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1 Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe ist die ... - Adveniat

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Tanzprojekt Mar de Gente<br />

Editorial<br />

<strong>Der</strong> <strong>Themenschwerpunkt</strong> <strong><strong>die</strong>ser</strong> <strong>Ausgabe</strong> <strong>ist</strong> <strong>die</strong> vielfältige<br />

Kulturszene abseits der großen Metropolen São Paulo und<br />

Rio de Janeiro. Dazu gehört auch <strong>die</strong> Literatura de Cordel,<br />

ein typisches Phänomen des brasilianischen Nordostens. Aus<br />

dem Nordosten stammt auch der Sänger Tom Zé, der, obwohl<br />

er schon seit langem in São Paulo lebt, seine Wurzeln nicht<br />

verleugnet.<br />

Die Umleitung des Rio São Francisco <strong>ist</strong> ein weiterer <strong>Themenschwerpunkt</strong><br />

<strong>die</strong>ses Heftes. Dieses pharaonische Projekt<br />

veranlasste Bischof Dom Cappio im Dezember 2007 zu seinem<br />

zweiten Hungerstreik. Über das - auch in Brasilien umstrittene<br />

- Projekt der Flussumleitung werden wir sicherlich auch<br />

in den kommenden <strong>Ausgabe</strong>n berichten und Sie auf dem<br />

Laufenden halten.<br />

Die brasilianische Politik hielt wieder viele Nachrichten für uns<br />

bereit, <strong>die</strong> im täglichen Zeitungsdschungel untergingen. Wir<br />

versuchen deshalb immer wieder aufs Neue, wichtige Nachrichten<br />

zu bündeln und sie an unser Publikum weiterzugeben.<br />

So erreichte uns auch ein lesenswerter Bericht aus Belém über<br />

den Aufbau einer unabhängigen Radiostation, <strong>die</strong> täglich um<br />

ihr Überleben kämpft.<br />

Mit <strong><strong>die</strong>ser</strong> <strong>Ausgabe</strong> liegt nun <strong>die</strong> zweite Nummer der neuen<br />

Brasilien Nachrichten vor Ihnen. Das Leserecho war sehr positiv<br />

und bestärkt uns, den eingeschlagenen Weg weiter zu<br />

gehen. Wir haben viele Ihrer Anregungen aufgegriffen und<br />

<strong>die</strong>se, soweit es uns möglich war, umgesetzt. Sie können sich<br />

auch – wenn Sie Zeit und Lust haben - in Form von Artikeln<br />

und Übersetzungen bei uns einbringen.<br />

Diese <strong>Ausgabe</strong> wurde in einer örtlichen Druckerei hergestellt,<br />

das Papier <strong>ist</strong> chlorfrei gebleicht (FSC-zertifiziert).<br />

Wir wünschen allen eine angenehme Frühlingszeit und einen<br />

schönen Sommer.<br />

Die Redaktion<br />

1


2<br />

Wirtschaft<br />

Wirtschaftsdaten zu Brasilien 4<br />

<strong>Der</strong> Wirtschaft geht es gut, dem Volk weniger 5<br />

von Leandro Moraes Vidal, Florianópolis<br />

Kultur<br />

ABC am Bande - „Literatura de Cordel“ in der Alphabetisierung von Kindern u. Erwachsenen 6<br />

von Hubertus Rescher<br />

<strong>Der</strong> Jahrhundertarchitekt - Oscar Niemeyer wird 100 Jahre alt 10<br />

von Peter von Wogau<br />

Buchbesprechungen 13<br />

von Anne Reyers<br />

Brasilianischer Film in Deutschland 14<br />

von Ricardo Santanna und Hubertus Rescher<br />

Buchbesprechung 17<br />

von Annedore Jünnemann und Gerborg Me<strong>ist</strong>er<br />

Große Kunst im Landesinnern 18<br />

von Izabel Riello-Peter und Chr<strong>ist</strong>ina Thomas<br />

Tom Zé :: Musiker, Avantgard<strong>ist</strong>, Provokateur 20<br />

von Klaus Hart, Rio de Janeiro<br />

Menschenmeer - Ein Tanztheater anderer Art 22<br />

von Günther Schulz<br />

Indigene<br />

Lula <strong>ist</strong> schon lange kein Idol mehr - <strong>die</strong> indigenen Völker protestieren 24<br />

von Bernd Lobgesang<br />

„Neu-Atlantis“ Ökotourismus-City raubt Indianerland 39<br />

von Karl Emmerich


Projekte<br />

Rádio Margarida 8<br />

von Sylvia Hille, Belém<br />

„Casa Taiguara“ in São Paulo 27<br />

von Anja Fa<strong>ist</strong><br />

Umwelt<br />

<strong>Der</strong> Rio São Francisco muss leben 28<br />

von Andrea Zellhuber, Salvador<br />

Widerstand gegen <strong>die</strong> Ableitung des Rio São Francisco 36<br />

von Tobias Schmitt<br />

Interview<br />

Interview mit Maria do Socorro Borges Barbosa 37<br />

von Bernd Lobgesang und Gerborg Me<strong>ist</strong>er<br />

Impressum<br />

BRASILIEN NACHRICHTEN (seit 1976) lfd. Nr. 137, ISSN<br />

0173-6582 – gemeinsam herausgegeben, redigiert<br />

und verlegt von der AG Brasilien Nachrichten und der<br />

Brasilieninitiative Freiburg e.V. Verlagsort: Freiburg.<br />

Anschrift der Redaktion: Lieneschweg 78, 49076 Osnabrück/Walter-Gropius-Str.2,<br />

79100 Freiburg<br />

Redaktion (ViSdP): Bernd Lobgesang, Osnabrück, Hubertus<br />

Rescher, Mettingen, Günther Schulz, Freiburg<br />

Weitere Mitarbeiter/Innen <strong><strong>die</strong>ser</strong> Nummer: Karl Emmerich,<br />

Anja Fa<strong>ist</strong>, Klaus Hart, Sylvia Hille, Gerborg<br />

Me<strong>ist</strong>er, Leandro Moraes Vidal, Anne Reyers, Izabell<br />

Riello-Peter, Ricardo Sanntana, Tobias Schmitt,<br />

Chr<strong>ist</strong>ana Thomas, Peter v. Wogau, Andrea Zellhuber<br />

Redaktionsschluss: 15.03.2008<br />

Nachdruck oder Vervielfältigung <strong>ist</strong> ohne vorherige<br />

Erlaubnis des Verlages nur für Unterrichtszwecke gestattet.<br />

Mit vollem Namen gekennzeichnete Artikel liegen<br />

allein in der Verantwortung der Verfasser.<br />

Die Brasilien Nachrichten laden zur Mitarbeit ein.<br />

redaktion@brasiliennachrichten.de<br />

Ein Abo (4 <strong>Ausgabe</strong>n) kostet 20 € (inkl. Versandkosten)<br />

im Inland, 30 € innerhalb Europas, 50 € Brasilien.<br />

Das Abo <strong>ist</strong> jederzeit kündbar.<br />

Wir danken dem Ausschuß für Bildung u. Publiz<strong>ist</strong>ik<br />

(ABP) für <strong>die</strong> Unterstützung.<br />

Satz und grafi sches Konzept:<br />

Peter Belledin :: www.PEBE-media.de<br />

Fotos:<br />

Assessoria de Imprensar Ivaldo Bertazzo: Titelbild<br />

S. 1, 22, 23<br />

© M. Kosmal :: Fotolia.com S. 5<br />

© Lagui :: Fotolia.com S. 7<br />

Sylvia Hille S. 8, 39<br />

Mario da Silva S. 10, 11, 12<br />

batismodesangue.com.br S. 14, 15<br />

Günther Krömer, S. 24<br />

João Zinclair S. 28, 29, 30, 35, 36<br />

Günther Schulz S. 27, 32<br />

3


4<br />

Anzeige<br />

Wirtschaft<br />

Wirtschaftsdaten zu Brasilien<br />

Sozialprodukt<br />

2005 2006 2007 2008<br />

BIP in Mrd USD 604 882 1068 1290<br />

Löhne nominal<br />

in Reais 902 971 1088 1164<br />

Infl ation % 6,1 5,7 4,2 4,6<br />

Arbeitslosigkeit % 11,5 10,6 8,4 7,4<br />

Quellen: IBGE; IPEA; Weltbank; IWF; OECD; BFAI


<strong>Der</strong> Wirtschaft geht es gut,<br />

Das Jahr 2007 endete mit guten Nachrichten für <strong>die</strong> brasilianische<br />

Wirtschaft. Es war deshalb auch ein gut gelaunter<br />

Präsident, der sich am Ende des Jahres im nationalen Fernseh<br />

- und Radionetz präsentierte und versicherte, dass „Brasilien<br />

seinen Weg gefunden hat“. Lässt man <strong>die</strong> übliche Rhetorik<br />

und den irgendwie unrefl ektierten Optimismus beiseite, der<br />

traditionell das Land zwischen den Weihnachtsfestlichkeiten<br />

und dem Karneval in Besitz nimmt, muss <strong>die</strong>ses Mal doch zugestanden<br />

werden, dass der Präsident ein bisschen Recht hat. Das<br />

Wachstum des PIB von 5,4% im Jahr 2007, das Zurückgehen<br />

der Arbeitslosigkeit auf 8,2 % in den sechs größten Regionen<br />

des Landes und der Anstieg der Löhne um durchschnittlich<br />

7% sind <strong>die</strong> Hauptindikatoren für eine wirksamen Änderung<br />

des Szenariums in der brasilianischen Wirtschaft. Vielleicht<br />

lässt sich sogar bereits von einem Ende der wirtschaftlichen<br />

Stagnation reden, welche <strong>die</strong> 80er und 90er des vergangenen<br />

Jahrhunderts als „verlorene Jahre“ kennzeichnet. Neben <strong>die</strong>sen<br />

Daten lässt sich zudem eine, wenn auch noch bescheidene<br />

Verbesserung der sozialen Daten konstatieren. <strong>Der</strong> im Januar<br />

2008 veröffentlichte Pnad* zeigt eine Verringerung des „Gini-<br />

Index“ auf, des Gradmessers für soziale Ungleichheit. Er führt<br />

vor Augen, dass das größte relative Einkommenswachstum<br />

bei den einkommenschwächsten Schichten erfolgte, <strong>die</strong>s mit<br />

einer realen Erhöhung um 13% des Mindestlohns.<br />

All <strong>die</strong>s lässt Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in einem für<br />

ihn politisch positiven Licht erscheinen, etwas fast Einmaliges<br />

für einen brasilianischen Präsidenten. Er genießt wie in den<br />

ersten Tagen seiner Regierungszeit ungebrochene Popularität<br />

und bietet deshalb der Opposition wenig Angriffsfl ächen.<br />

Die Mehrheit der Wirtschaftsjournal<strong>ist</strong>en, eifrige Verfechter<br />

der neoliberalen Politik des Vorgängers Fernando Henrique<br />

Cardoso („FHC“), versuchte in den letzten Jahren <strong>die</strong> positiven<br />

Ergebnisse der Regierung Lula herunterzuspielen. Sie schrieb<br />

<strong>die</strong> erfreuliche ökonomische Entwicklung nur der Fortführung<br />

des von FHC eingeschlagenen Weges zu, ergänzt durch „eine<br />

international günstige Konjunktur“. Diese Sichtweise lässt<br />

sich nicht länger halten, stieg doch das brasilianische<br />

Wachstum trotz der Krise im US-Immobiliensektor,<br />

<strong>die</strong> das Wachstum der wichtigsten kapital<strong>ist</strong>ischen<br />

Wirtschaften negativ beeinfl usste, weiter an.<br />

Noch wichtiger jedoch <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Tatsache, dass<br />

<strong>die</strong> positiven Effekte gerade dann einsetzten,<br />

nachdem <strong>die</strong> Regierung begonnen<br />

hatte, sich von der<br />

neoliberalen<br />

Wirt-<br />

Wirtschaft<br />

dem Volk weniger<br />

von Leandro Moraes Vidal :: Übersetzung: Günther Schulz<br />

schaftspolitik Cardosos zu verabschieden. Dies geschah vor<br />

allem durch <strong>die</strong> Ankündigung des „Plans zur wirtschaftlichen<br />

Beschleunigung“ (PAC: Plano de Aceleração do Crescimento),<br />

bei dem der Staat als Protagon<strong>ist</strong> der nationalen Wirtschaft<br />

auftritt und innerhalb von vier Jahren mehr als 200 Milliarden<br />

Euro in <strong>die</strong> brasilianische Infrastruktur investieren wird.<br />

<strong>Der</strong> am 17.1.2007, zwanzig Tage nach Antritt der zweiten<br />

Amtszeit des brasilianischen Präsidenten Lula verkündete<br />

Plan, deutete bereits auf einen anderen Weg gegenüber den<br />

ersten vier Regierungsjahren hin. Sie waren zum Erstaunen<br />

vieler durch nur geringfügige Änderungen gegenüber der<br />

bisherigen Wirtschaftspolitik gekennzeichnet gewesen. Eine<br />

Veränderung fand allerdings schon 2006 mit dem Fall des<br />

bis dahin amtierenden Finanzmin<strong>ist</strong>ers Antonio Palocci statt:<br />

Ein weiteres Kapitel der Neugestaltung der Wirtschaftspolitik<br />

der Regierung Lula. Mit der Ernennung von Guido Mantega<br />

zum neuen Finanzmin<strong>ist</strong>er setzte sich <strong>die</strong> Sichtweise durch,<br />

dass der Staat eine richtungsweisende Rolle in der Wirtschaft<br />

einzunehmen hat.<br />

Für <strong>die</strong> der Regierung nahestehenden Ökonomen <strong>ist</strong> <strong>die</strong><br />

Rückkehr zu einem wirtschaftlichen Aufschwung ein direktes<br />

Ergebnis der öffentlichen Investitionen entsprechend dem PAC-<br />

Plan. In groben Zügen besteht der Plan in der Idee, private<br />

Investitionen durch öffentliche Investitionen in Infrastrukturmaßnahmen<br />

zu stimulieren. Diese Infrastrukturmaßnahmen<br />

beziehen sich vor allem auf den Energie- und Transportbereich,<br />

dessen prekäre Situation als großes Hinderniss für ein<br />

produktives Wachstum Brasiliens betrachtet wird. Daneben<br />

sollen weitere 50 Milliarden Euro in den Wiederaufbau der<br />

städtischen Infrastruktur der größten Metropolen fl ießen. Das<br />

umfasst sowohl eine grundlegende Kanalisierung als auch eine<br />

Urbanisierung der Favelas. Für <strong>die</strong> Regierung stellt das Programm<br />

zugleich eine „Wiederaufnahme einer<br />

langfris- tig angelegten Planung“<br />

dar. Noch <strong>ist</strong> es zu<br />

früh zu sa-<br />

5


6<br />

gen, ob <strong><strong>die</strong>ser</strong> Versuch erfolgreich sein wird, aber zumindest<br />

<strong>ist</strong> es ein Fortschritt, dass das Wort „Planung“- während der<br />

langen Jahre des Neoliberalismus vollkommen inex<strong>ist</strong>ent in<br />

den lateinamerikanischen Wörterbüchern – wieder Teil der<br />

öffentlichen Debatten geworden <strong>ist</strong>.<br />

Andere Aspekte des PAC sind jedoch umstritten. Gerade Bauvorhaben<br />

werden stark von Seiten der sozialen Bewegungen<br />

kritisiert, so etwa <strong>die</strong> Umleitung des Rio São Francisco oder<br />

der Bau der Wasserkraftwerke am Rio Madeira, beides Teil des<br />

neuen Regierungsplans. Die geplanten Maßnahmen machen<br />

<strong>die</strong> Widersprüche eines wirtschaftlichen Wachstums deutlich,<br />

der nicht immer gleichbedeutend mit Verringerung der Armut<br />

<strong>ist</strong>. Unglücklicherweise sind <strong>die</strong> sozialen Fortschritte, obwohl<br />

unleugbar vorhanden, viel langsamer spürbar, als das gerade<br />

von einer Regierung zu erwarten gewesen <strong>ist</strong>, <strong>die</strong> gerade<br />

von den ärmsten Bevölkerungsschichten mit so viel Hoffnung<br />

bedacht wurde.<br />

Andererseits <strong>ist</strong> es immer offenkundiger, dass das Elend, in<br />

dem sich immer noch ein Großteil der brasilianischen Bevölkerung<br />

befi ndet, nie besiegt werden kann, zumindest nicht<br />

in einem kapital<strong>ist</strong>ischen Umfeld, ohne dass das Land seine<br />

produktiven Kapazitäten voll entfaltet und so – wie <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en<br />

„entwickelten Länder“ – imstande <strong>ist</strong>, auf einer soliden<br />

wirtschaftlichen Grundlage eine ernsthafte Sozialpolitik aufzubauen.<br />

Das wiederum entspricht dem sozialdemokratischen<br />

Charakter der Lula - PT mit seiner seit Beginn an klaren Ausrichtung<br />

auf eine Versöhnung zwischen den verschiedenen<br />

Klassen, im klassischen südamerikanischen Populismus. (Das<br />

hat übrigens nichts mit Chávez zu tun, wie es von einigen<br />

Analytikern, welche <strong>die</strong> lateinamerikanische Realität wenig<br />

kennen, gerne verbreitet wird.) Es <strong>ist</strong> verständlich, dass<br />

eine Regierung mit <strong>die</strong>sen Merkmalen bei Teilen der Linken<br />

Frustration auslöst. Sie haben ohne Zweifel Recht mit ihrem<br />

Hinweis, dass <strong>die</strong> Forderung eines Modells, das stärker auf <strong>die</strong><br />

heimische Wirtschaft ausgerichtet <strong>ist</strong>, seine Grenzen hat. Denn<br />

<strong><strong>die</strong>ser</strong> Weg fordert zu viele Kompromisse, wie beispielsweise<br />

mit der Agroindustrie, was <strong>die</strong> Langsamkeit der bisherigen<br />

kleinbäuerlichen Agrarpolitik und <strong>die</strong> Verhinderung einer echten<br />

Agrarreform erklärt. Die Grenzen beziehen sich ebenso<br />

auf <strong>die</strong> sozialen Schäden und <strong>die</strong> Umweltgefahren, denen <strong>die</strong><br />

brasilianische Bevölkerung im Zusammenhang mit den im<br />

PAC-Plan genannten Großprojekten ausgesetzt <strong>ist</strong>.<br />

Was unglücklicherweise <strong>die</strong> Linke und mit ihr viele soziale<br />

Bewegungen zu ignorieren scheinen, <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Tatsache, dass<br />

<strong><strong>die</strong>ser</strong> neue Entwicklungszyklus <strong>die</strong> h<strong>ist</strong>orische Chance mit<br />

sich bringt, unsere sozialen Schulden abzubauen. Es liegt an<br />

uns, <strong>die</strong> Regierung unter Druck zu setzen, damit eine direktere<br />

Umsetzung des wirtschaftlichen Wohlstandes in sozialen Fortschritt<br />

vollzogen werden kann. Dieser wird ohne das<br />

Fortschreiten des Erstgenannten nicht<br />

erfolgen können. Die Wiedererlangung<br />

der nationalen Souveränität und <strong>die</strong><br />

staatliche Initiative sind für <strong>die</strong> Län-<br />

der der „Dritten Welt“ der einzige Weg,<br />

<strong>die</strong> ungerechte internationale Ordnung<br />

zu überwinden. „Eine andere Welt <strong>ist</strong><br />

möglich“ - hierbei kommt Brasilien eine<br />

wichtige Rolle zu. Wir haben immer noch<br />

nicht aufgegeben, daran zu glauben. ■<br />

* Pesquisa Nacional por Amostragen de DoDomicilios (IBGE)<br />

M<br />

ABC am<br />

„Literatura de Cordel“ in der Alphabeti<br />

Man fi ndet sie wieder verstärkt auf den Märkten im Landesinnern<br />

des brasilianischen Nordostens, aber auch an Ständen<br />

in großen Tour<strong>ist</strong>ikzentren wie Fortaleza, Recife und Salvador.<br />

Manchmal treten sogar ihre Schöpfer, <strong>die</strong> Volkspoeten und<br />

Sänger des Nordostens, dort auf und tragen ihre Texte vor.<br />

Literatura de Cordel, <strong>die</strong> Literatur an der Kordel, schon oft<br />

totgesagt, <strong>ist</strong> trotz aller Konkurrenz durch <strong>die</strong> Massenme<strong>die</strong>n<br />

nicht tot, im Gegenteil blühender denn je.<br />

Geschichte der Literatur<br />

Kultur<br />

Die kleinen Heftchen, zume<strong>ist</strong> im Format von etwa 10,7 x<br />

15,5 cm, werden oft mittig über Schnüre gehängt, eben <strong>die</strong><br />

Kordel, und so zum Kauf angeboten. Daher haben sie ihren<br />

Namen. <strong>Der</strong> portugiesische Plural für Schnüre lautet „cordéis“.<br />

Häufi g wird <strong>die</strong> gesamte Literaturgattung so bezeichnet. Es<br />

gibt bestimmte Kategorien, was den Seitenumfang angeht,<br />

<strong>die</strong> „Folhetos“ umfassen 8 oder 16 Seiten, <strong>die</strong> etwas dickeren<br />

„Romances“ 24, 32, 48 oder gar 64 Seiten.<br />

H<strong>ist</strong>orisch geht <strong>die</strong> Literaturgattung, <strong>die</strong> Ariano Suassuna in<br />

seinem 1974 verfassten berühmten Vorwort zum Klassiker<br />

„Classifi cação Popular da Literatura de Cordel“ (Populäre Klassifi<br />

zierung der Kordel-Literatur) von Liêdo Maranhão de Souza<br />

so lobte und wertschätzte, auf europäische Wurzeln zurück.<br />

Zur selben Zeit, als Suassuna sich mit der Literaturgattung<br />

wissenschaftlich befasste, bezeichnete sie Dr. Friedrich Irmen<br />

in Langenscheidts Taschenwörterbuch der portugiesischen<br />

und der deutschen Sprache als „Schundliteratur“. Ignoranz<br />

oder Arroganz? Wohl eher beides.<br />

Die Brasilianische Akademie für Kordel-Literatur (Academia<br />

Brasileira de Literatura de Cordel) spannt den Bogen aber<br />

noch weiter als Ariano Suassuna. Sie sagt, <strong>die</strong>se Art Literatur<br />

sei bereits im griechisch-römischen Bereich, bei Phöniziern,<br />

Karthagern und später sogar bei den Sachsen zu fi nden<br />

gewesen. Das hängt sicher mit der Defi nition <strong><strong>die</strong>ser</strong><br />

Literatur zusammen. Wir warten <strong>die</strong> Ergebnisse<br />

der Forschung ab. Sicher <strong>ist</strong> aber, dass<br />

<strong>die</strong> Literaturform von der iberischen<br />

Halbinsel schon im 17. Jahrhundert<br />

nach Brasilien kam. Sie breitete<br />

sich vor allem im Nordosten<br />

von Bahia bis Maranhão aus, wo<br />

nach wie vor ihr Zentrum <strong>ist</strong>, wenn<br />

sie auch mit vielen Migranten aus<br />

<strong><strong>die</strong>ser</strong> Gegend z. B. auch in den<br />

Südosten des Landes wanderte. Im<br />

19. Jahrhundert erlangte sie dann <strong>die</strong><br />

Stellung in der Volkskultur, <strong>die</strong> sie bis<br />

heute innehat.<br />

von Hubertus Re


Bande<br />

sierung von Kindern und Erwachsenen<br />

scher (Hupsy)*<br />

Kordel-Literatur im Unterricht<br />

Neben <strong>die</strong> zahlreichen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen<br />

Werke über Literatura de Cordel, neben <strong>die</strong> fast<br />

ungezählten Anthologien und sonstigen Sammelbände <strong>ist</strong> vor<br />

zwei Jahren ein neues Standardwerk getreten, das sich mit der<br />

Literatura de Cordel als Hilfsmittel in der Erziehung befasst:<br />

Es <strong>ist</strong> Arievaldo Viana Limas „Acorda Cordel na Sala de Aula.<br />

A Literatura Popular como ferramenta auxiliar na Educação“,<br />

Tupynanquim Editora, Fortaleza März 2006.<br />

Das Buch soll hier ausführlich vorgestellt werden, ganz besonders,<br />

weil sich in <strong>die</strong>sem Jahr am 4. März zum neunzigsten<br />

Mal der Todestag von Leandro Gomes de Barros jährt,<br />

den Arievaldo Viana zu Recht als Vater der Kordel-Literatur<br />

bezeichnet. Leandro Gomes de Barros wurde am 19. November<br />

1865 im Munizip Pombal/Paraíba auf einer Fazenda<br />

geboren. Er starb in Recife an den Folgen der verheerenden<br />

spanischen Grippe. Das Buch von Arievaldo Viana Lima <strong>ist</strong><br />

in 22 Kapitel gegliedert, <strong>die</strong> Kapitel „Anhang“ (Herkunft der<br />

Kordel-Literatur) und „Fragebögen“ haben wohl irrtümlich<br />

<strong>die</strong>selbe Ordnungszahl 20.<br />

Vianas Buch soll Freude am Lesen, am Zuhören, am Analysieren<br />

und dann wohl auch am nächsten Schritt, selber Verse zu<br />

schaffen, machen. Es <strong>ist</strong> bis auf den Umschlag schwarz-weiß<br />

gehalten und reich illustriert. Hier boten sich besonders <strong>die</strong><br />

traditionellen Holzschnitte an, mit denen <strong>die</strong> Umschläge der<br />

Heftchen versehen wurden. Auch als Fotografi en ihren Eingang<br />

auf <strong>die</strong> Titelseiten fanden, besonders bei den „Romances“,<br />

konnten <strong>die</strong> Holzschnitte nicht verdrängt werden. Oft genug<br />

sind <strong>die</strong> Autoren der Verse auch ihre Sänger, ihre Setzer,<br />

Drucker und Holzschneider, wie z.B. Stênio Deniz, der auch<br />

den Lesern <strong><strong>die</strong>ser</strong> Zeitschrift bekannt sein sollte (siehe BN<br />

128/2003: Puppen erzählen vom alten und neuen Brasilien).<br />

Die Einleitung, wie könnte es anders sein, <strong>ist</strong> selbst als Cordel<br />

in Versform abgefasst und zeigt schon, dass in der Kordelliteratur<br />

Eigenheiten der Sprache des Volkes wichtige Elemente<br />

sind. Diese Einleitung verdeutlicht, dass mit <strong><strong>die</strong>ser</strong> Literaturform<br />

durchaus komplexe Zusammenhänge ausgedrückt<br />

werden können. Beeindruckend <strong>ist</strong> das Eingeständnis des<br />

Autors im fünften Kapitel, dass er von seiner Großmutter Alzira<br />

de Sousa Lima mit Hilfe von Kordelliteratur alphabetisiert<br />

wurde. Hier wird nicht nur <strong>die</strong> Wärme der Einbindung in eine<br />

Familienkultur deutlich, sondern auch eine solche Einbindung<br />

in eine Regionalkultur.<br />

50 Titel empfi ehlt Viana in einem weiteren Kapitel in einer L<strong>ist</strong>e.<br />

Man kann über seine Auswahlkriterien streiten. Auf jeden<br />

Fall sind in ihr zahlreiche Klassiker aus den verschiedensten<br />

Kategorien der Literaturgattung vertreten, <strong>die</strong> einen guten<br />

Kultur<br />

Zugang zu ihr gestatten. Es folgen kurze Auszüge aus Cordéis<br />

verschiedener Kategorien und der komplette Abdruck von<br />

Leandro Gomes de Barros‘ „Uma Viagem ao Céu“ (Eine Reise<br />

in den Himmel). Die Erfahrungen des Poeten Manoel Monteiro<br />

mit Kordelliteratur in den Schulen von Campina Grande zeigen,<br />

dass an verschiedenen Stellen über <strong>die</strong> Nutzung <strong><strong>die</strong>ser</strong><br />

Literatur im Unterricht nicht nur nachgedacht wurde und wird,<br />

sondern dass sie auch zum tatsächlichen Einsatz kommt.<br />

Die Geschichte der Kordelliteratur, ihre Technik einschließlich<br />

der Darstellung der Reimformen und der Gitarre als Begleitinstrument<br />

und der Aufbau eines Heftes schließen sich an.<br />

Hiermit sind wichtige Hilfsmittel zur Analyse und zum Verständnis<br />

gegeben. Es folgen Hinweise auf den Unterricht mit<br />

den Texten: kollektive Lektüre, Textinterpretation, spielerische<br />

Annäherung und Diskussion bis hin zum Erstellen eines<br />

eigenen Textes durch <strong>die</strong> Gruppe oder Klasse.<br />

Verschiedene große Poeten des Cordel werden vorgestellt.<br />

Viana versammelt in seinem Buch Beiträge diverser Autoren<br />

und Autorinnen zu den unterschiedlichsten Themen. Er<br />

selbst stellt sich in einem eigenen Kapitel vor. Viana wurde<br />

1967 in Quixeramobim im Bundesland Ceará geboren und<br />

zog 1980 mit seiner Familie in den Wallfahrtsort Canindé im<br />

selben Bundesland, der ein wichtiges Zentrum brasilianischer<br />

Volkskultur <strong>ist</strong>. Hier verfasste er <strong>die</strong> ersten eigenen Cordéis.<br />

