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MO_DOKU (4c) 01I06_RZ - MitOst e.V.

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mitost magazin extra ¬<br />

Die fremde Stadt - Buchtipp<br />

¬ Gerhild Baer, <strong>MitOst</strong>-Mitglied, Fürstenfeldbruck<br />

Gregor Thum:<br />

Die fremde Stadt Breslau 1945,<br />

2003, Siedler Verlag (2002<br />

Frankfurt/Oder),<br />

640 Seiten<br />

■ Wer wissen möchte, wie „Breslau“ zu „Wrocław“ wurde, für den ist das 2003 im Siedler Verlag erschienene Buch „Die fremde Stadt Breslau 1945“<br />

von Gregor Thum genau das Richtige. Der Leser erfährt, wie es ab 1945 mit der Stadt weiter geht. Zwar stellt 1945 einen markanten Schnitt in der<br />

Stadtgeschichte dar, der Übergang aber ist fließend. Nach dem für Deutschland verlorenen Weltkrieg sollte Polen deutsche Ostgebiete erhalten –<br />

dies nicht zuletzt als Entschädigung dafür, dass die Sowjetunion die polnischen Ostgebiete beanspruchte. Die Situation in Niederschlesien und<br />

damit auch in Breslau war eine ganz besondere: hier fand ein fast kompletter Bevölkerungswechsel statt, Polen musste sich bevölkerungstechnisch,<br />

administrativ und politisch ein im Grunde unbekanntes Gebiet aneignen. Dies war ein schwieriger und langwieriger Prozess: zunächst lebten<br />

Deutsche und Polen zusammen in der Stadt; eine polnische Verwaltung wurde aufgebaut, die aber in den ersten Jahren unmittelbar nach dem Krieg<br />

stets damit rechnen musste, dass die sowjetische Militärverwaltung ihr dazwischenfunkte – letztere ließ nicht zuletzt übergangsweise auch eine<br />

deutsche Verwaltung zu; nach und nach wurden die Deutschen ausgesiedelt, wobei jedoch verhindert werden musste, dass in der Stadt alles<br />

zusammenbrach, d.h. entsprechende Facharbeiter wurden zurückgehalten, bis Polen ihre Nachfolge antreten konnten. Dabei war es zunächst gar<br />

nicht so leicht, Polen zu finden, die sich in Niederschlesien niederlassen wollten. Werbeaktionen in Krakau etwa waren weitgehend erfolglos. Die<br />

meisten Siedler in Breslau kamen aus Zentralpolen, zumeist aus der Woiwodschaft Großpolen, (45,2 % laut Volkszählung am 31.12.1948); wesentlich<br />

weniger Siedler aus den ostpolnischen Gebieten, die an die Sowjetunion gefallen waren (24,1 %).<br />

Eine durch Krieg und Festungszeit stark zerstörte, durch sowjetische Reparationen und Ziegelabbau u.a. für die Rekonstruktion der Warschauer<br />

Altstadt gebeutelte Stadt musste wieder aufgebaut werden. Nicht zuletzt – und das wohl die schwierigste Aufgabe - sollte die neue Bevölkerung<br />

an diesem Ort, den deutsche Vertriebenenverbände teilweise weiterhin als den ihren reklamierten, heimisch werden. Das konnte nur mit Hilfe des<br />

Mythos der „wieder gewonnenen Gebiete“ geschehen, der – verkürzt gesagt – beanspruchte, mit den Westgebieten seien „urpolnische“ Gebiete<br />

zum polnischen Mutterland zurückgekehrt, deren vorherige Besiedlung durch Deutsche allenfalls als Besatzung zu verstehen sei. Von der<br />

Nachkriegszeit her betrachtet und vor allem im Hinblick auf die im Zweiten Weltkrieg durch Deutsche an Polen verübten Gräueltaten kein Wunder,<br />

dass Deutschland zum Feind Nummer eins erklärt wurde und – auch wenn dies ein irrsinniges und unmögliches Unterfangen war - deutsche<br />

Spuren aus dem Stadtbild zu entfernen versucht wurden. Mittels deutscher und polnischer Quellen untersucht Gregor Thum, genauestens und mit<br />

vielen Zitaten und Beispielen versehen, den Aufbau dieses Mythos und seine Auswirkungen auf Breslau. Die Buchausgabe ist zudem mit vielen<br />

schwarz-weiß Bildern, einer Vielzahl an bibliographischen Angaben und einem reichhaltigen Quellen- und Literaturverzeichnis sowie zwei farbigen<br />

Stadtplanausschnitten versehen.<br />

Schirmherrschaft<br />

Dr. Reinhard Schweppe,<br />

Botschafter der Bundesrepublik Deutschland<br />

Prof. Dr. Adam Rotfeld, Außenminister von Polen<br />

Förderer Rafal Dudkiewicz, des Präsident <strong>MitOst</strong>-Festivals<br />

Wrocław<br />

Förderer des <strong>MitOst</strong>-Festivals<br />

Robert Bosch Stiftung<br />

Schering Stiftung<br />

Gemeinnützige Hertie-Stiftung<br />

Besonder Internationaler Visegrad Partner Fund<br />

Fonds “Erinnerung und Zukunft”<br />

Besondere Partner<br />

Edith Stein Gesellschaft/<br />

Towarzystwo im. Edyty Stein<br />

Partner des <strong>MitOst</strong>-Festivals<br />

➜ ARTE<br />

➜ Centrum Studiów Niemieckich i<br />

Europejskich im. Willy Brandta<br />

➜ Deutsche Botschaft in Warschau<br />

➜ Deutsches Generalkonsulat in Wrocław<br />

➜ Dolnośląska Szkoła Służb Publicznych Asesor<br />

➜ Dom Spotkań im. Angelusa Silesiusa<br />

➜ Fundacja Pro Arte Gmina Wyznaniowa<br />

➜ Zydowska we Wroclawiu<br />

➜ FUN KLUB<br />

➜ Grotowski Zentrum / Ośrodek Badań<br />

Twórczości Jerzego Grotowskiego i<br />

Poszukiwań Teatralno-Kulturowych<br />

➜ Hotel Wrocław<br />

➜ Kino Lalka<br />

➜ Kulturhaus Klub pod Kolumnami<br />

Kulturhaus Wrocław Srodmiescie /<br />

Młodzieżowy Dom Kultury Śródmieście<br />

➜ Mediothek / Mediateka<br />

➜ Ost Europa Institut / Kolegium Europy Wschodniej<br />

➜ Puppen Theater / Wrocławski Teatr Lalek<br />

➜ Stadt Bibliothek und Goethe Bibliothek<br />

und Lesesaal / Wojewódzka i Miejska<br />

Biblioteka Publiczna; Wypozyczalnia i<br />

czytelnia Instytutu Goethego<br />

➜ Synagoge<br />

➜ Universität Wrocław / Uniwersytet Wrocławski<br />

➜ Urząd Miasta Wrocławia<br />

<strong>MitOst</strong>magazin extra<br />

Mitteilungen des <strong>MitOst</strong> e.V. – Verein für Sprach- und Kulturaustausch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa<br />

<strong>MitOst</strong>-Festival 2005<br />

Nachbarn begegnen<br />

<strong>MitOst</strong>-Festival 2005 in Breslau/Wrocław


mitost magazin extra ¬<br />

Liebe <strong>MitOst</strong>-Mitglieder, liebe <strong>MitOst</strong>-Interessierte,<br />

die vorliegende Sonderausgabe des <strong>MitOst</strong>magazins bietet einen Rückblick auf<br />

das <strong>MitOst</strong>-Festival 2005 in Breslau/Wrocław und damit die Gelegenheit für ein<br />

paar allgemeinere Gedanken zum <strong>MitOst</strong>-Festival. Denn in diesem Jahr wird<br />

<strong>MitOst</strong> sein 10-jähriges Bestehen feiern und gleichzeitig sein 4. Internationales<br />

<strong>MitOst</strong>-Festival veranstalten.<br />

INHALTSVE<strong>RZ</strong>EICHNIS<br />

2_ Editorial<br />

3_ Ein Tag – Projektnetzwerkstatt<br />

4_ Literarische Oderfahrt – Lesung<br />

4_ Mittelosteuropa tanzt – Workshop<br />

5_ Transitraum Deutsch – Lesung<br />

6_ Breslau – Festung des Multi-Kulkti<br />

8_ n-ost – Korrespondentennetzwerk<br />

8_ Schlesiens wilder Westen - Filmrezension<br />

9_ Hawdala – Jüdisches Leben in Breslau<br />

10_ Interview – mit einem belarussischen<br />

Festivalteilnehmer<br />

11_ Projektehaus<br />

12_ Die fremde Stadt – Buchtipp<br />

12_ Förderer und Partner des <strong>MitOst</strong>-Festivals<br />

Impressum<br />

<strong>MitOst</strong>magazin extra Festival 2005<br />

Herausgeber:<br />

<strong>MitOst</strong> e.V.<br />

Verein für Sprach- und Kulturaustausch in Mittel-, Ost- und<br />

Südosteuropa<br />

Verantwortlich:<br />

Monika Nikzentaitis-Stobbe, Vorstandsvorsitzende <strong>MitOst</strong> e.V.<br />

