06.02.2013 Aufrufe

Moderne Architektur und sozialer Wohnungsbau - Arbeit und Leben ...

Moderne Architektur und sozialer Wohnungsbau - Arbeit und Leben ...

Moderne Architektur und sozialer Wohnungsbau - Arbeit und Leben ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Moderne</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> <strong>sozialer</strong> <strong>Wohnungsbau</strong>- das Beispiel der Stadt Brüssel<br />

Ein Bericht von Walter Neuling<br />

Studienseminar vom 14. bis 17. Juni 2011<br />

Ende Juni führte ein 4-tägiges Studienseminar die Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen des DGB in der<br />

Architektenkammer NRW nach Brüssel. Organisiert von der Landesarbeitsgemeinschaft „<strong>Arbeit</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Leben</strong>“ <strong>und</strong> betreut von der Vertretung des DGB in Brüssel standen Aspekte der<br />

Stadtentwicklung <strong>und</strong> des <strong>Wohnungsbau</strong>s auf der Agenda. Das Ziel Brüssel war aus verschiedenen<br />

Gründen gewählt worden:<br />

- In Brüssel ist die Abhängigkeit der städtebaulichen Situation von gesellschaftlicher<br />

<strong>und</strong> politischer Entwicklung deutlich erkennbar <strong>und</strong> nachvollziehbar.<br />

- Der Konflikt zwischen der Entwicklung des Dienstleistungssektors mit entsprechenden<br />

Büroflächen <strong>und</strong> der Wohnsituation in urbanen Zentren wird hier besonders deutlich.<br />

- Nicht zuletzt wird sich Brüssel in der Zukunft mehr <strong>und</strong> mehr zu einer Hauptstadt Europas<br />

entwickeln <strong>und</strong> damit hohe Aufmerksamkeit für die Entwicklung der Stadt <strong>und</strong><br />

des Wohnens auf sich ziehen.<br />

Einführung in das Programm im Sitzungsraum der DGB-Vertretung in Brüssel<br />

Das Hauptthema des Seminars „<strong>Moderne</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> <strong>sozialer</strong> <strong>Wohnungsbau</strong>“ erschließt<br />

sich aus den historisch gewachsenen Schichten der Stadt Brüssel. Bei der Erschließung<br />

dieser Schichten waren die Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter der ARAU „Atelier de Recherche<br />

et dÁction Urbaines“ hoch sachk<strong>und</strong>ige Referenten <strong>und</strong> Exkursionsbegleiter. Diese Organisation<br />

setzt sich im Sinne eines Anti- Le Corbusier für die Revitalisierung <strong>und</strong> Belebung des<br />

urbanen Zentrums Brüssels durch Wohnungen <strong>und</strong> soziale Infrastruktur ein.


Stadtentwicklung <strong>und</strong> –struktur<br />

Für die heutige Struktur sind nach unseren Erkenntnissen maßgebliche Entwicklungen:<br />

- die Erhaltung <strong>und</strong> stark touristische Nutzung von nur geringen Teilen der mittelalterlichen<br />

Stadt<br />

- die repräsentative Umgestaltung Brüssels im 19.Jahrh<strong>und</strong>ert unter einer konstitutio-<br />

nellen Monarchie mit Leopold II an der Spitze<br />

- der Bau eines Eisenbahntunnels unter der Altstadt<br />

- die Errichtung <strong>und</strong> Ausbreitung der europäischen Institutionen sowie der NATO<br />

- die komplizierte föderale Struktur Belgiens <strong>und</strong> die Verwaltungssituation in Brüssel<br />

Die mittelalterliche Stadt Brüssel war eine der größten <strong>und</strong> reichsten Städte Europas. Sie<br />

wurde 1695 durch französische Truppen fast vollständig zerstört, die Dimension der Stadt ist<br />

heute noch durch die Ringstrasse erfahrbar. Geblieben ist das großartige <strong>und</strong> von Touristen<br />

geschätzte Gebäudeensemble des „Großen Platzes“ mit Rathaus <strong>und</strong> Hotel de Ville. (Der<br />

