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Die Gewalt des Ähnlichen : Concettismus in Piranesis Carceri - KOPS

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82 Gerhart von Graevenitz<br />

Ja, da nicht e<strong>in</strong>er war, für den nicht an diesem Tage etwas Rühren<strong>des</strong> geschehen<br />

wäre, oder der nicht selbst etwas Großmütiges getan hätte, so war der Schmerz <strong>in</strong><br />

jeder Menschenbrust mit so viel süßer Lust vermischt. daß sich, wie sie Uosephe]<br />

me<strong>in</strong>te, gar nicht angeben ließ, ob die Summe <strong>des</strong> allgeme<strong>in</strong>en Wohlse<strong>in</strong>s nicht von<br />

der e<strong>in</strong>en Seite um ebenso viel gewachsen war, als sie von der anderen abgenommen<br />

hatte. (S. 694)<br />

Aber aus dem trügerischen Idyll rousseauistischer Sentimentalisierung führt der<br />

Weg direkt zurück <strong>in</strong>s Reich der Rhetorik, führt zum Dementi der Gefühlsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

durch die Wirkungen der Kanzelrede. <strong>Die</strong> Szene <strong>in</strong> der Dom<strong>in</strong>ikanerkirche<br />

entfaltet alle <strong>in</strong> der <strong>Piranesis</strong>chen Gefängnisszene - mit ihrer Wölbungsmetapher<br />

- angelegten Selbstbeschreibungsmotive <strong>des</strong> rhetorisch-perspektivistischen<br />

Konstruktivismus, den Kleist verstanden haben will als epistemologischen,<br />

semiologischen und psychologischen Konstruktivismus.<br />

Auch hier zu Anfang e<strong>in</strong> Medientumult, auch hier am Anfang <strong>des</strong> Tumultes<br />

die ,<strong>Gewalt</strong> der Musik': Statt der Glocken der Gefängnisszene "ließ sich die Orgel<br />

schon mit musikalischer Pracht hören". Schnell schiebt Kleist das Bild­<br />

Medium <strong>in</strong> den Vordergrund: "an den Wänden hoch, <strong>in</strong> den Rahmen der Gemälde,<br />

h<strong>in</strong>gen Knaben, und hielten mit erwartungsvollen Blicken ihre Mützen <strong>in</strong> der<br />

Hand" - der Blick ist buchstäblich <strong>in</strong>s Bild geklettert. Der Rahmen für diese Bilderblicke,<br />

das Raumbild aus Licht, Dämmerung, Pfeilern, Schatten und die im<br />

"äußerste[n] H<strong>in</strong>tergrunde" glühende Fensterrose (S. 696) zitieren die Motive<br />

der "gefangenen Unendlichkeit", der Dom<strong>in</strong>ikanerdom als gemäßigte Version<br />

der piranesischen Kerkerikonographie. Wie Jeronimo jenseits <strong>des</strong> "schiefgesenkten<br />

Fußboden[s]" aufwacht zu "unsäglichem Wonnegefühl", so die Geme<strong>in</strong>de im<br />

Dom<strong>in</strong>ikanerdom zur "Flamme der Inbrunst". Der Hiat e<strong>in</strong>er "Stille", der Musik<br />

sowohl wie der Herzen, markiert e<strong>in</strong>en neuerlichen Medienwechsel. <strong>Die</strong> fatale<br />

Kanzelrhetorik <strong>des</strong> "Chorherrn" beg<strong>in</strong>nt. Der historische Zusammenhang von<br />

Kanzelrede und Rhetorik <strong>des</strong> Erhabenen ist wissenschaftlich nachgewiesen.<br />

Kleist deutet ihn an durch die Gestik se<strong>in</strong>es Predigers: "Er begann gleich [...] se<strong>in</strong>e<br />

zitternden, vom Chorhemde weit umflossenen Hände hoch gen Himmel erhebend<br />

[...]". (S. 696) <strong>Die</strong> Geste wiederholt die Verzweiflungsgeste der Äbtiss<strong>in</strong>,<br />

die schon <strong>in</strong> Josephes Rettungsgeschichte auf das künftige Unheil h<strong>in</strong>deutet.<br />

Beide Gesten aber s<strong>in</strong>d Übersetzungen der "zufälligen Wölbung" aus der Gefängnisszene<br />

<strong>in</strong> Körpersprache. <strong>Die</strong> Geste <strong>des</strong> Priesters markiert genau den Zeitpunkt,<br />

an dem der Aufschub <strong>des</strong> Verhängnisses zu Ende kommt und der aufgehaltene<br />

Sturz zum jetzt bis zur "gänzliche[n] Zubodenstreckung" (S. 689) Jeronimos<br />

und J osephes se<strong>in</strong>en Fortlauf nimmt. Auch das Verhängnis, das von der<br />

"erhabenen" Rhetorik ausgelöst wird, hat e<strong>in</strong>e auffallende Konstruktion. <strong>Die</strong><br />

Wirkung der Hetzrede entspricht erwartbarer Massenhysterie. <strong>Die</strong> Keule der<br />

Rhetorik setzt die "Keule" <strong>des</strong> Mörders <strong>in</strong> Bewegung, so als sollte das Volk mit<br />

der "Hiebe" <strong>des</strong> Rhetors aus dem Long<strong>in</strong>schen Traktat dafür entschädigt werden,<br />

daß man ihm die H<strong>in</strong>richtung, das Musterschauspiel <strong>des</strong> Erhabenen <strong>in</strong> der Bur-

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