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Ausgabe Nr. - Stadtgespräche Rostock

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NACHRUF<br />

Hans-Jochen Vogel<br />

(27.02.1943 - 27.12.2005)<br />

Hans-Jochen Vogel war 25 Jahre Studierendenpastor in Karl-Marx-Stadt und Chemnitz, in einer Stadt während<br />

zweier Epochen. Er lebte in beiden unbeirrbar als der einzige, der er war. In diesem Vierteljahrhundert hat er auch<br />

die Plakate gemalt für die Vortragsabende der ESG. Über 300 davon sollen als Gedächtnis von Zeit und Mensch in<br />

einem Chemnitzer Friedensarchiv aufbewahrt und ausgestellt werden, wie der Grafiker P. Fiebig berichtete.*<br />

Hans-Jochen Vogel war hochbegabt, und das vielseitig. Er ging damit so unauffällig wie selbstbewusst um. Er hat<br />

zahlreiche literarische Skizzen notiert und strenge theoretische Essays verfasst. Es bleibt zu wünschen, dass sie der<br />

Nachwelt ebenso wie seine Bilder und Bildnisse erhalten bleiben. Ein Kommilitone aus den 60ern erzählte, wie sie<br />

sich in den Kollegpausen die Zeit vertrieben mit Skat. Hans-Jochen Vogel saß abseits und las indianische Gedicht,<br />

wahrscheinlich im Original, wie er später bis zuletzt politische und philosophische Schriften auf Französisch las.<br />

Seine Positionen konnte er vertreten auch im „Ossietzky” und im ND. Er schrieb im „Telegraph” und in den „<strong>Stadtgespräche</strong>n”,<br />

zuletzt über das Pariser Treffen der Globalisierungsgegner und die Notwendigkeit kritischer Selbstbewertung.<br />

Unser aktuelles Heft über den G8-Gipfel in Heiligendamm wäre ein Aufgabenfeld gewesen, das er beackert<br />

hätte. Er war einer, der politisch bis auf den Grund der Dinge, bis an ihre Wurzeln ging, und in diesem Sinnne<br />

war er radikal. „Er gehörte zu jenen seltenen Exemplaren, die Handeln aus Anpassung nicht kannten”, sagte<br />

Christoph Magirius, sein Chemnitzer Kollege. In der Zeit der Veränderungen 1989/90 war er einer der führenden<br />

Köpfe in Sachsen. Er wurde auch damals als Pontifex akzeptiert; denn Täter und Opfer redeten mit ihm, und er baute<br />

Brücken zu ihnen. Als er 2004 für sein Lebenswerk als erster mit dem Chemnitzer Friedenspreis ausgezeichnet<br />

wurde, war das goldrichtig und viel zu früh wie sein Sterben.<br />

Bei alledem wurde ihm nichts geschenkt. Er kämpfte. Meistens nicht für sich - oder das doch auch: für das Bild vom<br />

Menschen, das er in sich trug.<br />

Am 28.03.2000 wurde er von dem Berliner Amtsgericht Tiergarten angeklagt wegen eines Aufrufs an alle Bundeswehrsoldaten,<br />

sich nicht weiter am Jugoslawienkrieg zu beteiligen (unter Berufung auf Art. 4 Abs. 3) und zu desertieren.<br />

Er hatte einen Aufruf dieses Inhalts in zwei Tageszeitungen mitunterzeichnet. „Ich habe dies als Gelegenheit<br />

gesehen, nicht durch Schweigen mitschuldig zu werden.”, gab er damals zu Protokoll. Er konnte den Richter von seiner<br />

christlichen Absage an Krieg, Geist, Logik und Praxis der Abschreckung überzeugen und wurde freigesprochen.<br />

Dass er so unbeirrt seinen Vorstellungen nachgehen konnte, verdankt sich zutiefst auch der Gemeinschaft mit seiner<br />

Frau Elke, einer selbständigen Medizinerin.<br />

Dieser hochpolitische Mensch war ein verlässlicher Freund. So präzise, wie er urteilen konnte, so gütig war er. Manche<br />

sahen ihn vielleicht am Rande seiner Institution, aber wenn sie selbst so denken sollte, war sie eben außerhalb jener<br />

Zone, in der die Zukunft sich ankündigt.<br />

Am 6. Januar musste die Polizei die Straße sperren, als ein paar hundert Menschen seinem Sarg zum Schlosskirchenfriedhof<br />

folgten. Sie waren international und kamen aus allen Schichten der Gesellschaft, und der Obdachlose<br />

vor mir war nicht zufällig da, sondern hatte seine spezielle Geschichte mit Hans-Jochen Vogel. Der Nachricht, der<br />

keine mehr von ihm folgt, steht voran: „Die einseitige Tat ist nur möglich in der Geduld; die bis ans Ende durchgehaltene<br />

Geduld bedeutet für den Handelnden: darauf zu verzichten, die Ankunft am Ziel zu erleben, zu handeln, ohne<br />

das gelobte Land zu betreten.” (Emmanuel Lévinas)<br />

Jens Langer ¬<br />

* Auskunft: Tel. 0371 - 300 52 oder 0371 - 3350 556<br />

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