Bis heute sind es über 70, unter ihnen „Brasil: 500 anos de<br />

res<strong>ist</strong>ência popular“ (Brasilien: 500 Jahre Volkswiderstand),<br />

ein Heft, das mit einer Aufl age von mehr als 12.000 Exemplaren<br />

zu den am weitesten verbreiteten Brasiliens zählt. Im<br />

Jahre 2000 wurde er in <strong>die</strong> Academia Brasileira de Literatura<br />

de Cordel gewählt, wo er den Sitz Nr. 40 „João Melchíades<br />

Ferreira“ einnimmt.<br />

Vianas Buch bietet eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich der<br />

traditionellen und immer noch modernen Literaturform des<br />

Cordel zu nähern. Es <strong>ist</strong> als Schulbuch gedacht und kann und<br />

will daher wissenschaftliche Untersuchungen nicht ersetzen. Es<br />

muss sich auch in seinen Darstellungen beschränken. So fehlen<br />

Hinweise auf den Cordel im Untergrund, vor allem während der<br />

Hochphase der Militärdiktatur, als z. B. zum Landarbeiteraufstand<br />

in Japuara im Munizip Canindé in Ceará ein Cordel als<br />

Schreibmaschinentext mit wenigen Durchschlägen erschien,<br />

<strong>die</strong> dann von Hand zu Hand kursierten und abgeschrieben oder<br />

aber bis zur Unleserlichkeit kopiert wurden. Ganz klar, dass<br />

auch <strong>die</strong> Hinweise auf derb erotische oder gar pornografi sche<br />

Texte der Kordelliteratur nichts in einem Schulbuch zu suchen<br />

haben, <strong>die</strong> es eben wie in jeder anderen Gattung gibt. Dafür<br />

gibt es andere Werke. Diesem von Arievaldo Viana Lima hier<br />

gebührt Lob und weite Verbreitung.<br />

*<strong>Der</strong> Autor übertrug den Cordel „Declaração Universal dos Direitos<br />

Humanos“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte)<br />

von Pe. Jocy Rodrigues ins Deutsche. ■<br />

7


8<br />

BBelém do Pará – an der Guajará Bucht gelegen, in <strong>die</strong> der Fluss<br />

Guamá, einer der zahlreichen Flüsse im Mündungsdelta des<br />

Amazonas am Atlantik, mündet. Auf einer Fläche von 1.065<br />

km² leben hier 1.408.847 Menschen (IBGE 01.04.2007). 1616<br />

gegründet, wurde <strong>die</strong> Stadt von der „weißen Zivilisation“ sozusagen<br />

überrannt. Zur Zeit des Kautschukbooms war Belém<br />

eine reiche, gepflegte Stadt mit Theater, stilvollen Häusern<br />

im Kolonialstil, Straßenbahn etc. Als „Tor zum Amazonas“ war<br />

Belém wichtigster Hafen Brasiliens im Schiffsverkehr und<br />

Handel mit Europa.<br />

Die Straßenbahn gibt es schon lange nicht mehr. Viele der<br />

ehemaligen Kolonialhäuser verfallen. Sie werden aus Kostengründen<br />

nicht restauriert. Da sie unter Denkmalschutz stehen,<br />

wartet man, bis sie einfallen, und baut dann neue lukrativere<br />

Hochhäuser an deren Stelle. Obwohl Belém eine der ärmsten<br />

Städte in Brasilien <strong>ist</strong>, gehören <strong>die</strong> Grundstückspreise<br />

hier zu den höchsten des Landes. Circa 450.000 Menschen,<br />

d. h. 35% der Bevölkerung, leben in sogenannten Baixadas<br />

– überschwemmten Regionen, ohne jegliche Infrastruktur für<br />

Gesundheit und Hygiene, wie sauberes Wasser, sanitäre Abflussanlagen,<br />

Müllabfuhr, Zugang zu gesunden Lebensmitteln,<br />

ärztlicher und zahnärztlicher Versorgung, ganz zu schweigen<br />

von Schulen, Kultur und Plätzen zu Entspannung. Darunter<br />

Projekte<br />

Rádio Margarida<br />

von Sylvia Hille, Belém<br />

leiden natürlich am me<strong>ist</strong>en <strong>die</strong> Kinder. Kindersterblichkeit<br />

wegen Mangelernährung und schlechten hygienischer Bedingungen,<br />

Kinderarbeit, Gewalt gegen und sexueller Missbrauch<br />

von Kindern und Jugendlichen sind nur einige der Probleme,<br />

gegen <strong>die</strong> Organisationen wie Rádio Margarida ankämpfen.<br />

1991 gründete der Universitätsprofessor für Sozialpädagogik<br />

Osmar Pancera zusammen mit ehemaligen Studenten <strong>die</strong><br />

Nichtregierungsorganisation „Rádio Margarida“. Rádio Margarida<br />

<strong>ist</strong> (noch) kein richtiges Radio. Sie benutzen den Namen<br />

synonym für „Radiation“, denn <strong>die</strong> NGO verbreitet vor allem<br />

Informationen und macht Aufklärungsarbeit auf den unterschiedlichsten<br />

Gebieten, wie z. B. zu den Menschenrechten,<br />

den Rechten als Bürger, vor allem der Kinder und Jugendlichen,<br />

zum Umweltbewusstsein, zur sozialen Verantwortung, zu Gesundheit<br />

und Hygiene. Um über <strong>die</strong>se oft komplexen Inhalte<br />

(sexueller Missbrauch, Kinderarbeit, AIDS-Prävention) aufzuklären,<br />

hat Rádio Margarida seit 1994 in Zusammenarbeit mit<br />

der Bundesuniversität von Pará eine Methode entwickelt, <strong>die</strong><br />

es gestattet, <strong>die</strong>se Themen auf entspannte und spielerische<br />

Weise anzusprechen und ins Bewusstsein der Bevölkerung zu<br />

bringen. Das sind zum Beispiel eigens produzierte Hörspiele,<br />

Spots und „erzieherische“ Lieder über Kinderarbeit, Gewalt<br />

und sexuellen Missbrauch. Diese Beiträge werden zur Zeit


– unterstützt von lokalen Radiostationen – über den Rundfunk<br />

verbreitet. Außerdem besitzt <strong>die</strong> Organisation einen Bus aus<br />

dem Zweiten Weltkrieg, den sie – bunt angemalt – dafür benutzt,<br />

direkt in <strong>die</strong> struktur- und sozialschwachen Gebiete zu<br />

fahren und dort Information, vor allem mit Hilfe von Theater,<br />

Workshops, Clownshows und anderen Interaktionen, auch direkt<br />

mit der Bevölkerung zu verbreiten. In <strong>die</strong>sen Workshops<br />

oder Kursen produzieren Jugendliche zum Teil selbst Aufklärungsmaterial<br />

über <strong>die</strong> bereits genannten Themen.<br />

Die Mitarbeiter der NGO sprühen nur so vor Ideen. Sie kommen<br />

alle aus Pará, kennen <strong>die</strong> Infrastruktur, wissen, wo und<br />

welche Hilfe gebraucht wird. Sie helfen nicht direkt, das heißt,<br />

sie verteilen z. B. kein Essen. Die Arbeit der Organisation<br />

konzentriert sich auf Hilfe zur Selbsthilfe, Verbreitung von<br />

Information und Bildung. So schlimm es <strong>ist</strong>: Oft kennen <strong>die</strong><br />

Menschen hier ihre eigenen Rechte nicht. Dinge, <strong>die</strong> für uns<br />

selbstverständlich sind, z. B. den Müll nicht einfach in den<br />

Fluss zu werfen, oder Kinder in <strong>die</strong> Schule statt zur Arbeit zu<br />

schicken, einfache Hygienemaßnahmen sind für einen Großteil<br />

der armen Bevölkerung einfach unbekannt. Rádio Margarida<br />

versucht ihnen <strong>die</strong>se Informationen zu vermitteln. Sie finden<br />

hier Unterstützung bei ortsansässigen Unternehmen, der Regierung<br />

oder auch internationalen Organisationen, <strong>die</strong> me<strong>ist</strong><br />

Geld für ein bestimmtes Projekt über ein Jahr geben. Danach<br />

müssen sie sich wieder neu auf <strong>die</strong> Suche machen. Oft könnten<br />

Projekte länger und nachhaltiger gefördert werden, wenn<br />

dafür das Geld da wäre.<br />

Das Hauptproblem von Rádio Margarida aber <strong>ist</strong> zur Zeit ihr<br />

Hauptquartier. Seit der Gründung der NGO war Rádio Margarida<br />

in einem kleinen Raum der Universität untergebracht.<br />

Vor zwei Jahren <strong>ist</strong> es umgezogen und wohnt zur Miete in einem<br />

der alten Kolonialhäuser mit h<strong>ist</strong>orischem Wert, gebaut<br />

1898. Das Haus war beim Einzug ziemlich heruntergekommen.<br />

Das Notwendigste musste erst einmal repariert werden, um<br />

darin arbeiten zu können. 20.000 Reais hat Rádio Margarida<br />

schon in das Haus investiert. Inzwischen gibt es drei Büros<br />

mit Computern, ein Tonstudio, einen Schneideraum für Videos<br />

und Lagerräume für <strong>die</strong> Theaterrequisiten. Die Arbeit<br />

von Rádio Margarida hat sich vereinfacht und <strong>ist</strong> effizienter<br />

geworden. Außerdem funktioniert das Haus auch als fester<br />

Anlaufpunkt für Organisationen und Personen mit denen Rádio<br />

Margarida zusammenarbeitet. Die Organisation identifiziert<br />

sich inzwischen mit dem Haus, <strong>die</strong> Repräsentation der NGO<br />

hat sich dadurch stark verbessert. <strong>Der</strong> Mietvertrag läuft im<br />

Sommer aus. <strong>Der</strong> Besitzer möchte das Haus verkaufen, hat<br />

auch schon Interessenten, <strong>die</strong> das Haus trotz Denkmalschutz<br />

abreißen lassen wollen. So etwas geschieht hier öfters. Die<br />

Prozesse gegen <strong>die</strong>se Personen ziehen sich über Jahre in <strong>die</strong><br />

Länge, so dass es de facto keine Bestrafung gibt. Rádio Margarida<br />

hat ein Vorkaufsrecht, weil es der aktuelle Mieter <strong>ist</strong>. Die<br />

Organisation will das Haus gerne kaufen, um es zu erhalten<br />

und um seine Arbeit darin fortsetzen zu können. Als Verein<br />

<strong>ist</strong> Rádio Margarida nicht berechtigt, eine Finanzierung über<br />

eine Bank durchzuführen. Es muss das Geld bar auf den Tisch<br />

legen. Wenn <strong>die</strong> NGO Glück hat, reicht dem Eigentümer eine<br />

höhere Anzahlung. Das heißt, <strong>die</strong> Organisation <strong>ist</strong> wieder einmal<br />

mehr auf Spenden angewiesen. Für den Kauf des Hauses<br />

inklusive Grundstück möchte der Eigentümer 200.000 Reais<br />

(ca. 77.000 €), für notwendige Renovierungen unter anderem<br />

des Daches und <strong>die</strong> Reg<strong>ist</strong>rierung des Eigentums (10% des<br />

Immobilienwertes) sind noch einmal ungefähr 100.000 Reais<br />

(ca. 38.500 €) nötig. Ein Umzug würde <strong>die</strong> Organisation auch<br />

Geld kosten. Außerdem würde es <strong>die</strong> Arbeit von Rádio Margarida<br />

lähmen und wahrscheinlich sogar zurückwerfen. Deshalb<br />

möchten wir <strong>die</strong> Leserinnen und Leser bitten, <strong>die</strong> Organisation<br />

und deren Arbeit mit ihrer Spende zu unterstützen.<br />

Projekte<br />

Eines der Zukunftsprojekte und der Traum von Rádio Margarida<br />

<strong>ist</strong> eine eigene Radiosendestation, um Informationen und<br />

Bildungsprogramme ungeachtet von wirtschaftlichem Nutzen<br />

oder von politischen Zusammenhängen in der gesamten Region,<br />

in ganz Brasilien und sogar bilingual in <strong>die</strong> Welt verbreiten<br />

zu können. 2005 führte Rádio Margarida in Zusammenarbeit<br />

mit der Stiftung AVINA eine Stu<strong>die</strong> durch, welche <strong>die</strong> Radiosendestationen<br />

in der Region auf ihre Kenntnisse über <strong>die</strong><br />

Rechte der Kinder, Umweltschutz, soziale Verantwortung und<br />

nachhaltige Entwicklung untersuchte. Dabei kam heraus, dass<br />

eigentlich alle Radiosendestationen entweder in der Hand<br />

von Politikern, privaten Unternehmen oder der Kirche (vor<br />

allem der katholischen Kirche und der Pfingstkirchen) sind.<br />

Das heißt, das Radio wird vor allem dazu verwendet, um Politik<br />

zu machen und private oder wirtschaftliche Interessen<br />

zu vertreten. Aufklärungsarbeit und unangenehme Kritik<br />

sind dabei keine gern gesehenen Gäste. Das Medium Radio<br />

wurde als sehr wichtiges Kommunikationsmittel mit großem<br />

Einfluss für <strong>die</strong> Region Amazonien deklariert. Die Zivilgesellschaft<br />

besitzt im Radio bis jetzt noch keine eigene Stimme.<br />

Das möchte Rádio Margarida ändern. Das Hauptaugenmerk<br />

dabei legt der Sender auf:<br />

1. den Schutz von Kindern und Jugendlichen, <strong>die</strong> Verbreitung<br />

ihrer Rechte<br />

2. den Schutz der Umwelt und <strong>die</strong> Verteidigung der Rechte<br />

der Indianer<br />

3. <strong>die</strong> Ausbildung einer sozialen Verantwortlichkeit.<br />

Rádio Margarida plant ein eigenes Netz in der gesamten Amazonas-Region,<br />

Verbindung mit anderen Radiostationen und<br />

ein offenes Mikrofon für <strong>die</strong> Bevölkerung. Es will ein Portal<br />

gründen, das aus einem Web-Radio inklusive Internetseite,<br />

Videos und einer Nachrichtenstation für Kinder und Jugendliche<br />

besteht. Dieses Portal will es von Anfang an auch bilingual<br />

gestalten, um den Kontakt mit den ausländischen Unterstützern<br />

zu halten und neue Spender zu finden sowie <strong>die</strong>se über<br />

<strong>die</strong> Arbeit von Rádio Margarida und <strong>die</strong> Geschehnisse hier in<br />

Amazonien zu informieren.<br />

Um das zu verwirklichen, braucht <strong>die</strong> NGO wiederum eine<br />

Menge Startkapital. Die Organisation besitzt schon ein Tonstudio,<br />

aber trotzdem müssen noch einige Anschaffungen<br />

gemacht werden, um Rádio Margarida in ein echtes Radio<br />

zu verwandeln. Die Anlaufkosten für das Radio betragen<br />

70.000 Reais (ca. 27.000 €). Die jährlichen Kosten belaufen<br />

sich auf ca. 130.000 Reais (50.000 €). Darin enthalten sind<br />

vor allem Personalkosten für <strong>die</strong> Journal<strong>ist</strong>en, Übersetzer und<br />

Informatiker. Das <strong>ist</strong> natürlich viel Geld und deshalb versucht<br />

<strong>die</strong> NGO über verschiedene Wege Mittel für ihr Vorhaben zu<br />

sammeln. ■<br />

Wenn Sie Rádio Margarida dazu verhelfen wollen, ein echtes<br />

Radio zu werden und <strong>die</strong> Menschen in der Amazonasregion<br />

unterstützen möchten, dann spenden Sie bitte auf folgendes<br />

Konto:<br />

Brasilieninitiative Freiburg e.V.<br />

BLZ 680 900 00<br />

Kto.-Nr. 250 548 06<br />

Stichwort „Radio“<br />

9


10 /137<br />

Kultur<br />

DER JAHRHUNDERTARCHITEKT<br />

Oscar Niemeyer wird 100 Jahre alt.<br />

von Peter von Wogau


Im Dezember 2007 wurde Oskar Niemeyer hundert Jahre alt.<br />

Er <strong>ist</strong> der bedeutendste brasilianische Architekt unserer Zeit.<br />

Er entwarf Bauten von unvergänglicher Schönheit und prägte<br />

<strong>die</strong> Architektur der neuen Hauptstadt Brasília.<br />

„<strong>Der</strong> rechte Winkel zieht mich nicht an, und auch nicht <strong>die</strong><br />

gerade, harte infl exible Linie, <strong>die</strong> der Mensch geschaffen hat.<br />

Was mich anzieht, <strong>ist</strong> <strong>die</strong> freie und sinnliche Kurve, <strong>die</strong> ich in<br />

den Bergen meines Landes fi nde, im mäandernden Lauf seiner<br />

Flüsse, in den Wolken des Himmels, im Leib der geliebten<br />

Frau.“ (Oscar Niemeyer, 1996)<br />

Jugend<br />

Diese Aussage des fast Neunzigjährigen verdeutlicht seine<br />

Vorstellung von einer Architektur, in der Phantasie und Assoziationen<br />

eine wesentliche Rolle spielen, und seine Entfernung<br />

vom Funktionalismus des Bauhauses. 1907 geboren<br />

absolvierte er 1934 sein Studium der Architektur in Rio de<br />

Janeiro an der Nationalen Schule der Schönen Künste (Escola<br />

Nacional de Belas Artes). Einer seiner Lehrer war Lucio Costa,<br />

mit dem er später viele Jahre zusammenarbeitete. Sie entwarfen<br />

zusammen mit einem Architektenteam, das von Le<br />

Corbusier beraten wurde, das brasilianische Bildungs- und<br />

Gesundheitsmin<strong>ist</strong>erium (Min<strong>ist</strong>ério de Educação e Saúde),<br />

das zwischen 1936 und 1945 erbaut wurde. Niemeyer wurde<br />

in <strong><strong>die</strong>ser</strong> frühen Phase stark von Le Corbusier beeinfl usst. Zusammen<br />

mit Lucio Costa baute er den brasilianischen Pavillon<br />

für <strong>die</strong> Weltausstellung in New York 1939.<br />

Pampulha und erste<br />

Auslandserfahrungen<br />

Seinen eigenen Stil fand er im Bau des Gebäudekomplexes<br />

von Pampulha, eines Stadtteils von Belo Horizonte, wo er seine<br />

Vorstellungen von geschwungenen Linien und der Einbindung<br />

der Bauten in <strong>die</strong> Landschaft mit dem formbaren Material des<br />

Betons zum ersten Mal zwischen 1940 und 1943 verwirklichte.<br />

Als ein Baustoff mit unbegrenzten Möglichkeiten <strong>die</strong>nt ihm<br />

Beton bis heute. Zu den Gebäuden gehörte <strong>die</strong> Kirche São<br />

Francisco de Assis, deren ungewöhnliche Form und deren<br />

Wandgemälde von Portinari mit dem Heiligen Franziskus als<br />

Retter der Kranken, Armen und Sünder <strong>die</strong> konservativen<br />

Kirchenoberen schockierte, sowie ein Kasino, eine Tanzhalle,<br />

ein Restaurant und ein Hotel, ein Yacht– und Golfclub. Für<br />

Niemeyer war <strong>die</strong>se Bauphase eine Gelegenheit, sich von der<br />

Monotonie der zeitgenössischen Architektur zu lösen und <strong>die</strong><br />

Kurve als eigenständiges architektonisches Element gegen das<br />

funktionelle Rechteck einzuführen. Hier ließ er Le Corbusier<br />

hinter sich zurück, der auch ungewöhnliche<br />

Formen und Win-<br />

Oscar-Niemeyer-Museum, Curitiba (links)<br />

Sitz der KPF, Paris<br />

kel, aber keine geschwungenen Linien in seinen Entwürfen<br />

verwendet hatte.<br />

Doch auch später arbeiteten <strong>die</strong> beiden miteinander: Zusammen<br />

waren sie als Mitglieder des internationalen Architektenteams<br />

verantwortlich für den endgültigen Entwurf des Sitzes der<br />

Vereinten Nationen in New York, der ebenfalls ein Meilenstein<br />

in der modernen Architekturgeschichte <strong>ist</strong>. <strong>Der</strong> Gebäudekomplex<br />

wurde zwischen 1949 und 1952 gebaut. Niemeyer<br />

hatte ein Lehrangebot zunächst von der Yale University, dann<br />

1953 von der Harvard University erhalten. Aber als Mitglied<br />

der kommun<strong>ist</strong>ischen Partei wurde ihm in der McCarthy-Zeit<br />

keine Aufenthaltsgenehmigung in den USA erteilt.<br />

Auch in Deutschland wurde Niemeyer tätig. 1952 nahm er<br />

an dem Wettbewerb für <strong>die</strong> Internationale Bauaustellung von<br />

1957 (Interbau) zur Ausgestaltung des Hansaviertels in Berlin<br />

zusammen mit 52 anderen Architekten aus 13 Ländern teil.<br />

Von ihm stammt der Entwurf eines der Wohnhochhäuser, das<br />

1957 vollendet wurde.<br />

Brasília<br />

Kultur<br />

Juscelino Kubitschek kannte Niemeyer bereits, als er ihn als<br />

Bürgerme<strong>ist</strong>er von Belo Horizonte mit dem Bau der Gebäude<br />

in Pampulha beauftragte. Kurz nachdem er 1956 Präsident<br />

geworden war, beauftragte Kubitschek ihn mit dem Bau der<br />

neuen Hauptstadt Brasilia. Von seinem früheren Lehrer Lucio<br />

Costa stammt der Plan der Stadt in der Form eines Flugzeuges.<br />

Oscar Niemeyer entwarf <strong>die</strong> öffentlichen Gebäude: den<br />

Kongress mit dem Senat und dem Abgeordnetenhaus in Form<br />

einer Schüssel und einer Kuppel, den Präsidenten- und Regierungspalast,<br />

verschiedene Min<strong>ist</strong>erien und <strong>die</strong> Kathedrale<br />

in der Form einer Dornenkrone. Brasilia war ein Manifest der<br />

Moderne in Brasilien, der Inbegriff eines Neuanfangs - künstlerisch<br />

auf der Basis einer neuen und eigenständigen<br />

brasilianischen Formensprache und politisch gedacht<br />

als Verheißung eines besseren Lebens<br />

für alle Brasilianer, auch für <strong>die</strong> Sertanejos,<br />

<strong>die</strong> Bewohner des Hinterlandes.<br />

Nach vierjähriger Bauzeit wurde<br />

Brasília 1960 zur Hauptstadt<br />

des Landes erklärt. Die<br />

Stadt war in Sektoren<br />

eingeteilt,<br />

den Freiz<br />

e i t -<br />

11


12<br />

sektor, Bürosektor, Geschäftssektor und den Wohnsektor,<br />

wo <strong>die</strong> Bewohner aller sozialen Schichten zusammen wohnen<br />

sollten. <strong>Der</strong> Stadtplan hat <strong>die</strong> Form eines Flugzeuges: Sein<br />

Zentrum <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Achse der Stadt, an deren östlichem Ende <strong>die</strong><br />

Regierungsgebäude liegen. Auf den gebogenen Tragfl ächen<br />

des Flugzeuges befi nden sich <strong>die</strong> Wohnviertel, und auf der<br />

Kreuzung liegen Geschäfte, Hotels, kulturelle Einrichtungen,<br />

<strong>die</strong> Kathedrale. Es war ein Gegenentwurf zu den Küstenstädten<br />

mit den engen Straßen und alten und gedrängt gebauten<br />

Häusern.<br />

Brasília entwickelte sich in Vielem anders als geplant. Bereits<br />

vier Jahre nach seiner Einweihung putschten sich <strong>die</strong> Militärs<br />

an <strong>die</strong> Macht. Niemeyer wurde wegen seiner Zugehörigkeit zur<br />

kommun<strong>ist</strong>ischen Partei verhört und sein Büro durchsucht. Er<br />

bekam in Brasilien keine Aufträge mehr. So ging er 1966 nach<br />

Paris ins Exil und kehrte erst nach der Generalamnestie 1979<br />

dauerhaft nach Brasilien zurück. Brasília wuchs sehr schnell.<br />

Die ursprüngliche Vorstellung einer Stadt, in der alle Schichten<br />

zusammen lebten, wurde nicht verwirklicht. Die Mittel- und<br />

Oberschicht blieb in der ursprünglich geplanten Stadt selbst,<br />

dem sogenannten Plano Piloto, der Großteil der Bevölkerung<br />

wurde in Satellitenstädten im Umkreis von Brasília angesiedelt.<br />

Die Stadtplanung selbst kann als autohörig und wenig<br />

fußgängerfreundlich kritisiert werden. Kritiker bemängeln, das<br />

menschliche Element sei dabei auf der Strecke geblieben. Die<br />

Aufteilung in getrennte Sektoren und <strong>die</strong> Weitfl ächigkeit der<br />

Stadt machten sie unwohnlich. Die Ex<strong>ist</strong>enz der Satellitenstädte<br />

zementierte<br />

<strong>die</strong><br />

K l a s -<br />

senzugehörigkeit.<br />

Das<br />

modern<strong>ist</strong>ische Konzept der 50er<br />

Jahre war Ausdruck des Glaubens<br />

an einen alle Gesellschaftsschichten<br />

umfassenden Fortschritt, der so<br />

nicht verwirklicht wurde. Bei aller zutreffenden Kritik wurde<br />

<strong>die</strong> Stadt mit ihren Gebäuden 1987 von der UNESCO zum<br />

Weltkulturerbe erklärt. <strong>Der</strong> Entwurf einer Stadt vom Reißbrett<br />

und <strong>die</strong> Realisierung von staatlichen Bauten mit einer großen<br />

und innovativen Leichtigkeit rechtfertigen <strong>die</strong>se Entscheidung.<br />

Auch später prägte Niemeyer das Bild der Stadt: Von ihm<br />

stammen <strong>die</strong> Entwürfe für <strong>die</strong> Gedenkstätte von Juscelino<br />

Kubitschek (1981), das Panteon des Vaterlandes (1986), das<br />

<strong>die</strong> Form einer Taube hat, und schließlich das Kulturzentrum<br />

(Complexo Cultural da República), das zu seinem 99. Geburtstag<br />

im Dezember 2006 eingeweiht wurde.<br />

Exil und Rückkehr nach Brasilien<br />

In der Zeit seines Exils schuf Niemeyer zahlreiche spektakuläre<br />

Bauten im Ausland. Dazu gehören das Gebäude der<br />

kommun<strong>ist</strong>ischen Partei in Paris mit seinem eindrucksvollen<br />

Versammlungssaal (1967-72), der Sitz des Mondadori Verlags<br />

in Segrate bei Mailand (1968) und <strong>die</strong> Universität von<br />

Constantine in Algerien (1971-77).<br />

Auch nach seiner Rückkehr nach Brasilien kreierte er neben<br />

den bereits erwähnten Bauten in Brasília zahlreiche weitere<br />

Werke, von denen einige genannt seien: <strong>die</strong> beiden Sambodrome<br />

in Rio (1984) und São Paulo (1991), den Gebäudekomplex<br />

des Memorial da América Latina in São Paulo (1987), in dem<br />

auch eine Skulptur des Architekten steht, Mão – eine Hand<br />

mit gespreizten Fingern, auf deren Fläche <strong>die</strong> Karte Lateinamerikas<br />

wie ein Wundmal zu sehen <strong>ist</strong>, eine Anspielung auf<br />

<strong>die</strong> blutige und leidensvolle Vergangenheit des Kontinents,<br />

ferner das Busterminal in Londrina (1988). 1996 schuf er ein<br />

weiteres Me<strong>ist</strong>erwerk, das Museum zeitgenössischer Kunst in<br />

Niterói. Ich persönlich schätze es besonders. Kritisch könnte<br />

man allenfalls dazu sagen, dass <strong>die</strong> Schönheit, <strong>die</strong> Perfektion<br />

und Einbindung in <strong>die</strong> Landschaft es quasi unmöglich machen,<br />