Platz wurde 1998 mit seinem Ensemble zum Weltkulturerbe der UNESCO).<br />

Die Gründung des Staates Belgien <strong>und</strong> der auf Kohle, Stahl <strong>und</strong> Textilien beruhende Reichtum<br />

dieses Landes prägen auch heute noch die Struktur der Stadt. Unter Leopold II (1835-<br />

1909) veränderte sich das Stadtbild Brüssels gr<strong>und</strong>legend. Der auch aus der Ausplünderung<br />

der Kolonie Kongo stammende Reichtum wurde für repräsentative Bauprojekte vor allem auf<br />

den Hügeln im Osten der Stadt eingesetzt.<br />

2


Historische Altstadt <strong>und</strong> Justizpalast, Parc <strong>und</strong> Regierungsviertel,<br />

Europaviertel, Triumphbogen<br />

Eine Voraussetzung war die Verrohrung des Flusses Senne, der als Kloake für drei Cholera-<br />

Epedemien verantwortlich gemacht wurde. Auf dem ehemaligen Flussgelände wurde nach<br />

Plänen des Pariser Architekten Haussmann ein Prachtboulevard angelegt, der „Boulevard<br />

Anspach“. Gesäumt von prachtvollen Fassaden liegt, bezeichnend für die bürgerlichkapitalistische<br />

Gesellschaft des 19.Jh, die Börse.<br />

Die Börse am Boulevard Anspach<br />

3


Später erfolgte die Verfüllung der Hafenbecken im Stadtgebiet, am ehemaligen Fischereihafen<br />

liegt heute auf einem ansprechend gestalteten Platz vor der Kirche St Catherine ein<br />

Schwerpunkt von hochwertigen Fischrestaurants.<br />

Quai aux Briques, ehemaliges Becken des Fischereihafens<br />

Besonders beeindruckend ist der Bau des Justipalastes als Ausdruck bürgerlicher Macht <strong>und</strong><br />

liberaler Gesinnung. Er entstand an Stelle alter Adelssitze in den Jahren 1866 bis 1883 am<br />

Ende einer Achse, die vom alten Königsplatz bergauf führt.<br />

Justizpalast vom Place Royale gesehen<br />

4


Dass ein so städtebaulich exponierter Punkt nicht wie sonst in Europa mit einem Schloss,<br />

sondern einem gewaltigen Gerichtgebäude gekrönt wird, zeigt das Selbstbewusstsein der<br />

bürgerlichen Gesellschaft des neuen Staates Belgien. Der Respekt vor der Justiz als Gr<strong>und</strong>lage<br />

des bürgerlichen Staates wurde hier in Stein gemeißelt.<br />

Justizpalast<br />

Der Justizpalast galt mit einer Ausdehnung von 160x150m lange als das weltweit größte<br />

Gebäude <strong>und</strong> wurde erst mit dem Bau des Pentagon in Washington von diesem Platz verdrängt.<br />

Justizpalast – Portal <strong>und</strong> Halle<br />

5


Als östlicher Rand der Prachtbauten entstand zur 50-Jahr Feier des Staates Belgien der Jubelpark<br />

mit halbkreisförmigen Prachtbauten, die heute Museen beherbergen. Zwischen den<br />

beiden halbkreisförmigen Säulenreihen entstanden die drei Bögen des Cinquantenaire mit<br />

einer Quadriga.<br />

Eine Parallelität ergab sich auf der Sommerexkursion 2011 in Detmold. Interessant ist der<br />

Vergleich zwischen dem Parc de Bruxelles <strong>und</strong> dem Kaiser-Wilhelm Platz in Detmold. In beiden<br />

Fällen dient ein Park als Gr<strong>und</strong>gerüst zentraler staatlicher Institutionen der konstitutionellen<br />

Monarchien des späten 19.Jahrh<strong>und</strong>erts. Auf der Südseite des Parcs de Bruxelles<br />

liegt der Königspalast, auf der Nordseite Parlament <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esregierung. Auf der Ostseite<br />

finden sich Botschaften sowie die Regionalregierung von Brüssel. Auf der Westseite die<br />

größte Bank des Landes, im Parc das königliche Theater.<br />

Parc de Bruxelles<br />

6


Königspalast (18Jh, umgebaut 1904) Parlament (1783)<br />

Ähnliches fanden wir am Kaiser-Wilhelm Platz mit lippischem Parlament <strong>und</strong> Regierung,<br />

