachträger<br />
Architektur und Geometrie<br />
In Wirklichkeit regiert die Geometrie. Sie regiert den Kristall und die Pflanze, in einem mikroskopischen<br />
oder makroskopischen Massstab. Bei der „Neuen Nationalgalerie“ sowie bei vielen Bauten bestimmt sie<br />
vom Massstab 1:200 an bis zum Massstab 1:1 die „architektonische Form“, aber die „konstruktive Form“<br />
entgeht ihr. Diese gehorcht, der Reihe von geometrischen Transformationen entsprechend, den<br />
aufeinander folgenden Abläufen des Bauprozesses. Der Ursprung dieses Bruchs ist offensichtlich die<br />
Folge der Schwierigkeiten, die wir beim Dach der Neuen Nationalgalerie angetroffen haben. Der<br />
räumlichen Symmetrie entspricht nicht eine Symmetrie der Materie. Können wir aus dieser Situation einen<br />
Ausweg finden? Man kann die Frage zunächst beantworten, indem man für den Raum weniger<br />
einschränkende geometrische Systeme wählt – lineare, asymetrische Räume - oder noch reichere, wie<br />
die Vorschläge der Kubisten – siehe das Haus des Menschen von Le Corbusier in Zürich mit einem im<br />
Plan symmetrischen aber im Raum asymmetrischen Dach. Oder man akzeptiert eben ein anderes Material<br />
mit anderen geometrischen Eigenschaften. Zum Beispiel den Beton. Oder einfacher, man umgeht die<br />
Falle, indem man eine geometrische Bruchstelle auf einer Zwischenebene der „architektonischen Form“<br />
einführt, aber nun entfernen wir uns von dem schönen Ideal der Geometrie ….. Das, was Mies van der<br />
Rohe gar nicht behagt. Diesen Balanceakt auf der Suche nach einer geeigneten Bruchstelle zur Lösung<br />
des Problems hat er lange verfolgt, bis er bei der Lösung der Neuen Nationalgalerie ankam. Zwei nicht<br />
realisierte Projekte als Beweis: Das „50x50 Haus“ 3 blieb offensichtlich ohne Fortsetzung und dieser<br />
ankündigende Doppelgänger der Neuen Nationalgalerie, die „Bacardi-Halle“, projektiert in Stahlbeton oder<br />
mit Vorspannung, sollte ebenfalls den topologisches Kopfzerbrechen verursachenden Trägerrosten<br />
entkommen. Hat die kubanische Revolution ihre Verwirklichung verhindert? Wären wir dann nicht mit einer<br />
anderen Frage konfrontiert gewesen: warum eine so schwere Kassettendecke für ein so grosse Dach, wo<br />
es doch viel rationeller ist, mit einer dünnen Membran zu arbeiten?<br />
10/10