<strong>die</strong> darin ausgestellten Gegenstände angemessen zu würdigen<br />

– sie bleiben nur Dekor für <strong>die</strong>ses architektonische Kunstwerk<br />

selbst. Ein geschwungener Weg führt direkt in ein rundes<br />

kegelförmiges Gebäude aus Glas und Beton, das auf einem<br />

runden Pfeiler ruht und dessen Winkel von etwa 45 Grad zur<br />

Rechten sich im Winkel des auf der anderen Seite der Bucht<br />

von Guanabara liegenden Zuckerhutes wiederholt. Assoziationen<br />

wie Pilz oder Raumschiff ergeben sich. Es <strong>ist</strong> ein Höhepunkt<br />

zeitgenössischer Architektur, geschaffen von dem fast<br />

Neunzigjährigen. Ein weiteres von ihm entworfenes Museum<br />

wurde 2002 in Curitiba eröffnet. Es hat <strong>die</strong> Form eines Auges,<br />

das auf einem kräftigen runden Schaft ruht. Auch <strong><strong>die</strong>ser</strong> Bau<br />

<strong>ist</strong> von überraschender Schönheit und Leichtigkeit.<br />

Kritik und Würdigung<br />

Niemeyer wurde zu seinem hundertsten Geburtstag<br />

mit Ehrungen überhäuft und ausgiebig gewürdigt.<br />

Dass sich hier auch neben hauptsächlich Positivem<br />

und Überschwänglichem Kritik äußerte, <strong>ist</strong> bei einem so<br />

überragenden und in seinen politischen Positionen durchaus<br />

kontroversen Künstler zu erwarten. So wird einmal an ihm<br />

herumgemäkelt, da er ja in der kommun<strong>ist</strong>ischen Partei war,<br />

dass er in seinen Bauten nicht versucht habe, das Los der<br />

armseligen Massen zu lindern. Er habe gerne für <strong>die</strong> Reichen<br />

gebaut und einen hedon<strong>ist</strong>ischen Lebensstil betrieben. Es wird<br />

bemängelt, dass seine Bauten schlecht und nicht für <strong>die</strong> Dauer<br />

gebaut seien und schnell im tropisch feuchten Klima verkämen.<br />

Niemeyers Bauten funktionierten nicht, <strong>die</strong> Raumverteilung<br />

sei schlecht, Belüftung und Beleuchtung unzureichend. Sie<br />

seien schön von außen anzusehen – aber unwohnlich, wenn<br />

man darin leben und arbeiten wolle. Ökologische Überlegungen<br />

fehlten bei der Planung. So etwas wie <strong>die</strong> ausgestreckte<br />

Hand im Memorial da América Latina sei nichts als Kitsch. Es<br />

wäre sicherlich schade, wenn nicht einige versuchten, etwas<br />

vom Lack der Legende Niemeyer abzukratzen. Dies ändert<br />

nichts daran, dass er uns mit seinem außergewöhnlichen<br />

Werk Momente der Überraschung und des Glücksgefühls<br />

vermitteln kann, das bei reinen Funktionalbauten ausbleibt.<br />

Auch heute scheinen Niemeyers Kreativität und Vitalität unerschöpfl<br />

ich. Er erklärte seine Bereitschaft, das Fußballstadion<br />

für <strong>die</strong> Weltme<strong>ist</strong>erschaft 2014 in Brasilien zu entwerfen und<br />

legte bereits <strong>die</strong>ses Jahr den Entwurf für ein neues Kulturzentrum<br />

in Nova Friburgo vor. Daneben plant er Museen in<br />

Italien und Spanien. Zwei Jahre nach dem Tod seiner ersten<br />

Frau Anita 2004 hat er seine langjährige Ass<strong>ist</strong>entin geheiratet.<br />

Sein Arbeitsplatz <strong>ist</strong> weiterhin in Rio in einem von ihm<br />

selbst entworfenen zehnstöckigen Gebäude an der Copacabana.<br />

Ich möchte ihm und uns wünschen, dass ihm noch<br />

viele weitere aktive und kreative Jahre beschert seien. ■<br />

Abb.: Museum für zeitgenössische Kunst, Niterói<br />

.<br />

Kultur


Futebol :: Alex Bellos<br />

Fußball – <strong>die</strong> brasilianische Kunst des Lebens<br />

Frankfurt 2005. Fischer Taschenbuch Verlag. € 9.95<br />

Das brasilianische Trauma von 1950 wirkt noch immer: Fußballweltme<strong>ist</strong>erschaft<br />

im eigenen Land, das Endspiel in Rio<br />

de Janeiro im wunderbaren Maracana-Stadion – und Brasilien<br />

verliert gegen Uruguay 1:2! Unglaublich! Es gibt Brasilianer, <strong>die</strong><br />

immer noch jede Minute des Spiels nacherzählen können.<br />

„Ich hoffe, dass meine Wahrheit Ihnen gefallen wird, denn es<br />

gibt sehr viele Wahrheiten. Sie müssen entscheiden, welches <strong>die</strong><br />

wahre Wahrheit <strong>ist</strong>, und sie dann analysieren.“ (Ronaldo)<br />

Juli 1998, wieder ein WM-Finale, <strong>die</strong>smal in Paris, Frankreich<br />

gegen Brasilien. Es endet 0:3 für Frankreich. Es spielt ein<br />

offensichtlich angeschlagener Ronaldo. Gerüchte machen <strong>die</strong><br />

Runde, von Verträgen mit Nike (dem Sponsor der brasilianischen<br />

Mannschaft) <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Rede. Das brasilianische Abgeordnetenhaus<br />

setzt eine Untersuchungskommission ein, <strong>die</strong><br />

klären soll, was der Inhalt <strong><strong>die</strong>ser</strong> Verträge zwischen Nike und<br />

dem CBF, dem brasilianischen Fußballverband <strong>ist</strong>. Drei Jahre<br />

später im Abschlussbericht erscheint der CBF als „krimineller<br />

Ort, wo Desorganisation, Anarchie, Inkompetenz und Verlogenheit<br />

herrschen“.<br />

Penta-Champion: 1958, 1962, 1970, 1994, 2002. Penta – das<br />

<strong>ist</strong> <strong>die</strong> Zählung, hier sind gloriose Vergangenheit und Gegenwart<br />

des Fußballs in einem Wort vereint. Doch Bellos schreibt nicht<br />

nur über <strong>die</strong> großen Turniere, er re<strong>ist</strong>e zwischen Amazonien<br />

und Rio Grande do Sul quer durch das Land, <strong>die</strong> Spieler auf<br />

dem Land, <strong>die</strong> Fans, <strong>die</strong> großen und kleinen Clubs, <strong>die</strong> teilweise<br />

mafi ösen Strukturen: seine Geschichten dahinter sind es, <strong>die</strong><br />

das Buch ausmachen. Ob nun Pelé, Garrincha oder Marcelo<br />

auf den Färöer-Inseln, Vasco da Gama, <strong>die</strong> Corinthians oder<br />

Breijinho, eine Stadt mit 3000 Einwohnern und einem Stadion<br />

für 10.000 Besucher – in liebevoller Leidenschaft über eine<br />

Obsession zu schreiben, das <strong>ist</strong> Bellos gelungen.<br />

<strong>Der</strong> eingefl eischte Fan kommt bis in <strong>die</strong> letzten Seiten auf<br />

seine Kosten: alle WM-Spiele mit brasilianischer Beteiligung:<br />

Siege, Niederlagen, Tore, sämtliche Spieler, Schiedsrichter<br />

und noch dazu viele Literaturhinweise.<br />

Economic Hit Man :: J. Perkins<br />

Unterwegs im Dienst der Wirtschaftsmafia<br />

München 2007, Goldmann Taschenbuch. € 9.95<br />

Kultur<br />

John Perkins war ein EHM – Economic Hit Man, ein Wirtschaftskiller.<br />

Direkt nach seinem Universitätsabschluss erhielt er vom<br />

NSA (National Security Agency) und der Beratungsfi rma MAIN<br />

eine Ausbildung, um <strong>die</strong> Wirtschaftsinteressen der USA zu<br />

vertreten. Zwischen 1970 und 1982 beriet er im Auftrag von<br />

MAIN zahlreiche Entwicklungsländer und veranlasste sie durch<br />

übertrieben optim<strong>ist</strong>ische Prognosen zu überdimensionalen<br />

Technik- und Großprojekten, <strong>die</strong> sie in <strong>die</strong> Abhängigkeit von<br />

den USA brachten. Die absehbare und gewollte Verschuldung<br />

der betreffenden Länder <strong>die</strong>nte der US-amerikanischen<br />

Regierung dann als Druckmittel, um politisch-ökonomische<br />

Eigeninteressen durchzusetzen.<br />

Die Spezies des EHM <strong>ist</strong> ein Produkt unserer Zeit, in der Kriege<br />

gegen andere Länder mehr oder weniger ersetzt werden<br />

durch den Wirtschaftimperialismus der Großkonzerne. Sie<br />

sind hochintelligente und hochbezahlte Profi s, <strong>die</strong> weltweit<br />

Länder um Milliarden € betrügen. Sie schleusen Weltbank-<br />

und Regierungsgelder sowie Entwicklungskredite in <strong>die</strong> Taschen<br />

weniger Großkonzerne und reicher Familien. Zu ihrem<br />

Instrumentarium gehören gezinkte Wirtschafts- und Finanzprognosen,<br />

Wahlmanipulationen, Schmiergelder, Erpressung,<br />

Sex und auch Mord. Sie treiben ein Spiel, welches so alt <strong>ist</strong><br />

wie Herrschaft und Macht: Im Zeitalter der Globalisierung hat<br />

es jedoch eine neue bedrohlichere Dimension angenommen.<br />

Indonesien, Persien, Kolumbien, Ecuador – in vielen Ländern<br />

war Perkins ‚tätig’. Er half bei der Umsetzung eines Planes mit,<br />

der Milliarden von Petrodollars zurück in <strong>die</strong> USA schleuste<br />

und <strong>die</strong> intime Beziehung zwischen dem islamisch-fundamental<strong>ist</strong>ischen<br />

Haus Saud und den amerikanischen Regierungen<br />

festigte. Er beschreibt <strong>die</strong> wahren Gründe für <strong>die</strong> US-Invasionen<br />

von Panama (1989) und des Irak.<br />

Perkins verließ 1981 MAIN und gründete seine eigene Firma<br />

IPS (Independent Power Systems), <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> Entwicklung<br />

nachhaltiger Energiesysteme spezialisierte. 1992 verkaufte<br />

er <strong>die</strong> Firma. Heute leitet er <strong>die</strong> Organisation „Dream Change<br />

Coalition“, <strong>die</strong> zusammen mit den indigenen Völkern Lateinamerikas<br />

deren Umwelt und Kulturen schützt.<br />

Buchbesprechungen von Anne Reyers<br />

13


14<br />

Brasilianischer Film, brasilianisches Kino in Deutschland <strong>ist</strong><br />

gegenwärtig in den Schlagzeilen, v.a. José Padilhas „Tropa<br />

de Elite“, der Film, der den goldenen Bären bei der Berlinale<br />

2008 gewann. Es geht um den Kampf der Polizei gegen Drogenbanden<br />

in Favelas von Rio de Janeiro. Wie <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en<br />

Filme zu brasilianischen Themen, <strong>die</strong> in Deutschland bekannt<br />

werden, schildert er ausführlich personale Gewalt, <strong>die</strong> auf dem<br />

Nährboden struktureller Gewalt entsteht. Die Süddeutsche<br />

Zeitung berichtet, dass Intellektuelle, Journal<strong>ist</strong>en, Sozialarbeiter<br />

und Bürger diskutierten, ob Tropa de Elite ein fasch<strong>ist</strong>ischer<br />

Film sei, weil er <strong>die</strong> Polizeigewalt entschuldige. Und<br />

ob <strong>die</strong> Mittel- und Oberschicht nicht Schuld am Drogenkrieg<br />

seien, weil sie sich in den Favelas mit Kokain, Marihuana und<br />

Ecstasy versorgten. <strong>Der</strong> Produzent des Filmes, Marcos Prado,<br />

erklärte auf der Berlinale, dass mit <strong>die</strong>sem Film Brasilien<br />

verändert werden solle.<br />

Ob das wohl gelingt? <strong>Der</strong> Film weckt mit seinen Folterszenen<br />

ungute Erinnerungen an <strong>die</strong> jüngere Vergangenheit Brasiliens<br />

(siehe dazu auch den Beitrag zu Batismo de Sangue in <strong><strong>die</strong>ser</strong><br />

<strong>Ausgabe</strong> der BN). Er knüpft durchaus an Fernando Meirelles<br />

Cidade de Deus (City of God) an. Dieser Film brachte es in <strong>die</strong><br />

hiesigen Kinos und ins Fernsehen, in welchem immer wieder<br />

brasilianische Filme, wenn auch zume<strong>ist</strong> zu nächtlicher Stunde<br />

ausgestrahlt werden. Als Beispiel seien hier nur genannt Alain<br />

Fresnots Desmundo, über auf Anordnung der portugiesischen<br />

Krone um 1570 gewaltsam nach Brasilien verschleppte Waisen,<br />

<strong>die</strong> dort zwangsverheiratet werden. Einpfl anzung struktureller<br />

Gewalt und personale Gewalt von Beginn der Kolonisierung an.<br />

Walter Salles „Hinter der Sonne“ (Abril despedaçado) gelang der<br />

Sprung ins deutsche Fernsehen und in <strong>die</strong> Kinos ebenso<br />

wie seinem Welterfolg Central Station mit der<br />

hervorragenden Fernanda<br />

Montenegro in der<br />

Hauptrolle, <strong>die</strong> dafür<br />

1998 den Silbernen<br />

Bären als beste<br />

Hauptdarstellerin<br />

erhielt.<br />

Es gibt eine Möglichkeit,<br />

über das Internet zu erfahren,<br />

wann und wo brasilianische<br />

Filme im Fernsehen<br />

oder auch in Filmtheatern zu<br />

sehen sind. Die lobenswerte<br />

Sammlung, <strong>die</strong> auch über Vorträge,<br />

Dokumentationen, Theater<br />

usw. in portugiesischer Sprache aus<br />

den lusophonen Ländern der Welt berichtet,<br />

wird an der Universität in Köln<br />

erstellt (www.uni-koeln.de/phil-fak/zpw/<br />

lusokult/start.html). Dieser Dienst, der<br />

kostenlos abonniert werden kann, ver<strong>die</strong>nt<br />

höchstes Lob und großen Dank.<br />

Brasil Plural<br />

Kultur<br />

Brasilianischer Film in Deutschland<br />

Kein unbekanntes Wesen<br />

von Ricardo Santanna und Hubertus Rescher (Hupsy)*<br />

Gegenwärtig <strong>ist</strong> brasilianischer Film in Deutschland aber zuvorderst<br />

mit dem Namen Brasil Plural verbunden. Zum vergangenen<br />

Herbst und Winter gab es das brasilianische Filmfestival<br />

in Deutschland zum 10. Mal. Die deutschen Spielstätten sind<br />

gegenwärtig Berlin, Bremen, Frankfurt, Freiburg, Hamburg,<br />

Jena, Köln, München, Stuttgart und Würzburg. Hinzu kommen<br />

in der Schweiz Bern und in Österreich Salzburg. Gegründet<br />

wurde <strong><strong>die</strong>ser</strong> wichtige Kulturbeitrag 1998 in München.<br />

Brasil Plural schreibt auf seiner Internetseite (www.brasilplural.<br />

org): „Brasil Plural hat in allen 10 <strong>Ausgabe</strong>n versucht, neue,<br />

andere Blickpunkte des Kinomachens vorzustellen - für alle<br />

Filminteressierten, aber besonders für <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> eine<br />

Ästhetik suchen, <strong>die</strong> über lange Erprobtes und Etabliertes<br />

hinausgeht. Wir danken unserem Publikum, allen Freunden<br />

des Festivals, den Kinos, den Unterstützern, den Kulturvereinen,<br />

den ehrenamtlichen Helfern von Brasil Plural. Bis hierher<br />

haben wir es geschafft!“<br />

Eine erstaunliche Le<strong>ist</strong>ung, zu der<br />

man nur gratulieren kann. Und<br />

Anne Buchholz vom Presseteam<br />

von Brasil Plural ergänzt:<br />

„Während sich hierzulande<br />

das aktuelle Filmgeschehen<br />

immer mehr in der Hauptstadt<br />

verdichtet und <strong>die</strong> „Berliner<br />

Schule“ auch international Aufsehen<br />

erregt, bewe<strong>ist</strong> Brasilien,<br />

dass man auch mit der<br />

entgegen gesetzten<br />

Bewegung an <strong>die</strong><br />

großen Filmzeiten<br />

von früher anschließen<br />

kann. Junge<br />

Filmemacher arbeiten<br />

in ganz<br />

Brasilien,<br />

auch außerhalb<br />

d e r


großen Metropolen, mit einer neuen Filmsprache. Vor allem<br />

<strong>die</strong> brasilianischen Kurzfilme zeigen, wie viele Gesichter ein<br />

Land haben kann: vom europäisch geprägtem Süden bis<br />

in den kargen Nordosten, von urbaner Theater-Szene und<br />

Sprayern in der Subkultur bis zu den Helden der brasilianischen<br />

Volksmusik. Rio und São Paulo sind zwar noch immer<br />

Zentren der Kinoproduktion, wie man auch an der aktuellen<br />

Auswahl der Filme bei Brasil Plural erkennt, doch <strong>die</strong> Filme<br />

könnten genauso gut aus dem Nordosten oder Süden Brasiliens<br />

kommen. Denn es gibt nicht nur deutlich mehr Produktionen<br />

als noch vor 10 Jahren, sondern auch mehr Möglichkeiten<br />

der Filmförderung – und Produktionsmöglichkeiten in allen<br />

Regionen des Landes.“<br />

Erfreulich war, dass bei der 10. Auflage des Festivals auch Jorge<br />

Bodanzky und sein berühmter sozialkritischer, ja visionärer<br />

Film Iracema von 1975 in den Mittelpunkt gerückt wurden.<br />

Keine Kopie des „cinema novo“<br />

Berechtigt <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Hoffnung, dass das brasilianische Kino wieder<br />

an <strong>die</strong> Zeiten des „cinema novo“ anknüpfen kann, in denen es,<br />

wenn auch nicht wirtschaftlich, so doch inhaltlich Weltruhm<br />

erlangte. Während der Zeit der Militärdiktatur waren es vor<br />

allem Filme des vor 70 Jahren geborenen und 1981 gestorbenen<br />

Filmgenies Glauber Rocha, <strong>die</strong> in Deutschland in Studiotheatern<br />

und Kammerlichtspielen in Vorstellungen gezeigt und<br />

gesehen wurden, <strong>die</strong> oftmals mit organisiert worden waren<br />

von Ortgruppen von amnesty international oder Dritt-Welt-Arbeitskreisen,<br />

<strong>die</strong> ein kulturelles Gegenzeichen setzen wollten<br />

gegen <strong>die</strong> durchs Land tingelnden Sambashows. Wenige Filme,<br />

wie Nelson Pereira dos Santos Vidas Secas von 1963 nach dem<br />

Roman von Graciliano Ramos schafften es als sozialkritische<br />

Filme sogar in <strong>die</strong> Kataloge von Me<strong>die</strong>nzentralen und standen<br />

somit für den Unterricht zur Verfügung. Wichtige Filme<br />

von Glauber Rocha werden nun mühsam restauriert. Deus e<br />

Diabo na Terra do Sol liegt bereits in einer DVD-Fassung vor,<br />

Terra em Transe folgte gerade, und Barravento und Antonio<br />

das Mortes sind in Vorbereitung.<br />

Brasilianischer Film in der Stadt<br />

Cine Brasil Bremen <strong>ist</strong> ein solches Projekt, das sowohl an<br />

Brasil Plural teilnimmt als auch ein eigenes Programm bietet.<br />

Brasilien <strong>ist</strong>, wie sicher allgemein bekannt, weltweit Spitzenreiter,<br />

was soziale Ungleichheit angeht. Es <strong>ist</strong> aber auch<br />

ein sehr schönes und gastliches Land. Und es hat eine sehr<br />

komplexe Soziokultur.<br />

Die audiovisuelle Ausdrucksweise wird daher zu einem über-<br />

15


16<br />

aus wichtigen und wertvollen Mittel zum Verständnis der<br />

verschiedenen brasilianischen Realitäten. Das brasilianische<br />

Kino, den brasilianischen Film zu verbreiten, bedeutet Reflektion<br />

und Debatte zu stimulieren über das Leben in <strong>die</strong>sem<br />

„ungleichen Riesen“.<br />

Cine Brasil Bremen <strong>ist</strong> ein Projekt, das sich an <strong>die</strong> brasilianische<br />

Gemeinde in Bremen wendet wie auch an alle, <strong>die</strong> sich<br />

für Brasilien interessieren, und <strong>die</strong> von überall her auf der<br />

Welt stammen. Das Projekt <strong>ist</strong> nicht auf Gewinn ausgerichtet.<br />

Es wird verwirklicht in Räumen, <strong>die</strong> der brasilianischen Kultur<br />

<strong>die</strong>nen, wie auch in Filmtheatern.<br />

Vorgeführt werden Filme verschiedenster Kategorien, <strong>die</strong> unterschiedlichste<br />

Themenbereiche berühren, denn sie sollen<br />

ein breites, bunt zusammengesetztes Publikum ansprechen.<br />

Überwiegend kommen <strong>die</strong> Formate DVD und VHS zum Einsatz.<br />

Die in den Kinos vorgeführten Filme haben ein Format<br />

von 35 mm.<br />

Kontakt mit dem Projekt kann über <strong>die</strong> E-mail-Anschrift<br />

cinebrasil@yahoo.com aufgenommen werden. Wir freuen<br />

uns über Kritik und Anregungen. Gleichzeitig kann über <strong>die</strong>se<br />

Adresse gewünscht werden, über alle in <strong>die</strong>sem Projekt<br />

vorgesehenen Aufführungen im Voraus informiert zu werden.<br />

Cine Brasil Bremen <strong>ist</strong> auch ein Instrument, mit dem <strong>die</strong><br />

Kontinuität der brasilianischen Filmproduktion unterstützt<br />

werden und neue Möglichkeiten der Verbreitung der Filme<br />

für ihre Produzenten geschaffen werden sollen. „Cine Brasil<br />

Bremen – ein Projekt, das sich hundertprozentig einsetzt für<br />

<strong>die</strong> Verbreitung des brasilianischen Kinos“, sagt das Projekt<br />

über sich selbst.<br />

... auf dem Lande<br />

Ganz klar, dass <strong>die</strong> Großstädte einen Vorteil haben, was <strong>die</strong><br />

Präsentation brasilianischer Filme angeht. Dort <strong>ist</strong> ganz einfach<br />

zahlenmäßig das größere Publikum. Es gibt aber auch auf dem<br />

Lande kleine Oasen des brasilianischen Kinos. Die Gemeinde<br />

Mettingen in Westfalen mit rund 12.000 Einwohnern <strong>ist</strong> eine<br />

solche. Im Ort findet sich das Institut für Brasilienkunde mit<br />

einer der größten Fachbibliotheken zum Lande im deutschsprachigen<br />

Raum. Zum Bildungskomplex gehört auch das<br />

Luso-brasilianische Stu<strong>die</strong>nkolleg am Weiterbildungskolleg<br />

Comenius-Kolleg. Hier gibt es seit einigen Jahren ein Seminar<br />

Brasilianisches Kino (seminário cinema brasileiro). Angestoßen<br />

wurde <strong>die</strong>se Aktivität in den 90ern vor allem durch den<br />

Besuch der im vergangenen Jahr verstorbenen brasilianischen<br />

Filmemacherin Marily da Cunha Bezerra, <strong>die</strong> ihren preisgekrönten<br />

Film Rio de Janeiro, Minas von 1993 vorstellte, für<br />

<strong>die</strong> Beschäftigung mit dem brasilianischen Film warb und eine<br />

erste kleine Sammlung von eigenen und Filmen befreundeter<br />

Filmemacher als Grundstock für das Projekt spendete.<br />

Gegenwärtig werden während der Unterrichtszeiten im Jahr<br />

einmal pro Monat Filme gezeigt, Spielfilme wie auch Dokumentationen.<br />

Einführung und Diskussion sind wie das Filmmaterial<br />

ausschließlich in portugiesischer Sprache. Das schränkt das<br />

Publikum zwar ein, <strong>die</strong>s gehört aber zum Stu<strong>die</strong>nkolleg und <strong>ist</strong><br />

der brasilianischen Landessprache mächtig. Die Aktion trägt<br />

also auch dazu bei, dass der Kontakt mit der brasilianischen<br />

Kultur erhalten bleibt, bzw. dass auf hohem Niveau <strong>die</strong> portugiesische<br />

Sprache angewendet werden kann.<br />

Die Annäherung an Glauber Rocha und sein Werk findet nicht<br />

einfach über <strong>die</strong> Präsentation seiner Filme statt, <strong>die</strong> Teilneh-<br />

mer des Seminars müssen sich auch durch Silvio Tendlers<br />

Dokumentation Glauber o filme, labirinto do Brasil von 2003<br />

durcharbeiten. Mit Batismo de Sangue wird nicht nur an Tito<br />

de Alencar erinnert, sondern auch an <strong>die</strong> gesamte Zeit von<br />

Mord und Folter unter der Militärdiktatur, <strong>die</strong> Jüngere nur<br />

noch vom Hörensagen kennen. Gegen das Vergessen <strong>ist</strong> auch<br />

<strong>die</strong> Dokumentation Dom Helder Câmara – O Santo Rebelde<br />

(Dom Helder, der Heilige Rebell) gerichtet. Auf demokratische<br />

Aktivitäten des Volkes und <strong>die</strong> Bedrohung solcher Projekte<br />

we<strong>ist</strong> Lagoa dos Cavalos, ein Film der Caritas Brasileira hin.<br />

Die Teilnahme am Seminar <strong>ist</strong> nicht immer leicht, es <strong>ist</strong> ja<br />

Unterricht. Sie kann auch richtig anstrengend werden, wenn<br />

im Zuge der Analyse der Literaturverfilmung Érico Verissimos<br />

O Tempo e o Vento (Die Zeit und der Wind) nicht nur<br />

als dreibändiges Werk gelesen werden muss, sondern dann<br />

auch <strong>die</strong> Filmpräsentation siebeneinhalb Stunden dauert. Für<br />

das zweite Halbjahr 2008 <strong>ist</strong> eine Vorstellung des Werkes von<br />

Marily da Cunha Bezerra vorgesehen.<br />

Brasilianischer Film in Deutschland <strong>ist</strong> bei weitem nicht so<br />

bekannt wie Hollywood oder gar Bollywood, aber durch zahlreiche<br />

Aktivitäten doch gegenwärtig. ■<br />

*Seminário Cinema Brasileiro, Mettingen/Westf.<br />

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Kultur


Gisela Büttner Lermen, selbst Einwanderin in Brasilien, lehrte<br />

an der Katholischen Universität von Pernambuco Theologie und<br />

promovierte nach ihrer Pensionierung mit dem vorliegenden<br />

Werk im Fach Geschichte an der Universität in São Leopoldo<br />

in Rio Grande do Sul. Ihre Forschungsarbeit orientiert sich am<br />

Modell „Geschichte von unten“ mit dem Ziel, <strong>die</strong> Erfahrungen<br />

der katholischen Einwanderinnen für <strong>die</strong> Geschichte „zurückzugewinnen“,<br />

d.h. das „verhängnisvolle Sich-Verschließen der<br />

Kirche gegenüber den Erfahrungen von Laien allgemein und<br />

von Frauen im Besonderen“ aufzubrechen.<br />

Das Bundesland Rio Grande de Sul erlebte im 19. Jahrhundert<br />

eine beträchtliche Einwanderung aus Deutschland und Italien.<br />

Nachdem kürzlich <strong>die</strong> italienische Einwanderung<br />

in einer ebenfalls femin<strong>ist</strong>isch ausgerichteten<br />

Dissertation analysiert wurde,<br />

folgt hiermit <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong> zur Rolle der deutschen<br />

Frau im Rahmen der Einwanderung.<br />

Die Rolle der katholischen italienischen<br />

Frauen wurde folgendermaßen skizziert:<br />

„Gehorchen, danken, arbeiten.“<br />

Die Mehrzahl der katholischen deutschen<br />

Einwanderinnen und Einwanderer stammte<br />

aus dem agrarisch geprägten Südwesten<br />

Deutschlands, in dem viele Landbewohner<br />

aufgrund der Realerbteilung verarmt waren.<br />

Bezogen auf <strong>die</strong> kirchliche Verwaltung<br />

kamen sie aus den Diözesen Trier, Mainz<br />

und Freiburg.<br />

Die ersten Einwanderungsgenerationen<br />

(1824-1849) entwickelten in der neuen<br />

Heimat – auf dem Hintergrund einer in<br />

jeder Hinsicht „grauenvollen“ Situation<br />

der offiziellen Kirche – eine eindrucksvolle<br />

Eigeninitiative, um religiöses Leben und<br />

Unterweisung der Jugend zu praktizieren. Eine Art Laiengemeinden<br />

entstand, <strong>die</strong> allerdings nach 1849, als Jesuiten zunehmend<br />