Postamt <strong>und</strong> Kirche. Die Situation ist auch vergleichbar mit dem Lustgarten in Berlin, dessen<br />

vier Seiten von den tragenden Säulen des preußischen Staates gesäumt werden: Das<br />

Schloss (König), das Zeughaus (Militär), der Dom (Kirche) <strong>und</strong> Alte Nationalgalerie (Künste).<br />

Als interessanten Kontrapunkt gegen die Liberalen setzten die zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

erstarkenden Katholischen Parteien den Bau einer Kathedrale auf der Westseite der<br />

Stadt, die Heilig Kreuz Basilika. Diese Kirche, im Art Deco-Stil von 1920 bis in die 50er hinein<br />

errichtet, ist auch heute noch eine der größten katholischen Kirchen der Welt.<br />

Die erstarkenden Sozialisten setzten Ende des 19. Jh mit dem Bau des Volkshauses in<br />

Brüssel ein drittes bauliches Ausrufezeichen. Erstmalig nur mit den neuen Baustoffen Stahl<br />

<strong>und</strong> Glas errichtete der Architekt Victor Horta 1896-1899 in der „Art Nouveau“ ein herausragendes<br />

Gebäude des Jugendstils. Dieses Gebäude ist heute leider durch einen modernen<br />

Hochhausbau ersetzt worden.<br />

Bereits die historische Stadt war geteilt in die Unterstadt in der Flussniederung der Senne<br />

<strong>und</strong> die Oberstadt auf den östlich angrenzenden Hügeln. Im Gegensatz zu anderen europäischen<br />

Städten, bei denen die Wohnviertel des Adels <strong>und</strong> der reichen in der Hauptwindrichtung<br />

auf der Westseite der Städte liegen, war die Oberstadt im Osten der bevorzugte Wohnort<br />

des Adels <strong>und</strong> später des gehobenen Bürgertums.<br />

7


Die topographische <strong>und</strong> soziale Spaltung der Stadt wurde beginnend mit den 30er Jahren<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts durch den Bau eines Eisenbahntunnels verschärft. Der Bau dieses<br />

Tunnels, der 1954 fertig gestellt wurde <strong>und</strong> den Bahnhof Nord mit der Station Midi verbindet,<br />

schlug eine Schneise in die Stadt, die mit dem Bau von Geschäfts- <strong>und</strong> Bürohäusern geschlossen<br />

wurde. Wohnungen <strong>und</strong> sonstige Infrastruktur entstand nicht, so dass zumindest<br />

in den Abendst<strong>und</strong>en ein fast menschenleerer unbelebter Streifen die Oberstadt <strong>und</strong> Unterstadt<br />

trennt.<br />

Congressäule <strong>und</strong> Liechtensteiner Botschaft an der Grenze der Oberstadt<br />

Symptomatisch ist der Ersatz einer großen Freitreppe aus der Unterstadt zum Place du<br />

Congrès / Congresplein mit der Kongress-Säule (Colonne du Congrès/Congreskolom). Die<br />

Säule erinnert an die Erschaffung des belgischen Staates <strong>und</strong> der Verfassung durch die Nationalversammlung<br />

1830-1831 <strong>und</strong> beherbergt auch das „Grabmal des Unbekannten Soldaten“.<br />

Sie wurde durch ein Parkhaus ersetzt, in dem die fußläufige Verbindung über fast höhlenartige<br />

Gänge geführt wird.<br />

Treppe zum Place Royale (Oberstadt) Treppe unterhalb Congressplein<br />

8


Mit der Gründung der EWG 1956 setzte ein Prozess ein, an dessen Ende Brüssel durch die<br />

Verträge von Amsterdam 1997 zur „europäischen Hauptstadt“ wird. Heute haben die drei<br />

wichtigen Institutionen der EU (Kommission, Rat <strong>und</strong> Parlament) ihren Sitz in Brüssel.<br />

Die Entwicklung der Europäischen Union <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>ene Raumbedarf waren<br />

1958 nicht absehbar, die bauliche Entwicklung der Einrichtungen der Kommission erfolgte<br />

zum Teil ungeplant bzw. ohne konzeptionelle städtebauliche Planung.<br />

Das heutige Europaviertel entstand aus dem Abriss gewachsener Quartiere in der Erweiterung<br />

des belgischen Regierungsviertels. Allein die EU-Kommission nutzt heute in Brüssel 65<br />

