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LOU ANDREAS SALOMÉ

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zurückwirkt, entscheidet darüber; was uns die abgeklärteste, vergeistigteste Gottesvorstellung zu sein scheint, kann sich zu<br />

Zeiten als religiös völlig unfruchtbar erweisen, oder kann, – wie dies z. B. der islamitische Monotheismus unter den<br />

polytheistischen arabischen Stämmen gethan hat, – geradezu die Innigkeit der Religion schädigen. Ebenso kann unter<br />

bestimmten Umständen die grobsinnlichste Gottes Vorstellung eine Fülle religiösen Lebens in einem Volk zeitigen.<br />

So entzieht sich das religiöse Phänomen der Möglichkeit seiner wissenschaftlichen Durchdringung desto mehr, je mehr es zur<br />

Reife kommt, d. h. je mehr es sich conzentrirt und seelisch vertieft, denn es verliert damit zugleich seine gröbern, historisch<br />

fixirbaren Aeusserungsformen, seine allgemeinen und gleichmässig geltenden Normen, – es wird heimlicher, individueller, und<br />

schliesslich nur noch erfassbar in der feinen psychologischen Monographie oder dem persönlichen Erleben. In Bezug auf die<br />

Seelenprobleme der Religion gilt eben das, was von so manchem Gebiete der Wissenschaft gilt, dass in dem Maasse, als ihre<br />

Erkenntnissmethoden immer strengere und reinere geworden sind, sie ihre Beute gerade in dem Augenblick loslassen muss,<br />

wo diese anfängt am interessantesten, am problematischesten zu werden.<br />

Nun kann es sich aber ereignen, dass das, was ein religiöses Genie ganz heimlich und individuell in seinem Innern erlebt, durch<br />

ein besonders glückliches Zusammentreffen von Zeiten, Umständen und historischen Zufälligkeiten, ausnahmsweise einmal in<br />

seinen Gottesvorstellungen völlig nach aussen gelangt, – sich den absolut adäquaten Ausdruck in Worten und Bildern schafft,<br />

so dass also, wie etwa in dem Werk eines Dichters dessen höchster künstlerischer Traum, der höchste religiöse Traum der<br />

Menschheit uns in seiner ganzen Vollendung gleichsam greifbar, plastisch geworden, entgegentritt.<br />

Von allen Zaubern, die der ursprünglichen Lehre Jesu, oder dem was der Hauptsache nach dafür gilt, anhaften, ist dies wohl<br />

einer der grössten Zauber, den sie selbst auf die glaubenslosesten Menschen auszuüben vermag: dass in ihr das tiefste Sehnen<br />

und Bedürfen der religiösen Seele, des auf Gott gerichteten Gemüthes, nackt und restlos ausgesprochen zu sein scheint. Im<br />

Menschen, der ganz in der Liebe zum Gott aufgeht, kann der Gott sich natürlich auch nur spiegeln als Liebe, wenn keine<br />

fremden Vorstellungen oder Zuthaten dieses Bild verwischen oder trüben, – und der Mensch, der sich in diesem Einheitsgefühl<br />

mit seinem Gott ganz als dessen Kind empfindet, kann ihn auch nur als seinen Vater erfassen und begreifen. Insofern ist in dem<br />

Vater- und Kindschaftsverhältniss, in welchem die Jesu-Lehre Gott und Welt in Einem Liebesbilde zusammenschloss, für alle<br />

Zeiten die höchste Religiosität auf ihren klassischen Ausdruck gebracht worden.<br />

Und damit zugleich der vollkommenste Gegensatz zur ursprünglichen Entstehung der Götter durch die Menschen: Damals<br />

lehrte, brutal geredet, die Noth den Menschen beten, veranlasste ihn, sich hülfeheischend an die Götter als an die mächtigsten<br />

Hülfsmittel zu wenden, – hier dagegen ist das »Eine das Noth thut« Gott selbst und seine innigste Nähe geworden, alles Andere<br />

aber, das ganze<br />

Leben nur Mittel zur Erfüllung dieses höchsten Zweckes. Mit einem Wort: hier erst ist der seelische Widerspruch gelöst, der<br />

darin liegt, dass der Mensch vor dem menschenerschaffenen Gott, seinem eigenen Geschöpf, kniet, dieser Widerspruch, der<br />

nothwendig tief im Herzen aller Religion steckt und nur in den Augenblicken der unermeßlichsten, unbedingtesten Hingebung<br />

und Begeisterung dem Gott gegenüber seelisch überwunden werden kann. Deshalb ist auch das Neue, was die grossen<br />

Religionsstifter zu Stande bringen, eigentlich nie ein neues Erschaffen von Gottheiten, sondern vielmehr eine neue<br />

Herzensstellung zu ihnen, ein Zurechtrenken der schiefen und zweideutigen Stellung, die von vornherein, durch den irdischen<br />

Gott-Ursprung, gegeben ist.<br />

Daher verkörpert sich jedesmal dann die neue Lehre in einem einzelnen gotterfüllten Menschen, welchem der Gott sich klarer<br />

und wahrer als bis dahin enthüllt, offenbart, und welcher als der

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