<strong>die</strong> Seelsorge und Gemeindestruktur bestimmten,<br />

keine Zukunft hatten.<br />

Ab den 1840er Jahren brachten <strong>die</strong> Einwanderer Frömmigkeitsformen<br />

der katholischen Restauration aus Deutschland<br />

mit, <strong>die</strong> von der Autorin als „ultramontan emotional geladen“<br />

bezeichnet werden: Marienverehrung, Wallfahrten, Prozessionen,<br />

den Herz-Jesu-Kult sowie Bruderschaften, z.B. <strong>die</strong><br />

Herz-Mariä-Bruderschaft.<br />

Eine gefühlsorientierte Frauenfrömmigkeit wird gestützt, eine<br />

Spiritualität mit den Ideen Selbstverleugnung, Opfer, Sühne.<br />

Aktivitäten der Laien werden denen kirchlicher Autoritäten<br />

untergeordnet. Frauen kommen selten zu Wort. Als überraschendes<br />

Novum wird vermerkt, dass einige in den 1930er<br />

Jahren als Rednerinnen zu Katholikentagen eingeladen wurden.<br />

Während im südbrasilianischen Siedlungsgebiet der Deutschen<br />

katholischer Glaube, Muttersprache, Deutschtum und<br />

Unterordnung der Frau noch <strong>die</strong> Kultur bestimmten, wurde<br />

1922 in Rio de Janeiro bereits <strong>die</strong> „Brasilianische Föderation<br />

für weiblichen Fortschritt“ gegründet. Sie trat dafür ein, <strong>die</strong><br />

politischen Rechte der Frau sicherzustellen, „<strong>die</strong> unsere Konstitution<br />

ihr verleiht und sie für <strong>die</strong> intelligente Ausübung<br />

<strong><strong>die</strong>ser</strong> Rechte vorzubereiten“.<br />

<strong>Der</strong> letzte Teil des Buches enthält biographische<br />

Charakterstu<strong>die</strong>n, <strong>die</strong> den in<br />

jüngerer Zeit veröffentlichen Briefen von<br />

Auswanderern an ihre Verwandten in<br />

Deutschland sowie der deutschsprachigen<br />

Presse der südbrasilianischen Siedlungsregion<br />

entnommen wurden. Die dort veröffentlichten<br />

Todesanzeigen enthielten häufig<br />

ein Porträt der verstorbenen Person und<br />

damit Hinweise auf <strong>die</strong> Lebensumstände.<br />

Da <strong>die</strong>se sich in vielen Punkten ähnelten,<br />

hätte hier stärker zusammengefasst werden<br />

können.<br />

So nimmt der Leser tatsächlich an der Erforschung<br />

der Erfahrungen der deutschen<br />

Frauen teil, deren Schulbildung gering war.<br />

Er liest mit Erstaunen, dass <strong>die</strong> deutsche<br />

Muttersprache als „heiliges Gut“ verteidigt<br />

wurde. Er stellt Bezüge zur Migrationsdebatte<br />

hier (in Deutschland) und heute her.<br />

Er fragt sich, „wer“ lebte „wie“ von den<br />

deutschen Einwanderen im Kolonialgebiet. „Wilde Menschen“?<br />

Er fragt sich, wie sich <strong>die</strong> katholisch-deutsche Sozialisation<br />

auf den Süden Brasiliens auswirkt.<br />

Die Autorin bietet eine reiche Fülle an Materialien an, um <strong>die</strong><br />

Erfahrungen der deutschen Auswanderinnen „zurückzugewinnen“,<br />

um Fragen anzustoßen, <strong>die</strong> geeignet sind, den Horizont<br />

für <strong>die</strong> Migrationsproblematik überhaupt auszuweiten.<br />

Erschienen im Verlag Regionalkultur, Heidelberg 2006<br />

Kultur<br />

Gisela Lermen:<br />

„Deutsche Auswanderinnen in Südbrasilien“<br />

Lebenswelten und Erfahrungen von Frauen in Kolonie und katholische Kirche<br />

(1824-1939)<br />

von Annedore Jünnemann und Gerborg Me<strong>ist</strong>er<br />

17


18<br />

Große Kunst im Landesinnern<br />

zZu Besuch bei der kürzlich verstorbenen Malerin und Porträt<strong>ist</strong>in<br />

Ilara Machado<br />

Die Motive von Porträtmalerinnen und -malern erschöpfen<br />

sich nach H.Orpel (2006) nicht nur in einer möglichst real<strong>ist</strong>ischen<br />

Reproduktion des Modells, sie entspringen oftmals dem<br />

tiefen Wunsch des Malers oder der Malerin, <strong>die</strong> Persönlichkeit<br />

des Gegenübers umfassend wahrzunehmen und <strong>die</strong>se nicht<br />

nur auf <strong>die</strong> Wiedergabe des Körper zu beschränken, sondern<br />

auch ihre Seele widerzuspiegeln. Gemalte Porträts waren in<br />

Brasilien bis Mitte des letzten Jahrhunderts der bevorzugte<br />

Weg, das Bild eines Menschen charaktervoll und ausdrucksstark<br />

abzubilden. Durch <strong>die</strong> Vorstellung von Ilara Machado<br />

aus Rio Claro im Bundesstaat São Paulo soll in <strong>die</strong>se Tradition<br />

Einblick gewährt werden.<br />

Anlässlich unserer Reise nach Brasilien lernten wir durch einen<br />

glücklichen Zufall mehrere Maler aus Rio Claro im Bundesstaat<br />

São Paulo bei ihrer Arbeit kennen. In den Gesprächen über ihr<br />

Izabel Riello-Peter und Chr<strong>ist</strong>ina Thomas<br />

Schaffen und ihre künstlerischen Ursprünge fiel wieder und<br />

wieder der Name Ilara Machado. Übereinstimmend wurde sie<br />

als wichtigste Mentorin und Wegbereiterin anderer Künstler<br />

gerühmt. Sie kann mit Recht als Protagon<strong>ist</strong>in für <strong>die</strong> Porträtkunst<br />

des 20. Jahrhunderts nicht nur im Bundesstaat São<br />

Paulo, sondern in ganz Brasilien bezeichnet werden.<br />

Ilara Machado führte <strong>die</strong> Maler José Meyer, Ronaldo Ciribelli und<br />

Carlos Lacerda in <strong>die</strong> traditionelle Kunst des Porträtierens ein.<br />

Wie ihre „Me<strong>ist</strong>erin“ versuchen <strong>die</strong>se Künstler ebenso, ihren<br />

Blick zu schärfen und <strong>die</strong> psychologischen und soziologischen<br />

Charakterzüge, das Wesen ihrer menschlichen Modelle, zu<br />

erkennen und nachzuzeichnen oder in Ton zu formen.<br />

Begegnung mit Ilara Machado<br />

Kultur<br />

<strong>Der</strong> Kunstlehrer José Meyer vermittelte uns einen Kontakt mit<br />

der 85jährigen Malerin Ilara Machado. Sie zeigte uns Alben<br />

voller Fotos von ihren Gemälden, von porträtierten Menschen,<br />

Zeitungsartikeln, Briefen an sie und zahlreichen Urkunden.<br />

Unser Besuch und das Gespräch mit seinen vielen spannenden<br />

und informativen Details aus ihrer Lebensgeschichte<br />

waren zugleich ein h<strong>ist</strong>orischer Abriss der Entwicklung der<br />

letzten 80 Jahres ihres Landes, der bildenden Künste, der<br />

sozialen, politischen Umwälzungen und nicht zuletzt auch<br />

der Geschichte der brasilianischen Frauen.<br />

Ilara Machado wurde am 2.4.1922 in Rio Claro geboren,<br />

einer Stadt, <strong>die</strong> ca.180 km nord-westlich von São Paulo<br />

liegt. Ihre Familie entstammt dem gehobenen Bürgertum<br />

intellektueller Prägung. <strong>Der</strong> Vater war Zahnarzt. Er förderte<br />

das ge<strong>ist</strong>ige und kreative Interesse seiner Kinder. Deswegen<br />

war es keine Überraschung, als Ilara schon mit 4 Jahren<br />

ihre Vorliebe für <strong>die</strong> Malerei entdeckte. Die Lebenswirklichkeit<br />

ihrer Jugendzeit war geprägt von der Arbeitswelt rund<br />

um <strong>die</strong> Kaffee-Plantagen, den Bau der Eisenbahn in <strong><strong>die</strong>ser</strong><br />

Region, den „Caboclos“ und „freien Sklaven“ und den europäischen<br />

Einwanderern, insbesondere den Italienern und<br />

Deutschen. Diese kulturell und sozial gemischte Gesellschaft<br />

beeinflusste auch ihre künstlerische Entwicklung. In <strong>die</strong>sem<br />

Ambiente und <strong><strong>die</strong>ser</strong> Zeit (30er und 40er Jahre) war es auch<br />

noch nicht selbstverständlich, dass eine Frau ihren eigenen<br />

Interessen folgte und als Künstlerin arbeitete.<br />

Ilara Machado beschreibt uns ihren verstorbenen Mann als<br />

ihren zweiten großen Förderer. Er war Pädagoge und Schulleiter,<br />

dem <strong>die</strong> Entwicklung der Kultur und Geschichte der Region<br />

um Rio Claro sehr am Herzen lag. Mit viel Bege<strong>ist</strong>erung und<br />

auch etwas Nostalgie erzählt sie von den Umwälzungen in<br />

der rasch expan<strong>die</strong>renden Stadt und ihrer Menschen. Sie<br />

empfindet jeden Tag ihres 85jährigen Lebens auch als Bewegung<br />

und Fortschreiten der Menschengeschichte, da sie<br />

<strong>die</strong> kulturellen Wandlungen vor Ort aktiv miterlebten durfte.<br />

Sie gestaltete durch ihr soziales und kulturelles Engagement<br />

- sie war von 1957 bis 1977 als Gründerin und Leiterin des


„Archivs“ und Museums ihrer Stadt Rio Claro tätig - <strong>die</strong> Stadt-<br />

und Kulturgeschichte ihrer Region mit.<br />

Ihre Porträts malte sie am liebsten in unmittelbarer Anschauung<br />

des Menschen. Sie sagte uns dazu: „Bevor du <strong>die</strong> Natur<br />

malen kannst, musst du sie nah und tief verstehen. Danach<br />

erst kannst du sie interpretieren, transformieren und deformieren.“<br />

Sie schätzte den Blick auf <strong>die</strong> Hintergründe, auf Körper<br />

und Seele, auf Geschichten, auf Zeichen und Narben der Zeit,<br />

auf <strong>die</strong> Kräfte hinter der Zerbrechlichkeit und Endlichkeit des<br />

Menschen. Wichtig waren ihr dabei <strong>die</strong> Beziehungen und der<br />

Dialog mit den Menschen, <strong>die</strong> sie porträtierte.<br />

Ilara Machado wollte <strong>die</strong> Menschen immer nahe an deren<br />

Lebensrealität darstellen, obwohl der Zugang zu den von<br />

ihr gewählten Modellen nicht immer selbstverständlich und<br />

einfach war. Eines von ihren beachtenswerten Erlebnissen<br />

möchten wir gerne herausgreifen, weil es ihren Zugang zu<br />

den Menschen charakterisiert. Es ereignete sich in den 50er<br />

Jahren. Damals war es noch üblich, dass <strong>die</strong> Verkäufer mit<br />

ihren Waren zu Fuß in den Orten und Städten unterwegs waren<br />

und von Tür zu Tür gingen, um ihre Produkte feilzubieten.<br />

Eine solche Person oder besser solch ein „Unikum“, das sie<br />

so sehr faszinierte, hielt sie in ihrem Gemälde mit dem Titel<br />

„Vendedor de alhos“, auf Deutsch „<strong>Der</strong> Knoblauchverkäufer “,<br />

für <strong>die</strong> Nachwelt fest. Für Ilara Machado sahen <strong>die</strong> von harter<br />

Arbeit und durch <strong>die</strong> Witterung gezeichneten Männer aus,<br />

als ob <strong>die</strong> Anstrengungen und Mühen ihres Lebens in ihren<br />

Körpern eingemeißelt wären. Die Männer legten <strong>die</strong> geflochtenen<br />

Knoblauchbänder um ihre Oberkörper, ähnlich wie <strong>die</strong><br />

P<strong>ist</strong>oleiros ihre Patronengurte tragen. Eines Tages, während<br />

sie in ihrem Atelier arbeitete, klopfte an ihre Tür ein solcher<br />

Knoblauchverkäufer. Sie erkannte sofort <strong>die</strong> günstige Gelegen-<br />

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Kultur<br />

heit, ihn als Modell zu engagieren. Sie bot ihm an, den ganzen<br />

Knoblauch abzukaufen und ihn auch zusätzlich zu bezahlen,<br />

wenn er für sie Modell stünde. <strong>Der</strong> Mann blickte sie entsetzt<br />

an und antwortete ihr: „Entschuldigen Sie, gnädige Frau! Aber<br />

meine Frau erlaubt mir nur, dass ich mich mit ihr zu Hause<br />

hinlegen darf.“ Nachdem das Missverständnis jedoch geklärt<br />

war, akzeptierte der Mann das gute finanzielle Angebot. Doch<br />

schon nach vier Tagen Arbeit als Modell stand er plötzlich auf<br />

und sagte zur Malerin: „ Ich gehe fort. Wenn man einen Mann<br />

fertig machen will, muss man nur befehlen, dass er still sitzen<br />

bleiben muss.“ Damit verließ er das Atelier, doch sein Abbild<br />

in Öl und auf Leinwand blieb der Welt erhalten.<br />

Ilara Machado bezeichnete sich als Autodidaktin. Sie entwickelte<br />

ihren malerischen Stil allein durch <strong>die</strong> Beobachtung der<br />

Werke berühmter Künstler. Sie malte ihre Porträts überwiegend<br />

real<strong>ist</strong>isch, wie das <strong>die</strong> Auftraggeber in der Regel auch<br />

erwarteten, doch wir sahen auch freiere Interpretationen, wie<br />

das landesweit bekannte Porträt eines indianischen Kindes als<br />

offizieller Beitrag zu den 500-Jahr-Feiern Brasiliens. Bekannt<br />

<strong>ist</strong> auch ihr Porträt von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva<br />

für den Palast in Brasília, das von seinen Parteifreunden in<br />

Auftrag gegeben wurde.<br />

Bis zu ihrem Tode am 14. August 2007 lebte Ilara Machado in<br />

der Stadtvilla, <strong>die</strong> ihr Vater vor über 80 Jahren gekauft hatte.<br />

Die 85jährige Künstlerin malte noch, wenn auch nicht mehr<br />

täglich. Sie empfing Freunde und war offen für Gäste wie für<br />

uns, wenn es ihr Gesundheitszustand erlaubte. Ilara Machado<br />

<strong>ist</strong> menschlich und künstlerisch ein starkes Vorbild für viele<br />

Malerinnen und Maler der Region und wird es auch künftig<br />

bleiben. Wir waren tief berührt von ihrer Persönlichkeit und<br />

sind dankbar für <strong>die</strong>se Begegnung. ■<br />

19


20<br />

WWessen Konzerte arten jedes Mal in tropischkarnevaleske,<br />

zirzensische Happenings aus<br />

und haben dennoch philosophisch-politischen<br />

Tiefgang? Konzerte, bei denen sich<br />

das Publikum wie wild amüsiert, mitmacht,<br />

tanzt und trotzdem nachdenklich nach Hause<br />

geht, mit ein paar subversiven Ideen<br />

im Hinterkopf? Das bringt nur einer fertig<br />

- der stets selbstironisch-selbstkritische,<br />

fröhliche Tom Zé aus der Megametropole<br />

São Paulo, experimentierfreudigster Kompon<strong>ist</strong><br />

des Landes.<br />

Er stammt aus dem winzigen Dorf Irará<br />

in Bahia, stu<strong>die</strong>rte Musik bei dem vor den<br />

Nazis nach Brasilien geflüchteten Hans-<br />

Joachim Koellreutter, einem Schüler Paul<br />

Hindemiths, und führte mit Gilberto Gil,<br />

Caetano Veloso, Gal Costa und anderen<br />

<strong>die</strong> künstlerisch-musikalische Erneuerungsbewegung<br />

„Tropicalismo“mitten in<br />

der Diktaturzeit an.<br />

Und dann das - der rebellischste, kreativste<br />

Tropikal<strong>ist</strong> von allen, der als einziger den<br />

Idealen der Bewegung wirklich treu bleibt,<br />

fällt für zwei Jahrzehnte in Vergessenheit,<br />

wird vom Musikmarkt geschnitten. Bis<br />

David Byrne von den „Talking Heads“ ihn<br />

durch Zufall wiederentdeckt und in den<br />

USA mehrere Tom-Zé-Alben herausbringt.<br />

Die Musikzeitschrift „Rolling Stone“ nimmt eines davon in <strong>die</strong><br />

L<strong>ist</strong>e der 150 besten CDs der neunziger Jahre auf. Keinem<br />

anderen Brasilianer widerfuhr <strong>die</strong>se Ehre. Doch lassen wir ihn<br />

selbst zu Wort kommen:<br />

„Ich bin in Bahia aufgewachsen und habe seit meiner Kindheit<br />

Thomas Mann gelesen, der <strong>ist</strong> bis heute mein Lieblingsautor<br />

geblieben. ‚Joseph und seine Brüder‘, zum Beispiel, habe ich<br />

bestimmt schon fünf-, sechsmal gelesen. Mein Opa hat Tabak<br />

nach Deutschland exportiert, der dort richtig berühmt war.<br />

Thomas Mann spricht ja an bestimmten Stellen über Zigarren,<br />

erwähnt dabei sogar <strong>die</strong> aus Cachoeira in Bahia. 1953<br />

habe ich mit meiner ersten Freundin im Auto des deutschen<br />

Aufkäufers, eines Herrn Becker, der immer mal zu uns kam,<br />

herumgeschmust. Während des Zweiten Weltkriegs hat man<br />

dessen Frau hier eingesperrt, weil sie Deutsche war - damals<br />

wurden <strong>die</strong> Deutschen hier ja verfolgt.<br />

Mein erstes Konzert in Deutschland gab ich in Ostberlin. Mit<br />

dem Auto fuhr ich von Paris aus dorthin, kam nachmittags im<br />

Nebel an und hatte eine regelrecht kosmische Angst - denn<br />

<strong>die</strong> ganze Kindheit hindurch galt Berlin für mich immer als<br />

Zentrum des Horrors, der Unmenschlichkeit. Und auf einmal<br />

fahre ich dorthin. Mit dem Auto! Ich hatte Horrorgefühle, es<br />

war nicht zu glauben! In Ostberlin habe ich <strong>die</strong>se großen Al-<br />

Kultur<br />

Tom Zé<br />

Musiker, Avantgard<strong>ist</strong>, Provokateur<br />

von Klaus Hart<br />

leen bewundert, ich fand <strong>die</strong> Stadt angenehm. Was für eine<br />

Überraschung - denn ich dachte, in Deutschland <strong>ist</strong> alles finster,<br />

unheimlich, furchtbar, <strong>die</strong> Deutschen inbegriffen. Und dann<br />

auf einmal so sympathische Leute dort! Für mich gibt es zwei<br />

sympathische Völker in Europa - nach den Italienern sind das<br />

zu meiner eigenen Überraschung <strong>die</strong> Deutschen. Die sind liebevoll<br />

- sogar <strong>die</strong>se Riesen, <strong>die</strong>se so Ernsten, auch <strong>die</strong>, <strong>die</strong> so<br />

brummig-verschlossen erscheinen. Alle sind dermaßen höflich<br />

- wir haben dort nur wunderbare Erfahrungen gemacht. Also<br />

wirklich, Italiener und Deutsche sind <strong>die</strong> sympathischsten in<br />

Europa. Die Franzosen, das weiß man ja, sind unerträglich<br />

- der Herr verzeihe mir!<br />

Meine Texte sind häufig eine Art Dadaismus (fängt an zu<br />

singen) ... Als ich in Brasilien in Vergessenheit geriet, habe<br />

ich sehr gelitten, mich aber nie aufgegeben und auch nie beklagt.<br />

Denn ich wusste einfach nicht, ob meine Musik denn<br />

wirklich gut war. So ab 1973 dachte ich, meine Musik sei zu<br />

schwierig, zu schlecht gemacht, da sie ja keiner wollte. Das<br />

tat mir weh. Und dann kauft David Byrne zufällig in Rio de<br />

Janeiro <strong>die</strong>se Platte ‚Estudando Samba‘, von der, als sie herauskam,<br />

kein Mensch Notiz genommen hatte. Durch David<br />

Byrne kam ich mit <strong><strong>die</strong>ser</strong> Platte wieder mit der Welt in Kontakt.<br />

Nur deshalb arbeite ich jetzt nicht in einer Tankstelle in<br />

meinem Heimatort Irará.


Was habe ich mich geschämt, dass ich keinen Erfolg hatte,<br />

mich deshalb <strong>die</strong> Leute so anschauten! Warum packt der es<br />

denn nicht? Und dann bin ich plötzlich in der US-Billboard-Hitparade.<br />

Ich las das wie <strong>die</strong> Bibel - ich sozusagen in der Bibel!<br />

Meine Musik <strong>ist</strong> eben anders - trotz des Erfolgs in den USA und<br />

Europa wurde ich erst ab 1998 hier wieder als brasilianischer<br />

Musiker wahrgenommen. Dabei sind meine experimentellsten<br />

Musikstücke Sambas! Ich bin weiterhin ein experimenteller<br />

Tropikal<strong>ist</strong>. Nicht weil ich besser bin als <strong>die</strong> andern, sondern<br />

weil ich andere Sachen einfach nicht kann. Ich kriege einfach<br />

keine wunderschönen Melo<strong>die</strong>n hin, welche <strong>die</strong> Leute in ihrem<br />

beschaulichen Leben singen könnten.<br />

Meine Inspiration <strong>ist</strong> <strong>die</strong>se Stadt, sind <strong>die</strong> gesellschaftlichen<br />

Widersprüche hier. Ich bin schließlich Schüler von Hans-Joachim<br />

Koellreutter, von Ernst Widmer - ich bin Schüler des<br />

praktisch-klassisch-mathematischen Deutschland! Ich bin<br />

kein Genie, ich arbeite manchmal 16 Stunden am Tag. Aber<br />

wenn <strong>die</strong> Sachen fertig sind, hasse ich Musik richtig, ich habe<br />

dann einen Horror davor! Eigentlich bin ich eine emotional<br />

unreife Persönlichkeit, <strong>die</strong> versucht, sich durch Arbeit im<br />

Gleichgewicht zu halten. Ich will <strong>die</strong> Wahrheit über Dinge<br />

sagen, <strong>die</strong> ich für ungerecht halte. Ja, mein Lied über São<br />

Paulo - soviel Schmerz, soviel Liebe! In <strong>die</strong>sem Lied sage<br />

ich: Es sind zwanzig Millionen Einwohner, aus allen Ecken,<br />

aus allen Nationen, <strong>die</strong> sich gegenseitig mit aller Höflichkeit<br />

verletzen, <strong>die</strong> wie unter Hochdruck durch <strong>die</strong> Stadt rennen,<br />

sich mit allem Hass lieben, und mit ganzer Liebe hassen. Ein<br />

Haufen Einsamkeit. Tausende Schornsteine und luftverpestende<br />

Autos. Kurios, dass damals, als ich das Lied schrieb,<br />

<strong>die</strong> Luftverpestung noch keine ernsthafte Gefahr darstellte.<br />

Heute <strong>ist</strong> sie es tatsächlich, sie <strong>ist</strong> verantwortlich dafür, dass<br />

so viele Leute an teils schweren Krankheiten leiden.<br />

Brasilien <strong>ist</strong> ein reiches Land, und dennoch gibt es hier Elend.<br />

Wieso nur sind <strong>die</strong> Reichen dermaßen blöd, dass sie immer<br />

noch mehr haben, noch reicher werden wollen, obwohl sie<br />

doch nicht einmal mehr frei auf der Straße laufen können?<br />

In Deutschland, in der Schweiz <strong>ist</strong> alles ausgeglichener - hier<br />

dagegen haben wir sehr Reiche und sehr Verelendete. Wenn<br />

du hier etwas Geld in der Schublade hast, musst du das vor<br />

allen verheimlichen. Wenn das dein Nachbar wüsste, würdest<br />

du am nächsten Tag überfallen. Die Leute in Deutschland<br />

machen sich doch einfach keinen Begriff davon, wie das hier<br />

in São Paulo oder in Rio <strong>ist</strong>. Ich mache Psychoanalyse, habe<br />

deshalb ein klinisches Auge für <strong>die</strong> Politik - ich lebe dank der<br />

Psychoanalyse - Freud hält mich aufrecht!<br />

Anzeige<br />

Kontakt Blokosso<br />

Gabriel Akou<br />

07633/92 98 51<br />

Kultur<br />

Wir sind eine junge Nation mit einer Physiognomie ohne klare<br />

Konturen - wir sind eine Art Vorentwurf eines Menschen, gesellschaftlich<br />

gesehen. Und einer der kuriosesten Aspekte <strong>ist</strong>,<br />

dass wir Sympathien für Dinge hegen, <strong>die</strong> wir eigentlich nicht<br />

wollen. Das <strong>ist</strong> natürlich, das gibt es häufig in der Geschichte<br />

der Nationen. Jeder deutsche Politiker hätte dafür tausend<br />

Beispiele parat. Unser großer Bildungsexperte Paulo Freire,<br />

von der Diktatur verfolgt und eingesperrt, schuf den Begriff<br />

‚den Unterdrücker freundlich wie einen Gast aufnehmen‘- das<br />

definiert Brasilien. Es bedeutet - man sieht den Unterdrücker<br />

agieren, lernt dessen Methoden und Techniken kennen. Doch<br />

wenn man dann auf einmal selbst Einfluss auf <strong>die</strong> Geschichte<br />

nehmen kann, handelt man genau wie zuvor der Unterdrücker!<br />

Das <strong>ist</strong> Brasilien! Es handelt wie ein Unterdrücker, weil es ja<br />

nur dessen Methoden kennt. Es hat den Unterdrücker in sich.<br />

Das <strong>ist</strong> unsere Tragö<strong>die</strong>, unsere Tragikomö<strong>die</strong>!<br />

Ich war schon mal Konzertkritiker von Karl-Heinz Stockhausen.<br />

Brasilien hat überall im Lande <strong>die</strong> verschiedensten<br />

Folklore-Stile, <strong>die</strong> verschiedensten Tänze, Improvisationen.<br />

Diese Folklore <strong>ist</strong> wie eine eigene Weltanschauung, wie es<br />

<strong>die</strong> Deutschen nennen würden - habe ich das deutsche Wort<br />

‚Weltanschauung‘ jetzt richtig ausgesprochen? Diese Folklore<br />

hat eine eigene Philosophie, eine eigene Metaphysik, <strong>ist</strong> wie<br />

eine andere Konzeption des Universums - es schaudert mich<br />

richtig, wenn ich so etwas sage.<br />

Es gibt sozusagen überall in Brasilien kleine kulturelle Zellen,<br />

ein unglaublicher Reichtum. Man sagt, in Brasilien gebe<br />

es keine Erdbeben. Lüge! Das Land wird ständig erschüttert<br />

durch <strong>die</strong> Kraft seiner Folklore. Wir armseligen Kompon<strong>ist</strong>en<br />

machen eigentlich nichts weiter, als aus <strong><strong>die</strong>ser</strong> reichen Folklore<br />

zu zitieren. Obwohl es natürlich auch <strong>die</strong> Wegwerfmusik gibt<br />