Gebäude. Später wird Brüssel auch noch Sitz der NATO, so dass ein bis heute ungebrochener<br />

Boom an Büroneubauten <strong>und</strong> Umnutzung von Wohngebäuden für Büros entsteht.<br />

Gare du Luxembourg <strong>und</strong> Europaparlament<br />

Neben den ca. 30.000 EU- <strong>und</strong> NATO-Bediensteten arbeiten noch ca. 20.000 Menschen in<br />

Verbindungs- <strong>und</strong> Lobbybüros. Es gibt geschätzt ca. 3000 Lobby-Büros <strong>und</strong> noch einmal<br />

3000 Consultingbüros mit Bezug zur Gemeinschaft <strong>und</strong> den Mitgliedsstaaten. Brüssel verfügt<br />

mit 14 Mio. qm Bürofläche nach Paris <strong>und</strong> London über die drittgrößte Bürofläche der Welt.<br />

Während dies aber in Paris <strong>und</strong> London eine Quote von ca. 3 qm pro Einwohner bedeutet,<br />

sind dies in Brüssel ca. 14 qm pro Einwohner.<br />

9


Berlaymont – Sitz der EU Kommission<br />

Private Investitionen in Wohnraum sind in Brüssel in den vergangenen Jahren weitgehend<br />

ausgeblieben. Vorherrschend ist der Ersatz oder die Umwandlung von Wohnhäusern durch<br />

Büros. Ein großer Teil der im Jugendstil errichteten Wohngebäude wird heute als Bürofläche<br />

genutzt. Dies gilt auch für das Haus der skandinavischen Gewerkschaften, in dem das DGB-<br />

Verbindungsbüro als Mieter untergebracht ist.<br />

DGB-Verbindungsbüro<br />

Aus städtebaulicher Sicht besteht heute die Forderung, ein neues Europaviertel auf einer der<br />

großen brachliegenden Bahngelände zu entwickeln. Diese Absicht hat bereits heute zu einer<br />

leichten Entspannung bei den Mieten sowohl für Büros als auch für Wohnungen geführt.<br />

10


Baustile<br />

Prägende Baustile für das Stadtbild des 19. <strong>und</strong> frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert sind Historismus,<br />

Jugendstil <strong>und</strong> Art Deco. Insbesondere der Jugendstil wird auch durch entsprechende Führungen,<br />

u.a. durch ARAU, touristisch in Wert gesetzt.<br />

Jugendstil Art Deco (Citroen-Niederlassung 1926)<br />

Als Architektonisch fragwürdig wird eine zeitweise geltende Bauvorschrift eingestuft, nach<br />

der beim Ersatz von Altbauten durch Neubauten die alte Fassade erhalten bzw. in den Neubau<br />

integriert werden soll. Die Kollegen von ARAU bezeichnen diesen Stil als „<br />

Fassadismus“.<br />

Fassadismus<br />

11


Staat <strong>und</strong> Verwaltung<br />

Die belgische Staatsorganisation <strong>und</strong> der Verwaltungsaufbau gelten als einer der kompliziertesten<br />

der Welt. Seit 1980 ist Belgien ein föderaler Staat, seit dieser Zeit hat sich die Aufgabenwahrnehmung<br />

auf verschiedene Ebenen verlagert. Der belgische Staat ist heute v.a.<br />

verantwortlich für die Bereiche Justiz, Finanzen, Außen <strong>und</strong> Verteidigung. Unterhalb der<br />

Zentralebene existieren eine territoriale <strong>und</strong> eine personengruppenbezogene Struktur.<br />

Belgien besteht heute aus den drei Regionen Wallonie, Flandern <strong>und</strong> Brüssel-Capitale (seit<br />

1989). Diese Regionen sind vor allem für Fragen des Verkehrs, Bauens, der Umwelt <strong>und</strong><br />

Wirtschaft zuständig.<br />

Daneben bestehen gleichwertig die Verwaltungen der Sprachgemeinschaften Deutsch,<br />

