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Bulletin 3/09 "Norden" - Credit Suisse eMagazine - Deutschland

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Illustrationen: Beate Frommelt<br />

Text: Ute Eberle<br />

«Man muss still sein und darf nichts erwarten», sagt Hermundur<br />

Rosenkranz. «Dann sieht man das verborgene Volk.» Rund sechs<br />

Mal sei er dem Huldufólk – von vielen auch Elfen genannt – bisher begegnet,<br />

berichtet der 49­Jährige aus Reykjavík. Beim ersten Mal war er<br />

vier Jahre alt. «Es waren Kinder, die aus den Klippen kamen. Ich war so<br />

klein, dass ich mir nichts dabei dachte.»<br />

«Man muss sich am 24. Juni auf eine Kreuzung setzen», sagt Sigurbjörg<br />

Karlsdóttir, Touristenführerin in Hafnarfjördur. «Laut den Überlieferungen<br />

kann man dann Elfen vorbeiziehen sehen. Aber man darf sie<br />

nicht ansprechen, sonst wird man verrückt.»<br />

«Man muss höflich sein mit den Unsichtbaren», sagt Petur Matthiasson,<br />

Sprecher der Isländischen Strassenverwaltung. «Sie werden nicht<br />

gern überrascht. Aber sie ziehen um, wenn man sie bittet.» Manchmal<br />

verlege das Amt auch Strassen, um das Huldufólk zu schonen. Doch<br />

das sei schon Jahre nicht mehr vorgekommen, versichert Matthiasson.<br />

Man glaube ja auch nicht wirklich an Elfen. «Wir streiten nur nicht gern<br />

ab, dass es sie geben könnte.»<br />

Abgelegen, aber nicht zurückgeblieben<br />

Rund 800 Kilometer Meer trennen Island vom Nordwesten Schottlands.<br />

Es ist das abgelegenste Land Europas. Gut 300 000 Menschen<br />

leben hier nahe dem Polarkreis auf einer Insel, die zweieinhalb Mal<br />

so gross ist wie die Schweiz. Die Isländer sind in vieler Hinsicht<br />

geradezu aggressiv modern. Handys, Internet und Geländewagen<br />

prägen das Alltagsbild. In manchen Fitnessclubs scannt eine Maschine<br />

die Augeniris der Ankommenden. Die Bürgersteige Reykjavíks sind,<br />

dank Wasserenergie, beheizt. Biogenetiker werten das Erbgut der<br />

Bevölkerung aus. Und so wenig Analphabeten gibt es hier, so hoch<br />

sind die Lebenserwartung, die Schulungsrate und die Kaufkraft, dass<br />

sich das Land 2008 an die Spitze des «Human Development Index»<br />

der Vereinten Nationen setzte. Jüngst wählte die Bevölkerung die<br />

erste öffentlich homosexuelle Premierministerin<br />

der Welt, nachdem die alte Regierung<br />

über die Wirtschaftskrise gestolpert war.<br />

Und doch ist die Vergangenheit stets nur<br />

eine kurze Autofahrt entfernt. Zwei Drittel<br />

der Bevölkerung ballen sich im Grossraum<br />

Reykjavík, der Rest lebt in einem dünnen<br />

Streifen entlang der Küste und in geschützten<br />

Tälern. Weite Teile des Landesinneren sehen<br />

dagegen heute noch so aus wie vor Hunderten<br />

von Jahren. Es waren die Wikinger<br />

Skandinaviens, die das Land mit ihren Ruderbooten<br />

ab dem neunten Jahrhundert besiedelten.<br />

Island ist eine Vulkaninsel. Sie sitzt<br />

auf der Naht zwischen den tektonischen<br />

Platten Nordamerikas und Eurasiens. Gletscher<br />

und Lavafelder bedecken weite Teile<br />

ihres Bodens. Nur 0,07 Prozent sind für die<br />

Landwirtschaft geeignet.<br />

Unwirklich wilde Landschaften<br />

Ungebremst von Bäumen – abgesehen von<br />

ein paar wenigen Zwergbirken – fegt der<br />

Wind über Ebenen, die so karg sind, dass<br />

die NASA einst ihre Astronauten herschickte,<br />

Island soll von einem dichten Netz von<br />

Kraftlinien, auch Ley-Linien genannt,<br />

