Fotos: Corbis, Getty Images, Laif 40 Momentum 3· 2007 Tendenz Fahrpläne Alles nach Plan Leistungsstarke Rechner, patentierte Programme und eine Vielzahl von Experten arbeiten monatelang an einer grossen Herausforderung: dem Fahrplan, der papiergewordenen Synchronisierung der <strong>Zeit</strong>
VText Norbert Misch-Kunert iereinhalb Millionen New Yorker wissen haargenau, wann sie ihre scrambled eggs oder cereals beiseiteschieben, zu Jacke, Tasche und Apart ment schlüssel greifen und sich auf den Weg in den Untergrund machen müssen. Allmorgendlich strömt mehr als die Hälfte der Ein wohner der bevölkerungsreichs - ten Stadt der USA zu einer der 476 Stationen der New York City Subway. Wie von einer unsichtbaren Uhr gesteuert, treffen die Fahrgäste der 26 verschiedenen Linien an den Bahnsteigen ein, die sich bis zu 55 Meter tief unter der Erde befinden, und lassen sich von den silbernen Zügen der Metropolitan Transportation Authority zu ihren Arbeits stätten in Manhattan oder Brooklyn, in Queens oder der Bronx bringen. Aufs Jahr gerechnet hat die Subway mehr als 1,5 Milliarden Fahrgäste. Jeder von ihnen wirft zumindest gelegentlich einen Blick auf ein unscheinbares Blatt Papier, das eng bedruckt ist mit Zahlen und Namen – den Fahrplan. Die altehrwürdige New York Times wäre wohl froh, so viele Leser zu haben ... Bis dieses nüchterne, unscheinbare Blatt Papier in den Schaukästen an den Bahnsteigen hängt und die New Yorker Fahrgäste über das Ende ihres Frühstücks informiert, gehen einige Monate ins Land, und Dutzende von Experten müssen sich den Kopf zerbrechen. Und das nicht nur in Big Apple oder einer der anderen 140 Städte mit U-Bahn-Netz weltweit, sondern überall dort, wo Bahnen, Busse, Linienschiffe, Flugzeuge oder Fähren verkehren. Lange bevor ein neuer Fahrplan Gültigkeit erhält, nimmt eine Gruppe von Fahrplan-Konstrukteuren ihre Arbeit auf. Schon ein bis zwei Jahre vor dem Fahrplanwechsel erfassen die Experten alles, was den Plan beeinflussen könnte, zum Beispiel Groß bau stellen oder neue Strecken, aber auch neu entwickelte und damit oft schnellere Verkehrsmittel. Parallel dazu werden viele Erhebun gen durchgeführt wie die Auswertung der Fahr - schein verkäufe, Fahrgastzählungen, eine Analyse der Verkehrs - ströme und Um fragen unter den Reisenden. Die sparen weder mit Kritik noch mit Ver besserungsvorschlägen: Manchmal hapert es auf der ge wünschten Route an Direkt verbindungen oder an guten An schlüssen, oder die Um steigezeiten sind entweder zu knapp oder zu großzügig bemessen. Neben den Kundenwünschen müssen noch verschiedenste zusätzliche Kriterien berücksichtigt werden, wie beispielsweise eine möglichst gute Auslastung der zur Ver fü - gung stehenden Infrastruktur, im Falle der Bahn also der Loko - motiven, Wagen, Gleise und Bahnhöfe. Auch die individuellen Merkmale der Bahn höfe haben Einfluss auf den Fahrplan: Lange Bahnsteige und viele Treppen erhöhen zum Beispiel die Mindest- Umstei ge zeiten. Wichtige Kriterien sind ferner der Personal - einsatz, das be triebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Ver hält nis und die Abstim mung auf internationale Fahrpläne im grenzüberschreitenden Verkehr. All dies trifft übrigens in ähnlicher Form auch auf die „Fahrpläne“ einer Fluggesellschaft zu: Das sogenannte Kursbuch enthält alle von ihr angebotenen Flugstrecken mit Abflugzeiten, Strecken - führung und weiteren Details. Es darf aber nicht verwechselt werden mit dem Flugplan, mit dem die Gesellschaft die gleichen Flüge bei der Flugsicherung anmeldet. Wenn alle Grundbedingungen gegeben sind, kann es mit der eigentlichen Planungsarbeit losgehen. Nehmen wir die Schweizerischen Bundesbahnen SBB, die das dichteste Netz der Welt haben. Die Fahrplan-Konstrukteure der SBB bauen zunächst ein Gerüst auf, in dem alle „Knotenbahnhöfe“ sowie deren Entfernung voneinander eingetragen werden. (Knoten bahnhöfe befinden sich in Großstädten wie zum Beispiel Zürich und Luzern; ein Schnellzug braucht für diese Strecke 48 Minuten). Außerdem beziehen die Fahrplanmacher sämtliche vorhandenen Gleis anlagen auf Bahnhöfen und Strecken mit ein, damit sie sehen, an welchen Punkten im Bahnnetz Kreu zungen und Über - holungen von Zügen möglich sind und wie dicht aufeinander die Züge folgen können. Dann müssen sie festlegen, in welchen <strong>Zeit</strong>ab ständen (dem sogenannten „Takt“) die Züge eine Strecke befahren sollen, um das Fahrgastaufkommen zu bewältigen. Zusätzlich müssen sie beachten, dass sich die verschiedenen Zug - kategorien wie Schnell-, Regional- und Güterzüge nicht in die Quere kommen. Dann kommt der schwierigste Teil der Planung: Zu welcher Minute muss ein Zug einen Knoten verlassen, damit er im nächs ten Knoten möglichst attraktive Anschlüsse vermitteln kann? Auch diese Anschlusszüge müssen so gelegt werden, dass sie ihrerseits am Zielbahnhof gute Anschlüsse herstellen. Auf diese Art und Weise werden alle großen Bahnhöfe miteinander vernetzt. Die Fahrgäste sind immer kritisch. Manchen mangelt es an Direktverbindungen oder an guten Anschlüssen, anderen sind die Umsteigezeiten zu knapp oder zu lang. Es allen recht zu machen, ist beinahe unmöglich Momentum 2· 3· 2007 41