Französisch <strong>und</strong> flämisch (niederländisch). Diese Sprachgemeinschaften sind vor allem für<br />

die Bereiche Bildung <strong>und</strong> Soziales zuständig. Unterhalb der Regionen bestehen in Flandern<br />

<strong>und</strong> der Wallonie jeweils fünf Provinzialverwaltungen mit 308 bzw. 262 Kommunen.<br />

Baulich hat diese Struktur dazu geführt, dass im Zentrum von Brüssel ein großes Areal ehemaliger<br />

Föderalministerien, vor allem das Bildungsministerium, leer steht <strong>und</strong> brach fällt.<br />

Ruinen ehemaliger Regierungsgebäude im Zentrum von Brüssel<br />

Brüssel ist aber auch Hauptstadt der Provinz <strong>und</strong> Sprachgemeinschaft der Flamen sowie der<br />

Sprachgemeinschaft der Franzosen, so dass neben den bestehenden Gebäuden der Zentralregierung<br />

ein erheblicher Gebäudebedarf für die Mittelebenen entstand.<br />

Der auf den ersten Blick einheitliche Agglomerationsraum Brüssel-Capitale besteht aus 19<br />

selbständigen Kommunen mit eigenen Räten, Verwaltungen <strong>und</strong> auch Bauvorschriften.<br />

12


Dies wird u.a. daran deutlich, dass z.B. in der Stadt Brüssel eine Bauhöhe von 68 m nicht<br />

überschritten werden darf, während in der Gemeinde St. Josse im Bereich des Nordbahnhofes<br />

Hochhäuser erlaubt sind <strong>und</strong> auch gebaut wurden.<br />

Da sich belgische Kommunen noch stärker als in Deutschland aus Anteilen der Gewerbe-<br />

<strong>und</strong> Einkommenssteuer finanzieren, galt die Hoffnung von St. Josse, eine der ärmsten<br />

Kommunen Belgiens, auf zusätzliche Einnahmen aus Vermietung in Bürohochhäusern. Da<br />

allerdings der Büroraum in Brüssel zu fast 70% von öffentlichen Einrichtungen <strong>und</strong> Institutionen<br />

angemietet wird, erfüllt sich diese Hoffnung nur sehr unzureichend.<br />

Für den Bereich des Bauens <strong>und</strong> des Verkehrs in der Region Brüssel-Capital ist übergreifend<br />

die Region zuständig. Die administrative <strong>und</strong> soziale Situation sowie die Pläne der Regionalregierung<br />

wurden der Seminargruppe in einem Gebäude der Brüsseler Regionalregierung<br />

erläutert.<br />

13


Gespräch mit dem Kabinettschef des zuständigen Staatssekretärs,<br />

Herrn Pol Zimmer<br />

Ergänzend wurden zur sozialen Situation in Brüssel <strong>und</strong> zur <strong>Wohnungsbau</strong>situation Anmerkungen<br />

von Herrn Werner van Mieghem gemacht, der eine Mietervereinigung vertritt<br />

(Rassemblement bruxellois pour le droit a l`habitat – Recht auf Wohnen in Brüssel).<br />

Soziale Ausgangssituation<br />

Brüssel hat eine stark zunehmende Bevölkerung von 907.000 Einwohnern in 1989, über<br />

1,1 Mio. in 2010. Für 2030 wird von einer Größe von über 1,3 Mio. ausgegangen. Insgesamt<br />

ist die Bevölkerung in den letzten Jahren also um ca. 120.000 Menschen angestiegen. Ursache<br />

ist sowohl eine im europäischen Vergleich sehr hohe Geburtenrate als auch Zuzug, der<br />

z.T. auch als Bewegung zurück vom Land in die Stadt verläuft.<br />

Brüssel weist mit über 53.000 € pro Kopf ein sehr hohes Bruttoinlandprodukt auf (NRW ca.<br />

28.000 €), die Mehrzahl der Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger gilt jedoch als arm. Der Durchschnittsverdienst<br />

in Brüssel ist der niedrigste der drei belgischen Regionen, kennzeichnend ist eine<br />

hohe Jugendarbeitslosigkeit, 32 % der Kinder leben in <strong>Arbeit</strong>slosen-Familien.<br />

Wohnungssituation<br />

Die Mehrzahl der Einwohner Brüssels sind Mieter. Insgesamt ist ein Bestand von ca.<br />