Schillerstraße 57<br />

D-10627 Berlin<br />

vorstand@mitost.de<br />

Redaktion:<br />

Arndt Lorenz, Aachen<br />

magazin@mitost.de<br />

Fotonachweis:<br />

Bea Be, Stephanie Endter, Dirk Enters, Sascha Götz,<br />

Anna Litvinenko, Arndt Lorenz, Judith Schifferle,<br />

Christopher Schumann, Jochen Staudacher, Jan Zappner<br />

Lektorat:<br />

Robert Sobotta, Dresden/London<br />

Gestaltung, Bildbearbeitung:<br />

Susanne Töpfer, Kathrin Hölker, Dresden<br />

sus.t@powerkom-dd.de<br />

4<br />

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><br />

Was bedeuten die Festivals<br />

inzwischen für <strong>MitOst</strong>?<br />

Die Zeiten, in denen sich der Großteil der Mitglieder persönlich kannte - aus<br />

der gemeinsamen Stipendienzeit, gemeinsamen Projekten oder der Mitgliederversammlung<br />

mit gut 50 Personen – sind bei inzwischen über 1400 Mitgliedern<br />

lange vorbei. Viele Mitglieder waren auch noch nie auf einem <strong>MitOst</strong>-Festival,<br />

weil sie keine Zeit haben, weil sie die Kosten dafür nicht aufbringen können,<br />

aber vielleicht auch, weil sie gar kein Interesse daran haben und sich bei <strong>MitOst</strong><br />

nur informieren oder den Verein einfach durch ihren Beitrag unterstützen wollen.<br />

Und dennoch ist das <strong>MitOst</strong>-Festival nicht nur der Höhepunkt jedes Vereinsjahres,<br />

sondern auch ein Kernbereich des Vereins. Warum?<br />

Es ist die einzige Gelegenheit im Jahr, viele Mitglieder aus (fast) allen <strong>MitOst</strong>-<br />

Ländern persönlich zu treffen. Das ist wichtig für das Zusammengehörigkeitsgefühl und<br />

für den Austausch untereinander, der häufig der Startpunkt für neue Ideen und Aktivitäten<br />

im Verein ist.<br />

Sowohl der gemeinsame Besuch des Workshop- und Kulturprogramms als auch<br />

die Treffen in den verschiedenen Gruppen – Arbeitsgruppen zum Verein, Länderund<br />

Alumnigruppen – geben neue Inspiration, was auf den verschiedenen Gebieten<br />

die nächsten Schritte sein könnten.<br />

In vielen unserer Projekte und Aktivitäten sind demokratische Prinzipien und eine<br />

offene Bürgergesellschaft unser Ziel. Auf dem <strong>MitOst</strong>-Festival und vor allem auf der<br />

Mitgliederversammlung und in den Vereinswerkstätten setzen wir diese demokratischen<br />

Prinzipien um oder üben vielleicht auch noch, sie in der Praxis umzusetzen.<br />

Denn für viele unserer Mitglieder ist ein Verein auch eine ganz neue Organisationsform.<br />

Vereinszweck von <strong>MitOst</strong> ist der Sprach- und Kulturaustausch. In diesem Sinne ist<br />

das <strong>MitOst</strong>-Festival jedes Jahr unser größtes Projekt. Denn wir lernen beim Besuch<br />

nicht nur neue Kulturen kennen – z.B. ungarische Literatur in Pécs, litauischer<br />

Barock in Vilnius, polnische Musik in Breslau –, wir bringen den jeweiligen Städten<br />

und ihren Bewohnern auch unsere vielfältigen Kulturen aus allen <strong>MitOst</strong>-Ländern mit.<br />

Geben und Nehmen ist auch unser Prinzip bei den Workshops, in denen wir lehren<br />

und lernen, indem die Erfahreneren ihr Wissen weitergeben.<br />

Wir haben gemeinsam Spaß beim Tanzen, Singen, Diskutieren, Lachen...<br />

<strong>MitOst</strong>magazin extra<br />

Monika Nikzentaitis-Stobbe,<br />

1. Vorsitzende<br />

kommunikation@mitost.de<br />

0<strong>MitOst</strong>-Festival 2005 in Breslau/Wrocław<br />

<strong>MitOst</strong>magazin extra<br />

Monika Sus,<br />

2. Vorsitzende<br />

festival@mitost.de<br />

Christopher Schumann,<br />

Schatzmeister<br />

finanzen@mitost.de<br />

Mascha Zakharova,<br />

Beisitz Alumniarbeit<br />

alumniarbeit@mitost.de<br />

Nora Hoffmann,<br />

Beisitz Regionalisierung<br />

vernetzung@mitost.de<br />

mitost magazin extra ¬<br />

Deshalb ist das <strong>MitOst</strong>-Festival für uns so wichtig und deshalb freuen wir uns immer wieder auf das nächste –<br />

vom 13.-16. September 2006 in Timisoara/Temeswar, Rumänien!<br />

Viel Freude, Anregungen und Erinnerungen beim Lesen<br />

><br />

wünschen<br />

Andreas Lorenz,<br />

Beisitz Projektarbeit<br />

projekte@mitost.de<br />

Bereits zum dritten Mal nach Pécs 2003 und Vilnius 2004 fanden vom 26.-31. Oktober 2005 in Breslau rund um die<br />

Mitgliederversammlung des <strong>MitOst</strong> e.V. ein internationales Kulturfestival und eine Werkstatt zum Projektmanagement<br />

statt. Besonders war in diesem Jahr, dass das <strong>MitOst</strong>-Festival zugleich ein „Leuchtturmprojekt“ (polnisch: lokomotywa!)<br />

im Deutsch-Polnischen Jahr war. Die Schirmherrschaft hatten der polnische Außenminister, der deutsche<br />

Botschafter in Warschau und der Stadtpräsident von Wrocław übernommen.<br />

Unter dem Motto „Nachbarn begegnen“ konnten die über 400 Teilnehmer aus 21 Ländern aus fast 40 Workshops zum<br />

Projektmanagement, mehreren Diskussionsveranstaltungen und über 30 Programmpunkten im Kulturprogramm<br />

auswählen: Von Filmvorführungen, Ausstellungseröffnungen, Konzerten und Lesungen bis hin zu thematischen<br />

Stadtführungen und „Polnisch für Anfänger“.<br />

Ein Höhepunkt des Festivals war neben der feierlichen Eröffnung des Festivals in der barocken Aula Leopoldina<br />

der Universität das erstmals in dieser Form eingerichtete Projektehaus im historischen Puppentheater: Neben den<br />

diesjährigen <strong>MitOst</strong>-Projekten wurden hier auch die Angebote der von <strong>MitOst</strong> durchgeführten<br />

Programme und einiger Partner und Förderer von <strong>MitOst</strong> vorgestellt.<br />

Einmalig war auch die Unterstützung für das erneut gewachsene Festival: Neben der Robert Bosch<br />

Stiftung, der Hertie-Stiftung und der Schering Stiftung, die schon in den letzten<br />

beiden Jahren das Festival gefördert hatten, wurden 2005 auch der Fonds „Erinnerung<br />

und Zukunft“ und der „Vysegrad Fonds“ als Förderer gewonnen.<br />

Sascha Götz, Geschäftsführer, gf@mitost.de<br />

Ein Tag Projektnetzwerkstatt<br />

¬ Nina Körner, n-ost-Korrespondentin<br />

Zwei Tage lang konnten sich die Festivalteilnehmer in Breslau<br />

Handwerkszeug für die ehrenamtliche Projektarbeit aneignen. Ob<br />

man einen Verkehrsführer für russischsprachige Tramper plant, osteuropäische<br />

Städte in Deutschland touristisch bewerben will oder<br />

ein lettisches Studententheater auf Tournee bringen möchte – in<br />

über 40 Workshops war professioneller Rat zu finden.<br />

■ Auch bei einem Telefonat ist Lächeln wichtig. Jeder Interviewer sollte<br />

sich das bestätigende „Mmhh“ sparen. Journalisten sind zwischen Weihnachten<br />

und Silvester leicht glücklich zu machen – nicht jeder hatte das<br />

gewusst. In den Workshops der Projektnetzwerkstatt wurden echte<br />

Insiderinformationen zu Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, zu Projektanträgen<br />

und Fundraising, zu Filmemachen und Layout weitergegeben. Und das<br />

sah ganz konkret so aus:<br />

Am Vormittag in Raum 209 der niederschlesischen Schule des öffentlichen<br />

Rechts ASESOR probt eine Gruppe den ersten Anruf bei einem<br />

künftigen Förderer. In einer Minute muss das Anliegen überzeugend vorgebracht<br />

sein, sonst wird energisch auf den Tisch geklopft, um den die<br />

neun Teilnehmer sitzen. Einen Raum weiter diskutieren fünfzehn Leute<br />

im Kreis rege, wie Projekte und Veranstaltungen in die Presse zu bringen<br />

sind. Vor den Computern in Raum 11 entdecken ein Dutzend Personen<br />

im Workshop „Layout und Design“ gerade die Welt der Schriften. Außerdem<br />

kommen Vektorprogramme, Urheberrecht und Papierarten zur<br />

Sprache. Zum Stundenwechsel lärmt es auf den hellgrünen Gängen der<br />

Rechtsschule. Eine kleine Pause zwischendurch und Zeit für eine Stadtführung<br />

