1 Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe ist die ... - Adveniat
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Was habe ich mich geschämt, dass ich keinen Erfolg hatte,<br />
mich deshalb <strong>die</strong> Leute so anschauten! Warum packt der es<br />
denn nicht? Und dann bin ich plötzlich in der US-Billboard-Hitparade.<br />
Ich las das wie <strong>die</strong> Bibel - ich sozusagen in der Bibel!<br />
Meine Musik <strong>ist</strong> eben anders - trotz des Erfolgs in den USA und<br />
Europa wurde ich erst ab 1998 hier wieder als brasilianischer<br />
Musiker wahrgenommen. Dabei sind meine experimentellsten<br />
Musikstücke Sambas! Ich bin weiterhin ein experimenteller<br />
Tropikal<strong>ist</strong>. Nicht weil ich besser bin als <strong>die</strong> andern, sondern<br />
weil ich andere Sachen einfach nicht kann. Ich kriege einfach<br />
keine wunderschönen Melo<strong>die</strong>n hin, welche <strong>die</strong> Leute in ihrem<br />
beschaulichen Leben singen könnten.<br />
Meine Inspiration <strong>ist</strong> <strong>die</strong>se Stadt, sind <strong>die</strong> gesellschaftlichen<br />
Widersprüche hier. Ich bin schließlich Schüler von Hans-Joachim<br />
Koellreutter, von Ernst Widmer - ich bin Schüler des<br />
praktisch-klassisch-mathematischen Deutschland! Ich bin<br />
kein Genie, ich arbeite manchmal 16 Stunden am Tag. Aber<br />
wenn <strong>die</strong> Sachen fertig sind, hasse ich Musik richtig, ich habe<br />
dann einen Horror davor! Eigentlich bin ich eine emotional<br />
unreife Persönlichkeit, <strong>die</strong> versucht, sich durch Arbeit im<br />
Gleichgewicht zu halten. Ich will <strong>die</strong> Wahrheit über Dinge<br />
sagen, <strong>die</strong> ich für ungerecht halte. Ja, mein Lied über São<br />
Paulo - soviel Schmerz, soviel Liebe! In <strong>die</strong>sem Lied sage<br />
ich: Es sind zwanzig Millionen Einwohner, aus allen Ecken,<br />
aus allen Nationen, <strong>die</strong> sich gegenseitig mit aller Höflichkeit<br />
verletzen, <strong>die</strong> wie unter Hochdruck durch <strong>die</strong> Stadt rennen,<br />
sich mit allem Hass lieben, und mit ganzer Liebe hassen. Ein<br />
Haufen Einsamkeit. Tausende Schornsteine und luftverpestende<br />
Autos. Kurios, dass damals, als ich das Lied schrieb,<br />
<strong>die</strong> Luftverpestung noch keine ernsthafte Gefahr darstellte.<br />
Heute <strong>ist</strong> sie es tatsächlich, sie <strong>ist</strong> verantwortlich dafür, dass<br />
so viele Leute an teils schweren Krankheiten leiden.<br />
Brasilien <strong>ist</strong> ein reiches Land, und dennoch gibt es hier Elend.<br />
Wieso nur sind <strong>die</strong> Reichen dermaßen blöd, dass sie immer<br />
noch mehr haben, noch reicher werden wollen, obwohl sie<br />
doch nicht einmal mehr frei auf der Straße laufen können?<br />
In Deutschland, in der Schweiz <strong>ist</strong> alles ausgeglichener - hier<br />
dagegen haben wir sehr Reiche und sehr Verelendete. Wenn<br />
du hier etwas Geld in der Schublade hast, musst du das vor<br />
allen verheimlichen. Wenn das dein Nachbar wüsste, würdest<br />
du am nächsten Tag überfallen. Die Leute in Deutschland<br />
machen sich doch einfach keinen Begriff davon, wie das hier<br />