550.000 Wohnungen in der Region Brüssel vorhanden. Die Eigentumsstruktur der Mietwohnungen<br />

ist stark zersplittert, bei den privaten Eigentümern besitzen über 50 % der Eigentümer<br />

drei oder weniger Mietwohnungen.<br />

Der Leerstand an Wohnungen wird nicht erfasst, geschätzt wird eine Zahl von etwa 15.000<br />

Wohnungen. Der Leerstand resultiert in vielen Fällen aus der Hoffnung auf Umwandlung in<br />

Büroraum.<br />

Die Stadt Brüssel besitzt eine große Anzahl von Wohnungen, die i.d.R. zu den Konditionen<br />

des freien Marktes vermietet werden. Darunter befinden sich anspruchsvolle Wohnprojekte<br />

wie die umgebaute Hauptfeuerwache im Stadtteil Marollen.<br />

14


Zu Wohnungen umgebaute Hauptfeuerwache, davor täglicher Flohmarkt<br />

Der soziale <strong>Wohnungsbau</strong> spielt quantitativ keine herausragende Rolle. Insgesamt existieren<br />

in Brüssel 38.960 Sozialwohnungen, in denen ca. 81.000 Menschen leben. Nur 25 % dieser<br />

Wohnungen haben mehr als drei Zimmer, die Durchschnittsmiete beträgt 225 € zzgl. 95 €<br />

Nebenkosten.<br />

Hinzu kommen ca. 22 000 kommunale Wohnungen bzw. kommunal geförderte Wohnungen,<br />

die tendenziell für schwächere Einkommen zur Verfügung gestellt werden können<br />

Die Wohnungen werden nach definierten Sozialkriterien vergeben. Unter Berücksichtigung<br />

dieser Kriterien wären in Brüssel ca. 40 % der Einwohner anspruchsberechtigt. Das entspräche<br />

einem Bedarf von ca. 200.000 Wohnungen. Aktuell stehen auf der Warteliste der Wohnungsgesellschaften<br />

36.000 Haushalte. Wohngeld in unserem Sinne gibt es nicht, auf verschiedenen<br />

Wegen, insbesondere durch kommunale Regelungen, werden etwa 5.000 Haushalte<br />

unterstützt.<br />

Die Wohnungen befinden sich im Eigentum von 33 <strong>Wohnungsbau</strong>sgesellschaften, die zwischen<br />

270 <strong>und</strong> 3.100 Wohnungen besitzen <strong>und</strong> verwalten, also insgesamt sehr klein strukturiert.<br />

Die Sozialwohnungen finden sich verteilt im gesamten Großraum Brüssel, zum Teil<br />

auch in der Nachbarschaft sog. besserer Quartiere.<br />

Es besteht eine Dachorganisation der Gesellschaften, die Societe du Logement de la Region<br />

Bruxelles-Capital/SLRB. Als Förder- <strong>und</strong> Aufsichtsbehörde ist seit 1990 die Regionalregierung<br />

Brüsse-Capitale zuständig.<br />

In der Bauzeit der 38.000 Wohnungen sind zwei Schwerpunkte auszumachen:<br />

7.100 Wohnungen (19%) der Wohnungen stammen aus der Zeit zwischen 1920 <strong>und</strong> 1930,<br />

12.200 Wohnungen (32%) aus der Dekade 1970-1980. Seit 2000 sind nur 1.059 Wohnungen<br />

gebaut worden. Es besteht seit einigen Jahren ein Regierungsprogramm, nach dem bis 2010<br />

50.000 Sozialwohnungen gebaut werden sollten. Dieses Ziel wurde deutlich nicht erreicht.<br />

Dies ist in erster Linie auf den Mangel an verfügbaren Gr<strong>und</strong>stücken zurückzuführen. Alle 33<br />