über den Marktplatz oder zur Dominsel – soviel Zeit lässt das<br />

Tagesprogramm zu. Immerhin ist das <strong>MitOst</strong>-Festival eine „Leuchtturmveranstaltung“<br />

im Deutsch-Polnischen Jahr. Kulturaustausch und<br />

Begegnung mit den Nachbarn dürfen also nicht zu kurz kommen. Um<br />

drei Uhr nachmittags geht es weiter. Im Filmworkshop schauen sechzehn<br />

Interessierte nicht nur einen Film, sondern auch den zugehörigen<br />

Kostenvoranschlag an. Große Posten im Filmbudget sind, so wird klar,<br />

neben Reisekosten die Ausgaben für Personal und Versicherung. Aber<br />

auch die Sicherheitskopie will einkalkuliert sein. Die Layouter experimentieren<br />

inzwischen mit dem Programm InDesign, drehen Bilder und<br />

schreiben Texte entlang der gewagtesten Linien. Im Raum 210 werden<br />

einer seitlich sitzenden Gruppe Kürzel der Nachrichtenagenturen eingeführt,<br />

dpa, epd, KNA etc. Ganz unterschiedlich sind die Workshops<br />

geführt, mal im Frontalvortrag, mal in Gruppenarbeit. Mal gibt es<br />

Powerpointpräsentation, Handout, Flipcharts, mal gar nichts. Für jeden<br />

Weiterbildungsworkshop bekommen die Teilnehmer eine Bestätigung<br />

und die Leiter eine Evaluation. Auch das Feedback fällt unterschiedlich<br />

aus. Die Kommunikationsspiele habe sie sich ein wenig anders vorgestellt,<br />

meint Ulrike. Carmina dagegen hat sich beim „Kreativen Denken“<br />

anhand einer Zahnbürste auf ganz neue Ideen bringen lassen.<br />

5


mitost magazin extra ¬<br />

6<br />

Mythos der Zukunft –<br />

„Oder“ –<br />

die Heimat im Dazwischen<br />

¬ Judith Schifferle, <strong>MitOst</strong>-Mitglied, Basel<br />

■ Zwei Stunden hat es gedauert, um die Oder in einen Mythos zu<br />

verwandeln. Aber dennoch: So lange und unerbittlich hat sich ein<br />

Fluss nur selten gegen den eigenen Ruhm und Mythos gewehrt. Als<br />

hätte die Oder auf diesen Abend gewartet, an dem es in ihrem<br />

Namen zu einer fast intimen deutsch-polnischen Begegnung gekommen<br />

ist; die Lesung von Olga Tokarczuk und Uwe Rada in den<br />

Räumen des Breslauer Grotowski Theaters war eine „literarische<br />

Oderfahrt“, die an wilde und noch unbebaute Ufer eines neuen<br />

Mitteleuropas führte.<br />

Im Rahmen des Breslauer <strong>MitOst</strong>-Festivals stellten die polnische<br />

Autorin Olga Tokarczuk (geboren 1962 in Sulechów) und der deutsche<br />

Journalist Uwe Rada (geboren 1963 in Göppingen) gemeinsam,<br />

aber unterschiedlich in Sprache und Form, ihre Wahrnehmung<br />

der Oder dar. Während Uwe Rada seine Kulturgeschichte mit einer<br />

Flussreise von der Quelle im Mährischen Gebirge Tschechiens bis<br />

zur Ostsee verband, las Olga Tukarczuk „Die Macht der Oder“ als<br />

ihre poetische Kindheitsvision vor. Beide Perspektiven begegneten<br />

sich da, wo sowohl die historische als auch die poetische<br />

Erinnerung auf einem neuen deutsch-polnischen Begriff von „Heimat”<br />

aufbaute, einem gemeinsamen Kulturgebiet, dem die Trennung von<br />

gestern wie die Verbindung von heute gleichsam angehören.<br />

Welcher andere Begriff hatte in der Literatur unserer Zeit mehr<br />

Umdeutungen, Anschauungen und Notwendigkeiten erhalten als<br />

der von „Heimat”? Und wie heimatlos blieb dagegen die Oder als<br />

Dazwischen, als Fluss des ewig Gleichen und einer Grenze, über die<br />

es bisher keine Mythen, – nur Mühen gegeben hatte. „Mühe und<br />

Schweiß“ nennt Rada die einzigen Marksteine eines gemeinsamen<br />

Kulturraumes zwischen Polen, Deutschland und Tschechien. Aber<br />

ohne Überhöhungen ins Poetische, ohne Mythen, wie für den<br />

Rhein, der nicht an den Ländern entlang, sondern durch sie hindurch<br />

streift. Nicht eine Grenze, sondern ein „Zwischenland“ markiert die<br />

Oder bei Rada und bedeutet ein „Einzugsgebiet“ für Tokarczuk in<br />

der Mitte Europas. Als „poetische Vision“ funktioniert die Oder in<br />

der literarischen Vorstellung der Autorin; eine Vision auf mehreren<br />

Ebenen zugleich: nicht nur als Ort der Kindheit, als Quelle von<br />

„Energie und Temperament“, sondern auch als Identität und<br />

Intimität von Träumen bedeutet dieser Fluss eine der „wenig unveränderlichen<br />

Erscheinungen dieser Welt“; eine Konstante der Erinnerung,<br />

wo das Wasser fließt, das Flussbett aber dasselbe bleibt. Ein<br />

Fluss, der heute weder Schleusen, Staustufenbau oder groß bebaute<br />

Ufer besitzt und ein Naturgebiet, das zur Aufgabe des<br />

Naturschutzes geworden ist. Außer als Transportweg zwischen den<br />

niederschlesischen Industriegebieten bei Katowice und dem<br />

Brandenburger Raum, der Einmündung in die Ostsee, wurde die<br />

Oder für wirtschaftliche Zwecke nie wesentlich genutzt.<br />

Die Oder blieb ein eigenwilliges und wildes „Lebewesen“. Ihr Ort<br />

war immer an der Peripherie der Mächte, ihre Lage ein Dazwischen<br />

der Völker und ihre Funktion deren Trennung. Dennoch aber ist<br />

diese Grenze keine natürliche, sondern ein Konstrukt. Denn laut<br />

Rada ist die Angst vor der Osterweiterung im Grenzgebiet nicht so<br />

groß wie im Westen; die Bürgermeister der Grenzstädte in Görlitz,<br />

Frankfurt, Schwedt und Guben orientieren sich auch am Osten und<br />

geben sich als „eindeutige Befürworter“ einer sofortigen Gewährung<br />

der Freizügigkeit. In diesem Sinne kann der Fluss eine verbindende<br />

Lebensader in Mitteleuropa werden. „Breslau besinnt sich auf sein<br />

multikulturelles Erbe, Frankfurt und Slubice wenden sich dem Fluss<br />

zu, die Menschen im Oderraum erzählen sich ihre Geschichten von<br />

Krieg, Vertreibung und Versöhnung. Sie entwerfen eine gemeinsame<br />

Zukunft.“ (Rada) Gerade das Fehlen einer mythologischen<br />

Zuordnung bedeutet eine kulturelle Chance. Die Zusammenführung<br />

und individuelle Umformung eines gemeinsam erinnerten<br />

Lebensraumes zeugen somit nicht nur für ein kollektives Gedächtnis,<br />

sondern auch für eine gemeinsame Kultur grenzenloser „Zuflüsse“.<br />

Literaturhinweise:<br />

Uwe Rada:<br />

„Zwischenland –<br />

Europäische<br />

Geschichten aus dem<br />

deutsch-polnischen<br />

Grenzgebiet”<br />

be.bra verlag, 2004<br />

Die Oder.<br />

Lebenslauf eines<br />

Flusses.<br />

Kiepenheuer, 2005<br />

Olga Tokarczuk:<br />

„Podró ludzi ksi´gi“<br />

[Die Reise der<br />

Buchmenschen].<br />

Warszawa: PrzedÊwit,<br />

1993<br />

„Prawiek i inne czasy”<br />

[Ur und andere Zeiten].<br />

Warszawa: W.A.B., 1996<br />

„Szafa” [Der Schrank].<br />

Lublin: Wydawnictwo<br />

UMCS; Wabrzych:<br />

Ruta, 1998<br />

Auf Deutsch erschienen:<br />

„Ur und andere Zeiten.”<br />

Übers. von Esther Kinsky.<br />

Berlin:<br />

Berlin Verlag, 2000<br />

„Der Schrank”<br />

Übers. von Esther Kinsky.<br />

München: DVA, 2000<br />

„Taghaus, Nachthaus”<br />

in der Übers. von Esther<br />

Kinsky: DVA, 2001<br />

Mittelosteuropa tanzt!<br />

Workshop beim <strong>MitOst</strong>-Festival in Breslau 2005<br />

¬ Tatjana Reitmann, Lektorin der Robert Bosch Stiftung, Ostrava<br />

■ Beim Tanzen lernt man sich kennen und verstehen. Das wussten<br />

schon unsere Mütter und Väter... Aber Völkerverständigung durch<br />

Tanz? 10 junge Leute aus 6 Ländern zeigten beim <strong>MitOst</strong>-Festival in<br />

