Sagenhafte Schweiz - Die Schweizerische Post
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CHF 1.00: Fenetta, das Inselfräulein (VD)<br />
Aus dem grossen Genfersee, an dem der gut mundende<br />
Waadtländer Wein wächst, fliesst mit Sang<br />
und Klang der Rhonefluss. Nicht weit vom See, in der<br />
Gegend des Dorfes Noville, befinden sich im Strom<br />
viele kleine Inseln und Sandbänke, die mit Erlen und<br />
Weiden und anderem Gestäude bewachsen sind.<br />
Durch die Gebüsche aber schimmert ein feiner,<br />
tiefgrüner Rasen. An den Borden dieser niedlichen<br />
Inselchen, die überall die rasch fliessenden Wasser<br />
mit ihrem Gischt bestäuben, blühen schneeweisse<br />
und goldfarbene Wasserlilien. Doch niemand kommt,<br />
sie zu pflücken. Immer herrscht um die Inseln die<br />
Stille des Todes. Zu gewissen Zeiten nur lassen sich<br />
sonderbare Töne und Geräusche hören, die immer<br />
zwischen den kleinen Eilanden hin und her zu<br />
geistern scheinen. Oft ists, als ob ein geheimnisvolles<br />
Murmeln oder ein klagendes Seufzen oder ein<br />
schweres Stöhnen ertöne, und dann brüllt und braust<br />
es plötzlich wie ein Wasserfall. <strong>Die</strong>se Inseln nun sind<br />
bei den Leuten von Noville verrufen und werden von<br />
ihnen ängstlich gemieden. Sie behaupten, dass es<br />
dort gar nicht geheuer sei und dass jene Seufzer und<br />
jenes schreckliche Aufschreien und Aufbrausen die<br />
Stimme des Inselfräuleins Fenetta sei, das sich bei<br />
den Inseln aufhalte und von Zeit zu Zeit sehen lasse.<br />
<strong>Die</strong>ses Inselfräulein Fenetta sei ein kleines, niedliches<br />
Geschöpf mit grünen Augen, langem, schilfgrünem<br />
Haar und einem feinen Gesicht. Immer trage es ein<br />
langes, faltenreiches Gewand und Schilfsandalen.<br />
Jedoch keiner der derzeit lebenden Noviller hat es<br />
selber leibhaftig gesehen. Denn sowie die Fischer, die<br />
dort den Seeforellen nachgehen, irgendetwas von<br />
dem Inselfräulein bemerken oder sowie sie unter<br />
irgendeinem überhängenden Bord ein Seufzen und<br />
Glucksen oder in irgendeinem Erlenbusch ein<br />
Rauschen vernehmen, machen sie sich Hals über<br />
Kopf davon aus dem Bereich der unheimlichen Inseln.<br />
Sie wissen eben wohl, dass ein jeder, der Fenetta<br />
erblickt, noch im gleichen Jahre sterben muss. Und<br />
die alten Leute von Noville wissen auch bestimmt,<br />
dass die unheimliche Herrin der Insel sich in allerlei<br />
Gestalten zeigen kann, die ebenfalls den Tod bringen.<br />
Man hört Fenetta oft singen, doch vermochte<br />
noch nie jemand ein Wort von ihren Gesängen zu<br />
verstehen.<br />
Einst, vor vielen, vielen Jahren, lebte im Dorf Noville<br />
ein schönes Mädchen, dem alle Jungburschen den<br />
Hof machten. Aber sie mochte nur einen wohlleiden.<br />
<strong>Die</strong>sen ihren Geliebten plagte sie oft mit ihren bösen<br />
Launen. Eines Sonntags nun wusste das eitle und<br />
necklustige Mädchen nicht mehr, was sie vor Übermut<br />
anfangen sollte. Und als ihr Geliebter zu ihr<br />
kam, verlangte sie von ihm, dass er aus den Teichen<br />
und Fluten der Insel weisse und goldfarbige Wasserlilien<br />
hole.<br />
Trotz aller Warnungen der alten Leute lief der gut-<br />
<strong>Schweiz</strong>erische<br />
Märchengesellschaft<br />
(SMG)<br />
Seit 1993 gibt es die<br />
<strong>Schweiz</strong>erische Märchengesellschaft<br />
(SMG),<br />
eine literarische Gesellschaft<br />
mit Fachleuten<br />
verschiedener Disziplinen,<br />
mit Erzählerpersönlichkeiten<br />
und vielen<br />
an Volkserzählungen<br />
interessierten Mitgliedern<br />
aus allen Bevölkerungsschichten<br />
und<br />
Landesteilen. <strong>Die</strong> SMG<br />
hat die Förderung der<br />
Märchenforschung, die<br />
Pflege und Verbreitung<br />
des Märchengutes zum<br />
Ziel. Wichtige Aspekte<br />
der Märchen- und<br />
Sagenforschung finden<br />
hier ein Forum. Besondere<br />
Bedeutung hat das<br />
mundartliche Erzählen.<br />
Im Jahr 2002 lud die<br />
SMG zum ersten internationalenMärchenkongress<br />
in die <strong>Schweiz</strong>.<br />
Seit 2005 gibt es jährlich<br />
«Sagen am Tatort».<br />
Über aktuelle Märchenveranstaltungeninformiert<br />
viermal jährlich<br />
das mehrsprachige<br />
Vereinsblatt «Parabla».<br />
Informationen auch<br />
unter www.maerchengesellschaft.ch<br />
oder<br />
bei der Geschäftsstelle:<br />
Christine Brenner-<br />
Stettler, Lindenmattweg<br />
4, 3423 Ersigen,<br />
Telefon 034 445 51 20,<br />
geschaeftsstelle@<br />
maerchengesellschaft.ch.<br />
herzige Bursche sofort in das Sumpfdickicht der<br />
nahen Rhoneinseln. Mutig arbeitete er sich durchs<br />
Gestäude, das ihn wie mit hundert Armen zurückzuhalten<br />
schien. Da stand er mit einem Male an<br />
einem stillen Bord, an dem das Wasser ruhig vorüberzog.<br />
In seinen Wellen aber schaukelten sich wunderschöne,<br />
leuchtendweisse Wasserlilien. Geschwind<br />
liess er sich auf die Knie nieder und streckte die Hand<br />
aus, die schönen Blumen zu pflücken.<br />
Da ertönte ein entsetzlicher Schmerzensschrei, und<br />
hart vor ihm tauchte der Kopf des Inselfräuleins aus<br />
der Flut auf. Wie erstarrt staunte der Jüngling einen<br />
Augenblick in die fürchterlichen grünen Augen, die<br />
ihn wie Angeln ins Wasser hinabzuziehen suchten.<br />
Aber mit einem wilden Aufschrei entriss er sich dem<br />
Zauber der grünen Augen und stürmte wie ein Hirsch<br />
ins Dorf Noville zurück. Noch bevor er jedoch das<br />
Haus seiner Geliebten zu erreichen vermochte,<br />
stürzte er sterbend zusammen. Seine letzten Worte<br />
waren: «Fenetta, Fenetta!»<br />
Wie nun das übermütige Mädchen, seine Liebste,<br />
von diesem traurigen Ausgang hörte, sank sie wie<br />
leblos zu Boden. Nach einigen Minuten kam sie<br />
wieder zu sich, stand auf und sang zum Schrecken<br />
der Umstehenden ein heiteres Liedchen, das sie so<br />
oft mit ihrem Liebsten gesungen hatte. Sie war<br />
plötzlich wahnsinnig geworden und blieb es bis an<br />
ihren Tod, der genau ein Jahr später eintrat.<br />
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