- das <strong>ist</strong> das andere Brasilien. Wenn du aber nach Pernambuco<br />

im Nordosten re<strong>ist</strong>, wenn du es überhaupt verstehst, hier <strong>die</strong><br />

richtigen Orte auszuwählen, <strong>die</strong> richtigen Platten zu kaufen,<br />

wirst du in allen Regionen außerordentliche Dinge finden.<br />

Aber wenn du TV glotzt und siehst, was da angepriesen wird<br />

als d i e Musik von Rio, Bahia, São Paulo - da findest du nur<br />

M<strong>ist</strong> und Schrott.“ ■<br />

Tom Zés Äußerungen wurden von Klaus Hart (Rio de Janeiro)<br />

aufgenommen und übersetzt.<br />

21


M„Mar de gente“ <strong>ist</strong> <strong>die</strong> erste professionelle Aufführung der 2007<br />

gegründeten „Companhia Teatro Dança Ivaldo Bertazzo“. Diese<br />

Tanztheatergruppe ging aus dem 2003 von dem Balletttänzer<br />

und Choreografen Ivaldo Bertazzo (59) initiierten Projekt<br />

„Dança Comunidade“ (Gemeinschaftstanz) hervor.<br />

22<br />

Ziel des Projekts <strong>ist</strong> <strong>die</strong> soziale Einbeziehung der Jugendlichen<br />

von der Peripherie São Paulos, <strong>die</strong> Kunst <strong>ist</strong> dabei das Bindeglied.<br />

Bertazzo arbeitete auf <strong>die</strong>se Weise bereits zwischen<br />

2000 und 2002 in der Favela da Maré in Rio de Janeiro. „Für<br />

einen betuchten Schüler <strong>ist</strong> der Tanz eine Möglichkeit mehr<br />

in seinem Leben. Aber für <strong>die</strong> Jugendlichen hier am Stadtrand<br />

war und <strong>ist</strong> sie <strong>die</strong> Einzige“, so Bertazzo in einem<br />

Interview mit der brasilianischen Zeitschrift „Veja“.<br />

Die Beteiligten erhalten eine monatliche Unterstützung<br />

von umgerechnet 80 €, dafür müssen<br />

sie mehrere Stunden täglich an den Proben und<br />

am Unterricht teilnehmen. Er besteht sowohl<br />

aus praktischen Übungseinheiten als auch aus<br />

theoretischem Unterricht über <strong>die</strong> Vielfältigkeit<br />

verschiedener Kulturen und Rhythmen. Dieser<br />

Formenreichtum kommt in den Aufführungen<br />

zum Ausdruck, in denen sich verschiedenste<br />

Tanzstile mischen.<br />

Mens


chenmeer<br />

Ein Tanztheater anderer Art<br />

Bertazzo möchte jedoch nicht nur den Jugendlichen den Tanz<br />

näher bringen, er <strong>ist</strong> überzeugt, dass <strong>die</strong>se Arbeit ebenfalls<br />

das Selbstwertgefühl der Heranwachsenden stärkt. „Neue<br />

Grenzen des Körpers kennen zu lernen bedeutet<br />

zugleich neue Grenzen im Leben zu<br />

erkennen.“ <strong>Der</strong> Tanz <strong>die</strong>ne letztlich<br />

auch der Konzentration auf Wesentliches,<br />

bewirke, dass <strong>die</strong><br />

Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

insgesamt wichtige<br />

Dinge des Lebens, wie<br />

auch ihre eigenen<br />

Fähigkeiten, besser<br />

erkennen könnten.<br />

Kultur<br />

von Günther Schulz<br />

Mit dem Stück „Mar de Gente“ („Menschenmeer“) feierte<br />

Bertazzo im Theater „Carlos Gomes“ in Rio und im „Teatro<br />

da SESC“ im Stadtteil Vila Mariana in São Paulo im vergangenen<br />

Jahr große Erfolge. Im Stück wird <strong>die</strong> menschliche<br />

Entwicklung dargestellt. Gefragt, weshalb er <strong>die</strong>ses Thema<br />

ausgewählt hat, sagte Bertazzo: „Die Werte der Jugend von<br />

heute sind stark konsumorientiert, <strong>die</strong>s gilt es zu hinterfragen.<br />

Was viel schöner <strong>ist</strong> und das Publikum verzaubern soll,<br />

<strong>ist</strong> <strong>die</strong> von uns gezeigte Freiheit, Tänze aus Ungarn, Pak<strong>ist</strong>an,<br />

aus der ganzen Welt zu nutzen. Hip-Hop hat keine brasilianischen<br />

Wurzeln, noch weniger das klassische Ballett….warum<br />

dennoch nicht von all <strong>die</strong>sen Dingen profitieren? Und zudem<br />

<strong>ist</strong> es so schön, in den Körpern der Akteure den Ausdruck<br />

verschiedener Kulturen erkennen zu können. Sie bewegen sich<br />

nach Europa, Russland und kommen dann im Orient an. Und<br />

so werden sie brasilianischer wie nie zuvor. Die Teilnehmer<br />

nehmen in <strong>die</strong>sen Augenblicken nicht wahr, dass sie aus der<br />

Peripherie kommen, sondern aus der Welt.“<br />

Bertazzo <strong>ist</strong> überzeugt, dass der Körper jedes Einzelnen ein<br />

„Instrument des Ausdrucks, des Lebens, der Menschlichkeit“<br />

<strong>ist</strong>. Mittellose Jugendliche aus den Randgebieten, <strong>die</strong> sich in<br />

Balletttänzer verwandeln: bisher unvorstellbar, für Bertazzo<br />

eine Begegnung „mit einem schlafenden Teil in uns“<br />

- sowohl bei den Tänzerinnen und Tänzern als auch<br />

beim Publikum. ■<br />

23


24<br />

Die Lage der Indigenen hat sich auch während der zweiten<br />

Legislaturperiode des Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da<br />

Silva nicht grundlegend verbessert. Zumindest <strong>ist</strong> das <strong>die</strong><br />

Sichtweise der me<strong>ist</strong>en Vertreter der indianischen Völker<br />

und auch der Organisationen, <strong>die</strong> mit ihnen zusammenarbeiten.<br />

<strong>Der</strong> eine oder andere Erfolg konnte zwar verbucht<br />

werden, aber es gab auch viele schmerzhafte Verluste und<br />

Niederlagen.<br />

Zu den kleinen Verbesserungen zählt sicherlich <strong>die</strong> CNPI. Hinter<br />

<strong>die</strong>sem Kürzel verbirgt sich <strong>die</strong> „Nationale Kommission für<br />

Indigene Politik“. Ihre Gründung war schon im Wahlkampf von<br />

2002 von der Arbeiterpartei (PT) und ihrem Spitzenkandidaten<br />

Lula versprochen worden. Mit einer Verspätung von über vier<br />

Jahren erblickte <strong>die</strong> CNPI endlich Mitte 2007 das Licht der Welt.<br />

Welche Bedeutung sie sich in Zukunft für <strong>die</strong> brasilianische<br />

Politik erstreiten kann, steht noch völlig in den Sternen, aber<br />

immerhin wurde ein erster Schritt getan. In der<br />

Kommission arbeiten Vertre- ter der<br />

indigenen Gemeinschaf- t e n<br />

und der Regierung sowie<br />

Repräsentanten von<br />

Nichtregierungsorganisationen<br />

zusammen und<br />

beraten in verschiedenen<br />

Arbeitsgruppen – dazu<br />

gehören „Justiz, Sicherheit<br />

und Bürgerrechte“,<br />

„Indigene Gebiete“,<br />

„Gesundheit“und „Bildung“<br />

- über <strong>die</strong> Richtlinien<br />

für <strong>die</strong> nationale<br />

Indianerpolitik.<br />

Wie sich<br />

leicht vorstellen<br />

l ä s s t ,<br />

gehen<br />

d i e<br />

Mei- Mei-<br />

Lula <strong>ist</strong> schon l<br />

Die indigenen Völker Brasilien<br />

nungen in der in größeren zeitlichen Abständen tagenden CNPI<br />

nicht unerheblich auseinander. Ein Streitpunkt <strong>ist</strong> zum Beispiel<br />

<strong>die</strong> soziale Agenda für <strong>die</strong> indigenen Völker, durch welche ihre<br />

Rechte auf den Landbesitz und dessen Ressourcen verstärkt<br />

werden sollen. Sie war bereits am 21. September 2007 von<br />

Lula und dem Präsidenten der staatlichen Indianerbehörde<br />

(FUNAI) pressewirksam in São Gabriel da Cachoeira, also<br />

mitten in einer mehrheitlich von Ureinwohnern besiedelten<br />

Region, verkündet worden. Allerdings bestand der Haken an<br />

der Sache darin, dass <strong>die</strong> Nationale Kommission <strong>die</strong> Sozialagenda<br />

vorher überhaupt nicht beraten hatte, obwohl genau<br />

das eigentlich notwendig gewesen wäre. So sieht es zumindest<br />

<strong>die</strong> von Brasilien unterschriebene Konvention 169 der<br />

Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), einer Untergruppierung<br />

der UNO, vor. Aber auch an weiteren Streitpunkten<br />

<strong>ist</strong> kein Mangel. Sie reichen von der viel zu schleppenden<br />

Demarkierung der von den indigenen Völkern geforderten<br />

Reservate über <strong>die</strong> oft mangelhafte gesundheitliche Versorgung<br />

in den abgelegenen Dörfern bis zur Umstrukturierung<br />

der FUNAI. Die staatliche Indianerschutzbehörde <strong>ist</strong> aufgrund<br />

der chronischen Unterfi nanzierung oft nicht in der Lage, ihre<br />

Aufgaben einigermaßen zufrieden stellend zu erfüllen. Dabei<br />

schläft <strong>die</strong> Lobby der Indianergegner, <strong>die</strong> insbesondere unter<br />

den Großgrundbesitzern, Holzbaronen, Bergwerkbesitzern<br />

und Lokalpolitiker ihre Anhänger fi ndet, keineswegs.<br />

Durch immer neue Gesetzesinitiativen versucht sie, <strong>die</strong><br />

durch <strong>die</strong> Verfassung von 1988 errungenen Garantien<br />

zu unterminieren. Dabei geht es ihr vor allem darum,<br />

<strong>die</strong> Rechte der über 800.000 Indigenen auf ihr Land<br />

und dessen Nutzung sowie auch auf <strong>die</strong> darunter<br />

liegenden Bodenschätze einzuschränken oder<br />

sie ihnen ganz zu entziehen. Dabei schreckt<br />

sie auch vor Gewalt nicht zurück.<br />

Neuer Rekord<br />

Indigene<br />

Alarmierend hoch fi el deshalb auch im Jahre<br />

2007 <strong>die</strong> Zahl der in politischen und sozialen<br />

Konfl ikten getöteten Ureinwohner aus. Es<br />

waren nach Erhebungen des Indianermissionsrates<br />

(CIMI) mindestens 76 Personen,<br />

<strong>die</strong> ihr Leben lassen mussten. 48<br />

Indigene starben allein<br />

in Mato Grosso<br />

do Sul, acht weitere<br />

in Pernambuco.<br />

Ge- genüber dem Jahr<br />

2006 bedeutet das insgesamt betrachtet<br />

eine Zunahme der Mordquote um 63%.<br />

In Mato Grosso do Sul stieg <strong>die</strong> Zahl im<br />

Vergleich zum Vorjahr sogar um fast<br />

150% an. <strong>Der</strong> Grund für <strong>die</strong>se hohen<br />

Verluste an Menschenleben sind oft


ange kein Idol mehr<br />

s protestieren gegen verschleppte Reformen<br />

<strong>die</strong> harten und oft bewaffneten Landkonflikte mit den Fazendeiros.<br />

Sie sind in Mato Grosso do Sul, einer Kernregion<br />

des Sojaanbaus, besonders blutig. Die dort lebenden Guarani<br />

und Kaiowá vegetieren auf viel zu kleinen Landparzellen dahin,<br />

sofern sie überhaupt über eigenen Boden verfügen. Da<br />

das nicht ausreicht, um sich einigermaßen ernähren zu können,<br />

sind viele von ihnen gezwungen, auf den Fazendas der<br />

Großgrundbesitzer zu arbeiten. Dementsprechend niedrig sind<br />

auch <strong>die</strong> Löhne, <strong>die</strong> an sie ausgezahlt werden. Alkoholismus,<br />

körperliche Gewalt und ein erschreckender Kulturverlust sind<br />

<strong>die</strong> fast unausweichlichen Folgen <strong>die</strong>ses langsamen Genozids,<br />

der durch <strong>die</strong> hohe Zahl der Selbstmorde, gerade unter<br />

Kindern und Jugendlichen, noch eine besonders dramatische<br />

Komponente erhält. Die Guarani und Kaiowá wehren sich erbitterter<br />

und organisierter als vor wenigen Jahren gegen <strong>die</strong>se<br />

fast aussichtslose Lage, indem sie Land besetzen, das ihnen<br />

früher einmal gehörte. Die Fazendeiros schlagen zurück, oft<br />

mit brutaler Gewalt. So wurden z.B. im vergangenen Jahr zwei<br />

Führer der gleichen Gruppe der Guarani getötet, während sie<br />

für <strong>die</strong> Rückgewinnung der Region Kurussu Ambá kämpften:<br />

Die 70jährige Xurete Lopes starb während einer Landbesetzung<br />

durch <strong>die</strong> Kugeln von privatem Wachpersonal. Ortiz<br />

Lopes, ein anderer Guarani aus demselben Dorf, wurde nach<br />

Zeugenaussagen im Auftrag eines Fazendeiros vor seiner Hütte<br />

niedergestreckt. Trotz aller Zusagen der FUNAI demarkierte<br />

<strong>die</strong> Behörde 2007 in Mato Grosso do Sul kein einziges der von<br />

den Indigenen zurückgeforderten Territorien. Deshalb bleibt<br />

<strong>die</strong>ses im Südwesten gelegene Bundesland nach wie vor ein<br />

sozialer Brennpunkt, ein wahrer Hexenkessel.<br />

Demarkationen im Schneckentempo<br />

Aber auch in anderen Regionen kommt <strong>die</strong> Demarkation des<br />

indianischen Landes nur schleppend oder überhaupt nicht<br />

voran. Davon sind zum Beispiel <strong>die</strong> Truká in Pernambuco in<br />

Nordostbrasilien betroffen. Ihre Dörfer liegen in unmittelbarer<br />

Nähe des Ableitungsprojektes, durch das dem Rio São Francisco<br />

Wasser entzogen und in <strong>die</strong> Trockenregion der Caatinga<br />

umgeleitet werden soll. Bis heute wurde es nicht offiziell als<br />

indianischer Besitz vom brasilianischen Staat anerkannt. Ähnlich<br />

sieht es auch im benachbarten Bahia aus, wo <strong>die</strong> Pataxó<br />

Hã Hã Hãe seit nunmehr 1926 um <strong>die</strong> Rückgabe ihres Landes<br />

mit den ortsansässigen Großgrundbesitzern streiten: <strong>Der</strong> damalige<br />

Indianerschutz<strong>die</strong>nst SPI demarkierte ihnen ein Areal<br />

von 300 km², das 1937 nach Konflikten mit den Fazendeiros<br />

widerrechtlich verkleinert und homologiert, also offiziell von<br />

Staatspräsidenten als Reservat anerkannt wurde. In den<br />

40er Jahren verpachtete der Staat entgegen den Vorschriften<br />

der Verfassung das indianische Land an daran interessierte<br />

Großgrundbesitzer. Viele Pataxó Hã Hã Hãe wurden von ihnen<br />

ermordet oder flohen. Die wenigen, <strong>die</strong> blieben, mussten sich<br />

auf den Fazendas gegen einen Hungerlohn verdingen. Von<br />

1976-80 erfolgte dann der heftigste Schlag gegen <strong>die</strong> Urein-<br />

von Bernd Lobgesang<br />

wohner im südlichen Bahia: Die<br />

Gouverneure Roberto Santos und<br />

Antônio Carlos Magalhães verteilten<br />

ihr Land an <strong>die</strong> Fazendeiros,<br />

<strong>die</strong> bereits vorher <strong>die</strong>se Gebiete<br />

gepachtet hatten. 1982 begann<br />

dann <strong>die</strong> Rückeroberung des Bodens<br />

durch <strong>die</strong> Pataxó Hã Hã Hãe.<br />

Im gleichen Jahr schon reichten sie<br />

eine Klage beim Obersten Staatsgerichtshof<br />

ein, der bis heute kein<br />

endgültiges Urteil gefällt hat.<br />

Aber auch dort, wo eigentlich <strong>die</strong> Ureinwohner gesiegt haben,<br />

sieht es oft ähnlich trostlos aus: Nachdem Luiz Inácio Lula da<br />

Silva im nördlichsten Bundesland Roraima das von mehreren<br />

Indianervölkern besiedelte Gebiet Raposa Serra do Sol durch<br />

seine Unterschrift zum Reservat erklärt hatte, hofften dort<br />

viele auf eine baldige Umsiedlung der Nichtindianer und auf<br />

weitere staatliche Maßnahmen zu ihrem Schutze. Aber nichts<br />

<strong>ist</strong> bisher geschehen. Ganz im Gegenteil: Die Reisbauern, <strong>die</strong><br />

einen Teil von Raposa Serra do Sol widerrechtlich in Besitz<br />

genommen haben, leben auch heute noch dort. Selbst <strong>die</strong><br />

Drohungen, denen sich <strong>die</strong> Ureinwohner früher immer wieder<br />

ausgesetzt sahen, halten weiter an und entladen sich in<br />

Übergriffen, <strong>die</strong> zum Teil auch, wie im Januar 2008 geschehen,<br />

von der Polizei ausgehen. Einige Mitglieder des Senats<br />

in Brasília versuchen währenddessen alles Mögliche, um <strong>die</strong><br />

praktische Umsetzung der präsidialen Entscheidung auch<br />

weiterhin zu unterlaufen, wobei natürlich immer wieder das<br />

Argument der Einschränkung der brasilianischen Souveränität<br />

durch <strong>die</strong> Errichtung von Indianerreservaten in Grenznähe<br />

herhalten muss. <strong>Der</strong> Kampf um Raposa Serra do Sol <strong>ist</strong> also<br />

noch immer nicht beendet.<br />

Sieg in Espírito Santo<br />

Indigene<br />

Wesentlich erfreulicher entwickelte sich in den letzten Monaten<br />

<strong>die</strong> Lage im Bundesland Espírito Santo. Ein Dekret des<br />

Justizmin<strong>ist</strong>eriums erklärte am 28. August 2007 ein über 180<br />

km² großes Gebiet der Tupinikim und Guarani zum Reservat.<br />

Das <strong>ist</strong> das vorläufige Ende eines langen Kampfes, der 1967<br />

mit der Besetzung des traditionellen Landes der beiden Völker<br />

durch den Konzern „Aracruz Celulose“ begann. Die Ureinwohner<br />

wurden damals vertrieben und der Wald, der ihre<br />

Lebensbasis gewesen war, wurde fast vollständig gerodet. An<br />

seiner Stelle entstanden große Eukalyptus-Monokulturen für<br />

<strong>die</strong> Zellstoffproduktion, in denen durch intensiv eingesetzte<br />

Agrargifte jedes tierische und pflanzliche Leben verschwand.<br />

Diesem Prozess der Zerstörung mussten <strong>die</strong> Indigenen zunächst<br />

noch tatenlos zusehen, da sie politisch zu machtlos<br />

waren: Das Militärregime unterband damals fast jede Form<br />

des Widerstandes. Als aber 1978 der brasilianische Staat <strong>die</strong><br />

Landrechte indigener Gemeinschaften auf traditionell genutztes<br />

Land anerkannte, erhielt der Widerstand der Tupinikim<br />

und Guarani einen großen Schub nach vorne. Immer lauter<br />

forderten sie jetzt <strong>die</strong> Rückgabe ihrer Heimat. Von den sieben<br />

Dörfern aus, <strong>die</strong> sie in unmittelbarer Nähe der Zellstofffabrik<br />

angelegt hatten, drangen sie in mehreren Aktionen auf ihr<br />

angestammtes Territorium vor. Seit 2005 nahmen <strong>die</strong> Landbesetzungen<br />

sogar noch weiter zu. Um <strong>die</strong> Ernsthaftigkeit<br />

ihres Anliegens zu demonstrieren, demarkierten sie schließlich<br />

sogar eigenständig ihr Land. Im Januar 2006 ließ zwar<br />

noch einmal der Konzern „Aracruz Celulose“ das umstrittene<br />

Gebiet durch einen brutalen Polizeieinsatz räumen, wobei <strong>die</strong><br />

Hütten der Indianer zerstört und sie mit Gummigeschossen<br />

25


26<br />

vertrieben wurden. Jedoch war das den Indigenen angetane<br />

Unrecht zu offensichtlich geworden, und mittlerweile setzte<br />

sich nicht nur <strong>die</strong> nationale, sondern auch <strong>die</strong> internationale<br />

Öffentlichkeit für <strong>die</strong> Tupinikim und Guarani ein. Schließlich<br />

gab das Justizmin<strong>ist</strong>erium dem Drängen nach und errichtete<br />

für <strong>die</strong> ca. 2.200 Indianer aus der Gegend von Aracruz ein<br />

Reservat. Damit beginnt eine neue Phase im Kampf um <strong>die</strong><br />

Rückkehr in <strong>die</strong> angestammte Heimat, denn noch <strong>ist</strong> das<br />

zurückgewonnene Land weitgehend eine ökologische Wüste,<br />

zerstört durch <strong>die</strong> Eukalyptus-Monokultur. <strong>Der</strong> Boden <strong>ist</strong> durch<br />

Agrargifte verseucht, viele Quellen und Bäche versiegten im<br />

Laufe der vergangenen Jahrzehnte, da <strong>die</strong> Eukalyptusbäume<br />

dem Boden das Wasser für ihr rasches Wachstum entzogen.<br />

Das hat viele Tupinkim und Guarani nicht davon abgehalten,<br />

inzwischen wieder auf ihr angestammtes Territorium zurückzukehren.<br />

Einige Dörfer sind dort schon wieder entstanden.<br />

Mitte Oktober des vergangenen Jahres kamen dann mehr<br />

als 300 Indigene in dem Dorf Caieiras Velha zusammen, um<br />

darüber zu beraten, wie das von dem Zelluloseunternehmen<br />

zerstörte Gebiet wiederhergestellt und erneut bewirtschaftet<br />

werden kann. <strong>Der</strong> Zellstoffkonzern will, wie er bereits bei den<br />

im Vorfeld geführten Verhandlungen versprochen hat, einen<br />

Teil der Kosten für nachhaltige Umweltprojekte übernehmen,<br />

den Rest soll allerdings <strong>die</strong> brasilianische Regierung be<strong>ist</strong>euern,<br />

<strong>die</strong> derartige Situationen in der Vergangenheit schon öfters<br />

nutzte, um sich ganz aus der Affäre zu ziehen. „Wenn Aracruz<br />

<strong>die</strong> Eukalyptusbäume entfernt hat, was machen wir dann<br />

mit dem zerstörten Gebiet?“, fragte deshalb José Cesenando,<br />

Kazike von Caieiras Velha, während der Versammlung. Und<br />

er fuhr fort: „Wir wissen nicht, wovon wir leben sollen. Wir<br />

ernährten uns von Schalentieren, aber das Sammeln <strong>ist</strong> jetzt<br />

verboten; <strong>die</strong> Samen für das Pfl anzen der Bohnen kamen zu<br />

spät für <strong>die</strong> rechtzeitige Aussaat, und in der Stadt gibt man<br />

uns nach der von Aracruz gegen <strong>die</strong> Indianer geführten Kampagne<br />

keine Arbeit.“<br />

Alte und neue Bedrohungen<br />

Die Lage der Tupinikim und Guarani <strong>ist</strong> symptomatisch für<br />

<strong>die</strong> Situation vieler Indigener in ganz Brasilien. Kann nach<br />

jahrelangen oder sogar jahrzehntelangen Kämpfen endlich ein<br />

Reservat errungen werden, hören <strong>die</strong> Probleme keineswegs<br />

auf, da <strong>die</strong> Ureinwohner nach wie vor zu abhängig von der<br />

Bundesregierung, den Behörden des jeweiligen Bundeslandes,<br />

den Lokalpolitikern und den vor Ort mächtigen Familien<br />

sind. Daran könnte sich nur dann etwas ändern, wenn es den<br />

Reservaten gelänge, fi nanziell und ökonomisch auf eigenen<br />

Füßen zu stehen. Dieses Ziel kann aber allein schon deshalb<br />

nicht erreicht werden, weil viele Reservate zu klein sind oder<br />

weil Teile davon sich immer noch in den Händen von Landbesetzern<br />

befi nden. Wer geglaubt hat, durch den „linken“<br />

Präsidenten Lula würde sich daran etwas ändern, sieht sich<br />

getäuscht. Seine Koalitionsregierung betreibt eine knallharte<br />

neoliberale Wirtschaftspolitik und setzt in vielerlei Beziehung<br />

<strong>die</strong> Pläne der Amtsvorgänger fort. Schuldenabbau, Währungsstabilität<br />

und Wirtschaftswachstum haben eindeutig und immer<br />

Vorfahrt vor Naturschutz und Stärkung der Rechte der<br />

Indigenen oder anderer ökologisch verträglich wirtschaftender<br />

Gruppierungen wie der Flussbewohner (Ribeirinhos), Fischer,<br />

der Nachkommen der gefl ohenen Sklaven (Quilombolas) oder<br />

der Kautschuksammler. Im Januar 2007 stellte Lula auf dem<br />

Treffen des Weltwährungsfonds in Davos den Wirtschaftsplan<br />

für seine zweite Legislaturperiode vor. <strong>Der</strong> seitdem unter dem<br />

Kürzel „PAC“ (Plan zur Wachstumsbeschleunigung) bekannte<br />

Indigene<br />

Plan sieht <strong>Ausgabe</strong>n in Höhe von 190 Milliarden € vor und<br />

soll <strong>die</strong> Infrastruktur Brasiliens durch den Bau von 42.000 km<br />

Straße, 2.500 km Schienenweg, <strong>die</strong> Erweiterung von zwölf<br />

Häfen und 20 Flughäfen sowie <strong>die</strong> Erzeugung von zusätzlichen<br />

12.300 Megawatt Energie auszubauen. Zu den PAC-Projekten<br />

gehören u.a. <strong>die</strong> Asphaltierung der BR 364 in Acre, der BR<br />

319 im Bundesland Amazonas und der berühmt-berüchtigten<br />

Transamazônica (BR 320), der Bau des heftig umstrittenen<br />

Wasserkraftwerkes Belo Monte am Rio Xingu und weiterer<br />

Kraftwerke am Rio Tocantins und Rio Madeira sowie <strong>die</strong> teilweise<br />

Umleitung des Rio São Francisco. Nach Angaben des<br />

CIMI-Vorsitzenden Bischof Erwin Kräutler werden mehr als 200<br />

Indianergebiete unmittelbar von PAC berührt werden, davon<br />

21 bisher noch isoliert lebende Völker. Das sind Ethnien, <strong>die</strong><br />

noch keinen regelmäßigen oder gar keinen Kontakt zur brasilianischen<br />

Gesellschaft aufgenommen haben.<br />

Große Gefahren gehen auch von anderen Plänen aus, welche<br />

<strong>die</strong> Grenzen Brasiliens überschreiten. So wollen zwölf lateinamerikanische<br />

Staaten in den kommenden Jahren eine Vielzahl<br />

von Projekten durchführen, wodurch <strong>die</strong> wirtschaftliche<br />

Vernetzung des Subkontinents beschleunigt und für mehr<br />

Wohlstand gesorgt werden soll. Dieses IIRSA genannte „Programm<br />

zur infrastrukturellen Integration Südamerikas“ umfasst<br />

allein 507 Vorhaben, <strong>die</strong> den Bereich Transport, Energie und<br />

Telekommunikation betreffen. Dazu zählt auch eine Erdgasleitung,<br />

<strong>die</strong> von Venezuela im Norden durch Brasilien bis nach<br />

Argentinien im Süden führen wird. Verschiedene Varianten<br />

sehen ihre Trassenführung mitten durch den amazonischen<br />

Regenwald vor. Die durch Unfälle ausgelösten Folgeschäden<br />

für den Boden, das Trinkwasser, <strong>die</strong> gesamte Tropenvegetation<br />

und damit auch für den Menschen lassen sich heute noch<br />

gar nicht abschätzen. Große Sorgen bereiten den Indigenen<br />

und ihren Verbündeten auch <strong>die</strong> maßlose Expansion des<br />

staatlich geförderten Soja- und Zuckerrohranbaus sowie der<br />

„Bio“-Ethanolboom. Die Anbaufl ächen für Agrarprodukte, <strong>die</strong><br />

dann aber letztlich dem Export oder der inländischen Spriterzeugung<br />

<strong>die</strong>nen, wachsen in einem vorher unbekannten<br />

Tempo und vernichten immer mehr Naturlandschaften, von<br />

den Campos Cerrados bis zum tropischen Regenwald. Eine<br />

gigantische Vernichtungswelle bedroht deshalb Natur und<br />

Mensch in Amazonien und in anderen Teilen Brasiliens. Doch<br />

trotz aller auch der Regierung bekannten Bedenken treibt<br />

sie ihre Wirtschaftspläne mit Nachdruck voran, wobei sie<br />

ihre Kritiker und Gegner sehr schnell verunglimpft und auf<br />

undemokratische Weise abkanzelt. Und eines der wichtigsten<br />

Sprachrohre <strong><strong>die</strong>ser</strong> ungehemmten Wirtschaftspolitik <strong>ist</strong> der<br />