Wrocław, was Tanz alles leisten kann. Unter dem Motto „Die Welt ist<br />

eine Kugel, Osteuropa ist ein Oktaeder“ wurde eine tänzerische<br />

Melange aus Osteuropa einstudiert und aufgeführt. Den so genannten<br />

„<strong>MO</strong>E-Tanz“ hatten Stipendiaten des Theodor-Heuss-Kollegs<br />

(THK) während eines einwöchigen Seminars im März 2005 entwikkelt.<br />

Dazu wurden Elemente aus Tänzen aus ganz Osteuropa zu<br />

einem neuen Tanz zusammengefasst: Der „<strong>MO</strong>E-Tanz“ war geboren.<br />

Da die THK- und <strong>MitOst</strong>-Sprache Deutsch ist, wurde als Verbindung<br />

zwischen den Tänzern und dem neuen Tanz das deutsche Lied „Alles<br />

ist jut, alles ist gut, ich bin froh, ein Berliner zu sein“ gewählt. Diesen<br />

Tanz studierten dann während des <strong>MitOst</strong>-Festivals 9 „Damen“ und 1<br />

<strong>MitOst</strong>magazin extra<br />

„Herr“ der Werkstatt „Mittelosteuropa tanzt“ ein. Für viele war es der<br />

erste Kontakt mit dieser künstlerischen Darbietungsform. Die jungen<br />

Tänzer aus Polen, Rumänien, Weißrussland, Ukraine, Serbien-<br />

Montenegro und Deutschland lernten sich beim Training nicht nur<br />

näher kennen, sondern diskutierten auch über nationale und europäische<br />

Identität. Der fertige Tanz wurde während des Festivals auf<br />

dem Wrocławer Marktplatz und im Puppentheater aufgeführt und<br />

Transitraum Deutsch<br />

Lesung bosnischer Autoren beim <strong>MitOst</strong>-Festival in Breslau<br />

¬ Bojana Radetiç, Theodor-Heuss-Stipendiatin, Übersetzerin, <strong>MitOst</strong>-Mitglied, Rijeka<br />

■ „In Bosnien und Herzegowina ist alles zerbombt, die Leute müssen<br />

sehr aufpassen, nicht auf eine Mine zu treten und sie laufen sowieso<br />

fast nackt herum.“ Dieses im Westen bzw. bei den Ausländern<br />

vorherrschende Bild wollen junge bosnische Autoren mit ihrem vor<br />

zwei Jahren herausgegebenen Buch „Ein Hund läuft durch die<br />

Republik“ verändern. Diese Autoren konnte ein zahlreich erschienenes<br />

Publikum während des <strong>MitOst</strong>-Festivals 2005 in Breslau im<br />

Grotowski Theater bei der Lesung „Transitraum Deutsch“ erleben.<br />

Indirekt verantwortlich für die Entstehung des vorgestellten Buches<br />

ist Juli Zeh, die deutsche Autorin, die vor einigen Jahren bei einer<br />

Lesung an der Universität Tuzla ihre Bosnien-Texte vorstellte. Im<br />

Gespräch mit dem damaligen österreichischen Lektor am dortigen<br />

Germanistikinstitut, Oskar Terš, wurde die Idee für ein Buch über<br />

Bosnien geboren, das Studenten selbst verfassen sollten. Trotz der<br />

erstaunten Studenten („Aber so was macht man doch in Bosnien<br />

nicht!“), wurde das Projekt an den Unis ausgeschrieben. Der Erfolg<br />

war unerwartet groß: von über 50 eingereichten Texten konnten die<br />

zwanzig besten veröffentlicht werden. Als Projektleiter wollte Oskar<br />

Terš bosnischen Studenten Gelegenheit geben, die deutsche<br />

Sprache kreativ anzuwenden und gleichzeitig junge deutschsprachige<br />

Autoren aus Bosnien zu fördern.<br />

Für Elmedin Kukiç, Germanistikstudent in Tuzla, schon an „komische“<br />

Aufsatz-Aufgaben vom Lektor gewöhnt, war es nicht schwer,<br />

eine Geschichte auf Deutsch zu schreiben. Viel schwieriger fiel ihm,<br />

die Geschichten zu übersetzen, weil die zwei Sprachen verschiedene<br />

Ausdrucksweisen haben. Obwohl er von einer professionellen<br />

Fußballkarriere geträumt hatte, entschied er sich nach der Rückkehr aus<br />

Deutschland, wo er einige Jahre als Flüchtling gelebt hatte, für den<br />

nicht so „risikovollen Bereich“ der Germanistik. Überwiegend schreibt<br />

er Prosa und möchte, motiviert durch die Arbeit an diesem Projekt,<br />

mit seinen Kurzgeschichten weiter über Bosnien aufklären.<br />

Saˇsa Stanisiç, Student am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, ist im<br />

Gegensatz zu Kukiç schon ein erfahrener Autor mit mehreren veröffentlichten<br />

Geschichten und mit einem Roman, an dem er gerade<br />

arbeitet. Ständiges Thema ist bei ihm die Frage der Rückkehr<br />

<strong>MitOst</strong>magazin extra<br />

mitost magazin extra ¬<br />

sowohl von den Festivalteilnehmern als auch von den Einheimischen<br />

begeistert aufgenommen. Die Organisatoren Marta Masojc und<br />

Grzegorz Nocko haben aber schon wieder große Pläne. Sie wollen<br />

den Tanz so weiter entwickeln, dass man das Publikum mit einbeziehen<br />

kann. Und wenn Völkerverständigung im Kleinen gleichzeitig so<br />

viel Spaß macht und auch noch schön anzusehen ist, warum geht das<br />

dann nicht öfter im Großen?<br />

nach Bosnien. Das Schreiben auf Deutsch fällt ihm leicht, lediglich<br />

für die Lyrik hat er Bosnisch reserviert.<br />

Als Oskar Terš mit seiner deutschsprachigen Theatergruppe einmal<br />

in Pécs war, ergaben sich Anregungen für ein Folgeprojekt. Und so<br />

haben sich junge bosnische Autoren zusammen mit ungarischen<br />

Studentenkollegen zu zwei Literaturwerkstätten in Pécs und in Tuzla<br />

getroffen und sich anhand von Fotos aus diesen Städten für weitere<br />

Geschichten inspirieren lassen. Während der Lesung in Breslau war<br />

deswegen auch die ungarische Autorin Aniko Hetesi zu hören.<br />

Das Buch „Ein Hund läuft durch die Republik“ wurde (vor allem im<br />

Ausland) etwa 3000 Mal verkauft. In Bosnien stößt diese Textsammlung<br />

bisher auf fast kein Interesse. Gerade deswegen sind<br />

weitere Lesungen, zum Beispiel in Osijek/Kroatien, geplant.<br />

Literaturhinweis:<br />

Juli Zeh – Ein Hund läuft<br />

durch die Republik<br />

Geschichten aus Bosnien<br />

Herausgegeben von Juli Zeh,<br />

David Finck und Oskar Terš<br />

144 Seiten. Gebunden.<br />

ISBN 3-89561-057-7<br />

EUR 16,90<br />

7


mitost magazin extra ¬<br />

8<br />

Breslau –<br />

Festung des Multi-Kulti<br />

¬ Anna Litvinenko, n-ost-Korrespondentin und <strong>MitOst</strong>-Mitglied<br />

<strong>MitOst</strong>magazin extra<br />

■ Ida Moegelin sieht verzweifelt und müde aus. Heute hat sie sich<br />

in ihrer Heimatstadt verlaufen. „Wegen der ganzen Neubauten und<br />

der umbenannten Straßen konnte ich mein Haus nicht mehr finden“,<br />

sagt sie enttäuscht. Nach fast 60 Jahren ist sie in die Stadt<br />

zurückgekehrt, wo sie aufgewachsen ist. Heute tragen hier die<br />

Straßen doppelte Namen und die Einwohner stammen aus allen<br />

Ecken der Welt.<br />

„Ich denke, dass Breslau die liberalste Stadt Polens ist. Allein deswegen,<br />

weil hier so viele internationale Wurzeln zusammengeflochten<br />

sind“, sagt Jolanta Bielanska. Sie sitzt in der rot-weißen<br />

Breslauer „Mediatheke“, die mit den zahlreichen Bildern an den<br />

Wänden einer avantgardistischen Kunsthalle ähnelt und hält einen<br />

Vortrag über die polnische Kunst vor einem Dutzend Interessierten.<br />

Die Familie der 35-Jährigen Polin stammt aus Lemberg und teilweise<br />

aus Armenien. Sie ist Malerin in Breslau, der viertgrößten Stadt<br />

Polens, und kann stundenlang über die Kunst und Geschichte ihrer<br />

Wahlheimat erzählen. „Wir in Wrocław haben ein Problem mit der<br />

Identität, sind auf der Suche nach uns selbst“, sagt Jolanta. Eine<br />

Verkörperung davon sei der Künstler Andrzej Dudek Dürer, der sich<br />

als Inkarnation von Albrecht Dürer preist. „Und ich glaube ihm“, lächelt<br />

die Malerin.<br />

Die Identität von Breslau, in Polen Wrocław genannt, wurde von<br />

Böhmen, Polen und Deutschen geprägt, denen die Stadt zu verschiedenen<br />

Zeiten gehörte. 1763 wurde sie Teil von Preußen und<br />

entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einer der wichtigsten Städte<br />