in São Paulo oder in Rio <strong>ist</strong>. Ich mache Psychoanalyse, habe<br />
deshalb ein klinisches Auge für <strong>die</strong> Politik - ich lebe dank der<br />
Psychoanalyse - Freud hält mich aufrecht!<br />
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Kontakt Blokosso<br />
Gabriel Akou<br />
07633/92 98 51<br />
Kultur<br />
Wir sind eine junge Nation mit einer Physiognomie ohne klare<br />
Konturen - wir sind eine Art Vorentwurf eines Menschen, gesellschaftlich<br />
gesehen. Und einer der kuriosesten Aspekte <strong>ist</strong>,<br />
dass wir Sympathien für Dinge hegen, <strong>die</strong> wir eigentlich nicht<br />
wollen. Das <strong>ist</strong> natürlich, das gibt es häufig in der Geschichte<br />
der Nationen. Jeder deutsche Politiker hätte dafür tausend<br />
Beispiele parat. Unser großer Bildungsexperte Paulo Freire,<br />
von der Diktatur verfolgt und eingesperrt, schuf den Begriff<br />
‚den Unterdrücker freundlich wie einen Gast aufnehmen‘- das<br />
definiert Brasilien. Es bedeutet - man sieht den Unterdrücker<br />
agieren, lernt dessen Methoden und Techniken kennen. Doch<br />
wenn man dann auf einmal selbst Einfluss auf <strong>die</strong> Geschichte<br />
nehmen kann, handelt man genau wie zuvor der Unterdrücker!<br />
Das <strong>ist</strong> Brasilien! Es handelt wie ein Unterdrücker, weil es ja<br />
nur dessen Methoden kennt. Es hat den Unterdrücker in sich.<br />
Das <strong>ist</strong> unsere Tragö<strong>die</strong>, unsere Tragikomö<strong>die</strong>!<br />
Ich war schon mal Konzertkritiker von Karl-Heinz Stockhausen.<br />
Brasilien hat überall im Lande <strong>die</strong> verschiedensten<br />
Folklore-Stile, <strong>die</strong> verschiedensten Tänze, Improvisationen.<br />
Diese Folklore <strong>ist</strong> wie eine eigene Weltanschauung, wie es<br />
<strong>die</strong> Deutschen nennen würden - habe ich das deutsche Wort<br />
‚Weltanschauung‘ jetzt richtig ausgesprochen? Diese Folklore<br />
hat eine eigene Philosophie, eine eigene Metaphysik, <strong>ist</strong> wie<br />
eine andere Konzeption des Universums - es schaudert mich<br />
richtig, wenn ich so etwas sage.<br />
Es gibt sozusagen überall in Brasilien kleine kulturelle Zellen,<br />
ein unglaublicher Reichtum. Man sagt, in Brasilien gebe<br />
es keine Erdbeben. Lüge! Das Land wird ständig erschüttert<br />
durch <strong>die</strong> Kraft seiner Folklore. Wir armseligen Kompon<strong>ist</strong>en<br />
machen eigentlich nichts weiter, als aus <strong><strong>die</strong>ser</strong> reichen Folklore<br />
zu zitieren. Obwohl es natürlich auch <strong>die</strong> Wegwerfmusik gibt<br />
- das <strong>ist</strong> das andere Brasilien. Wenn du aber nach Pernambuco<br />
im Nordosten re<strong>ist</strong>, wenn du es überhaupt verstehst, hier <strong>die</strong><br />
richtigen Orte auszuwählen, <strong>die</strong> richtigen Platten zu kaufen,<br />
wirst du in allen Regionen außerordentliche Dinge finden.<br />
Aber wenn du TV glotzt und siehst, was da angepriesen wird<br />
als d i e Musik von Rio, Bahia, São Paulo - da findest du nur<br />
M<strong>ist</strong> und Schrott.“ ■<br />
Tom Zés Äußerungen wurden von Klaus Hart (Rio de Janeiro)<br />
aufgenommen und übersetzt.<br />
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