Präsident selber, der 2006 in einer Rede <strong>die</strong> Indigenen als<br />

„Hindernisse des Fortschritts“ kritisierte.<br />

Wie sehr deshalb sein Ansehen unter den Ureinwohnern gesunken<br />

<strong>ist</strong>, belegt exemplarisch ein kurzer Ausschnitt aus<br />

einem Interview, das mit Davi Kopenawa, dem bekanntesten<br />

Vertreter der Yanomami, in Berlin geführt wurde: „Die Lula-<br />

Regierung hat den Ureinwohnern viele Versprechen gegeben,<br />

<strong>die</strong> sie nicht gehalten hat. Sie haben praktisch nichts für uns<br />

getan. Ich bin zum Beispiel sehr besorgt über einen Gesetzesentwurf<br />

zum Bergbau, der im Kongress diskutiert wird. Weder<br />

erläutert ihn <strong>die</strong> Regierung, noch fragt man uns um Rat. Vor<br />

kurzem traf ich Präsident Lula im Bundesstaat Amazonas. Ich<br />

sagte ihm deutlich: ‚Herr Lula, ich schaue Ihnen genau in <strong>die</strong><br />

Augen, damit Sie mir zuhören. Ich möchte keinen großangelegten<br />

Minenabbau auf unserem Land. Ich fürchte, er wird<br />

<strong>die</strong> Natur und <strong>die</strong> Flüsse, in denen wir baden und aus denen<br />

wir trinken, zerstören.“ ■


Nachrichten aus dem Strassenkinderprojekt<br />

„Casa Taiguara“ in São Paulo<br />

Esthér(17 Jahre) verbrachte fast ein Jahr in der „Casa Taiguara“<br />

und lebt seit vergangenem Dezember wieder bei ihrer<br />

Familie. Sie schrieb den folgenden Brief an das Team von<br />

„Casa Taiguara“.<br />

„Nun, was soll ich euch sagen? Letztlich war es ein Jahr, wo viel<br />

gelacht wurde, es Streit gab, eine Menge Zuneigung von euch<br />

allen, mir fehlen <strong>die</strong> Worte, um euch entsprechend danken<br />

zu können. Leute, danke dafür, dass ihr mich immer wieder<br />

„zurechtgestutzt“ habt. So konnte ich mich weiterentwickeln,<br />

wachsen und aufhören, ein kleines Mädchen zu sein.<br />

Einige werden sich sicher<br />

erinnern, wie<br />

v e r z w e i f e l t<br />

und kaputt<br />

ich hier<br />

ankam.<br />

Aber mit der Zeit<br />

wandelte sich<br />

das Weinen in Lachen. Leute, eure Arbeit <strong>ist</strong> nicht vergebens,<br />

überhaupt nicht. Manchmal kommt es euch sicher vor, dass<br />

wir undankbar und sehr stressig sind - aber nur wir, <strong>die</strong> wir<br />

von euch aufgenommen wurden, können wissen, wie es<br />

<strong>ist</strong>, jemanden zu haben, der an dich glaubt – selbst wenn<br />

es manchmal so aussieht, als wollten wir uns nie ändern.<br />

Manchmal brauchen wir etwas Aufmerksamkeit und ihr schenkt<br />

sie uns, ohne zu zögern.<br />

Tio* Vicente (1) - du wirst mir als „Vater“ fehlen. Tia* Concil<br />

(2) - du warst mir eine fabelhafte „Mutter“ und ich werde mit<br />

übersetzt von Anja Fa<strong>ist</strong><br />

großer Zärtlichkeit immer an dich denken. Selbst in Augenblicken,<br />

in denen ich mich selbst nicht verstand, hast du mich<br />

verstanden. Danke! Manchmal warst du ziemlich blöd zu mir,<br />

<strong>die</strong>s ändert aber nichts daran, dass du für mich etwas ganz<br />

Besonderes b<strong>ist</strong>.<br />

Und Tia Valéria (3), ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, aber<br />

du b<strong>ist</strong> unglaublich! Du hast keine Idee, was du alles Gutes<br />

für mich getan hast. Du hast mir das Gefühl einer Familie<br />

vermittelt. Denis, Roberte, Sidney, Felipe, Tia Ro, Bete, Fátima,<br />

Ana, Pauli, Márcia (4), euch allen vielen Dank. Ihr ward<br />

Engel in <strong>die</strong>sem Teil meines Lebens. Schließlich wart ihr<br />

es, <strong>die</strong> meine schlechte Laune und skandalösen<br />

Charaktereigenschaften zurückgedrängt habt<br />

und meine guten Seiten zum Vorschein<br />

kommen ließet. Ich danke euch für<br />

eure Geduld!<br />

Es war sicher nicht leicht, mich ein<br />

Jahr lang zu ertragen.<br />

Auch Tia Lidia, Vivi, Tio Renee<br />

(5), Sr.Daniel (6) - Dank für alles<br />

und dafür, dass es euch gibt. Hab‘<br />

euch alle sehr gern!<br />

1) Koordinator, 2) Vize-Koordinator,<br />

3) Sozialarbeiter, 4) Erzieher, 5)<br />

Verwaltung, 6) Vorsitzender und<br />

Gründer von „Casa Taiguara“<br />

*„tio“ *„tio“ heißt heißt Onkel, Onkel, „tia“ „tia“ Tante. Tante.<br />

Projekte<br />

Die Brasilieninitiative Freiburg e.V .<br />

unterstützt <strong>die</strong>ses Projekt seit den<br />

Anfängen 1996.<br />

Spenden bitte auf das Konto<br />

250 548 06 Volksbank Freiburg<br />

BLZ 680 900 00<br />

27


28<br />

<strong>Der</strong> Rio São Francisco muss leben<br />

Das Umleitungsprojekt des Rio São Francisco schreitet weiter voran<br />

von Andrea Zellhuber


<strong>Der</strong> Bau der Umleitung des Rio São Franscisco,<br />

der Transposição, eines der umstrittensten<br />

Großprojekte der Regierung Lula, <strong>ist</strong><br />

ungeachtet der Proteste in vollem Gange.<br />

In <strong>die</strong>sem Mega-Projekt, das überwiegend<br />

der exportorientierten Bewässerungslandwirtschaft<br />

zu Gute kommt, wird in zwei<br />

insgesamt 700 km langen Kanälen Wasser<br />

des Rio São Francisco abgeleitet und in<br />

<strong>die</strong> nördlichen Trockengebiete des Nordostens<br />

geleitet. (Die Brasilien Nachrichten<br />

berichteten bereits in den letzten <strong>Ausgabe</strong>n<br />

über das Mammutprojekt.)<br />

Seit Jahren versuchen Organisationen der<br />

Zivilgesellschaft vergeblich, einen demokratischen,<br />

transparenten und partizipativen<br />

Dialog über das Projekt zu erreichen. Die<br />

Landlosenbewegung MST, <strong>die</strong> Bewegung<br />

der Staudammbetroffenen, <strong>die</strong> Bewegung<br />

der Kleinbauern, <strong>die</strong> Landpastoral<br />

CPT und <strong>die</strong> Pastoral für Kleinfischerinnen<br />

und Kleinfischer sowie viele andere<br />

soziale Bewegungen haben sich in einem<br />

einzigartigen Bündnis mit den Fischergemeinden<br />

und der indigenen Bevölkerung<br />

der Region zusammengeschlossen, um<br />

den Bau des Mega-Projektes zu stoppen.<br />

Allein im letzten Jahr fanden zwei große<br />

Protest-Camps (eines in Brasília und<br />

eine Besetzung des Baustellengeländes<br />

in Cabrobó in Pernambuco) sowie zahllose<br />

lokale Protest-Aktionen im gesamten<br />

Flussgebiet statt.<br />

Doch <strong>die</strong> Regierung stellt sich taub gegenüber den Anliegen<br />

und Argumenten der Protestbewegung. Seit Juni 2007 hat<br />

das Ingenieur-Bataillon des brasilianischen Militärs mit den<br />

Bauarbeiten für <strong>die</strong> Kanalbauten begonnen, trotz der noch<br />

laufenden rechtlichen Einspruchsverfahren gegen das Projekt.<br />

Durch den Einsatz des Heeres können rechtliche Einwände<br />

gegen das Genehmigungsverfahren umgangen werden, mit<br />

der Begründung, es handle sich um ein Projekt zum „Wohle<br />

der Nation“. Vom Militär durchgeführte Bauarbeiten wecken<br />

Reminiszenzen an <strong>die</strong> Militärdiktatur und <strong>die</strong> gigantomanischen<br />

Vorhaben der 1970er Jahre, wie den Sobradinho-Stausee oder<br />

das berüchtigte, nie vollendete Straßenbau- und Besiedlungsvorhaben<br />

Transamazônica im Amazonas-Gebiet. Die Bevölkerung<br />

der Projektregion <strong>ist</strong> durch <strong>die</strong> massive Militärpräsenz stark<br />

eingeschüchtert. Fischer berichten von Hausdurchsuchungen<br />

in ihren Dörfern, bei denen <strong>die</strong> Soldaten nach Waffen suchen,<br />

um vermeintlichen Aufständen der betroffenen Bevölkerung<br />

gegen das Projekt zuvorzukommen.<br />

Geste der Verzweiflung<br />

Angesichts der autoritären Vorgehensweise der Regierung Lula<br />

bei der Realisierung des Projektes entschloss sich Bischof Cappio<br />

von der Diözese Barra am Mittellauf des Rio São Francisco Ende<br />

letzten Jahres erneut zum radikalen Schritt des Hungerstreiks<br />

als Zeichen des friedlichen Widerstands gegen <strong>die</strong> Zerstörung<br />

des Rio São Francisco. Am 27. November 2007 begann er in<br />

der São Francisco-Kapelle in der Gemeinde Sobradinho im<br />

Bundesland Bahia am Ufer des Sobradinho-Stausees sein<br />

Fasten als eine „Geste der Verzweiflung“, wie er selbst sagte.<br />

<strong>Der</strong> Franziskaner Dom Luiz Cappio <strong>ist</strong><br />

schon seit langem eine Symbolfigur und<br />

Vorreiter der sozialen Bewegung für den<br />

Schutz des Rio São Francisco. Seit seiner<br />

einjährigen Pilgerreise entlang des 2.800<br />

km langen Flusses 1992/1993 we<strong>ist</strong> er auf<br />

<strong>die</strong> dramatische Situation des Flusses hin.<br />

Luiz Flavio Cappio <strong>ist</strong> am 04. Oktober 1946<br />

in Guaratinguetá (São Paulo), am Tag des<br />

Heiligen Franziskus, geboren. Von seinen<br />

61 Jahren hat er mindestens 40 am Ufer<br />

des Rio São Francisco verbracht.<br />

Noch in jungen Jahren nach Abschluss seines<br />

Theologie- und Wirtschafts-Studiums<br />

verließ er seine wohlhabende Familie und<br />

wurde Franziskaner-Pater. Bis 1974 wirkte<br />

er in der Arbeiter-Pastorale in São Paulo,<br />

bis er in <strong>die</strong> arme semiaride Region des<br />

Bundeslandes Bahia aufbrach. Damals<br />

re<strong>ist</strong>e er lediglich mit der Kleidung, <strong>die</strong><br />

er am Leib trug, in <strong>die</strong> Armenregion des<br />

Nordostens ab. Im Jahr 1997 wurde er in<br />

Barra (Bahia) zum Bischof ernannt.<br />

Umwelt<br />

Dieses Mal wählte er Sobradinho als symbolischen Ort des<br />

Widerstandes gegen <strong>die</strong> Großprojekte am Rio São Francisco<br />

als Ort seines Protestes.<br />

Bereits vor gut zwei Jahren, im Oktober 2005, hatte Dom Luiz<br />

Cappio mit einem Hungerstreik gegen das Umleitungsprojekt<br />

großes Aufsehen erregt und einen Aufschub der Bauarbeiten<br />

erreicht. Damals beendete er nach elf Tagen sein Fasten aufgrund<br />

des Versprechens des Präsidenten Lula, einen umfassenden<br />

Dialogprozess mit der Bevölkerung über das Projekt<br />

der Transposição durchzuführen. Doch <strong>die</strong>ses Abkommen<br />

wurde vom Präsidenten nicht eingehalten. Nachdem <strong><strong>die</strong>ser</strong> im<br />

Oktober 2006 wiedergewählt worden war, wurden das Projekt<br />

ohne jegliche öffentliche Diskussion vorangetrieben.<br />

Diese Missachtung des getroffenen Übereinkommens bewegte<br />

Dom Luiz erneut dazu, in einen Hungerstreik zu treten. Auch<br />

<strong>die</strong>smal löste der mutige und selbstlose Protest des Bischofs<br />

eine breite Mobilisierung der Bevölkerung aus und brachte<br />

<strong>die</strong> Regierung in eine missliche Lage. Tausende Menschen<br />

kamen nach Sobradinho, um sich mit Dom Cappio solidarisch<br />

zu zeigen. Aus der ganzen Welt schickten Menschen<br />

Protestbriefe und Solidaritätserklärungen und unterstützten<br />

den Widerstand.<br />

Durch den massiven Druck der Bevölkerung sah sich <strong>die</strong> Justiz<br />

zu einer Reaktion gezwungen. Am 14. Dezember, nach mehr<br />

als zwei Wochen Hungerstreik, verhängte ein Regionalgericht<br />

einen Baustopp und gab den Einsprüchen von Umweltorganisationen<br />

gegen das Genehmigungsverfahren statt. Doch<br />

bereits wenige Tage später ging <strong>die</strong> Regierung in Revision.<br />

<strong>Der</strong> Oberste Gerichtshof musste nun über <strong>die</strong> Rechtmäßig-<br />

29


30<br />

Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse im Hinblick auf <strong>die</strong> Umleitung des<br />

Rio São Francisco (2004 – Anfang 2008):<br />

2004<br />

Lula nimmt das Projekt der Flussumleitung als Priorität in<br />

das Regierungsprogramm auf.<br />

2005<br />

26.09 bis 06.10.05 – Dom Luiz Cappio beginnt sein Fasten<br />

gegen das Flussumleitungsprojekt in Cabrobó (Pernambuco)<br />

und macht damit <strong>die</strong> öffentliche Meinung auf <strong>die</strong> Manipulation<br />

durch <strong>die</strong> Projektpropaganda aufmerksam. Aufgrund des<br />

öffentlichen Drucks entsendet Präsident Lula den damaligen<br />

Min<strong>ist</strong>er Jaques Wagner als Verhandlungsführer. <strong>Der</strong><br />

„Hungerstreik“ endet mit einem beiderseitig unterzeichneten<br />

Übereinkommen, in dem <strong>die</strong> Bildung einer Verhandlungskommission<br />

und der Beginn eines Dialogprozesses festgelegt<br />

wird. Es soll über <strong>die</strong> effizienteste Art der Wasserversorgung<br />

für <strong>die</strong> Bewohner der semiariden Region und über<br />

<strong>die</strong> nachhaltige Entwicklung der Region sowie <strong>die</strong> Revitalisierung<br />

des Rio São Francisco öffentlich diskutiert werden.<br />

November – Die Bundesstaatsanwaltschaft, <strong>die</strong> Staatsanwaltschaft<br />

des Bundeslandes Bahia und das NGO-Netzwerk<br />

„Permanentes Forum zur Verteidigung des São Francisco<br />

in Bahia“ reichen eine neue Klage gegen das Projekt beim<br />

Obersten Gerichtshof (STF) ein und fordern <strong>die</strong> Einstellung<br />

des Genehmigungsverfahrens.<br />

15.12.05 – Erste Au<strong>die</strong>nz des Präsidenten Lula mit der Verhandlungskommission<br />

und Dom Luiz Cappio.<br />

2006<br />

06. bis 07.07.06 – Workshop über nachhaltige Entwicklung<br />

im semi-ariden Gebiet zwischen Vertretern der organisierten<br />

Zivilbevölkerung und Vertretern der Bundesregierung. Es<br />

entstehen drei thematische Arbeitsgruppen, um <strong>die</strong> Debatte<br />

über <strong>die</strong> Revitalisierung zu vertiefen.<br />

Rubrik<br />

04. bis 07.10.06 – Mobilisierungs- und Bildungs-Camp in<br />

Cabrobó (Pernambuco) zur Entwicklung gemeinsamer Strategien<br />

des Widerstandes mit Teilnahme der sozialen Bewegungen,<br />

der Fischer, der indigenen Gruppen und anderer<br />

traditioneller Bevölkerung.<br />

10.11.06 – <strong>Der</strong> Oberste Rechnungshof veröffentlicht <strong>die</strong><br />

Verfahrensprüfung des Flussumleitungsprojektes und stellt<br />

Empfehlungen an das zuständige Min<strong>ist</strong>erium aus.<br />

Dezember – Veröffentlichung des Atlas des Nordostens der<br />

Nationalen Wasserbehörde (ANA), der alternative Vorschläge<br />

für <strong>die</strong> Wasserversorgung in den Kleinstädten der neun<br />

Bundesländer des Nordostens sowie des Nordens von Minas<br />

Gerais enthält.<br />

19.12.06 – <strong>Der</strong> Oberste Bundesrichter Sepúlveda Pertence<br />

(STF) erklärt <strong>die</strong> elf Einspruchsverfahren, <strong>die</strong> den Beginn<br />

der Arbeiten der Flussumleitung verhinderten, für unrechtmäßig.<br />

2007<br />

22.01.07 – Veröffentlichung des Programms zur Beschleunigung<br />

des Wachstums (PAC). Darin sind öffentliche Mittel<br />

im Umfang von R$ 6,6 Milliarden (2,5 Mrd. Euro) für den<br />

Zeitraum von 2007 bis 2010 für das Flussumleitungsprojekt<br />

bestimmt.<br />

05.02.07 – Das NGO-Netzwerk „Permanentes Forum zur<br />

Verteidigung des São Francisco in Bahia“ reicht erneut eine<br />

Klage beim Obersten Bundesgerichtshof gegen <strong>die</strong> Entscheidung<br />

des Bundesrichters Pertence ein, der <strong>die</strong> laufen-


den Klagen aufgehoben hatte.<br />

12.02.07 - <strong>Der</strong> oberste Bundesstaatsanwalt Fernando Antonio<br />

de Souza reicht eine Klage beim Obersten Bundesgerichtshof<br />

ein und fordert, das Genehmigungsverfahren für<br />

<strong>die</strong> Bauarbeiten der Flussumleitung zu suspen<strong>die</strong>ren.<br />

21.02.07 - Dom Luiz Cappio schickt einen Brief an Lula, in<br />

dem er <strong>die</strong> Wiederaufnahme des Dialogs fordert.<br />

12. bis 16.03.07 - Protest-Camp in Brasília „Für das Leben<br />

des Rio São Francisco und des Nordostens, gegen <strong>die</strong> Flussumleitung“,<br />

mit mehr als 600 Teilnehmern aus dem Flusstal<br />

und anderen Bundesländern, so z.B. aus Ceará und São<br />

Paulo.<br />

13.03.07 - Die brasilianische Bundesumweltbehörde (IBA-<br />

MA) vergibt <strong>die</strong> Baugenehmigung für den Beginn der Bauarbeiten.<br />

16.03.07 - Geddel Vieira Lima wird zum Amtsnachfolger<br />

von Pedro Brito als Min<strong>ist</strong>er des Min<strong>ist</strong>eriums für Nationale<br />

Integration ernannt.<br />

16.04.07 - Die brasilianische Rechtsanwaltskammer von<br />

Sergipe (OAB.SE) erhebt Klage gegen das Umleitungsprojekt.<br />

Das Dokument mit 150 Gutachten besteht aus einer<br />

Stu<strong>die</strong> der Weltbank sowie Berichten über <strong>die</strong> hydrologischen<br />

Bedingungen in den Empfängerbundesländern, in<br />

denen <strong>die</strong> Probleme der Wasserknappheit auf <strong>die</strong> schlechte<br />

Verteilung des Wassers zurückgeführt werden.<br />

Mai - Das Militär beginnt mit den Bauarbeiten bei den<br />

Wasserentnahmestellen am Nord- sowie am Ostkanal des<br />

Projektes.<br />

04.06.07 – Ein Brief von Vertretern der Zivilgesellschaft<br />

fordert <strong>die</strong> Einhaltung des 2005 von der Regierung beschlossenen<br />

Abkommens. Es unterzeichnen den Brief: Dom<br />

Luiz Cappio, Adriano Martins, Yvonilde Medeiros, Jonas<br />

Dantas (Permanentes Forum zur Verteidigung des São<br />

keit des Baustopps befinden. In seiner letzten Sitzung des<br />

Jahres, am 19.Dezember 2007, erklärte das Oberste Gericht<br />

den Baustopp für nichtig und <strong>die</strong> erteilten Baugenehmigungen<br />

für gültig. Diese Entscheidung war ein harter Schlag für<br />

<strong>die</strong> Widerstandsbewegung, nachdem der vorläufig verhängte<br />

Baustopp große Hoffnungen geweckt hatte.<br />

Dom Luiz, der nach 23 Tagen Hungerstreik bereits sichtlich<br />

geschwächt war, kollabierte kurz nach Erhalt der Nachricht über<br />

<strong>die</strong> oberrichterliche Entscheidung und musste in ein Krankenhaus<br />

eingeliefert werden. Aufgrund der kritischen gesundheitlichen<br />

Situation und der Verweigerung jedweder Verhandlung<br />

durch <strong>die</strong> Regierung überzeugten <strong>die</strong> engsten Vertrauten des<br />

Bischofs ihn davon, den Hungerstreik abzubrechen. In einer<br />

großen Abschlussmesse in Sobradinho gab Dom Cappio am<br />

21. Dezember 2007 bekannt, dass er sein Fasten beende.<br />

Damit ging eine turbulente Adventszeit zu Ende, in der das<br />

Thema der Transposição wieder ins Zentrum der öffentlichen<br />

Debatte gerückt war. Die wahren Interessen der Regierung,<br />

<strong>die</strong> das Projekt als Ausgangspunkt für sozialen Fortschritt im<br />

semiariden Gebiet verkauft, wurden demaskiert. Und einmal<br />

mehr zeigte <strong>die</strong> öffentliche Diskussion zum Thema Rio São<br />

Francisco wie hartnäckig <strong>die</strong> Vorurteile und Mythen über den<br />

Rubrik<br />

Francisco), Luciana Khoury (Staatsanwaltschaft Bahia), ASA<br />

(Netzwerk der Nichtregierungsorganisationen des semi-ariden<br />

Region), Frente Cearense für eine Neue Wasserkultur;<br />

Forum Sergipano, Via Campesina Brasil, Landlosenbewegung<br />

MST, Quilombolas, Fischer und indigene Völker des<br />

Flusstals sowie <strong>die</strong> Staatsanwaltschaft von Sergipe und <strong>die</strong><br />

Professoren João Suassuna und João Abner.<br />

26.06 bis 04.07.07 - Mehr als 1.500 Aktiv<strong>ist</strong>en besetzen <strong>die</strong><br />

Baustelle des Nordkanals des Projektes der Umleitung in<br />

Cabrobó (Pernambuco). An den folgenden Tagen führen <strong>die</strong><br />

indigenen Gruppen der Truká und Tumbalalá Landnahmen<br />

auf ihren angestammten Territorien in der gleichen Region<br />

durch.<br />

Juli - <strong>Der</strong> oberste Bundesstaatsanwalt reicht eine Petition<br />

ein, in der er <strong>die</strong> unmittelbare Suspension der Bauarbeiten<br />

der Flussumleitung fordert.<br />

19.08. bis 01.09.07 - Fachleute und Vertreter der Zivilgesellschaft<br />

unternehmen eine Kampagnen-Reise durch elf<br />

brasilianische Großstädte. In öffentlichen Veranstaltungen<br />

werden <strong>die</strong> zentralen Argumente gegen <strong>die</strong> Flussumleitung<br />

und Gegenvorschläge für <strong>die</strong> ländliche Entwicklung in der<br />

semiariden Region vorgestellt und diskutiert.<br />

10. bis 14.09.07 - Basisarbeits-Kampagne in den Dörfern<br />

und Städten entlang des geplanten Ostkanals mit Beteiligung<br />

von Vertretern verschiedener sozialer Bewegungen.<br />

03. bis 10.11.07 - Basisarbeits-Kampagne in den Dörfern<br />

und Städten entlang des geplanten Nordkanals mit Beteiligung<br />

von Vertretern verschiedener sozialer Bewegungen.<br />

27.11.07 - Dom Luiz Cappio nimmt den Hungerstreik wieder<br />

auf und bekundet, <strong>die</strong>sen erst abzubrechen, sobald das<br />

Militär aus der Region abgezogen und das Projekt der Flussumleitung<br />

endgültig zu den Akten gelegt wird.<br />

25. bis 27.2.08 – 93 soziale Bewegungen treffen sich in Sabradinho<br />

um über das weitere Vorgehen zu beraten.<br />

Nordosten im Rest des Landes fortbestehen. Die Vorstellungen<br />

vom Nordosten als dem Armenhaus Brasiliens, dessen soziale<br />

Probleme allein in der Trockenheit und im Wassermangel<br />

begründet sind, scheinen nur schwer überwindbar. Sie sind<br />

der Grund dafür, warum <strong>die</strong> platte Regierungspropaganda<br />

immer noch greift.<br />

Wie geht es weiter?<br />

Das formalrechtliche Verfahren <strong>ist</strong> nach wie vor noch nicht<br />

abgeschlossen, da das Oberste Bundesgericht noch über elf<br />

laufenden Einsprüche gegen das Projekt befinden muss (<strong>die</strong><br />

Entscheidung Ende Dezember bezog sich lediglich auf den<br />

vorläufigen Baustopp). Doch <strong>die</strong> klare Positionierung der<br />

Bundesrichter während der letzten Sitzung des Jahres 2007<br />

lässt wenig Hoffnung auf mögliche gerichtliche Intervention<br />

zu. Wahrscheinlicher <strong>ist</strong> wohl, dass <strong>die</strong> endgültigen Entscheidungen<br />

über <strong>die</strong> Einsprüche soweit aufgeschoben werden, bis<br />

mit vorangeschrittenen Bauarbeiten Fakten geschaffen worden<br />

sind, <strong>die</strong> einen Einhalt unwahrscheinlich machen.<br />

Noch während des Hungerstreiks hat das zuständige In-<br />

31


32<br />

Sobradinho <strong>ist</strong> ein symbolträchtiger Ort für den Hungerstreik<br />

von Dom Luiz Cappio. Vor 30 Jahren wurde hier<br />

während der Militärdiktatur ein Staussee gebaut (Bauzeit<br />

von 1972 bis 1977) - mit verheerenden Auswirkungen<br />

auf das Ökosystem des Unterlaufs des Flusses. Damals<br />

wurden 72.000 Einwohner gewaltsam von ihrem Land<br />

vertrieben und um ihren Lebensunterhalt gebracht. Ein<br />

Teil wartet noch heute auf <strong>die</strong> Entschädigungszahlungen,<br />

andere wurden in weit entfernte Umsiedlungsprojekte<br />

verfrachtet. Die verheerenden sozialen Folgen <strong>die</strong>ses<br />

Großprojektes sind auch heute noch deutlich in der Region<br />

zu spüren.<br />

<strong>Der</strong> Stausee <strong>ist</strong> ungefähr 320 km lang, hat eine Oberfläche<br />

von 4.214 Quadratkilometern und einen Speicherraum von<br />

34,1 Kubikkilometern bei Vollstauhöhe von 392,50 Meter<br />

über dem Meer, wodurch er flächenmäßig der zwölftgrößte<br />

künstliche See der Erde <strong>ist</strong>. Das Reservoir <strong>die</strong>nt der<br />