Deutschlands. 1945 wurde Breslau zur Festung umgewandelt. Heute<br />

noch sind manche Straßen in Breslau viel zu breit für eine mittelalterliche<br />

Stadt: In der Festung wurden viele Häuser gesprengt, um<br />

etwa die Flugbahn oder den Bunker für den Gauleiter Hanke zu<br />

bauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Polen die deutschen<br />

Gebiete im Westen bekam, wurde die Stadt wie auch der größte Teil<br />

Schlesiens polnisch.<br />

Viele Breslauer, vor allem junge Menschen, wollen nichts mehr mit<br />

der Geschichte zu tun haben und genießen es einfach, auf dem<br />

Kreuzweg verschiedener Kulturen zu leben. „Mir ist es egal, wie die<br />

Stadt genannt wird – Breslau oder Wrocław, ich verbinde mit dem<br />

alten Namen keine Erinnerungen wie die alte Generation“, zuckt<br />

Anna Karolina Wieszczek die Schultern, wenn man nach dem<br />

Namen der Stadt fragt. Sie schlürft ihren Kaffee auf der Flaniermeile<br />

der Altstadt, die am Mittag voll ist mit beschäftigten Männern und<br />

zierlichen Frauen, deren Stöckelschuhe immer wieder schief auf das<br />

Pflaster treten. Die 26-Jährige ist hier aufgewachsen, hat studiert<br />

und ist seit diesem Jahr mit einem DAAD-Stipendium nach<br />

Hamburg gegangen. Wenn es um die Zukunft geht, wirkt sie inspiriert.<br />

„Ich will meine künftige Berufstätigkeit unbedingt mit der<br />

Aussöhnung unserer Völker – der Deutschen und Polen – verbinden“,<br />

sagt sie. „Deswegen engagiere ich mich schon seit einigen Jahren<br />

bei <strong>MitOst</strong> und anderen Institutionen.”<br />

Immer wieder stößt man in Breslau auf alte deutsche Inschriften,<br />

wie etwa auf dem Friedhof oder in den zahlreichen Kirchen auf der<br />

Dominsel. Die Zeit verwischt allerdings langsam die deutschen<br />

Spuren in der Stadt. Es gibt hier keine deutsche Gemeinde, wie<br />

etwa im benachbarten Opeln, und nur die auf Deutsch zwitschernden<br />

Nostalgietouristenscharen erinnern hier und da an die schon<br />

verstaubte Vergangenheit. Die 85-Jährige Ida Moegelin ist eine dieser<br />

Touristen. Sie kann selbst mit Hilfe ihres Spazierstocks kaum<br />

laufen, will aber nicht die Gelegenheit versäumen, vielleicht zum<br />

<strong>MitOst</strong>magazin extra<br />

mitost magazin extra ¬<br />

letzten Mal für zwei Tage ihre Heimat zu besuchen. Sie sitzt im<br />

Schweidnitzer Keller, dem deutschen Restaurant am Breslauer<br />

Marktplatz, heute „Piwnica Swidnicka“ genannt. Sie hat Fisch mit<br />

Kartoffeln bestellt, ist enttäuscht, dass man hier nicht mehr ihr<br />

Lieblingsbackobst mit Klopsen serviert. „Nicht weit von hier hat<br />

meine Schwester damals im Wäschegeschäft gearbeitet. Die Damen<br />

im Geschäft waren so elegant: In schwarzen Röcken und weißen<br />

Blusen“, schwärmt die Berlinerin. Sie ist bis 1946 in der Stadt<br />

geblieben, als Breslau schon längst von Russen besetzt war. Sie<br />

habe sich damals daran gewöhnt, unter ständiger Lebensgefahr zu<br />

leben. Im Oktober 1944, als die ersten Bomben auf die Stadt fielen,<br />

hat sie ihren ersten Mann geheiratet, mit dem sie später nach Berlin<br />

geflohen ist, nach Ostberlin. Die Tränen drängen sich in die Augen<br />

der alten Dame, als sie sich an ihre Vergangenheit erinnert. „Ich<br />

hatte eine wunderschöne Kindheit hier in Breslau“, reißt sie sich<br />

zusammen und will lieber über die Glücksmomente in ihrem Leben<br />

erzählen, viele, die mit dieser Stadt verbunden sind.<br />

Liebe hat die junge Belarussin Larissa Moszizynska nach Breslau<br />

geführt. Seit sieben Jahren lebt sie hier mit ihrem polnischen Mann<br />

und sagt, die Stadt wäre nicht immer so weltoffen gewesen wie<br />

heute. Es hätte Zeiten gegeben, noch nicht lange her, als man in<br />

Breslau lieber kein Russisch sprechen sollte. Heute habe sich die<br />

Situation sichtlich geändert. „Auf der Straße hört man alle möglichen<br />

Sprachen.“ Auch Russisch sei in Polen wieder willkommen,<br />

ungefähr zehn Abiturienten ringen um einen Platz in der Russistik-<br />

Abteilung der Universität. „Die Polen haben verstanden, dass die<br />

Russen so wie die Deutschen ihre wichtigsten Partner sind“, sagt die<br />

Ökonomin. „Heute ist die Stadt sehr international“, freut sich<br />

Larissa. Ein Zeichen dafür sei auch das <strong>MitOst</strong>-Festival, an dem sie<br />

in diesem Jahr zum ersten Mal als Volontärin teilgenommen hat und<br />

sogar auf dem Marktplatz zum Berlin-Lied den <strong>MitOst</strong>-Tanz mittanzte.<br />

Trotz der Offenheit gen Westen wie gen Osten kann die Stadt doch<br />

die von Warschau gesetzten Schranken nicht überwinden. Jolanta<br />

Bielanska erzählt in der hochmodernen Breslauer „Mediatheke“, wie<br />

die katholische Kirche die moderne polnische Kunst unterdrücke und<br />

wie schwer es sei, sich als provinzieller Künstler gegen Warschau zu<br />

behaupten. „Unter Kaczynski wird die Kontrolle noch stärker“, seufzt<br />

sie. Doch ihre schwarzen Augen beginnen zu funkeln, wenn sie nach<br />

der Freiheitsbewegung der 80iger Jahre in Breslau befragt wird. Die<br />

Anhänger der Breslauer „Orangen Alternative“, die sich Bergmännchen<br />

nannten, brachten damals die Polizei mit ihren „flash mobs“ außer<br />

sich. Sie erschienen auf den Straßen zum Beispiel als „Geheimagenten“,<br />

die verdächtig über ihre schwarze Brille guckten oder<br />

begannen, auf dem Marktplatz zu hopsen. Heute sind über die<br />

Altstadt kleine Steinbergmännchen verstreut – ein Denkmal für die<br />

witzigen Freiheitskämpfer. Dass die „Orange Alternative“, die sowohl<br />

gegen die kommunistische Regierung als auch gegen die konservative<br />

Solidarnosc auftrat, in Breslau entstand, findet Jolanta Bielanska<br />

symbolhaft. Schließlich sei Breslau eine der liberalsten Städte Polens.<br />

Ida Moegelin schaut sich um auf dem großen Marktplatz. „Die Polen<br />

sind sehr gute Restauratoren, das muss man zugeben“, sagt sie und<br />

zeigt auf die glänzenden Fassaden der Kaufhäuser. „Aber die<br />

Atmosphäre von damals kann man hier natürlich nicht mehr wiedererkennen“,<br />

seufzt sie und will zum zweiten Mal an diesem Tag ihr<br />

Geburtshaus suchen gehen.<br />

9


mitost magazin extra ¬<br />

"Den Trick finden":<br />

n-ost bringt Osteuropa<br />

in deutschsprachige Medien<br />

¬ Thomas Kirschner, <strong>MitOst</strong>-Mitglied, Prag<br />

■ „Maluch“ nennen ihn die Polen liebevoll – „Winzling“. Der polnische<br />

Lizenzbau des Fiat 126 hat einst die halbe Nation motorisiert, und die<br />

Polen vergelten es ihm mit anhaltender Zuneigung. Ein Artikel über den<br />

polnischen Maluch-Kult (vgl. <strong>MitOst</strong> Magazin Nr. 16) ist eines der<br />