Gesellschaften zusammen verfügen zurzeit nur über 45 ha Fläche.<br />

15


Es besteht eine hohe Konkurrenz um den Baugr<strong>und</strong>, die Gr<strong>und</strong>stückspreise sind von 2000<br />

bis 2010 im Schnitt von 350.-€/m² auf 580.-€/m² gestiegen. Entsprechend ist in diesem Zeitraum<br />

auch die Preissteigerung beim Kauf von Einfamilienhäusern um 127% sowie bei Wohnungen<br />

um 50% sehr hoch.<br />

Selbst die Gemeinden sind hier sehr zurückhaltend, da sie auf Gr<strong>und</strong> ihrer starken Abhängigkeit<br />

von Gewerbe- <strong>und</strong> Einkommensteuern die verfügbaren Flächen für Büros oder hochwertigen<br />

Wohnraum freihalten möchten. Die bereitgestellten Fördermittel für den sozialen<br />

<strong>Wohnungsbau</strong> werden daher nicht abgerufen.<br />

Insgesamt steigt das Interesse privater Investoren am <strong>Wohnungsbau</strong>. Es richtet sich aber<br />

eher auf Wohnungen im hochwertigen Bereich. Inwieweit diese zunehmenden Aktivitäten zu<br />

einer Entspannung beitragen oder durch „Luxusmodernisierungen“ preiswerter Wohnraum<br />

wegfällt, bleibt abzuwarten.<br />

Ein interessantes Beispiel fanden wir im Stadtteil Les Marolles. Hinter der repräsentativen<br />

Fassade des 19.Jahrh<strong>und</strong>erts befand sich eine Kaffeerösterei, die heute zu aufwendigen<br />

Wohnungen sowie zu einem <strong>Architektur</strong>büro umgebaut wurden<br />

16


Programm der Regionalregierung<br />

Die Regionalregierung hat folgende Ziele für die <strong>Wohnungsbau</strong>politik in der Region Brüssel:<br />

- 15 % mehr öffentliche Wohnungen<br />

- Sanierung des Bestandes insbesondere unter energetischen Aspekten<br />

- Verwaltungsvereinfachung<br />

Zur Erreichung dieser Ziele wurde am 10.08.2010 ein Vertrag zwischen der Regionalregierung<br />

<strong>und</strong> der SLRB geschlossen, in dem die Hauptaufgaben festgelegt werden. Die Erhöhung<br />

des Wohnungsbestandes wird ohne Planzahl festgelegt, Ziel ist eine Quote von 15 %<br />

Wohnungen im öffentlichen Sektor bis 2020.<br />

Das Management soll rationalisiert werden, ggf. unter Reduzierung der Zahl der <strong>Wohnungsbau</strong>gesellschaften,<br />

das Mietvertragsrecht soll neu gestaltet werden. Ca. 1.800 leer stehende<br />

Sozialwohnungen sollen durch Instandsetzung nutzbar gemacht werden, der übrige Bestand<br />

wird renoviert. Bei der Instandsetzung sind ökologische Kriterien wie energetische Sanierung<br />

in Verbindung mit der Verbesserung der gesamten Umweltsituation in Brüssel vorrangig (70<br />

% der CO2 Immissionen in Brüssel stammt aus Heizungen). Besonderes Gewicht soll auf<br />

Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen gelegt werden.<br />

Daneben spielen Aspekte wie Abfallreduzierung, Artenschutz <strong>und</strong> Biodiversität <strong>und</strong> aktive<br />

Mobilität mit ÖPNV <strong>und</strong> Fahrrad eine große Rolle.<br />

In der Stadt Brüssel besteht bereits ein gutes System von<br />

Leihfahrrädern für Kurzzeitentleihen<br />

Insgesamt steht hierfür bis 2013 ein Budget von 1,3 Mrd. € zur Verfügung, davon 540 Mio. €<br />

für Neubau <strong>und</strong> 76 Mio. € für die Instandsetzung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind nach<br />

Auskunft der SLRB ca. 4.500 Wohnungen auf dem Weg. Die SRLB fungiert als Projektentwickler<br />

<strong>und</strong> Projektträger <strong>und</strong> übergibt die fertigen Objekte den Gesellschaften.<br />

17


Einzelprojekte<br />

Im Rahmen von ARAU geführter Exkursionen haben wir eine Reihe von Projekten des sozialen<br />

<strong>Wohnungsbau</strong>s aus allen Epochen besucht.<br />

Im Folgenden einige maßgebliche Daten <strong>und</strong> Bilder der besuchten Siedlungen. (Die Ziffern<br />

sind die Objektbezeichnungen der SLRB.)<br />

Erste <strong>Arbeit</strong>erwohnungen der 1. sozialistischen Stadtregierung vom Ende des 19. Jh im neogotischen<br />