Gewinnung von Strom aus Wasserkraft und repräsentiert<br />

60% der Wasserkraftreserven von Nordost-Brasilien.<br />

tegrationsmin<strong>ist</strong>erium <strong>die</strong><br />

Baufirmen bekannt gegeben,<br />

<strong>die</strong> das Ausschreibungsverfahren<br />

für <strong>die</strong> ersten Bauabschnitte<br />

gewonnen haben.<br />

Diese werden in Kürze das<br />

Militär bei den Bauarbeiten<br />

ablösen.<br />

Doch der Widerstand wird<br />

weitergehen. Für Ende Februar<br />

<strong>ist</strong> eine große Konferenz<br />

geplant, in der sich<br />

<strong>die</strong> beteiligten sozialen Bewegungen<br />

und traditionellen<br />

Volksgruppen der São<br />

Francisco-Region über <strong>die</strong><br />

weiteren Strategien beraten<br />

werden. Es wird für das Jahr<br />

2008 entscheidend sein, ob<br />

eine zivilgesellschaftliche<br />

Kontrolle der Bauarbeiten in<br />

einer so abgelegenen Region<br />

des Nordostens möglich <strong>ist</strong>.<br />

Auch <strong>die</strong> Tatsache, dass für<br />

<strong>die</strong>ses Jahr Gemeindewahlen<br />

anstehen, wird <strong>die</strong> lokalpolitischen<br />

Diskussionen erneut<br />

anheizen.<br />

Die Natur schlägt<br />

zurück<br />

Am me<strong>ist</strong>en Zündstoff liefert<br />

<strong>die</strong> Tatsache, dass der Rio<br />

São Francisco seit November<br />

letzten Jahres einen extrem<br />

niedrigen Wasserstand aufwe<strong>ist</strong>.<br />

<strong>Der</strong> Sobradinho-Staudamm<br />

verfügt über lediglich<br />

14% seiner Speicherkapazität<br />

und kommt damit dem<br />

h<strong>ist</strong>orischen Tiefstand von<br />

2001 (damals waren es nur 6%) gefährlich nahe. Es mussten<br />

bereits Not-Heizkraftwerke zum Einsatz gebracht werden, um<br />

<strong>die</strong> verminderte Stromproduktion durch <strong>die</strong> Wasserkraftwerke<br />

des Rio São Francisco auszugleichen. Sollte sich der Trend<br />

fortsetzen, dass <strong>die</strong> Stromversorgung durch den niedrigen<br />

Wasserstand gefährdet <strong>ist</strong>, würden sich <strong>die</strong> Warnungen der<br />

Gegner der Flussableitung bestätigen..<br />

Gründe für den Rückgang des Wasser-<br />

standes<br />

Umwelt<br />

Ein entscheidender Faktor für den Wasserrückgang <strong>ist</strong> <strong>die</strong><br />

unkontrollierte Wassernutzung für <strong>die</strong> Bewässerung. Bereits


Einer der zentralen Kritikpunkte der Projektgegner bezieht<br />

sich auf <strong>die</strong> Argumentation der Regierung, <strong>die</strong> Ableitung<br />

sei für <strong>die</strong> Wasserversorgung der nördlichen semiariden<br />

Region nötig. Denn <strong>die</strong> Regionen, in <strong>die</strong> das Wasser des<br />

Rio São Francisco geleitet werden soll, verfügt insgesamt<br />

über 70.000 Wasserrückhaltebecken, kleinere und größere<br />

Stauseen mit einem Gesamtvolumen von 37 Milliarden m³<br />

Wasser. Doch werden <strong>die</strong>se vorhandenen Ressourcen zum<br />

Großteil schlecht genutzt und verteilt. Das Hauptproblem<br />

des semiariden Nordostens <strong>ist</strong> also nicht <strong>die</strong> Knappheit<br />

an Wasser, sondern das Fehlen von gerechter Verteilung<br />

der vorhandenen natürlichen Ressourcen.<br />

Laut Regierungspropaganda soll das Vorhaben 12 Millionen<br />

Menschen zu Gute kommen. Doch der Oberste<br />

Rechnungshof hat <strong>die</strong>se Angaben in Frage gestellt, da in<br />

dem Projekt lediglich <strong>die</strong> Hauptkanäle veranschlagt sind.<br />

Für <strong>die</strong> Zuleitungssysteme für <strong>die</strong> Gemeinden müssten<br />

<strong>die</strong> jeweiligen Bundesländer mit ihren sehr spärlichen<br />

Haushalten selbst aufkommen. Nicht <strong>die</strong> Trinkwasserversorgung<br />

steht im Mittelpunkt des Projektes, sondern<br />

<strong>die</strong> Interessen der Bauindustrie, der exportorientierten<br />

Bewässerungslandwirtschaft und der Garnelenzuchtbranche.<br />

Was <strong>die</strong> Sicherung der Trinkwasserversorgung betrifft, so<br />

hat <strong>die</strong> nationale Wasserbehörde ANA erst im Dezember<br />

letzten Jahres eine Stu<strong>die</strong> zu Alternativ-Projekten<br />

veröffentlicht. Mit einem Investitionsvolumen, das der<br />

Hälfte der Kosten der Umleitung entspricht, könnte durch<br />

dezentrale Maßnahmen <strong>die</strong> Wasserversorgung von gut<br />

dreimal mehr Gemeinden verbessert werden. Außerdem<br />

entwickeln zahlreiche Nichtregierungsorganisationen im<br />

Nordosten Techniken der Regenwasserspeicherung, mit<br />

denen vor allem in den entlegenen ländlichen Siedlungen<br />

auf effiziente Weise <strong>die</strong> Wasserversorgung gesichert<br />

werden kann.<br />

heute werden am Mittellauf des Flusses 65% des entnommenen<br />

Wassers für <strong>die</strong> Bewässerung großer landwirtschaftlicher<br />

Projekte, vor allem für Obstplantagen, verwendet. Die<br />

ungebremste Abholzung in den Einzugsgebieten des Rio São<br />

Francisco, vor allem in der Cerrado-Region, der Quellregion<br />

der wasserreichsten Zuflüsse des Rio São Francisco, führte in<br />

den letzten Jahren zum Austrocknen zahlreicher Nebenflüsse.<br />

Besonders <strong>die</strong> Euphorie um <strong>die</strong> Agrotreibstoffe, vor allem<br />

Ethanol, verursachte in jüngster Zeit eine starke Ausweitung<br />

der Zuckerrohranbauflächen am Oberlauf des Flusses mit<br />

fatalen Folgen für den Wasserhaushalt. Die Erosion nahm<br />

weiter zu. Im zentralen und im westlichen Teil des Bundesstaates<br />

Minas Gerais, der Quellregion des Rio São Francisco,<br />

hat der Anbau von Zuckerrohr aufgrund des explo<strong>die</strong>renden<br />

Ethanol-Marktes von Juli 2006 bis Juli 2007 nach Angaben<br />

der Landwirtschaftsvereinigung von Minas Gerais (Faemg)<br />

um 58,31% zugenommen.<br />

Bleibt der Wasserstand des Rio São Francisco in den nächsten<br />

Monaten auf dem derzeitigen kritischen Stand, wird <strong>die</strong><br />

Regierung zunehmend Schwierigkeiten haben <strong>die</strong> zusätzliche<br />

Wasserableitung durch <strong>die</strong> Transposição zu rechtfertigen. ■<br />

Abschlusserklärung der Konferenz der<br />

Bevölkerung des Rio São Francisco Tals<br />

und der semiariden Region<br />

Umwelt<br />

Wir, <strong>die</strong> 93 sozialen Bewegungen und 213 Teilnehmer der<br />

Konferenz der Bevölkerung des Rio São Francisco Tals und der<br />

semiariden Region (25. bis 27. Februar 2008) geben <strong>die</strong> Ergebnisse<br />

bekannt, <strong>die</strong> in den Diskussionen über <strong>die</strong> Kontinuität<br />

unseres Kampfes für das Leben des Rio São Francisco und der<br />

semiariden Region und gegen das Projekt der Flussumleitung<br />

erarbeitet wurden. Gleichzeitig rufen wir zur Solidarität mit<br />

unserem Anliegen auf.<br />

Wir haben Sobradinho als Veranstaltungsort ausgewählt, weil<br />

<strong><strong>die</strong>ser</strong> Ort eine große symbolische Bedeutung hat für den<br />

Widerstand. Vor 30 Jahren wurde hier der große Sobradinho<br />

Staudamm gebaut und hier lassen wir <strong>die</strong> 24 Tage des Fastens<br />

von Dom Luiz von Ende 2007 wieder aufleben. Diese Erfahrung,<br />

<strong>die</strong> wir aus der Nähe oder aus der Ferne miterlebt haben, war<br />

eine Synthese aus religiöser Mystik und Politik, aus Solidarität<br />

und Glauben, Ökonomie und Ökologie. Mit <strong><strong>die</strong>ser</strong> Geste wurden<br />

unsere Formen des Widerstandes neu erfunden und auf <strong>die</strong><br />

höchste Ebene des Kampfes um das Leben erhoben.<br />

Wir haben <strong>die</strong> Eröffnungfeier in der Kapelle des Hungerstreiks<br />

abgehalten, umgeben von Wasserkrügen und Pflanzen der<br />

semiariden Region. Wir haben Erde und Wasser, das <strong>die</strong><br />

Delegationen aus ihren Heimatregionen mitgebracht haben,<br />

vermischt, wie zum Beispiel das trübe Wasser des Rio Tietê<br />

und <strong>die</strong> Erde des Perus-Friedhofes, wo <strong>die</strong> „verschwundenen“<br />

Aktiv<strong>ist</strong>en während der Militärdiktatur und <strong>die</strong> „armen“ Obdachlosen<br />

von São Paulo begraben wurden.<br />

Die Konferenz wurde von sozialen Bewegungen organisiert<br />

und durchgeführt. Es waren <strong>die</strong> verschiedensten betroffenen<br />

Regionen und sozialen Gruppen und ebenso andere Regionen<br />

des Landes und ausländische Organisationen beteiligt. Ziel<br />

war es, eine Bilanz des Widerstandes und seiner Auswirkungen<br />

zu ziehen und <strong>die</strong> Einheit zwischen den Organisationen<br />

und Personen zu stärken, um so <strong>die</strong> nächsten Schritte planen<br />

zu können.<br />

Die Analyse der aktuellen Situation machte einmal mehr klar,<br />

dass wir <strong>die</strong>ses ausbeuterische Entwicklungsmodell ablehnen,<br />

das immer mehr den Planeten bedroht. In Brasilien <strong>ist</strong> es wesentlicher<br />

Bestandteil der Regierungspolitik, <strong>die</strong> das Land auf<br />

seine Funktion als Exporteur von Primärrohstoffen wie Erzen<br />

und landwirtschaftlichen Produkten wie <strong>die</strong> Agrotreibstoffe<br />

reduziert. Damit macht sie das Land zu einer Riesenfarm für<br />

den Weltmarkt, so wie es seit der Kolonialzeit passiert.<br />

Dieses Modell verbindet Unterwürfigkeit gegenüber den großen<br />

internationalen wirtschaftlichen Interessen mit dem Fehlen<br />

von effektiven politischen Maßnahmen für den Nordosten, im<br />

speziellen für das semiaride Gebiet. Es legt der Region unnötige<br />

und fehlleitende Großprojekte auf, wie <strong>die</strong> Ableitung<br />

des Rio São Francisco. <strong>Der</strong> Anstrich einer an sozialen Verbesserungen<br />

orientierten Entwicklungspolitik täuscht nicht über<br />

<strong>die</strong> rückschrittliche Politik hinweg, <strong>die</strong> in den Maßnahmen<br />

des Programms zur Beschleunigung des Wachstums (PAC)<br />

offensichtlich sind, genauso wie in der Flexibilisierung der<br />

Restriktionen für das Kapital, dem Ass<strong>ist</strong>entialismus in der<br />

Sozialpolitik und der Kooptation der sozialen Bewegungen.<br />

33


34<br />

Angesichts <strong><strong>die</strong>ser</strong> Rahmenbedingungen definieren wir folgende<br />

allgemeinen Prinzipien und Aktionen.<br />

1. Zugang zu Wasser<br />

Die sozialen Bewegungen und Basisorganisationen des Rio<br />

São Francisco und der semiariden Region sind der Meinung,<br />

dass Wasser als solches ein universelles Gut <strong>ist</strong>. <strong>Der</strong> Zugang<br />

zu Wasser <strong>ist</strong> ein fundamentales Menschenrecht, das der armen<br />

Bevölkerung der semiariden Region, seit Jahrhunderten<br />

verwehrt wird. Das vorherrschende Modell war stets das Wasser<br />

zu konzentrieren, indem man viele Stauseen gebaut hat.<br />

Dennoch blieb fast <strong>die</strong> Hälfte der Bevölkerung der semiariden<br />

Region ohne Zugang zu Trinkwasser.<br />

Die Demokratisierung des Zugangs zu Wasser muss Priorität<br />

der öffentlichen Politik sein. Das Prinzip, <strong>die</strong> Menschrechte zu<br />

garantieren, muss in jeder Gesellschaft im Mittelpunkt stehen<br />

und von jeder Regierung strengstens eingehalten werden. Es<br />

muss eine neue Kultur des Umgangs mit Wasser gefördert<br />

werden, <strong>die</strong> Verschwendung vermeidet, <strong>die</strong> Aufrechterhaltung<br />

aller Lebensformen garantiert und eine umweltbewusste Einstellung<br />

zum Wasser beinhaltet.<br />

2. Revitalisierung des Rio São Francisco<br />

Die Bevölkerung des Rio São Francisco-Tals und der semiariden<br />

Region vertreten <strong>die</strong> Position, dass eine echte Revitalisierung<br />

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des Rio São Francisco dringend und prioritär <strong>ist</strong>. Sie muss<br />

darauf abzielen, <strong>die</strong> hydrologischen, sozialen und ökologischen<br />

Bedingungen des Flusses und <strong>die</strong> Lebensbedingungen von<br />

Millionen von Menschen sowie der anderen Lebewesen, <strong>die</strong> im<br />

Flusstal leben, zu verbessern. Dafür <strong>ist</strong> es eine wesentliche<br />

Voraussetzung, <strong>die</strong> unkontrollierte Ausbeutung des Cerrado-<br />

und der Caatinga zu stoppen.<br />

Wir vertreten, dass Revitalisierung nicht als palliatives und<br />

fragmentiertes Projekt und noch viel weniger als Propaganda-<br />

Projekt behandelt werden darf. Vielmehr bedarf es eines umfassenden<br />

Programms, das erschöpfend mit der Gesellschaft<br />

und der Wissenschaft diskutiert werden sowie einer rigorosen<br />

zivilgesellschaftlichen Kontrolle unterworfen werden muss. Das<br />

<strong>ist</strong> es, was der Rio São Francisco braucht und nicht weitere<br />

ausbeuterische Nutzungen.<br />

3. Ableitung des Wassers des Rio São<br />

Francisco (Transposição)<br />

Die Bevölkerung des São Francisco Tals und der semiariden<br />

Region lehnen das Projekt der Ableitung des Flusswassers<br />

bedingungslos ab. Dieses Projekt reproduziert lediglich das<br />

jahrhundertealte Modell der Konzentration des Wasser und<br />

schließt Millionen von Menschen vom demokratischen Zugang<br />

zu Wasser und menschenwürdigen Lebensbedingungen aus.<br />

Wasser dorthin zu leiten, wo es bereits Wasser gibt, <strong>ist</strong> eine<br />

Eine Schwalbe macht den Sommer<br />

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Ein Straßenkinderprojekt in São Paulo<br />

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der Ar men, aus eigener Kraft<br />

ihre Lebensverhältnisse zu ver-<br />

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Seit 1996 begleitet und unterstützt <strong>die</strong><br />

über <strong>die</strong> Arbeitsbedingungen in der<br />

Brasilieninitiative Freiburg e.V. das Stra-<br />

asiatischen Spielzeugproduktion und<br />

ßenkinderprojekt „Casa Taiguara/Casa<br />

Taiguarinha“ in São Paulo. Jetzt den wurde Verhaltenskodex über des Weltverban-<br />

<strong>die</strong>se Arbeit eine DVD erstellt. des In <strong>die</strong>sem der Spielzeugindustrie. Sie erhal-<br />

12 Minuten dauernden Film kommen ten konkrete auch Hinweise, worauf Sie<br />

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Umwelt


sinnlose Baumaßnahme. Es handelt sich einmal mehr, bereits<br />

in der Konzeption, um ein ungerechtes hydrologisches Projekt.<br />

Denn es werden Millionen von Menschen davon ausgeschlossen.<br />

Das Projekt <strong>ist</strong> unmenschlich, da das Wasser allein<br />

wirtschaftlichen Zwecken <strong>die</strong>nt. Das Projekt verstößt gegen<br />

das Prinzip, dass Wasser ein fundamentales Menschenrecht<br />

<strong>ist</strong>. Aus dem selben Grund lehnen wir <strong>die</strong> großen Bewässerungsprojekte<br />

ab, <strong>die</strong> lediglich dem Export-Agrobusiness zu<br />

Gute kommen.<br />

4. Nachhaltige Lebens- und Nutzungs-<br />

formen in der semiariden Region<br />

Die Bevölkerung des São Francisco Tals und der semiariden<br />

Region verstehen <strong>die</strong> nachhaltige Lebens- und Nutzungsformen<br />

(Convivência com o Semi-árido) in der semiariden<br />

Region als Grundlage für Entwicklung. Dieses zivilisatorische<br />

Paradigma verstehen wir als das derzeit am weitesten fortgeschrittene<br />

Konzept und deshalb <strong>ist</strong> es ein wichtiges, großes<br />

nationales Thema, das <strong>die</strong> ganze brasilianische Gesellschaft<br />

interessieren sollte.<br />

Wir lehnen das derzeitige Entwicklungsmodell ab, das seit<br />

Jahrhunderten <strong>die</strong> Konzentration von Land, Wasser und Einkommen<br />

aufrechterhält, wobei fast <strong>die</strong> Hälfte der Bevölkerung<br />

der Region ausgeschlossen wird. Wir schlagen ein gerechtes<br />

Entwicklungsmodell vor, das den Zugang zu Land und Wasser<br />

garantiert und auf der Logik der nachhaltigen Lebens- und<br />

Nutzungsformen (Convivência com o Semi-árido) basiert.<br />

Zahllose am Prinzip der Convivência orientierte Programme<br />

sind erwiesenermaßen effizient.<br />

Unsere Aktionen:<br />

a) Basisarbeit: in allen Regionen, insbesondere in der nördlichen<br />

semiariden Region, soll <strong>die</strong> Basisarbeit intensiviert werden.<br />

Aber auch im ganzen Land soll in Zusammenarbeit zwischen<br />

Aktiv<strong>ist</strong>en verschiedenster Organisationen und Bewegungen<br />

<strong>die</strong> Wahrheit über <strong>die</strong> Transposição aufgezeigt, und über umfassendere<br />

Fragen im Bezug auf Wasser, Hydro-Business, <strong>die</strong><br />

Revitalisierung sowie <strong>die</strong> Energiefrage berichtet werden. Es<br />

sollen <strong>die</strong> Alternativen verbreitet werden und das Bewusstsein<br />

der Aktiv<strong>ist</strong>en sowie <strong>die</strong> Organisierung der Bevölkerung<br />

gestärkt werden.<br />

b) Organisation und Artikulation: Durchführung von Regionalkonferenzen<br />

auf Bundesstaatsebene, Schaffung neuer<br />

Komitees gegen <strong>die</strong> Transposição; Erweiterung der regionalen<br />

Artikulationen innerhalb und außerhalb des Flusstals mithilfe<br />

der Koordinationsgruppe <strong><strong>die</strong>ser</strong> Konferenz; Vertiefung der<br />

Alternativen der Wasserversorgung wobei vom tatsächlichen<br />

Bedarf ausgegangen werden soll (Atlas des Nordostens der<br />

nationalen Wasserbehörde da ANA und Initiativen des NGO<br />

Netzwerkes ASA).<br />

c) Kommunikation: <strong>die</strong> breite Masse über <strong>die</strong> Themen São<br />

Francisco, semiaride Region und Transposição informieren,<br />

wobei drei verschiedene Zielgruppen berücksichtigt werden<br />

sollen: Stadt- und Landbevölkerung sowie <strong>die</strong> Basis der sozialen<br />

Bewegungen; Gegenoffensive gegen <strong>die</strong> neue geplante<br />

Propaganda-Kampagne der Bundesregierung; Einbeziehung<br />

der Zuständigen für Öffentlichkeitsarbeit in den verschiedenen<br />

beteiligten Organisationen sowie Amateur-Journal<strong>ist</strong>en an<br />

der Basis (Netzwerk); stärker Radio und Internet nutzen und<br />

analysieren und verbreiten, was in den Me<strong>die</strong>n erscheint.<br />

d) Konfrontation: Durchführung von Protestmärschen und<br />

anderen kreativen Aktionen in Brasília und anderen Orten,<br />

wobei <strong>die</strong> Daten des nationalen Protest-Kalenders aufgegriffen<br />

werden sollen: das Thema des Rio São Francisco, der semiariden<br />

Region und der Transposição soll in <strong>die</strong> Aktionen des 8.<br />

März (internationaler Frauentag), des roten April (17. April,<br />

internationaler Tag des Kampfes der Landbevölkerung), 1.Mai<br />

(Tag der Arbeit), 10. –13. Juni Aktionswoche der ländlichen<br />

und städtischen Organisationen und des 4. Oktober Tag des<br />

heiligen Franziskus einbezogen werden.<br />

e) Kirchen: <strong>die</strong> genannten Themen in <strong>die</strong> Aktivitäten der Pastoralen<br />

einbeziehen, insbesondere in <strong>die</strong> Versammlung der<br />

brasilianischen Bischofskonferenz vom 2. bis 11. April 2008<br />

Am ersten April soll der “Tag der Lüge der Regierung und der<br />

Wahrheit des Volkes“ begangen werden. Dieser Tag wird zum<br />

zentralen Termin in unserem Kalender mit Protestaktivitäten<br />

und Aktionen zu Alternativen im ganzen Land.<br />

Am Ufer des Rio São Francisco, vor dem Hintergrund des<br />

Stausees, haben wir über <strong>die</strong> Schönheit und <strong>die</strong> Leiden des<br />

Flusses meditiert. Wir haben dem Fluss „einen Schluck Wasser“<br />

gegeben und haben uns von ihm verabschiedet und das<br />

Versprechen gegeben, das Leben zu verteidigen. <strong>Der</strong> praktische<br />

Ausdruck <strong>die</strong>ses Versprechens sind Mystik, Lernen und<br />

Aktion, wie es Dom Luiz Cappio ausgedrückt hat. Als Symbol<br />

nahm jede Delegation eine mit bunten Bändchen geschmückte<br />

Kalebasse nach Hause..<br />

Sobradinho 27. Februrar 2008.<br />

Umwelt<br />

Die Namen der Unterzeichner finden sich unter:<br />

www.brasiliennachrichten.de<br />

35


36<br />

Widerstand gegen <strong>die</strong> Ableitung des Rio São Francisco<br />

BBei dem Treffen in Sobradinho vom 25.bis zum 27. Februar<br />

analysierten <strong>die</strong> Teilnehmer/-innen <strong>die</strong> bestehenden Verhältnisse<br />

in Bezug auf <strong>die</strong> Wasserproblematik in den verschiedenen<br />

Regionen des Nordostens und entwickelten gemeinsame<br />

Strategien für das weitere Vorgehen.<br />

Mit der Ableitung eines Teils des Wassers des Rio São Francisco<br />

in <strong>die</strong> semi-ariden Gebiete des Nordostens Brasiliens<br />

will Präsident Lula ein bereits von mehreren Amtsvorgängern<br />

anvisiertes aber immer wieder verworfenes Vorhaben umsetzen.<br />

Die Bilder, <strong>die</strong> von der Regierung zur Durchsetzung <strong>die</strong>ses<br />

pharaonischen Vorhabens lanciert werden, sind eindringlich:<br />

dürstende, ausgezehrte Nordestinos auf ausgetrockneter Erde,<br />

<strong>die</strong> sowohl auf Regen als auch auf <strong>die</strong> Almosen der Regierung<br />

warten, während gleichzeitig einer der größten Flüsse Brasiliens<br />

sein kostbares Süßwasser ins Meer verschwendet.<br />

Diesen Bildern setzten <strong>die</strong> VertreterInnen von Fischervereinigungen,<br />

Kleinbauerorganisationen, Landlosenbewegugen,<br />

indigenen Völkern, Quilombolas (Nachfahren entfl ohener Sklaven),<br />

kirchlichen Gruppen und Gewerkschaften ihre täglichen<br />

Erfahrungen gegenüber: der Velho Chico, wie der Fluss im<br />

Nordosten liebevoll genannt wird, <strong>ist</strong> aufgrund der intensiven<br />

Ausbeutung der natürlichen Ressourcen (Abholzung der<br />

natürlichen Vegetation, Plantagenwirtschaft, Einleitung der<br />

Abwässer der urbanen Zentren und der Minen etc.) und der<br />

intensiven Bewässerungswirtschaft zu einem verschmutzten<br />

Rinnsal degra<strong>die</strong>rt worden, dessen Wassermassen nicht<br />

einmal mehr ausreichen, um in den sieben verschiedenen<br />

Staudämmen entlang des Flusslaufes genügend Energie zu<br />

erzeugen, geschweige denn den Fischern an den Flussufern<br />

eine Lebensgrundlage zu bieten. Gleichzeitig wurde betont,<br />

dass mit Hilfe eines angepassten Umgangs mit den unregelmäßig<br />

fallenden Niederschlägen (Bau von Z<strong>ist</strong>ernen, Auffangbecken,<br />

unterirdische Stauanlagen, angepasste Anbaumethoden<br />

etc.) ein würdiges Leben im semi-ariden Nordosten<br />

Brasiliens möglich <strong>ist</strong>.<br />

Darüber hinaus erläuterte Manuel Bonfi m, renommierter Bauingenieur,<br />

Hydrologe und ehemaliger Direktor des DNOCS<br />

(Nationale Behörde zur Bekämpfung der Dürre) - <strong>die</strong> Situation<br />

der Wasserversorgung im Nordosten Brasiliens aus wissenschaftlicher<br />

Sicht. In der Region fallen durchschnittlich zwischen<br />

600 und 800 mm im Jahr während <strong>die</strong> unterirdischen<br />

Wasserressourcen - bei einer nachhaltigen Nutzung – ausreichen<br />

würden, <strong>die</strong> gesamte Bevölkerung des Nordosten<br />

mit ausreichend Wasser zu versorgen. Somit <strong>ist</strong> nicht <strong>die</strong><br />

Verfügbarkeit, sondern vielmehr <strong>die</strong> ungerechte Verteilung<br />

Umwelt<br />

von Tobias Schmitt<br />

der Wasserressourcen der Grund dafür, dass große Teile der<br />

Bevölkerung in der Region unter Wassermangel leiden. Die<br />

bis auf <strong>die</strong> Kolonialzeit zurückreichenden Machtstrukturen<br />

des Coronialismo basieren auf dem selektiven Zugang zu<br />

den natürlichen Ressourcen wie Land und Wasser. So <strong>ist</strong> es<br />

keine Seltenheit, dass Familien nur wenige hundert Meter<br />

neben einem der Bewässerungskanäle leben und nicht über<br />

ausreichend Wasser für <strong>die</strong> Deckung der Grundbedürfnisse<br />

verfügen, während gleichzeitig Wasser in Form von Früchten<br />

(hauptsächlich Mango und Trauben) und Energie (Wasserkraftwerke<br />

und Agrartreibstoffe) aus der Region exportiert wird.<br />

Dabei hat insbesondere <strong>die</strong> Frage der Energiesicherheit und<br />

der Boom der sogenannten Biotreibstoffe den Druck auf den<br />

ländlichen Raum im Nordosten in den letzten Jahren enorm<br />

verstärkt. So kann derzeit ein rasanter Landnutzungswandel<br />

hin zu wasserintensiven Kulturen wie bewässerte Zuckerrohrplantagen<br />

für Ethanolproduktion festgestellt werden.<br />

Vor <strong>die</strong>sem Hintergrund wird es offensichtlich, dass durch das<br />

Ableitungsprojekt <strong>die</strong> Ursachen der Armut im Nordosten nicht<br />

angegangen werden, sondern ganz im Gegenteil <strong>die</strong> ungleiche<br />