Vorzeigestücke des jungen Korrespondenten-Netzwerkes n-ost. Zahlreiche<br />

Abdrucke in deutschen Zeitungen zeigen, dass das Modell n-ost<br />

funktioniert und Themen aus dem Osten auch im Westen auf Interesse<br />

stoßen können. Auf dem <strong>MitOst</strong>-Treffen in Breslau stellte sich n-ost für<br />

alle Interessierten vor.<br />

Rund 70 Berichterstatter in 20 Ländern Mittel- und Osteuropas haben<br />

sich unter dem Dach von n-ost zusammengefunden - von Journalisten<br />

mit langjähriger Praxis bis hin zu engagierten <strong>MO</strong>E-Kennern. Ihr Anspruch:<br />

unmittelbar und unkonventionell aus den Regionen Mittel- und<br />

Osteuropas in den deutschen Sprachraum zu berichten. So will n-ost<br />

zu einer anderen Wahrnehmung des osteuropäischen Raumes beitragen.<br />

Und langfristig auf das Wunschziel hinarbeiten, in den deutschsprachigen<br />

Medien eine Lobby für die Themen dieser Region zu schaffen.<br />

„Du musst einen Trick finden, um osteuropäische Themen in<br />

Deutschland anzubringen“, erläutert Andreas Metz eine der Haupthürden<br />

auf dem Weg in die deutschen Medien. Er ist einer der Mitinitiatoren<br />

von n-ost und leitet heute das Berliner Büro des Netzwerks. Aktuell<br />

und originell müssen die Themen sein. Gute Bilder sind daneben nicht<br />

nur die beste Visitenkarte für den Text, sondern können auch das<br />

Autorenhonorar erheblich aufbessern. Wichtig ist schließlich auch der<br />

Bezug zur deutschen Lebenswirklichkeit. „Nicht alles, was die Menschen<br />

auf dem Kaukasus bewegt, kann auch in Deutschland Interesse beanspruchen“,<br />

meint Metz. „Oft ist der umgekehrte Ansatz erfolgversprechender<br />

– also von den Themen auszugehen, die in Deutschland gerade<br />

diskutiert werden und dann nachzuschauen: was gibt es dazu aus<br />

Lettland, Belarus, Kasachstan zu sagen.“ Bestes Beispiel aus der letzten<br />

Zeit: Als sich zum Regierungswechsel ganz Deutschland für den<br />

Werdegang der Frau interessierte, die nun erste Kanzlerin der Republik<br />

werden sollte, da bot n-ost einen Artikel über die familiären Wurzeln<br />

von Angela Merkel an, die ins heutige Polen führen.<br />

Heimat im Wilden Westen<br />

¬ Oxana Mezentseva, <strong>MitOst</strong>-Mitglied, Berlin<br />

Im Rahmen des <strong>MitOst</strong>-Festivals in Breslau wurde im Kino „Lalka“<br />

auch der Film von Ute Badura „Schlesiens Wilder Westen“ gezeigt.<br />

Als ich diesen Film sah, ist mir ein Gedicht eingefallen. Es gehört bei<br />

uns zu jenen Gedichten, die die Schüler gleich in der ersten<br />

Klassenstufe in der Schule lernen:<br />

Wo fängt die Heimat an?<br />

Mit einem Bild in deiner Fibel,<br />

Mit guten und treuen Freunden,<br />

Die in einem Nachbarhof wohnen.<br />

Und vielleicht fängt sie mit jenem Lied an,<br />

Das uns die Mutter sang.<br />

Es ist jenes, was uns niemand niemals nehmen kann.<br />

■ Der Film zeigt aber das Gegenteil der letzten Strophe. Es geht um die<br />

Geschichte eines Dorfes in Niederschlesien – früher hieß es Seifershau,<br />

heute Kopaniec. Die Welt dieses Ortes ist durch die Vertreibung der<br />

Deutschen und die Neuansiedlung der Polen, die oft selbst Vertriebene<br />

aus der heutigen Ukraine waren, geprägt. Die Autorin zeigt uns viele<br />

Geschichten, die von Polen und Deutschen, von Krieg und Vertreibung<br />

und auch vom gemeinsamen Leben im Dorf nach dem Krieg berichten.<br />

Die erste Zeit nach dem Kriegsende wurde diese Region in Polen „Der<br />

Wilde Westen“ genannt.<br />

Entstanden ist n-ost 2003 aus einer Initiative von Boschlektoren. Heute<br />

gibt es ein n-ost-Büro mit zwei Mitarbeitern und einen eigenen Etat<br />

von der Robert Bosch Stiftung. Aus einem Versuchsballon ist eine professionell<br />

arbeitende Agentur geworden. Gelernt hat man dabei vor<br />

allem aus Fehlern: „Am Anfang haben wir alle gedacht, wir müssen für<br />

den Spiegel schreiben“, erinnert sich Metz. Die seitenlangen Manuskripte<br />

fanden jedoch, wenn überhaupt, dann nur radikal gekürzt den Weg in<br />

den Druck. Auch der ständigen Verlockung, der Welt ihre Meinung zu<br />

sagen, geben die n-ostler mittlerweile nur noch selten nach:<br />

„Kommentare sind das Königsgenre und damit das ureigenste Revier<br />

der alten Platzhirsche in den Redaktionen. Da darf jemand von außen<br />

nur ganz ausnahmsweise einmal ran“, erzählt Metz mit einem Schulterzucken.<br />

Inzwischen hat sich n-ost auf die Bedürfnisse der Zeitungen<br />

eingestellt – und die haben Vertrauen zu dem neuen Partner gefasst.<br />

Werktäglich bietet das Netzwerk im Schnitt zwei Artikel an, im Monat<br />

können die n-ostler mittlerweile 35 bis 40 Abdrucke zählen. Zu den<br />

Kunden zählen neben zahlreichen lokalen und regionalen Zeitungen<br />

inzwischen auch die Frankfurter Allgemeine, die Welt, die taz und<br />

Spiegel online. „Manche Artikel werden gar nicht genommen, manche<br />

gleich von mehreren Zeitungen“, berichtet Andreas Metz. „Reich werden<br />

dabei allerdings weder die Autoren, die nach dem Standardsatz der<br />

Zeitungen bezahlt werden, noch das n-ost-Koordinationsbüro, das eine<br />

Provision einbehält. Diese Einnahmen reichen nicht einmal zur Deckung<br />

der Bürokosten, und das dürfte auch auf absehbare Zeit so bleiben.“<br />

Daher versteht sich n-ost eher als Interessensvertretung denn als<br />

Wirtschaftsunternehmen. Jedenfalls ist die Zahl der Abdrucke nicht das<br />

einzige Maß, an dem Andreas Metz die Wirkung von n-ost gemessen<br />

sehen will: „Auch die Artikel, die nicht gedruckt werden, werden von<br />

den Redakteuren gelesen, geben Anregungen und bereiten das Feld für<br />

osteuropäische Themen. Und wenn das nächste Mal ein Artikel zu<br />

einem ähnlichen Thema kommt, dann denkt der Redakteur nicht mehr<br />

´Was ist denn das?´ sondern ´Aha - darüber habe ich doch schon mal<br />

etwas gelesen!´"<br />

Seit Mitte der 70iger Jahre kommen immer mehr deutsche Reisegruppen<br />

nach Kopaniec. Es sind Schicksalsgenossen, sie wollen die alte Heimat<br />

wiedersehen, beim Zusammensein sich über ihren Lebensweg unterhalten,<br />

die alten Häuser besuchen, und wenn es sich ergibt, auch<br />

Gespräche mit den heutigen Besitzern führen. Es ist dieser sehr persönliche<br />

Zugang zum Thema, der emotional berührt, oftmals auch aufwühlt.<br />

Ich, der durch den Film das erste Mal mit dem Thema intensiv in Berührung<br />

kam, wurde „gepackt“ von den Schilderungen der Menschen. Jeder erzählte<br />

sein Schicksal, wie er es erlebt und heute in seiner Erinnerung aufbereitet<br />

hat. Unmittelbare historische Wertungen werden nicht gegeben,<br />

man versteht die Menschen, will dem einen und dem anderen Recht geben und<br />

sieht sich plötzlich mitten in der Zerrissenheit dieses Gegenstandes wieder.<br />

Die Regisseurin zeigt auch die Lebenswege von nach Sibirien vertriebenen<br />

und zurückgekehrten Polen sowie von Deutschen, die eine familiäre<br />

Verwurzelung in Schlesien besitzen und hier einen Neuanfang wagen.<br />

Nach der Filmvorführung hatten die Zuschauer die Möglichkeit, mit der<br />

Regisseurin ins Gespräch zu kommen und eigene Ansichten über den<br />

Film zu äußern. Das Publikum im Saal war gemischt, darunter auch<br />

direkt oder indirekt (über ihre Eltern oder Großeltern) Betroffene. Ein<br />

Pole hatte Frau Badura folgende Frage gestellt: „Warum haben Sie in keiner<br />

Aussage in ihrem Film hervorgehoben, dass alles, was damals geschehen<br />

ist, Hitlers und damit der Deutschen Schuld ist?“ „Es liegt alles viel<br />

tiefer“, – antwortete sie. Und sie hat Recht.<br />

Hawdala im Weißen Storch<br />

Eine junge Szene und eine reiche Vergangenheit<br />

charakterisieren die jüdische Gemeinde Breslaus.<br />

Das konnten die Festivalteilnehmer bei einem<br />

Synagogenkonzert und Friedhofsbesuch erfahren.<br />

¬ Nina Körner, n-ost-Korrespondentin<br />

■ Punkt 18:43 müsste es beginnen, das Hawdala-Konzert,<br />

genau zum Sonnenuntergang, genau zum Shabbat-Ende, wenn<br />

in ganz Breslau die letzten Sonnenstrahlen durch gelbe<br />

Ahornblätter fallen. Doch an diesem Oktobersamstag beginnt<br />

es etwas später. Man wartet auf die Gäste des <strong>MitOst</strong>-Festivals.<br />

