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natürliche Vermittler zwischen Gott und den andern Menschen angesehen wird. Denn nur für ihn fallen alle die Verkleidungen<br />
und Scheidewände wahrhaft fort, die sich am die Gottheit herum gebildet haben, weil die anbetenden Menschen diese nicht<br />
liebten, sondern nur brauchten, und sie darum durch jeden göttlichen Machtzuwachs, den sie ihr im Laufe der Entwicklung aus<br />
unbewussten Nützlichkeitsgründen zugestanden, immer weiter von ihrem Gemüthe entfernten. Erst die grossen religiösen<br />
Charaktere sind dann wieder nöthig, um den machtvoll, aber nicht liebevoll gewordenen Gott der von ihm beherrschten Welt<br />
zu nähern, und in der tiefen Intimität des religiösen<br />
Verhältnisses, in dem innigen Einheitsgefühl, durch welches sie das ermöglichen, kommt auch ihnen noch einmal, auf der<br />
Spitze der Religion, naiv und grossartig zu Tage, was von Urbeginn der Zeiten die grobe Basis aller Religion ausmacht: nämlich<br />
die faktische Einheit von Göttern und Menschen. – die Thatsache, dass beide gleichen Wesens, dass sie identisch sind.<br />
Dieser irdische Boden, auf dem die Religion erwachsen ist, kann also unter solchen Umständen der Grund zu ihrer höchsten<br />
Blüthe werden, kann am weitverzweigten Stamm der Religionsentwicklung die herrlichste Frucht zur Reife bringen. Aber nur<br />
seelisch ist damit die Stellung des Menschen zum Gottwesen des ihr anhaftenden innern Widerspruchs enthoben, zu einer<br />
positiven Gemüthswahrheit eroben, – theoretisch betrachtet aber bleibt das Illusorische des ganzen Prozesses nicht nur<br />
bestehen, sondern verstärkt sich noch. Denn Anfangs, wo die menschliche Geistesthätigkeit noch gering ist, wo Alles noch<br />
phantastisch verschwommen oder stumpfsinnig beschränkt bleibt, wo das meiste Erkennen noch ein unsicheres Verkennen der<br />
Dinge darstellt, da fällt es nicht in's Gewicht, dass auch der Gott dem Wirklichkeitsbilde nicht entspricht.<br />
Später aber unterscheidet sich dieses Bild, so wie der Verstand und die tägliche Erfahrung es allmählich zusammensetzen, in<br />
immer zahlreichern Punkten von dem religiösen Weltbild, wie es von Gott aus besehen sich ausnimmt. Und je inniger und<br />
souveräner der religiöse Mensch sich die Wirklichkeit aus seinem Gottesgefühle heraus schafft, desto verkehrter müssen seine<br />
Anschauungen über sie in allen ihren natürlichen Beziehungen ausfallen, bis zwischen beiden ein unversöhnlicher Gegensatz,<br />
eine unüberbrückbare Kluft entsteht. Denn das ist gerade die Art des wahrhaft naiven religiösen Genies, dass es sich bei<br />
seinem Schaffen von nichts bestimmen lässt als von dem, was ihm sein religiöser Genius einflüstert, dass es dagegen alle<br />
Erwägungen zweiten Ranges, alles was daneben Einfluss gewinnen will, ebenso rücksichtslos von sich weist, wie der grosse<br />
Klnstler bei seinem Werk.<br />
Denen, die nach ihm kommen, überlässt das religiöse Genie es dann, seine Visionen in bessern Einklang zu bringen mit den<br />
Erfahrungen des Lebens und Verstandes. Und wo dies geschieht, wo die spätere Entwicklung glücklich ergänzt und vermittelt<br />
zwischen der Welt der Wirklichkeit und der Welt der religiösen Illusion, da thut sie auch immer schon in demselben Masse dem<br />
beseligenden Inhalt der ursprünglichen genialen Conception Abbruch.<br />
Gewöhnlich redet man dann freilich mit Befriedigung von der spätem, »geistigern« Auffassung der ursprünglich vom Stifter<br />
noch ganz kindlich und positiv gemeinten Dogmen oder Lehren, und diese »Vergeistigung« geht dann weiter und weiter, bis<br />
endlich alle Glaubensideen in eine blasse Philosophie einmünden, deren Begriffe dehnbar genug sind, um jene in irgend einer<br />
geistreichen Deutung unterzubringen.<br />
Das religiöse Gemüth lehnt sich denn auch nicht direkt gegen diese Einmischung des Verstandes auf, obschon durch sie das<br />
vollendete Werk zerstört wird, das ein Genius ihm schenkte, denn es ist schon