PRO ETHIK - Humanistischer Verband Deutschlands
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einblicke<br />
Armin Pfahl-Traughber<br />
Thesen für eine<br />
aufgeklärte<br />
Religionskritik<br />
Das Aufkommen der „Neuen Atheisten“<br />
veränderte die öffentlich wahrnehmbare<br />
Religionskritik: Zum einen erhöhte sich<br />
deren Breitenwirkung leicht, zum anderen<br />
verschärfte sich deren Ton stark. Dazu die<br />
folgenden zwölf Thesen für eine aufgeklärte<br />
Religionskritik und gegen einen selbstgefälligen<br />
Atheismus.<br />
1. Eine Auffassung, die Religion lediglich<br />
als „Gotteswahn“ (Richard Dawkins)<br />
versteht oder meint, sie „vergiftet alles“<br />
(Christopher Hitchens), kann nicht deren<br />
soziale Bedeutung als Erkenntnis-, Identitäts-,<br />
Integrations- oder Orientierungsfaktor<br />
begreifen und fällt hinter den Stand der<br />
Religionskritik von Feuerbach, Marx, Darwin<br />
und Freud zurück.<br />
2. Die Annahme, „eine Welt ... in der es<br />
keine Religion gibt“, kenne „keinen Krieg<br />
zwischen Israelis und Palästinensern ...<br />
keine ‚Probleme‘ in Nordirland“ (Richard<br />
Dawkins), ignoriert, dass Religion nicht für<br />
alles Elend und Übel der Welt verantwortlich<br />
ist und häufig lediglich als ideologischer<br />
Deckmantel für anders motivierte Konflikte<br />
dient.<br />
3. Die Behauptung, mit Darwin sei die<br />
Religion erledigt, verkennt zum einen, dass<br />
der sich als Agnostiker verstehende Naturforscher<br />
den Deismus für kompatibel mit<br />
seiner Evolutionstheorie hielt, und zum<br />
anderen, dass er eine überaus differenzierte<br />
Auffassung zu Entstehung, Funktion und<br />
Wertschätzung von Religion hatte.<br />
4. Die Deutung, wonach die Religion<br />
„gewalttätig, irrational und intolerant“<br />
(Christopher Hitchens) sei und „die Vernunft<br />
und die Intelligenz“ (Michel Onfray)<br />
hasse, verabsolutiert bestimmte Phänomene<br />
in spezifisch historisch-politischen Kontexten<br />
zu einem inhaltlichen Zerrbild, das andere<br />
und gegenteilige Tendenzen komplett<br />
ignoriert.<br />
5. Der Umgang von Atheisten mit Religiösen<br />
sollte von den Prinzipien des Kantschen<br />
Kategorischen Imperativs geprägt<br />
sein. Oder: „Wenn Atheisten nicht von<br />
Theisten mit negativen Vorurteilen konfrontiert<br />
werden möchten, dann dürfen sie<br />
das auch nicht bei Theisten machen.“ (Michael<br />
Shermer)<br />
6. Die Forderung, auch gegenüber den<br />
Gläubigen Toleranz zu üben, schließt keinen<br />
Verzicht auf inhaltliche Kritik ein, steht<br />
doch Toleranz als dialektischer Begriff entgegen<br />
einer weit verbreiteten Auffassung nicht<br />
für Indifferenz und Relativismus, sondern<br />
für die formale Akzeptanz einer abgelehnten<br />
Position als legitimer Meinung im Rahmen<br />
des Pluralismus.<br />
7. Auch irrige Annahmen sind in einer<br />
offenen Gesellschaft zu dulden, denn: „So<br />
lange die Religion Wissenschaft und Freiheit<br />
nicht bedroht, sollten wir respektvoll<br />
und tolerant sein, weil unsere Freiheit, nicht<br />
zu glauben, untrennbar mit der Freiheit anderer,<br />
zu glauben, verbunden ist.“ (Michael<br />
Shermer)<br />
8. Demnach können Absolutheitsansprüche<br />
und Dogmatismus in Teilbereichen<br />
der Gesellschaft – von der individuellen<br />
Ethik über den religiösen Glauben bis zur<br />
ostentativen Sportbegeisterung – als Ausdruck<br />
persönlicher Freiheit geduldet werden,<br />
solange sie keinen Anspruch auf die<br />
verbindliche Gestaltung des sozialen Miteinanders<br />
erheben.<br />
9. In diesem Sinne mag auch ein Atheismus<br />
im Namen der Aufklärung öffentlich<br />
und vehement für die Überwindung des religiösen<br />
Glaubens eintreten, wobei sich sein<br />
Ansinnen auf die Überzeugungskraft der<br />
Argumente und nicht – wie eine Diktatur<br />
im angeblichen Namen der Vernunft – auf<br />
die Repressionspraxis eines Staates stützen<br />
darf.<br />
10. Die Behauptung, „Religionsfeindlichkeit<br />
und Menschenfreundlichkeit sind<br />
schließlich zwei Seiten der selben Medaille“<br />
(Andreas Müller), verkennt in ihrer Einseitigkeit,<br />
dass in der historischen Rückschau<br />
sowohl Atheismus wie Religiosität je nach<br />
historisch-politischer Situation mit Menschenfreundlichkeit<br />
wie Verbrechen einhergehen<br />
konnten.<br />
11. Atheismus steht für einen negativen<br />
Sammelbegriff, der alle Begründungen für<br />
die Ablehnung von Religion und somit<br />
auch totalitäre Bestrebungen wie den Stalinismus<br />
einschließt, wodurch nicht nur aus<br />
demokratischer und menschenrechtlicher<br />
Sicht eine positive Identifikation des säkularen<br />
Selbstverständnisses über den Humanismus<br />
nötig wird.<br />
12. Die bedeutenden Konfliktlinien verlaufen<br />
heute nicht zwischen Atheisten und<br />
Gläubigen, sondern zwischen Demokraten<br />
und Extremisten, Menschenrechtlern und<br />
Unterdrückern – was eine Kooperation<br />
von atheistischen und religiösen Demokraten<br />
gegen Fanatiker der unterschiedlichsten<br />
Richtungen möglich und notwendig<br />
macht. l<br />
Diese Thesen wurden am 4. März 2009 im Humanistischen<br />
Pressedienst (hpd) veröffentlicht.<br />
ausblicke<br />
2/2009 17