überzogen sein, entlang deren sich Elfen<br />

besonders gerne niederlassen.<br />

Elfen<br />

Norden 23<br />

um sie auf den Mond einzustimmen. Giftgrüne Flechten erklimmen<br />

Hänge, die kein Mensch je bestiegen hat. Kochend heisse<br />

Geysire schiessen aus dem Boden, Gletscherseen klirren,<br />

Schwefelfelder brodeln, Wasserfälle brausen aus der Höhe.<br />

Dampf wabert aus vulkanisch aufgeheizten Hügeln. Nebel<br />

steigt scheinbar aus dem Nichts auf. Und im Sommer flimmert<br />

die Luft, bis das Auge glaubt, Erscheinungen zu sehen.<br />

Sehen den Menschen ähnlich und trinken Kaffee<br />

Kein Wunder, dass die frühen Siedler allerlei Naturgeister hier<br />

vermuteten. Gigantische Trolle – glaubten sie etwa – spuckten<br />

die glühende Lava aus. Gnome und Feen huschten aus ihrer<br />

Sicht zwischen den Büschen und Felsen umher. Die Tradition<br />

dazu hatten sie aus dem skandinavischen und keltischen Raum<br />

mitgebracht, doch während man dort die mystischen Erzählungen<br />

von einst kaum noch beachtet, seien sie in Island «quietschlebendig»,<br />

schrieb vor einigen Jahren Valdimar Hafstein, Forscher<br />

für Anthropologie und Folklore an der Universität von Island.<br />

Und just eine bestimmte Sorte Elfen – das Huldufólk – scheint<br />

noch recht eifrig im Alltag mitzumischen.<br />

«Gemäss den Legenden sehen sie den Menschen ähnlich und<br />

haben eine vergleichbare Wirtschaft», so Hafstein. «Sie haben<br />

Vieh, ernten Heu, rudern Boote, häuten Wale und pflücken<br />

Beeren. Sie haben Priester und Sheriffs und gehen sonntags in<br />

die Kirche.» Leben soll dieses Parallelvolk in Klippen und Felsen,<br />

doch wird ihren Behausungen nachgesagt, überraschend gemütlich<br />

zu sein. Hinter Fenstern und Türen, die Normalsterbliche<br />

meist nicht sehen können, verbergen sich demnach lauschige<br />

Küchen, in denen die Elfen Kaffee trinken und Pfannkuchen<br />

backen. In der Ásbyrgi­Schlucht im Landesnorden sollen sie sogar<br />

ein Konzerthaus gebaut haben. Und hinter einem Wasserfall<br />

in Hellisgerdi vermuten einige ein Elfen­Café. In manchen Umfragen<br />

gab jeder zweite Isländer zu, an Elfen zu glauben. In anderen<br />

war die Zahl der zweifelsfrei Überzeugten<br />

niedriger, doch der grundlegende Trend derselbe:<br />

Die übergrosse Mehrheit des Inselvolks<br />

– bis zu 80 Prozent – ist sich zumindest<br />

nicht sicher, dass es Elfen nicht gibt. «Fragt<br />

man einen Isländer, was er tun würde, wenn<br />

er einen Whirlpool im Garten bauen wollte,<br />

aber dafür einen Felsen wegsprengen müsste,<br />

in dem angeblich Elfen leben, entscheiden<br />

sich die meisten sicherheitshalber dagegen»,<br />

sagt Terry Gunnell, Folkloreprofessor an der<br />

Universität von Island.<br />

Wohlwollend, aber rachsüchtig<br />

Denn die Elfen gelten zwar als insgesamt<br />

wohlwollend, doch rachsüchtig gegenüber<br />

denen, die ihnen Unrecht tun. Wie jener Farmer,<br />

der achtlos einen Fels in seinen Keller<br />

einbaute, obwohl ihn Nachbarn gewarnt hatten,<br />

dass darin Elfen wohnten. Kurz darauf,<br />

so heisst es, erkrankte seine Tochter aus<br />

unerklärlichen Gründen und starb.<br />

Oder jene Bauarbeiter, die einen Elfenstein<br />

aus dem Weg einer neuen Strasse<br />

räumten und ihn dabei zerbrachen. Am ><br />

<strong>Credit</strong> <strong>Suisse</strong> bulletin 3/<strong>09</strong>

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