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Ausgabe Nr. - Stadtgespräche Rostock

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für ein Armutszeugnis halten oder nicht - es gilt, und es wird noch<br />

gültiger werden. Das Leben wird allmählich nicht mehr nur für die<br />

Karrieristen, die mit der Angst als Berufsrisiko leben müssen, sondern<br />

für alle ein Zustand ständiger Selbsterprobung werden. Nicht<br />

alle halten dem stand, aber es kann gelernt und geübt werden. Man<br />

mag das Schwinden von Solidarität bedauern, aber noch bedauerlicher<br />

ist Wehmütigkeit, die das Vorankommen verhindert.<br />

Der Irakkrieg: Himmel! Warum haben die meisten Deutschen keinen<br />

Begriff davon haben wollen, dass ein kurzer und verhältnismäßig<br />

übersichtlicher Krieg mehr Leiden verhindert als erzeugt?! Das Argument<br />

gilt als unschicklich, aber ich weiß kein besseres: Die Appeasement-Politik<br />

Englands hat Hitler groß gemacht und Millionen<br />

Opfer gekostet. Im Kosovo-Krieg ging die allgemeine Friedensbewegungslust<br />

schon los. Ich bin kurz nach dem kurzen Krieg durch<br />

kosovarische Dörfer und Städte spaziert. Angesichts verkohlter Häuserruinen,<br />

vieler vergewaltigter Frauen und verschwundener Männer<br />

fand ich die Friedfertigkeitspropaganda augenwischerisch. Inzwischen<br />

empört sich alle Welt nun schon gewohnheitsmäßig über das<br />

Chaos im Irak, aber kann mir einer dieser Apostel die Zahl der Terroropfer<br />

unter Saddam Hussein nennen? Das Chaos ist nicht die<br />

Schuld der Amerikaner, sondern die Unruhe von ethnischen oder religiösen<br />

Gruppen, die jahrzehntelang durch Gewalt zusammengehalten<br />

und ausgebeutet wurden, wie auch Tschetschenien oder Jugoslawien.<br />

Das Argument, dass es den Amis gar nicht um die Befreiung der Iraker<br />

ging, sondern vielmehr ums Öl und die Machtsicherung im Nahen<br />

Osten, dass sie ja schon längst in Nordkorea hätten einmarschieren<br />

können, wenn ihnen ihre Ethik so wichtig ist, finde ich naiv.<br />

Natürlich spielen politische und wirtschaftliche Faktoren immer eine<br />

ganz erhebliche Rolle. Warum von Regierungen verlangen, dass sie<br />

so tun, als wäre es gar nicht so? Alle wussten, dass die Giftgasfabriken<br />

nur eine Formalie waren, und alle spielten das Theater mit, das<br />

hier hellausgeleuchtet, anderswo im Dämmerlicht spielte. Der Protest<br />

der deutschen Linken gegen die unverhohlene Anbiederung<br />

Schröders an die Machteliten Chinas und Russlands aufgrund wirtschaftlicher<br />

Verheißungen hielt sich indes ja ziemlich in Grenzen.<br />

Nein, es ist schicker, bei den eigens gepflegten Prinzipien wählerisch<br />

zu sein. Bush = böser Machtmensch, Saddam = Machtmensch auf<br />

Gottes Gnaden. Krieg = böse, Terror = müssen die betroffenen<br />

Leute selber mit klar kommen. Im Bomben zählen ist die Linke gut,<br />

bei Mordleichen und Hungertoten aber erstaunlich unaufgeregt und<br />

weltmännisch.<br />

Was mich am allermeisten ärgerte: dass es dem eitlen, selbstdarstellungssüchtigen<br />