Stil, Lage innerhalb des Stadtringes.<br />

18


Reihenblockbebauung „Hellemans“ Baujahr 1916, 236 Wohnungen, renoviert. Daneben<br />

typische Wohnungen aus den 60er Jahren, schlechter Zustand (Stadt Brüssel, Stadtteil Les<br />

Marolles(07A, 07H).<br />

19


„Logis“ <strong>und</strong> „Floral“, Baujahr 1921/22 Gartenstadt in Anlage <strong>und</strong> Stil stark an England orientiert,<br />

im Kern 550 Wohneinheiten, später erweitert auf 1.660 Wohneinheiten, genossenschaftliche<br />

Organisation, hohe Nachfrage (Gemeinde Watermaal-Bosvoorde im Südosten<br />

der Region) (04A, 05A).<br />

20


„Cite´ moderne“, Baujahr 1924/25, (ähnlich Werkb<strong>und</strong>siedlung) 350 Wohneinheiten, starker<br />

Sanierungsbedarf insbesondere des Betons <strong>und</strong> der Dächer (Gemeinde St. Agatha-Berchem<br />

im Nordwesten der Region) (03B, 03C).<br />

21


„Cite´ Diongre“, Baujahr 1926, 179 Wohneinheiten, Art Deco, modernisiert (Gemeinde<br />

Molenbeek- Saint Jean im Westen der Region)( 24E)<br />

22


Ein ausführlicher Besuch galt dem Projektes „Val Maria“ (Stadt Brüssel an der nördlichen<br />

Grenze der Region, 15B). Hier führte die Gruppe Gespräch mit Pierre Hargot, Direktor des<br />

Bauträgers „Home Familial Bruxellois“, den Architektinnen der SLRB sowie Mietervertretern.<br />

Die Siedlung ist als gartenstadtartige Anlage in den 50 er Jahren entstanden, der Bestand<br />

von ca. 490 Wohnungen wurde in den letzten Jahren vollständig renoviert.<br />

Eine Ergänzung erfolgte 2009 um 58 Wohnungen im Niedrigenergiestandard <strong>und</strong> Gemeinschaftseinrichtungen/Sozialraum.<br />

Einzelne ältere z.T. allein stehende Mieter in großen Wohnungen<br />

des Altbestandes zogen in die neuen z.T. kleineren Wohnungen um. Es handelt sich<br />

ausschließlich um Sozialwohnungen, ein hoher Bevölkerungsanteil stammt aus dem<br />

Mahgreb. (1964 schlossen Belgien <strong>und</strong> Marokko ein bilaterales Abkommen ab, wonach<br />

100.000 Berber-Marokkaner nach Belgien einreisen durften. Nachgeholt haben diese dann<br />

durchschnittlich 5-6 Familienmitglieder). Nur ca. 15 % der Mieter sind erwerbstätig, ein hoher<br />

Rentneranteil ist kennzeichnend.<br />

23


Die Mieter haben in der Eigentümergesellschaft ein Mitspracherecht mit 50% Anteil der Sitze<br />

im Aufsichtsrat des Projekts. Im Neubaubestand erfolgte eine jährliche Überprüfung der Einkommen<br />

<strong>und</strong> bei Steigerung Mietanpassung auch über das Niveau des freien Marktes hinaus.<br />

Die Nachfrage ist hoch, 15.000 Personen stehen auf der Warteliste, die jährliche Fluktuation<br />

beträgt nur etwa 40 Wohnungen.<br />

Ein typisches Problem zeigte sich zum Abschluss: Die Anbindung der fertigen, inneren<br />

Straßenerschließung an das öffentliche Straßennetz (Stadt Brüssel) ist nur provisorisch.<br />

24


Autor:<br />

Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen mit ARAU-Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Vertretern<br />

des Bauträgers „Home Familial Bruxellois“<br />

Walter Neuling<br />

Mitglied der DGB-Kollegengruppe in der Vertreterversammlung der Architektenkammer NRW<br />

Stv. Vorsitzender des Ausschusses Landschaftsarchitekten in der AK NW<br />

25

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!