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dazu erzogen, sich nur so weit auszuleben, als der Verstand es ihm in halbwegs aufgeklärten Zeiten gestattet. Wo es kräftig<br />
religiös veranlagt ist, da versucht es, die neuen, weit unbequemem und ungeeignetem Glaubensformen, die man ihm noch<br />
erlaubt, mit dem alten, schönen Glaubensinhalt zu füllen, aber immer schwerer gelingt dies, immer mehr und immer<br />
Wesentlicheres fällt dabei zu Boden, immer grösserer Kraftanstrengung bedarf es, um mit den ihm angelegten Fesseln und<br />
Verstandesapparaten so hoch in die zuversichtliche Glaubensstimmung aufzufliegen wie einst.<br />
Daher die allgemeine Erscheinung, dass religiöse Genies alter Zeiten, wie auch Jesus eines war, etwas so überaus Schlichtes und<br />
Kindliches haben, und selbst noch in ihren Extasen etwas Naives und Natürliches bewahren, als verständen sich die<br />
ausserordentlichen Dinge, die sie verkünden, ganz von selbst, – während die religiösen Menschen späterer Zeiten nur<br />
allzuleicht der Schwärmerei und Exaltation anheimfallen und gewissermassen aus dem Gleichgewicht ihrer Seele<br />
herausmüssen, um überhaupt auf die Höhen ihres Schauens und Glaubens zu gelangen: in diesem bewussten Gegensatz<br />
zwischen ihrer täglichen und ihrer religiösen Stimmung, zwischen den Gegenständen ihrer Verstandeserfahrung und denen<br />
ihres Glaubens liegt schon ein Ansatz zum Zweifel.<br />
Ob man deshalb sagt: Jesus, – oder sonst irgend ein grosses religiöses Genie, – stellte seinen Gott dar in dessen ganzer innerer<br />
Wahrheit, oder in dessen ganzem äusserm Verstandeswahn, ist fast dasselbe. Vielleicht haben Andere den Gott ebenso wahr<br />
und lebendig empfunden, aber nicht in jedem Fall durfte ihnen dies lebendige Gefühl ebenso reiche und passende Farben auf<br />
die Palette reiben, um das Gottesbild, unbekümmert um alles andere, in seiner ganzen Herrlichkeit und Güte auszumalen, –<br />
und so empfing es denn nach aussen hin seine Züge nur zum Theil vom Gefühl, zum Theil aber von andern Rücksichten. Dass es<br />
gerade Jesus gelang, seinen Gott so unvergleichlich zu schauen und zu gestalten, hängt eng mit dem Charakter des gesammten<br />
Judenthums zusammen, der ihm diese That erleichterte. Die jüdische Religion unterschied sich von allen übrigen nicht am<br />
wenigsten durch ihre tiefreligiöse Eigentümlichkeit, dass sie sich eigentlich niemals mit Verstandeskämpfen befasste.<br />
Sie liess jedesmal die theoretischen Widersprüche, die sich etwa ergaben, getrost stehen, und ihr ganzer Gehalt ging<br />
ausschliesslich auf in den praktischen Herzensfragen und Herzenssorgen zwischen Gott und Menschen. »Wie stehen wir<br />
innerlich zueinander? und was folgt aus unserer Stellung zueinander?« hiess ihre Kernfrage.<br />
Der Jude grübelte nicht über seinen Gott, er litt und lebte und fühlte. Gerade hierin erscheint Jesus als der schärfste Ausdruck<br />
des Judenthums selbst, und keineswegs als dessen »Ueberwinder«.<br />
Man vergleiche damit die Religionsentwicklung arischer Völker, die ja neben den Semiten den zweiten grossen Religionsstamm<br />
der Vergangenheit darstellen. Daher bei den Juden die naive, hartnäckige Voraussetzung, dass jede Verheissung Gottes sich<br />
selbstverständlich schon auf Erden, im wirklichen Lehen, auf das Unzweifelhafteste erfüllen müsse. Gewiss liegt ja hierin viel<br />
von dem kräftigen, auf das Irdische und Lebensvolle gerichteten Sinn aller semitischen Völker, die schon einst, als sie ihre<br />
Sprache schufen, nicht wie die Arier die Seele im Athem (Hauch, Geist), sondern im Blute sahen. Aber es liegt zugleich darin die<br />
echte Gewalt eines wahren, kindlichen Glaubens, dem ein Zweifel garnicht nahe kommt, und der sich deshalb auch garnicht<br />
davor fürchtet, dass das Leben ihn am Ende Lügen strafen, und die Gottessegnung ausbleiben könnte.<br />
Man hat so viel vom »Kontraktgeist« der jüdischen Religion gesprochen, aber soweit man nicht eine ganz bestimmte Periode<br />
der Verknöcherung und des Gealtertseins dieser Religion darunter versteht, fällt er doch wohl nur deshalb so stark in die<br />
Augen, weil das Eingreifen Gottes unmittelbarer und irdischer erwartet wird.