Mehr als dreihundert Personen drängen sich in der Breslauer<br />

Synagoge „Zum weißen Storch“, um den Klezmersound der<br />

Gruppe „Cukunft“ zu hören. Deren Besetzung ist unkonventionell.<br />

Neben Klarinette und Fagott gibt es Schlagzeug und eine<br />

Elektrogitarre, auf der zuweilen gegeigt wird. Es gibt nichts, was<br />

die Musik aufhalten kann. Nur Erdgeschoss und Decke der<br />

Synagoge sind renoviert, die Bögen der zweistöckigen<br />

Balustrade zeigen blanke Ziegel. Melancholische und übermütige<br />

Töne ziehen durch einen einzigartigen Raum zwischen<br />

Jugendstil und Neuer Sachlichkeit. „Hawdala ist ein kleines<br />

Ritual, das den Shabbat von der weltlichen Zeit, der<br />

Arbeitswoche, trennt. Danach haben wir unsere Konzerte<br />

benannt“, erklärt Karolina Szykierska, die zierliche Organisatorin.<br />

Für Karolina sind die Synagogenkonzerte Teil eines jüdischen<br />

Revivals: „Die Generation unserer Eltern wurde im Sozialismus<br />

atheistisch erzogen. Daher besteht die jüdische Gemeinde zum<br />

großen Teil aus älteren Leuten. Doch es gibt immer öfter junge<br />

Leute, die nach ihren Wurzeln suchen. Wie bei unseren<br />

Konzerten in Breslau.“ In Breslau, das ist ihr wichtig. Breslau war<br />

die Stadt des assimilierten, deutschsprachigen Judentums, im<br />

Gegensatz zu Krakau, wo sich das osteuropäische Judentum<br />

sammelte. Das zeigen auch die unorthodoxen Formen der<br />

mitost magazin extra ¬<br />

Gräber, die kleinen Pyramiden und Tempel in klassizistischem<br />

Stil oder in Art Deco, auf dem jüdischen Friedhof im Süden der<br />

Stadt. Von 1806 bis 1942 ließ sich das aufgeklärte Judentum<br />

hier bestatten. Zwischen Efeuranken, Baumstümpfen, gelbem<br />

Ahornlaub liegen Berühmtheiten: Ferdinand Lassalle, der<br />

Philosoph und Gründer der ersten sozialistischen Partei in<br />

Deutschland, nachdem er sich mit dem Vater seiner künftigen<br />

Frau duelliert hatte. Mehrere deutsche Kanzler haben bei<br />

Polenreisen diesem Grab einen Besuch abgestattet. Oder Edith<br />

Stein, die zum katholischen Glauben konvertierte, den<br />

Karmeliterinnen beitrat und aus ihrem Ordenshaus deportiert<br />

wurde. Seit vierzehn Jahren führt Wladislaw Cagara über das<br />

Friedhofsmuseum. „Neun von vierzig jüdischen Nobelpreisträgern<br />

stammen aus Breslau und Umgebung“, erzählt der alte Mann<br />

einer polnischen Schulklasse leidenschaftlich. Dreihundert<br />

Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde Breslau heute. Mehr als<br />

in Krakau, wie Karolina betont. Wegen der bewegten Stadtgeschichte,<br />

dem Kommen und Gehen verschiedener Nationalitäten,<br />

findet sie nichts typischer für Breslau als Internationalität<br />

und Offenheit. Wenn sich auch alte Möbel im Flur der Synagoge<br />

stapeln, die Stiegen baufällig sind und die Renovierung sich<br />

wegen fehlender Mittel hinzieht, so ist Breslau, nach Karolinas<br />

Worten, doch „der schönste Fleck in Polen“. Mag sein, dass<br />

mancher Festivalteilnehmer ihre Meinung teilt, während er über<br />

den nächtlichen Synagogenhof geht und das gelbe Laub leise<br />

unter den Füßen raschelt.<br />

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mitost magazin extra ¬<br />

Lächeln unter anderen Umständen<br />

Interview mit einem belarussischen Festival-Teilnehmer,<br />

der internationale Bildungsprojekte mit Jugendlichen und<br />

Erwachsenen koordiniert<br />

INFOTEXT:<br />

Während des Festivals in<br />

Breslau organisierte die<br />

Deutsche Gesellschaft<br />

für Auswärtige Politik<br />

eine Podiumsdiskussion.<br />

Unter dem Thema<br />

„Neue Grenzen in<br />

Europa – oder neue<br />

Chancen einer<br />

Europäischen Nachbarschaftspolitik?!“<br />

debattierten mehrere<br />

Politiker und Politikwissenschaftler<br />

über<br />

das künftige Verhältnis<br />

zwischen Europäischer<br />

Union und Belarus.<br />

Was ist für Sie Belarus und die „Europäische Union?<br />

➜<br />

Die EU ist eine Union von vielen Ländern, wo man die Werte von Freiheit, Gleichberechtigung<br />

wirklich im Alltagsleben nicht nur sehen, sondern auch diskutieren kann. Denn wenn ich die<br />

Situation in meinem Land sehe, dann haben wir im Prinzip mehr Kontrolle als Freiheit. Wenn<br />

man nach Westeuropa fährt, dann nimmt man einen Atem von Freiheit mit. Dann kommt man<br />

wieder nach Weißrussland und wenigstens für ein Jahr reicht es, die Freiheit in Portionen auszuatmen.<br />

Ich mag mein Land sehr, weil die Natur schön ist, das ist ein bisschen poetisch, es gibt<br />

gute, kreative Leute mit interessanten Ideen, die sogar unter den heutigen Bedingungen sehr viel<br />

machen. Die Leute sitzen mit einem Lächeln im Restaurant, ich würde sagen, wir sind nicht von<br />

der Mentalität, dass wir mit Schwierigkeiten traurig leben, sondern wir lachen!<br />

Wie schätzen Sie den Widerstand in Belarus ein?<br />

➜<br />

Es kann sein, dass es einen Zufall gibt, dass plötzlich Zehntausend auf die Straße gehen würden.<br />

Und diese Zehntausend würden dann immer wieder kommen. Aber die Umstände sind nicht so<br />

wie in der Stalinzeit, dass man Angst haben muss, dass ein Auto in der Nacht kommt und dich<br />

mitnimmt. Man hat eine Arbeit, man hat ein Existenzminimum, die Menschen sind dadurch<br />

weniger revolutionär. Und über normale Wege wie die Wahlen ist man gewohnt, dass sich nichts<br />

mehr verändert. Lukaschenko arbeitet nach dem Prinzip von Stalin: „Die Wahlen gewinnt nicht<br />

der, der wählt, sondern der, der zählt!” In Belarus haben nur 20 Prozent der Leute Zugang zu alternativen<br />

Informationsquellen, die auch wissen, dass es Deklarationen gibt gegen das Regime. Die<br />

unabhängige Tageszeitung „Narodna Volja“ können Sie zum Beispiel nicht am Kiosk kaufen.<br />

Projekte für und mit Belarus durchzuführen, wird immer schwerer.<br />

Was kann man Ihrer Meinung nach überhaupt noch tun?<br />

➜<br />

Wenn es die Möglichkeit gibt, dann soll man private, kleine Projekte machen, keine großen<br />

Projekte, weil, die kann man sehr gut bremsen. Durch viele kleine könnte ein großer Fluss entstehen.<br />

Aber momentan wird die Situation allgemein immer schlimmer. Deswegen sollte man<br />

mit den Leuten, die zu den Demonstrationen kommen, Solidarität zeigen. Nicht nur alle paar<br />

Monate, sondern immer wieder.<br />

Wie könnte Belarus in zwanzig Jahren aussehen?<br />

➜<br />

Ich bin optimistischer Pessimist, hier eher Optimist. Gerade das, was ich heute mache, mit all<br />

den Schwierigkeiten, muss ich machen, auch wenn es gefährlich ist. Belarus wird vielleicht kein<br />

Mitglied der Europäischen Union werden. Aber ich bin auch gegen eine Union mit Russland,<br />

denn das bedeutet, wir würden einfach gefressen werden. Die EU würde ich als sehr, sehr guten<br />

Nachbar sehen. Ich glaube, Belarus könnte einmal so ein unabhängiger Staat wie die Schweiz<br />

werden.<br />

¬ Das Gespräch führte <strong>MitOst</strong>-Mitglied Andrea Nehr. Nach einem Gesetz, das die belarussische Regierung Ende<br />

2005 verabschiedet hat, können Personen, die sich im Ausland kritisch über Weißrussland äußern, mit Haftstrafen<br />

belangt werden. Deshalb wird der Name des Interviewten nicht genannt.<br />

Der Abend im Projektehaus:<br />

¬ Sanna Schondelmayer, <strong>MitOst</strong>-Vorstandsmitglied 2004/2005, Berlin<br />