Verteilung der natürlichen Ressourcen noch weiter verstärkt<br />

wird. Das Wasser des Rio São Francisco soll in erster Linie<br />

der exportorientierten intensiven Plantagenwirtschaft und der<br />

urbanen und industriellen Wasserversorgung <strong>die</strong>nen. Das von<br />

der Regierung Lula entwickelte Programm zur Beschleunigung<br />

des Wirtschaftswachstums (PAC), in dem das Ableitungsprojekt<br />

eine zentrale Komponente darstellt und in das in den nächsten<br />

Jahren Milliarden an Investitionen fl ießen sollen, <strong>ist</strong> somit ein<br />

weiteres erschreckendes Zeugnis für <strong>die</strong> technologische Fortschrittsgläubigkeit<br />

der Regierung Lula und gleichzeitig für <strong>die</strong><br />

enge Verknüpfung zwischen Politik und Agrobusiness.<br />

Somit war das Verhältnis zwischen den sozialen Bewegungen<br />

und der Regierung Lula zunächst einer der zentralen Diskussionspunkte<br />

auf der Konferenz… Bei der Frage nach der Art<br />

und Weise und der Radikalität des Vorgehens bestehen jedoch<br />

noch erhebliche Unterschiede zwischen den unterschiedlichen<br />

Bewegungen… Besonders vor dem Hintergrund, dass im Oktober<br />

<strong>die</strong>sen Jahres in ganz Brasilien Kommunalwahlen stattfi nden<br />

werden, müssen <strong>die</strong> Bewegungen im Stande sein, <strong>die</strong> Frage<br />

nach der Demokratisierung des Zugangs zu Wasser und zu<br />

Land in den Mittelpunkt der Debatten zu rücken. Somit war<br />

der Besuch einer von der Landlosenbewegung MST besetzten<br />

Bewässerungsfl äche am Ende der Konferenz, bei der Bischof<br />

Dom Cáppio gemeinsam mit den TeilnehmerInnen der Konferenz<br />

eine Kapelle einweihte, weit mehr als eine symbolische<br />

Solidaritätserklärung. ■


BN: Maria, du b<strong>ist</strong> aus dem Nordosten und arbeitest an der<br />

Universität in João Pessoa. Worin besteht deine Tätigkeit?<br />

Maria: Ich heiße Maria Socorro Borges Barbosa und arbeite<br />

an der Landesuniversität von Paraíba in der Abteilung „Untersuchung<br />

und Unterstützung von Volksbewegungen“. Dieser<br />

Bereich <strong>ist</strong> eng mit den Human-, Sprach- und Kunstwissenschaften<br />

verzahnt. Wir arbeiten eng mit Gewerkschaften,<br />

Vereinen und Gemeinden zusammen.<br />

Ich bin Gesundheitstechnikerin im Bereich der öffentlichen<br />

Gesundheit. Seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts<br />

gibt es in Brasilien verschiedenene Gesundheits-,<br />

Volks- und universitäre Bewegungen, <strong>die</strong> kaum miteinander<br />

kommunizieren. Es geht uns deshalb darum, Kontakte zwischen<br />

ihnen herzustellen und insbesondere <strong>die</strong> Arbeit an der<br />

Universität stärker mit derjenigen in den Krankenhäusern zu<br />

verknüpfen. Die Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht:<br />

Brasilien verfügt über ein einheitliches Gesundheitssystem.<br />

Interview mit<br />

Maria do Socorro Borges Barbosa<br />

1986 wurden auf der Nationalen Konferenz für Gesundheit<br />

drei verbindliche Prinzipien festgelegt, nämlich <strong>die</strong> Prinzipien<br />

der Universalität, der Gleichheit und der Vernetzung der<br />

Gesundheitsmaßnahmen. In der Verfassung Brasiliens <strong>ist</strong> das<br />

Recht aller auf Gesundheit festgeschrieben.<br />

BN: Wie geht ihr dabei an der Universität vor?<br />

An unserer Universität sind vier Gruppen tätig, <strong>die</strong> sich mit<br />

unterschiedlichen Themen im Gesundheitsbereich beschäftigen:<br />

Es sind <strong>die</strong> Gesundheitsfürsorge für <strong>die</strong> Indigenen, <strong>die</strong><br />

Lage der Jugend auf dem Land, <strong>die</strong> Gesundheitssituation<br />

der Straßenkinder und <strong>die</strong> Gesundheit am Arbeitsplatz. Die<br />

Gruppe, <strong>die</strong> sich um <strong>die</strong> Straßenkinder kümmert, sammelt z.B.<br />

Fakten zu der gesundheitlichen Situation der auf der Straße<br />

lebenden Kinder und Jugendlichen und gibt Publikationen zu<br />

<strong>die</strong>sem Thema heraus, während <strong>die</strong> Gruppe „Gesundheit am<br />

Arbeitsplatz“ sich damit auseinandersetzt, wie <strong>die</strong> arbeitende<br />

Bevölkerung stärker in den Prozess des Abbaus von gesundheitlichen<br />

Belastungen durch <strong>die</strong> Arbeit einbezogen werden kann.<br />

Darüberhinaus begleiten und beraten wir <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Gruppen, sorgen für den Austausch und <strong>die</strong> Weitergabe von<br />

Kenntnissen sowie das Herstellen von Kontakten.<br />

BN: Wie läuft das konkret ab?<br />

Maria: Die Gruppen kommen zu uns und wollen Hilfe. Dann<br />

begleiten wir sie. Wir arbeiten insbesondere mit <strong>die</strong>sen Gruppen<br />

im Gesundheitsrat der Stadt João Pessoa zusammen.<br />

Aufgrund des Gesetzes sind <strong>die</strong>se Gesundheitsräte überall<br />

in Brasilien in den Munizipien verankert. <strong>Der</strong> Gesundheitsrat<br />

liefert <strong>die</strong> Garantie dafür, dass <strong>die</strong> Mitwirkung der Bevölkerung<br />

am Gesundheitswesen funktioniert. Jeder kann sich übrigens<br />

um einen Posten im Gesundheitsrat bewerben.<br />

BN: Wie setzt sich der Gesundheitsrat zusammen?<br />

Maria: 50% der Mitglieder sind Vertreter einer Volksorganisation,<br />

also Repräsentanten der Frauenbewegung, der verschiedensten<br />

Hilfsgruppen (Lepra, Aids usw.), der Stadtviertelgruppen, der<br />

Schwarzenbewegung, der Universitäten, der Homosexuellen,<br />

der Pensionierten, der Studentenschaft und der Volksbewegungen<br />

für Gesundheit. <strong>Der</strong> Gesundheitsrat von João Pessoa<br />

hat insgesamt 24 Mitglieder. Dieses Gremium berät nicht nur,<br />

es entscheidet auch mit in Gesundheitsfragen. 50% seiner<br />

Mitglieder, also 12 Personen, müssen Vertreter der bereits<br />

genannten Gruppen sein. Weitere 25 % sind vom Bürgerme<strong>ist</strong>er<br />

dazu berufene Fachleute aus dem Gesundheitsbereich wie<br />

Ärzte, Physiotherapeuten, Radiologen und Krankenschwestern.<br />

Ein weiteres Sechstel setzt <strong>die</strong> Regierung ein, und das restliche<br />

Sechstel stellen <strong>die</strong> Vertreter des Gesundheitswesens.<br />

Das sind Direktoren, Krankenhauseigentümer, Leute aus der<br />

Verwaltung. Das brasilianische Gesundheitssystem <strong>ist</strong> teilsweise<br />

staatlich, teilweise privat.<br />

Das Interview führten Bernd Lobgesang und Gerborg Me<strong>ist</strong>er.<br />

BN: Welche Themen werden im Gesundheitsrat besprochen?<br />

Maria: Die besprochenen Themen sind allgemein <strong>die</strong> Organisation<br />

und <strong>die</strong> Kontrolle des Gesundheitswesens, <strong>die</strong> Planung<br />

des Haushalts, <strong>die</strong> Verteilung der Gelder und <strong>die</strong> Planung von<br />

Präventivmaßnahmen gegen Epidemien. <strong>Der</strong> Gesundheitsrat<br />

<strong>ist</strong> nicht <strong>die</strong> ganze Zeit als Plenum aktiv, sondern sechs<br />

bis acht Monate im Jahr teilt es sich in vier verschiedene<br />

Arbeitsgruppen auf, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> anfallenden Probleme und<br />

Aufgaben beraten. Dabei geht es natürlich in erster Linie um<br />

<strong>die</strong> Finanzen und um <strong>die</strong> Planung des Gesundheitshaushaltes.<br />

Die Munizipien sind gesetzlich dazu verpfl ichtet, 15% ihrer<br />

Gesamtausgaben für Gesundheitsaufgaben zur Verfügung<br />

zu stellen. Auf der Ebene der Bundesstaaten sind es 12%,<br />

während der Bund 10% für Gesundheitsprojekte ausgeben<br />

muss. In João Pessoa wurde <strong>die</strong>ses Ziel erreicht, Paraíba hat<br />

<strong>die</strong> Vorgaben verfehlt. Auch der Bund hat sich an <strong>die</strong> Forderungen<br />

des Gesetzes nicht gehalten.<br />

BN: Welche Rolle spielt überhaupt noch der Bürgerme<strong>ist</strong>er?<br />

Maria: <strong>Der</strong> Bürgerme<strong>ist</strong>er sammelt <strong>die</strong> Pläne des Gesundheitsrates<br />

und der anderen Ratsorganisationen in seinem Munizip<br />

ein und macht daraus einen Vierjahresplan, dem wiederum<br />

<strong>die</strong> Räte zustimmen müssen. <strong>Der</strong> Vierjahresplan muss zudem<br />

auch noch vom Stadtrat abgesegnet werden.<br />

BN: Funktioniert das?<br />

Interview<br />

Maria: Doch, das klappt. Gut an dem Verfahren <strong>ist</strong> vor allem,<br />

dass <strong>die</strong> Bevölkerung aktiver an der Arbeit der Kommune<br />

Anteil hat als früher, weil sie mitbestimmt. Die Leute wollen<br />

wissen, was mit ihren Steuergeldern passiert. Dafür <strong>ist</strong> auch<br />

IIImmm Im IIIm Im Im IIIm I GGGeee Ge GGGe Ge Ge GGGe G sssppprrräääccchhh<br />

37


38<br />

<strong>die</strong> Umstrukturierung des Gesundheitswesens mitverantwortlich:<br />

Bis 1994 war es so, dass es einen Gesundheitsposten<br />

für mehrere Stadtviertel gab. Jetzt gibt es ein neues Modell.<br />

Ein Team von Gesundheitsspezial<strong>ist</strong>en versorgt ein bestimmtes<br />

Viertel mit 700 Familien, das sind grob gerechnet 4.500<br />

Personen. Diese Gruppe verfertigt Stat<strong>ist</strong>iken über <strong>die</strong> Zusammensetzung<br />

der Bevölkerung in ihrem Viertel und über<br />

<strong>die</strong> vorkommenden Krankheiten. Sie sammelt direkt vor Ort<br />

Fakten und verwaltet sie auch. Zu <strong>die</strong>sen Teams gehören jeweils<br />

ein Arzt oder eine Ärztin, eine Krankenschwester oder<br />

ein Krankenpfl eger, ein Zahnarzt, ein Zahntechniker und sechs<br />

Gesundheitsbeauftragte aus dem Viertel. Sie wissen genau,<br />

wieviele Leute Aids oder Lepra haben, wer Drogen nimmt usw.<br />

Das brasilianische Modell orientiert sich an den Erfahrungen,<br />

<strong>die</strong> auf Kuba gemacht wurden.<br />

BN: Seit wann gibt es <strong>die</strong>ses neue System?<br />

Maria: Es wurde 1996 unter Staatspräsident Cardoso eingeführt.<br />

Es ergab sich konsequent aus den Richtlinien, welche<br />

<strong>die</strong> Verfassung von 1985 festlegt. 180 solcher Teams von<br />

Gesundheitsarbeitern gibt es allein in João Pessoa.<br />

BN: Wie b<strong>ist</strong> du zu <strong><strong>die</strong>ser</strong> Arbeit gekommen?<br />

Maria: Ich bin keine Theoretikerin, sondern Praktikerin. Ich<br />

stamme aus der Frauenbewegung und bin Mitglied im Nationalen<br />

Frauenverbund für Gesundheit. Wir wollen <strong>die</strong> Gleichheit<br />

zwischen Mann und Frau und auch unter den Frauen verwirklichen.<br />

Speziell <strong>die</strong> Frauen betreffenden Gesundheitsprobleme<br />

wollen wir gelöst sehen. Es gibt Klassenunterschiede und Geschlechtsunterschiede,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong>sem Ziel entgegenstehen.<br />

BN: Nenne bitte einige Beispiele.<br />

Maria: Ein großes Problem <strong>ist</strong> <strong>die</strong> hohe Sterblichkeit unter<br />

Schwangeren während der Schwangerschaft, während der<br />

Geburt des Kindes und kurz danach. Während eine von<br />

10.000 europäischen Frauen während <strong><strong>die</strong>ser</strong> Zeit stirbt, <strong>ist</strong><br />

es in Brasilien eine von zwanzig. Dafür gibt es vier wichtige<br />

Gründe: durch <strong>die</strong> Schwangerschaft ausgelöste Krankheiten,<br />

Blutungen, Infektionen und Schwangerschaftsabbrüche<br />

durch Pfuscher. Die durch <strong>die</strong> Schwangerschaft ausgelösten<br />

Krankheiten können oft nicht behandelt werden, weil viele<br />

Frauen nicht <strong>die</strong> Möglichkeit haben, an den regelmäßigen<br />

ärztlichen Untersuchungen teilzunehmen. Junge Frauen, Favelabewohnerinnen<br />

und Schwarze sind oft <strong>die</strong> Opfer, ebenso<br />

auch generell Frauen von der Peripherie der Städte und vom<br />

Land. Um gegen <strong>die</strong>se Missstände vorzugehen, haben sich <strong>die</strong><br />

Komitees zur Schwangerschaftsuntersuchung gebildet. Das<br />

sind Zusammenschlüsse unterschiedlicher Organisationen, zu<br />

denen Frauengruppen und Gesundheitsverbände gehören.<br />

BN: Haben sie bereits etwas erreicht?<br />

Interview<br />

Maria: Es gibt bereits Verbesserungen. Es sind zwar immer<br />

noch regionale Unterschiede vorhanden, aber generell gab es<br />

während der letzten zehn Jahre einige Fortschritte. Das trifft<br />

sowohl auf <strong>die</strong> allgemeine Behandlung in den Krankenhäusern<br />

als auch auf <strong>die</strong> Versorgung der Schwangeren zu. Die Situation<br />

hat sich zusätzlich seit dem Amtsantritt Lulas spürbar gebessert.<br />

Unter ihm wurde das Nationale Sekretariat für Frauenpolitik<br />

ins Leben gerufen. Es <strong>ist</strong> das erste Mal in der brasilianischen<br />

Geschichte, dass ein derartiger Schritt getan wurde. Dieses<br />

Sekretariat hat den Status eines Min<strong>ist</strong>eriums. Es wird von<br />

Nilcéia Freire, einer Femin<strong>ist</strong>in und Medizinerin, geleitet. Die<br />

zweite große Reform unter Lula war <strong>die</strong> Nationale Konferenz<br />

über <strong>die</strong> Frauenpolitik, <strong>die</strong> 2004 in Brasília stattfand und einen<br />

nationalen Gesundheitsplan für Frauen mit vier Schwerpunkten<br />

herausarbeitete: <strong>Der</strong> erste Schwerpunkt umfasst <strong>die</strong> Bereiche<br />

persönliche Unabhängigkeit, Gleichheit am Arbeitsplatz und<br />

Erringung staatsbürgerlicher Rechte, der zweite bezieht sich<br />

auf <strong>die</strong> Erziehung, <strong>die</strong> von sex<strong>ist</strong>ischen Mustern befreit werden<br />

soll, der dritte auf <strong>die</strong> speziellen Frauenrechte im Bereich der<br />

Gesundheit, wozu <strong>die</strong> sexuelle Selbstbestimmung gehört. <strong>Der</strong><br />

vierte und letzte Bereich befasst sich mit der Gewalt gegen<br />

Frauen, wozu <strong>die</strong> häusliche Gewalt, allgemein sexuelle Übergriffe<br />

und Ähnliches gehören.<br />

Die zweite Konferenz fand ebenfalls in Brasília im Juli 2007<br />

statt. Sie erweiterte <strong>die</strong> auf der ersten Konferenz gefassten<br />

Beschlüsse. Dazu gehören <strong>die</strong> Verbesserung der Lebenssituation<br />

der Frauen auf dem Land und <strong>die</strong> Beteiligung der Frauen<br />

an der politischen Macht. Das Leben der Frauen auf dem Land<br />

wird immer noch von harter körperlicher Arbeit geprägt. In der<br />

Legislative und Exekutive Brasiliens spielen Frauen eine nur<br />

untergeordnete Rolle. In Brasilien gibt es immer noch große<br />

Vorurteile gegen Frauen in Machtpositionen. Die Hausarbeit<br />

<strong>ist</strong> dagegen weitgehend <strong>die</strong> Aufgabe der Frauen.<br />

BN. Welche gesetzlichen Maßnahmen gibt es gegen <strong>die</strong> an<br />

Frauen verübte Gewalt?<br />

Maria: Von großer Bedeutung <strong>ist</strong> das Gesetz Maria da Penha.<br />

Es wurde im August 2006 verabschiedet. Dieses Gesetz<br />

wendet sich gegen <strong>die</strong> häusliche Gewalt und regelt seine<br />

Bestrafung. Maria da Penha, eine Frau aus Ceará, <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Namensgeberin.<br />

Sie war eine große Kämpferin für Frauenrechte.<br />

Sie wurde von ihrem Mann angeschossen und <strong>ist</strong> seitdem<br />

querschnittsgelähmt.<br />

Das Gesetz verlängert um das Dreifache <strong>die</strong> Haftzeit für den<br />

männlichen Aggressor. Im Höchstfall kann eine Strafe von<br />

sechs Jahren gegen ihn ausgesprochen werden. Außerdem<br />

verbessert es <strong>die</strong> Schutzmechanismen für <strong>die</strong> Frauen. Wenn<br />

<strong>die</strong> Frau es will, kann der Aggressor in fl agranti festgenommen<br />

werden. Er kann vorsorglich inhaftiert werden. Vorher<br />

wurden oft wirkungslose Geldstrafen verhängt, jetzt muss er<br />

ins Gefängnis. <strong>Der</strong> Richter muss den Täter dazu verurteilen,<br />

an Programmen zur sozialen Wiedereingliederung teilzunehmen.<br />

<strong>Der</strong> Aggressor muss zudem das Haus verlassen. Auch<br />

<strong>die</strong> Kinder müssen vor ihm geschützt werden. Die Frau erhält<br />

einen Anspruch auf soziale Absicherung. Sie kann sechs Monate<br />

der Arbeit fernbleiben, damit ihre psychische und physische<br />

Wiederherstellung gelingt, und erhält während <strong><strong>die</strong>ser</strong> Zeit<br />

weiter ihren Lohn. <strong>Der</strong> Unternehmer zahlt davon den ersten<br />

Monatslohn, <strong>die</strong> übrigen Monate werden vom Sozialsystem<br />

übernommen. ■


„Cidade Nova Atlântida“, „Neu-Atlantis“ oder „Ecocity Brasil“:<br />

So heißt das größte Tourismusprojekt in der Geschichte Brasiliens,<br />

das rund 15 Milliarden US-Dollar kosten soll. Investor<br />

<strong>ist</strong> <strong>die</strong> spanisch-brasilianische Firmengruppe „Nova Atlântida“.<br />

Diese internationalen Tourismusentwickler wollen nicht<br />

kleckern. Sie wollen nicht weniger als 20 Hotels, sechs Ferienapartmentblocks,<br />

einen Yachthäfen und wenigstens sieben<br />

Golfplätze an <strong>die</strong> Küste der Gemeinde Itapipoca, etwa 150<br />

Kilometer nördlich von Fortaleza, der Hauptstadt des nordostbrasilianischen<br />

Bundeslandes Ceará, klotzen. Natürlich mit<br />

Solarenergie auf dem Dach!<br />

Doch der von „Nova Atlântida“ beanspruchte 3.100 ha große,<br />

herrliche Küstenabschnitt mit „Traumstränden“, Dünen und<br />

Lagunen <strong>ist</strong> der althergebrachte Lebensraum des indigenen<br />

Volkes der Tremembé. Sie wollen mehrheitlich nicht ihr Land<br />

für das Tourismusprojekt hergeben – schon gar nicht für ein<br />

Butterbrot und ein Ei. Informationen der staatlichen Indianerschutzbehörde<br />

FUNAI zufolge leben in <strong>die</strong>sem Küstenabschnitt<br />

120 Tremembé-Familien. Schon seit 2002 versuche <strong>die</strong> Firmengruppe<br />

<strong>die</strong> Indianer von ihrem Land zu vertreiben, sagt<br />

der Koordinator der FUNAI von Ceará, Oliveira Júnior. Aber<br />

„Nova Atlântida“ behauptet, sie habe das Land bereits 1978<br />

rechtmäßig erworben. Damals habe es keine Ureinwohner in<br />

<strong>die</strong>sem Gebiet gegeben. Nicht „Nova Atlântida“ sei also der<br />

Aggressor, sondern <strong>die</strong> Tremembé-Familien, <strong>die</strong> sich erst später<br />

illegal auf dem Land niedergelassen hätten und eigentlich<br />

gar keine Indios seien, sondern lediglich „landlose“ Brasilianer.<br />

Francisco Veríssimo, einer der Tremembé-Ältesten, versichert<br />

allerdings: „Ich bin hier geboren und zähle heute 73 Jahre.<br />

Meine Eltern und Großeltern sind ebenfalls hier geboren. Wir<br />

leben hier von der Jagd, dem Anbau von Maniok und dem<br />

Fischen - wie unsere Vorfahren.“<br />

Tourismusentwicklung ohne Rücksicht<br />

auf <strong>die</strong> Menschen<br />

Auch der Geograph Jeovah Meireles von der Universität Ceará<br />

bestätigt <strong>die</strong> traditionellen Landrechte der Tremembé von São<br />

José und Buriti. Mit seinem Urteil hat sich der Wissenschaftler<br />

allerdings in <strong>die</strong> sprichwörtliche „Schusslinie“ von „Nova<br />

Atlântida“gebracht. Doch in einem offenen Brief unterstützen<br />

über 240 Institutionen, Wissenschaftler und Journal<strong>ist</strong>en <strong>die</strong><br />

Position Meireles‘. Zu den Unterstützern des Wissenschaftlers<br />

zählt der ehemalige „Swissair“-Geschäftsführer René Schärer,<br />

der seit 1992 in Ceará lebt und dort sowohl das „Instituto<br />

Terramar“ zur Unterstützung der traditionellen Fischer und<br />

Küstenbewohner als auch das alternative Tourismusprojekt<br />

»Prainha do Canto Verde« gegründet hat. René Schärer:<br />

»Hier in Ceará <strong>ist</strong> es noch üblich, dass <strong>die</strong> vermögende Klasse<br />

sich als Besitzer des Staates aufführt und sich kaum um den<br />

Schutz der traditionellen Küstenbevölkerung kümmert. Sie<br />

befi ehlt und zerstört, sei es um an der Garnelenzucht, der<br />

Fischerei, am Tourismus oder an anderen Geschäften, egal<br />

was, zu ver<strong>die</strong>nen.«<br />

Spuren bis in <strong>die</strong> Schweiz<br />

Indigene<br />

„Neu-Atlantis“<br />

Ökotourismus-City raubt Indianerland<br />

Geldwäsche auf Kosten von Ureinwohnern und Natur<br />

von Karl Emmerich<br />

Eigentlich wollte „Neu-Atlantis“ mit den Arbeiten an seiner<br />

Tour<strong>ist</strong>enstadt schon vor vier Jahren beginnen. Doch 2004<br />

verfügte das brasilianische Justizmin<strong>ist</strong>erium <strong>die</strong> Einstellung<br />

der Arbeiten aufgrund neuer Fakten, <strong>die</strong> bei der Abnahme der<br />

ersten Umweltverträglichkeitsprüfung noch nicht vorgelegen<br />

hätten. Bei <strong>die</strong>sen Fakten, so bestätigt das Sekretariat der<br />

39


40<br />

Umweltbehörde in Ceará, handelt es sich um <strong>die</strong> Anwesenheit<br />

der Tremembé. Ein abschließendes Urteil zum Landkonflikt<br />

steht noch aus.<br />

Inzwischen laufen polizeiliche Untersuchungen gegen Ripoll<br />

Mari, den Präsidenten von „Neu-Atlantis“. Es geht um den<br />

Verdacht auf Steuerhinterziehung und Geldwäscherei. Ripoll<br />

Mari <strong>ist</strong> dabei kein unbeschriebenes Blatt bei den internationalen<br />

Mafia-Jägern. Schon vor über 15 Jahren gingen Schweizer<br />

Mafia-Ermittler dem Verdacht nach, dass Ripoll Mari Gelder<br />

der italienischen Mafia in <strong>die</strong> Schweiz transferiert habe und<br />

mit einem gigantischen Tourismusprojekt waschen wolle.<br />

1991 arbeitete Fausto Cattaneo in <strong>die</strong>sem Fall als verdeckter<br />

Ermittler. Wie der tourismuskritische „Arbeitskreis Tourismus<br />

und Entwicklung“ (Akte) recherchierte, hat das Schweizer<br />

Justizmin<strong>ist</strong>erium aber den Polizeiermittler zurückgepfiffen<br />

und <strong>die</strong> Untersuchung eingestellt. „Akte“ sagt dazu: „Cattaneo<br />

erklärte damals in einem Interview, der Verbindungsmann<br />

zu Ripoll Mari habe ihm vom Plan eines Neu-Atlantis in Mato<br />

Grosso erzählt, einem Tourismusprojekt, mit dem <strong>die</strong> Mafia<br />

Geld waschen wolle. Seiner Meinung nach <strong>die</strong>nte der Entscheid<br />

des Justizmin<strong>ist</strong>eriums der Deckung der mafiösen Kriminellen<br />

rund um Neu-Atlantis.“ <strong>Der</strong> verdeckte und schließlich ausgebremste<br />

Ermittler Cattaneo lebt heute in Bern und will nach<br />

Informationen des „Arbeitskreises Tourismus und Entwicklung“<br />

den Fall „Nova Atlântida“ nicht kommentieren.<br />

Aber nicht nur bei den Finanzen des dubiosen Mega-Projekts<br />

<strong>ist</strong> <strong>die</strong> Schweiz mit im Geschäft: Als Entwicklungsfirma für<br />

das Vorhaben zeichnet <strong>die</strong> SOAR BAU verantwortlich - mit<br />

Hauptsitz in Zürich und einem Büro in Berlin.<br />

„Ecocity <strong>ist</strong> mit mehr als 5.000 Hektar der erste ökologisch<br />

geplante Tour<strong>ist</strong>enkomplex der Welt. Geplant sind ca. zwanzig<br />

Anzeige<br />

Mit dem Auge fürs Wesentliche<br />

5-Sterne-Hotels, 2.000 Bungalows, eine Marina sowie sieben<br />

Golfplätze. Location: 61/2 Stunden Flugzeit von Europa, 6<br />

Stunden von den USA, 8 Stunden von Asien.“ So pre<strong>ist</strong> <strong>die</strong><br />

schweizerisch-deutsche Bau- und Architektenfirma das Skandalprojekt<br />

in Ceará an.<br />

SOAR BAU-Verwaltungsratspräsident Walter Hediger bestätigte<br />

im vergangenen Jahr gegenüber dem „Arbeitskreis Tourismus<br />

und Entwicklung“, dass SOAR BAU finanziell bei der Planung an<br />

Neu-Atlantis beteiligt <strong>ist</strong> und dort auch gerne eigene Projekte<br />

realisieren möchte. Doch wisse er weder von einem Landkonflikt<br />

mit den Tremembé noch von Untersuchungen rund um den<br />

Präsidenten von „Neu-Atlantis“ wegen Geldwäscherei. „Nova<br />

Atlântida <strong>ist</strong> eine ausgesprochen seriös und kompetent arbeitende<br />

Firma. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in solche<br />

Sachen verwickelt <strong>ist</strong>“, erklärte Walter Hediger gegenüber<br />

dem „Arbeitskreis Tourismus und Entwicklung“.<br />

Vor Ort im brasilianischen Ceará geht inzwischen „Nova Atlântida“<br />

im Gegenzug gerichtlich gegen Jehovah Meireles vor. Außerdem<br />

wurde er bereits dreimal von Ermittlern des brasilianischen<br />

Geheim<strong>die</strong>nstes ABIN aufgesucht und befragt. Die bislang<br />

gegen das Tourismusprojekt standhafte Tremembé-Gemeinde<br />

wiederum erhielt im vergangenen Jahr dreimal Besuch vom<br />

Justizmin<strong>ist</strong>er sowie vom Vizegouverneur Cearás. Meireles:<br />

„Sie wollten zwischen den Tremembé und den Interessen von<br />

Nova Atlântida vermitteln.“ Antwort der Ureinwohner: „Unser<br />

Land <strong>ist</strong> keine Verhandlungssache!“ ■<br />

weitere Informationen:<br />

www.soarbau.de/international.html<br />

www.ecocitybrasil.com<br />

Indigene<br />

www.pebe-media.de

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