Wenn Helden vom Himmel fallen - von Patrik Schneider
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1) Aufgabe des Religionsunterrichtes ist es nicht, das literarische und künstlerische Wirken<br />
des Nobelpreisträgers zu kritisieren oder zu würdigen. Einmal wäre das eine fatale<br />
Grenzüberschreitung theologischer oder religionspädagogischer Kompetenz, zum andern ist<br />
sein literarischer Verdienst in der Fachwelt unbestritten. Das sei an dieser Stelle ausdrücklich<br />
erwähnt, weil nach meiner Erfahrung vielen – auch Akademikern – der Zugang zur Sprach-<br />
und Symbolwelt des Grass`schen Werkes fehlt. Sein literarisches Genie ist nicht Thema des<br />
Religionsunterrichtes – wenn kann das nur im Deutschunterricht Thema werden. Es sei<br />
einfach der Hinweis auf die Bedeutung des fächerübergreifenden Unterrichtes gestattet. Eine<br />
verständliche Hinführung zu seinem literarischen Denken mit viel biografischen Notizen<br />
findet sich in einem Interviewband des NDR - Rundfunkjournalisten Harro Zimmermann, der<br />
in Werkstattgesprächen ein interessantes Grass Portrait zeichnete. 27<br />
2) Seine Bedeutung und Aktualität für den Unterricht ist eher in seiner öffentlichen Rolle als<br />
moralisches Gewissen in der SPD und Gesellschaft der 1970 und -80er Jahre zu suchen und<br />
den Schülern zu erschließen Das Dilemma seines langen Schweigens ist in dieser Rolle zu<br />
thematisieren. Geeignetes Bildmaterial dokumentiert die STERN – Ausgabe 34/2006 mit<br />
wichtigen und markanten Lebensstationen des Schriftstellers in einer Bildserie. Besonders<br />
geeignet scheint mir ein Bild <strong>von</strong> der Beerdigung Heinrichs Bölls. Grass wird gezeigt, wie er<br />
mit dem russischen, jüdischen Schriftsteller Lev Kopelew, den Sarg Bölls trägt. Kopelew, der<br />
unter Stalin verfolgte russische Germanist und der deutsche Moralapostel versammelt, um<br />
einem Großen der Nachkriegsliteratur die letzte Ehre zu erweisen: ein symbolträchtiges Bild.<br />
Ergänzend liefert die STERN –Ausgabe 35/2006 eine Reportage über polnische Zeitzeugen<br />
aus der Danziger Kriegs- und NS-Zeit, die das geschichtliche Umfeld beleuchten und<br />
Einblicke in die Jugendjahre <strong>von</strong> Günther Grass geben. 28<br />
3) „Das Ziel der moralischen Erziehung ist nicht, andere zu ändern..., sondern sich selbst“. 29<br />
In der Beurteilung des Falles Grass geht es weniger um ein Urteil über den Schriftsteller<br />
selbst, als um die Fähigkeit, sich selbst ein Urteil bilden zu können über eine Zeit, die den<br />
Schülern durch ihr Alter weit weg erscheint. Grass ist ein Beispiel, an dem sich Beurteilung<br />
lernen lässt – z.B. über die Erfahrungen <strong>von</strong> noch lebenden Verwandten aus der NS – Zeit.<br />
Die Deutung des Falles Grass, wie sie in II dargestellt wurde, kann die Komplexität und<br />
Vielschichtigkeit einer möglichen ethischen Bewertung solch einer verdrängten Geschichte<br />
im Unterricht erhellen helfen. Sicher ist die Deutung <strong>von</strong> Christine die landläufig verbreitetste<br />
und wahrscheinlich auch bei den Schülern anzutreffen. Hier eignet sich das Deutungschemata<br />
<strong>von</strong> R. Mohr als Gegenkonzept. Diese sozialpsychologischen Deutungsmuster über die<br />
Verantwortung in und gegenüber der Geschichte können durch die tiefgründig eher<br />
anthropologisch angesiedelte Sichtweise Schlöndorffs ergänzt werden. Bei ihr geht es um die<br />
Tiefenschicht des Menschen, um existenziell menschliche Fragehorizonte wie bsp. Umgang<br />
mit Narzismus, Selbstüberheblichkeit, Erfolg und Bewältigung <strong>von</strong> Scheitern. Eine andere<br />
Herangehensweise impliziert die These der inszenierten Werbekampagne für ein Buch. Die<br />
Rolle der Medien und der Werbung würden hier hinterfragt. Wieweit kann ein Mensch sein<br />
innerstes nach außen verkaufen, um tatsächlich die Verkaufszahlen in die Bestsellerlisten zu<br />
topen? Das Ziel des Unterrichtes kann also nicht Daumen rauf oder runter für oder gegen<br />
Grass heißen, sondern muss eine Entwicklung verschiedener Handlungs- und<br />
Bewertungsmuster bei den Schülern implizieren, die sie befähigt im Sinne einer<br />
Weltdeutungskompetenz, einen Teil ihrer geschichtlichen Herkunft zu bewältigen und in ihr<br />
Leben zu integrieren. Hierzu bietet sich als „Material“ natürlich die Lebensgeschichte ihrer<br />
Verwandten an, die den Krieg noch persönlich erlebt haben.<br />
27 G. Grass, H. Zimmermann, Vom Abenteuer der Aufklärung, Werkstattgespräche, Göttingen 2000.<br />
28 Stefan Schmitz, Wo Günter Grass zum Nazi wurde, in STERN, 35/ 2006, S. 158-160.<br />
29 F. Oser, Moralpsychologische Perspektiven, a.a.O., S.92.