■ Hurra, die Projekte sind im Haus! Endlich! Und dann auch noch in einem<br />

so schönen Haus. Durch die großen Flügeltüren des Puppentheaters,<br />

dass majestätisch über der Festivalzentrale thront, kommt man über eine<br />

marmorne (oder zumindest an Marmor erinnernde Treppe) in den großen<br />

Saal des Hauses, dessen hohe Decken durch 6 stolze Säulen getragen werden.<br />

An den Säulen, mit feinen Bändern befestigt, hängen Fotos, Plakate und<br />

Beschreibungen, rechts schmücken drei gelbe Tuchbahnen, die von<br />

unten rot beleuchtet werden, den Raum. Entlang der mintgrünen<br />

Wände stehen mit Stoffen geschmückte Tische, darauf Kartonbögen<br />

ebenfalls mit Fotos und Beschreibungen und auf den Tischen findet der<br />

Besucher weiteres Anschauungsmaterial. In den vier Ecken des Raumes<br />

je zwei Aufstellfahnen, die dem Gast den Weg zu den Programmen weisen,<br />

die sich am Fuße ihrer Fahnen mit schwer beladenen Tischen voll<br />

Informationsmaterial, Fotos und Hörbars positioniert haben.<br />

Der Säulengang führt zu einer weiteren Tür, die sich als Eingang in ein<br />

Zugabteil entpuppt. Quer durch Osteuropa kann man hier fahren, wenn<br />

man eine Idee für ein spannendes Projekt hat, in dem es um Völkerverständigung,<br />

um Sprach- und Kulturaustausch, um das praktische<br />

Erleben interkultureller Kommunikation geht. Öffnet man die Hintertür<br />

des Europazuges, umgibt einen Dunkelheit – Stille – zunächst. Hat sich das<br />

Auge nach dem Sprung aus dem Zug an die Umgebung gewöhnt, sieht<br />

der Ankömmling eine große Filmleinwand, hört leises Gewisper in den<br />

Reihen der Zuschauer und wird von den Filmemachern mitgenommen<br />

auf die nächste Reise, als retrospektiver Zuschauer eines Projektes nach<br />

Litauen, nach Galizien oder in die transzendenten Welten der Frage: was<br />

sehe ich?<br />

Gerade mal zwei Stunden haben die Zuschauer Zeit, sich alles anzusehen,<br />

mit den Projektleitern, die neben ihren Exponaten stehen, zu<br />

reden, Fragen zu stellen, gemeinsam Ideen für neue Projekte zu spinnen.<br />

Zwei Stunden sind die Räume voll von Stimmengewirr. Hier wird<br />

gelacht und dort ernsthaft diskutiert, da vorne bemüht sich jemand,<br />

jedes Projekt ganz genau anzusehen und hier mittendrin lässt man sich<br />

mit einem Glas Wein in der Hand eher durch die Menge treiben, erhascht<br />

hier und da einen Blick auf ein Exponat. Kaum einer ist an diesem<br />

Abend zu Hause geblieben. Man hat den Eindruck eines gelungenen<br />

Abends und keiner möchte um 22.00 Uhr gehen. Um 23.00 Uhr haben es<br />

die Heinzelmännchen und der Hausmeister des Puppentheaters geschafft:<br />

auch die letzte gutgelaunte Gruppe der Projekthausbesucher ist gegangen,<br />

die schweren Türen fallen ins Schloss. So märchenhaft erschien mir<br />

alles am Abend der Eröffnung. Aber wagen wir mal einen Blick zurück.<br />

Die Vorgeschichte zum Projektehaus:<br />

Mitte Juli 2005. Monika Sus ist in Breslau bereits tief in die Vorbereitung<br />

des Festivals eingestiegen. Langsam wird es auch für mich Zeit, die Präsentation<br />

der Projekte zu planen. Obwohl ich weiß, dass viele Projekte<br />

noch im Laufen sind, manche gerade erst begonnen haben, denke ich,<br />

es ist höchste Zeit, die Projektleiter wegen ihrer Präsentation anzufragen.<br />

Auf meine Rundmail bekomme ich von 13 Projektleitern zwei<br />

schnelle und klare Antworten, von fünf weiteren sehr nette E-Mails mit<br />

mitost magazin extra ¬<br />

guten Gründen, warum sie sich jetzt noch nicht mit dem Thema<br />

Präsentation befassen können; von manchen höre ich gar nichts. Dann<br />

plane ich eben zunächst den Raum, denke ich mir und rufe Moni in<br />

Breslau an. Aber welche Angaben soll ich ihr mitteilen? Wie viele Leute<br />

werden präsentieren? Wie viel Platz brauchen sie? Was muss sonst in<br />

dem Raum sein? All das kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht beantworten.<br />

Gut, denke ich mir, fange ich eben mit den Programmleitern an. Die<br />

Programme sollen ja auch im Projektehaus präsent sein, denn es geht<br />

schließlich auch darum, zu zeigen, wie vielfältig und breit die<br />

Projektarbeit bei <strong>MitOst</strong> gefächert ist, darum, Projektleiter und<br />

Projektinteressierte zu vernetzen und den Mitgliedern zu zeigen, wo sie<br />

sich überall engagieren können. Eine grobe Absprache mit den<br />

Programmleitern ist schnell getroffen, aber auch die möchten gerne<br />

Konkreteres wissen. Wie viel Platz können wir haben? Sollen wir auch<br />

Projekte aus unseren Programmen präsentieren? In welcher Form präsentieren<br />

sich die anderen? Es hilft nichts. Ich muss mehr von den<br />

Projektleitern wissen. Die nächste Rundmail geht raus. Auch hier bleibt<br />

die Resonanz spärlich und häufig unkonkret: Ja, wir kommen zum<br />

Festival! Ja wir möchten gerne was präsentieren. Vielleicht Fotos oder<br />

einen Film. Unser Projekt hat gerade angefangen, wir können noch<br />

nichts sagen! Verständlich! Ich merke, dass ich kurzfristiger planen muss<br />

und widme mich anderen Dingen.<br />

Ende August. Der Raum steht. Ein schöner Raum, groß, hell,<br />

direkt über der Festivalzentrale. Perfekt! Nur darf man nichts an die<br />

Wände hängen. Nicht kleben, nicht nageln. Nichts. Stellwände gibt es<br />

drei. Und ich habe 13 Projekte und 4 Programme. Partner und Freunde<br />

von <strong>MitOst</strong> haben inzwischen auch schon ihr Interesse angekündigt.<br />

Eine Konstruktion zur Hängung muss her. Möglichst günstig und freistehend.<br />

In der Schillerstrasse werden Ideen und Stoffe und Seile gesammelt,<br />

in Breslau nach Kartonherstellern geforscht. Aber Moni kümmert<br />

sich schon um alles andere, die Kartons muss ich also selbst besorgen.<br />

Von den Projektleitern trudeln die ersten konkreten Angaben ein. Es<br />

beginnt die Zeit der Nach- und Rückfragen. „Kann ich einen Beamer und<br />

einen PC mit Wechsellaufwerk haben? Gibt es Internetzugang im<br />

Projektehaus? Ich würde gerne 20 Fotos aufhängen!“ Die Spannung<br />

steigt. Lässt sich alles, was ich mir am Schreibtisch ausgedacht habe, in<br />

den Räumen umsetzen?<br />

23. Oktober. Ich reise nach Breslau. Der Raum ist wunderbar.<br />

Woher ich die Kartonplatten bekomme - noch unklar. Tische können wir<br />

aus einer Schule am anderen Ende der Stadt ausleihen. Am folgenden<br />

Tag kommt der Kleinbus aus der Schillerstrasse an mit den Stoffen, den<br />

Aufstellern und mit Miriam, die in den folgenden Tagen erleben wird,<br />

was ihre Tätigkeit als Büroleiterin so alles beinhaltet. Einen Kleinbus<br />

durch eine fremde Stadt kutschieren, Tische und Stühle tragen sowie<br />

den Bus so packen, dass alles zur richtigen Zeit am richtigen Ort ausgeladen<br />

werden kann. Seile spannen, Tische verschrauben, Ruhe bewahren<br />

und ein Lächeln. Sylwia erklärt uns die Fahrtstrecken und schickt<br />

Helfer, Nadine Csonka kommt mit der Wahlurne und krempelt die Ärmel<br />

hoch und jedem, der beim Aus- und Einladen vorbeikommt, wird<br />

schnell ein Tisch unter den Arm gedrückt. Der Hausmeister – zunächst –<br />

zurückhaltend, ist aufgetaut und hilft, so gut er kann. Überwacht aber<br />

auch streng, dass wir die Wände nicht berühren. Am 25. Oktober kommen<br />

die ersten Projektleiter. Plätze, Kartonplatten, Klebstifte, Scheren<br />

und Stoffe werden verteilt. Im angrenzen Theaterraum werden die Leinwand<br />

und der Beamer für Filme, Powerpoint und Diashows installiert.<br />

26. Oktober. Nach der offiziellen Eröffnung am Morgen bleiben<br />

am Nachmittag drei Stunden, um alles bis 20.00 Uhr aufzubauen. –<br />

Vorher konnten wir den Raum nicht bekommen. Um 17.30 Uhr – die<br />

Projektleiter warten drauf, dass sie ihre DVDS und CDs testen können,<br />

teilt mir der Hausmeister mit, im kleinen Theater, wo unser Beamer<br />

steht, finde jetzt eine Kinderveranstaltung statt, die verlegt werden musste.<br />

Ab 19.30 Uhr könnten wir den Raum aber haben. Ich nehme an, es<br />

war die Panik, die sich in meinem Gesicht abgezeichnet haben muss,<br />

die unseren Ansprechpartner dazu brachte, für die Kinder doch noch<br />

einen anderen Raum zu finden. Und so hing, stand und funktionierte<br />

um 19.30 Uhr alles so, als sei es schon immer da gewesen. Na ja fast.<br />

Aber auf kleine Änderungen kam es an diesem Punkt nicht mehr an.<br />

Jeder und jede der Aussteller und Helfer hatte in den letzten Stunden<br />

dazu beigetragen, dass ein gelungener Abend und eine schöne<br />

Präsentation zustande kamen.<br />

12 <strong>MitOst</strong>magazin extra<br />

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