und schulterklopfenden Schröder genau diese Suggestion<br />

gelang: sich als ethisch sauberen Friedensmann zu verkaufen.<br />

Dank, musste ich fassungslos feststellen, einer Linken in Deutschland,<br />

die sich noch in den verklärten Blockschemen der 80er befindet.<br />

Einen Diktator zu stützen, indem man dessen demokratischen<br />

(jawohl, immer noch!) amerikanischen Widersacher diskreditiert, gehört<br />

für mich zum Absurdesten, nur noch getoppt durch den allgemeinen<br />

Beifall einer vorgeblich aufgeklärten linken Bewegung, der<br />

jedes noch so verstaubte Holzschnittfeindbild recht ist, um ihre Moral<br />

zu pflegen. Dass die Demokratisierungsmission im Irak schief<br />

ging, hängt natürlich mit der miserablen Vorbereitung zusammen,<br />

aber auch mit der Tatsache, dass die amerikanische Kultur weltweit<br />

für das Missbehagen verantwortlich gemacht wird, das im globalen<br />

Kampf um Überlebensvorteile entsteht. Herr Bush eignet sich für<br />

solche Projektionen ganz hervorragend. Die Quälerein und Sadismen<br />

in Gefängnissen sind abscheulich, aber welcher Europäer scherte<br />

sich dauerhaft um die Gefängnisse Saddams, um die Gefängnisse<br />

in der Türkei, oder, um so eine Nebensächlichkeit einmal anzusprechen:<br />

um die Gefängnisse in Deutschland? Das würde wohl zu kompliziert.<br />

Da ist George viel zu willkommen.<br />

Der größte Feind ist der innere Schweinehund<br />

Davon wollen Schlaghosen, kiffende Nischensouveräne und jonglierende<br />

Aussteiger nichts hören. Schade, denn viele sympathische Talente<br />

bleiben hier haften: in der kritischen Haltung, die zwar fraglose<br />

Anpassung verweigert, aber aufgrund unserer einfallslosen Zeiten<br />

leider auch im Phrasendreschen, im Halbwissen und im selbstbeschönigten<br />

Torkeln stecken bleibt. Die freuen sich schon auf den<br />

G8-Gipfel in Heiligendamm, auf die schöne Stimmung bei den Demos<br />

und die vielen Freaks, die <strong>Rostock</strong> abendlich in einen Hort der<br />

Seligen verwandeln werden. Sie verderben mir mit ihrer Gesinnungsrhetorik<br />

die Laune, und haben angesichts einer gefährlich klugen<br />

Entscheidung der Neonazis, nicht vom Rand, sondern von der<br />

Mitte das System aufräumen zu wollen, natürlich meine Unterstützung<br />

und grundsätzliche Sympathie. Und überhaupt sind mir sind<br />

Freaks und Träumer, Überschnappte und Schlufis immer noch lieber<br />

als die Affen von der Audi-Truppe, der Muskelblödianer oder der senilen<br />

Ballettfraktion. Die sich als links bezeichnen, sind zwar auch<br />

oft eine ästhetische Beleidigung mit ihrer schlaffen Haltung, ihrer<br />

Milieubesoffenheit und ihren schlecht erzogenen Hunden. Aber was<br />

sonst überall dominiert, kommt bei Linken nicht vor: Die förmliche<br />

Verspanntheit im Umgang, die Oberflächlichkeit, um sich nicht<br />

gegenseitig gewahr werden zu müssen, die Etikette. Das tut wohl.<br />

Wohler täte noch, wenn Linke, die mehr Differenziertheit wollen als<br />

die anderen, begreifen würden, dass sie mehr tun müssen als Weltbilder<br />

pflegen. Links sein bedeutet immer noch: die gehandelten<br />

Gegenargumente zu wissen und zu bedenken, schlauer zu sein, sich<br />

auf mehreren Ebenen auskennen. Links sein ist schön, macht aber<br />

viel Arbeit.<br />

Odo Marquard: Die Philosophie des Stattdessen. Der Mensch ist<br />

ständig damit beschäftigt, seine nicht (mehr) stillbaren Bedürfnisse<br />

mit anderen Lösungen zu kompensieren. Oder zuweilen doch durchzusetzen.<br />

Die Welt, wie sie ist, ist also ziemlich genau das Abbild unserer<br />

notwendigsten Bedürfnisse. Und jetzt, an einem Märztag im<br />

Jahr 2006, inmitten eines viel zu langen und zu kalten Winters, in<br />

Erwartung weiterer Routine und üblicher Pseudo-Ereignisse aus Politik,<br />

Kultur und Sport, denke ich trübsinnig: Es ist tatsächlich alles<br />

zweierlei: Anlass zur Entspanntheit wie zur Besorgnis. Alles ist wichtig<br />

und zugleich unwichtig, je nach Sonnenstand. Und je wichtiger<br />

etwas erscheint, desto unwichtiger ist es zugleich. Wo es keine absolute<br />

Wahrheit gibt, ist eben vieles richtig. Weder Fisch noch Fleisch,<br />

weder richtig noch falsch. Hauptsache, man sieht gut aus dabei. Wellness.<br />

¬<br />

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