1 Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe ist die ... - Adveniat
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20<br />
WWessen Konzerte arten jedes Mal in tropischkarnevaleske,<br />
zirzensische Happenings aus<br />
und haben dennoch philosophisch-politischen<br />
Tiefgang? Konzerte, bei denen sich<br />
das Publikum wie wild amüsiert, mitmacht,<br />
tanzt und trotzdem nachdenklich nach Hause<br />
geht, mit ein paar subversiven Ideen<br />
im Hinterkopf? Das bringt nur einer fertig<br />
- der stets selbstironisch-selbstkritische,<br />
fröhliche Tom Zé aus der Megametropole<br />
São Paulo, experimentierfreudigster Kompon<strong>ist</strong><br />
des Landes.<br />
Er stammt aus dem winzigen Dorf Irará<br />
in Bahia, stu<strong>die</strong>rte Musik bei dem vor den<br />
Nazis nach Brasilien geflüchteten Hans-<br />
Joachim Koellreutter, einem Schüler Paul<br />
Hindemiths, und führte mit Gilberto Gil,<br />
Caetano Veloso, Gal Costa und anderen<br />
<strong>die</strong> künstlerisch-musikalische Erneuerungsbewegung<br />
„Tropicalismo“mitten in<br />
der Diktaturzeit an.<br />
Und dann das - der rebellischste, kreativste<br />
Tropikal<strong>ist</strong> von allen, der als einziger den<br />
Idealen der Bewegung wirklich treu bleibt,<br />
fällt für zwei Jahrzehnte in Vergessenheit,<br />
wird vom Musikmarkt geschnitten. Bis<br />
David Byrne von den „Talking Heads“ ihn<br />
durch Zufall wiederentdeckt und in den<br />
USA mehrere Tom-Zé-Alben herausbringt.<br />
Die Musikzeitschrift „Rolling Stone“ nimmt eines davon in <strong>die</strong><br />
L<strong>ist</strong>e der 150 besten CDs der neunziger Jahre auf. Keinem<br />
anderen Brasilianer widerfuhr <strong>die</strong>se Ehre. Doch lassen wir ihn<br />
selbst zu Wort kommen:<br />
„Ich bin in Bahia aufgewachsen und habe seit meiner Kindheit<br />
Thomas Mann gelesen, der <strong>ist</strong> bis heute mein Lieblingsautor<br />
geblieben. ‚Joseph und seine Brüder‘, zum Beispiel, habe ich<br />
bestimmt schon fünf-, sechsmal gelesen. Mein Opa hat Tabak<br />
nach Deutschland exportiert, der dort richtig berühmt war.<br />
Thomas Mann spricht ja an bestimmten Stellen über Zigarren,<br />
erwähnt dabei sogar <strong>die</strong> aus Cachoeira in Bahia. 1953<br />
habe ich mit meiner ersten Freundin im Auto des deutschen<br />
Aufkäufers, eines Herrn Becker, der immer mal zu uns kam,<br />
herumgeschmust. Während des Zweiten Weltkriegs hat man<br />
dessen Frau hier eingesperrt, weil sie Deutsche war - damals<br />
wurden <strong>die</strong> Deutschen hier ja verfolgt.<br />
Mein erstes Konzert in Deutschland gab ich in Ostberlin. Mit<br />
dem Auto fuhr ich von Paris aus dorthin, kam nachmittags im<br />
Nebel an und hatte eine regelrecht kosmische Angst - denn<br />
<strong>die</strong> ganze Kindheit hindurch galt Berlin für mich immer als<br />
Zentrum des Horrors, der Unmenschlichkeit. Und auf einmal<br />
fahre ich dorthin. Mit dem Auto! Ich hatte Horrorgefühle, es<br />
war nicht zu glauben! In Ostberlin habe ich <strong>die</strong>se großen Al-<br />
Kultur<br />
Tom Zé<br />
Musiker, Avantgard<strong>ist</strong>, Provokateur<br />
von Klaus Hart<br />
leen bewundert, ich fand <strong>die</strong> Stadt angenehm. Was für eine<br />
Überraschung - denn ich dachte, in Deutschland <strong>ist</strong> alles finster,<br />
unheimlich, furchtbar, <strong>die</strong> Deutschen inbegriffen. Und dann<br />
auf einmal so sympathische Leute dort! Für mich gibt es zwei<br />
sympathische Völker in Europa - nach den Italienern sind das<br />
zu meiner eigenen Überraschung <strong>die</strong> Deutschen. Die sind liebevoll<br />
- sogar <strong>die</strong>se Riesen, <strong>die</strong>se so Ernsten, auch <strong>die</strong>, <strong>die</strong> so<br />
brummig-verschlossen erscheinen. Alle sind dermaßen höflich<br />
- wir haben dort nur wunderbare Erfahrungen gemacht. Also<br />
wirklich, Italiener und Deutsche sind <strong>die</strong> sympathischsten in<br />
Europa. Die Franzosen, das weiß man ja, sind unerträglich<br />
- der Herr verzeihe mir!<br />
Meine Texte sind häufig eine Art Dadaismus (fängt an zu<br />
singen) ... Als ich in Brasilien in Vergessenheit geriet, habe<br />
ich sehr gelitten, mich aber nie aufgegeben und auch nie beklagt.<br />
Denn ich wusste einfach nicht, ob meine Musik denn<br />
wirklich gut war. So ab 1973 dachte ich, meine Musik sei zu<br />
schwierig, zu schlecht gemacht, da sie ja keiner wollte. Das<br />
tat mir weh. Und dann kauft David Byrne zufällig in Rio de<br />
Janeiro <strong>die</strong>se Platte ‚Estudando Samba‘, von der, als sie herauskam,<br />
kein Mensch Notiz genommen hatte. Durch David<br />
Byrne kam ich mit <strong><strong>die</strong>ser</strong> Platte wieder mit der Welt in Kontakt.<br />
Nur deshalb arbeite ich jetzt nicht in einer Tankstelle in<br />
meinem Heimatort Irará.