DER BRUCH MIT DER SCHOLASTIKDoch auch in Europa wuchs allmählicheine Bewegung gegen <strong>die</strong> Scholastik.Denn während <strong>die</strong>se wissenschaftlicheForm viele intellektuelle Fragen behandelteund das „Wissen“ <strong>der</strong> damaligenZeit akribisch zu bestimmen schien,blieben viele an<strong>der</strong>e Wesenszüge <strong>der</strong>Gesellschaft, wie <strong>die</strong> Freiheit einesMenschen o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Unabhängigkeit<strong>der</strong> wissenschaftliche Meinung von<strong>der</strong> Kirche, <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Strecke. Vor allemblieb das Wissen den elitären Klosterschulenund den wenigen Universitätenvorbehalten, was dazu führte,dass <strong>die</strong> Kirche das Wissensmonopolfür sich in Anspruch nehmen und darüberbestimmen konnte. Somit wurde<strong>die</strong> Scholastik, <strong>die</strong> dazu <strong>die</strong>nen sollteden Menschen zu bilden und zu befreien,ein Instrument <strong>der</strong> Kirche, um<strong>die</strong> Wissenschaft zu begrenzen o<strong>der</strong>gar zu unterdrücken.Zudem enthielt <strong>die</strong> Scholastik strukturelleSchwächen, <strong>die</strong> es nicht erlaubten,dass sie sich weiter entwickelnkonnte. Theologisch hatte sie dasProblem, dass nur eine bestimmteBetrachtungsweise <strong>des</strong> Wortes Gottes(hermeneutischer Ansatz) zugelassenbzw. vorgegeben war. Dieszu än<strong>der</strong>n, vermochte <strong>die</strong> Scholastiknicht. Die Begrenztheit <strong>der</strong> Scholastik<strong>auf</strong> <strong>die</strong> Kirche und <strong>der</strong>en Missbrauchführten letztendlich zum Zerfall <strong>der</strong>hohen Kathedrale <strong>der</strong> scholastischenWissenschaft im Abendland.Es waren Theologen wie John Wycliffin Oxford o<strong>der</strong> Jan Hus in Prag, <strong>die</strong>das Gefüge <strong>der</strong> Scholastik und <strong>die</strong>damit verbundene Kirchenmachtallmählich zu Fall brachten. Wycliffgriff <strong>die</strong> <strong>theologische</strong>n und unnötigenAusschweifungen <strong>der</strong> Kirche massivan, wie z. B. <strong>die</strong> Reliquienverehrungo<strong>der</strong> das Priesterzölibat, und lehrteeine Frömmigkeit, <strong>die</strong> direkt <strong>auf</strong> Gottbezogen ist, gemäß <strong>der</strong> Schrift. JanHus lehrte <strong>die</strong> Gewissensfreiheit, <strong>die</strong>über jeglicher irdischen Macht stehtund allein von Gott zur Rechenschaftgezogen werden darf.Der Ausgang <strong>die</strong>ses Zerfalls ist unsbekannt: Die Reformation fand statt,<strong>die</strong> Kirchengewalt zerbrach und <strong>die</strong>Wissenschaft in Europa ging ihren eigenenWeg <strong>der</strong> autonomen Vernunft.Erst im Zeitalter <strong>der</strong> Aufklärung erlebtedas Abendland eine ähnlicheEntfaltung <strong>der</strong> Wissenschaft, wie zurZeit <strong>der</strong> Scholastik. Diese Entfaltung<strong>des</strong> Wissens beruhte aber nicht zuletzt<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Befreiung <strong>des</strong> Menschenvon <strong>der</strong> Kirchengewalt, was zu einerpersönlichen Gewissensfreiheit führte.Durch das „Evangelium“ von JesusChristus und <strong>der</strong> damit verbundenenErneuerung <strong>des</strong> Menschen von innenher, entstand eine Verantwortung <strong>des</strong>einzelnen Menschen gegenüber Gottund seinem Nächsten.UNTERSCHIEDLICHE OFFENBA RUNGENUND WELTBILDERSomit führte <strong>die</strong> biblische Revolution<strong>der</strong> Reformation nicht in eine fatalistischeOrthodoxie, wie im Islam, son<strong>der</strong>nin eine Freiheit <strong>des</strong> Menschen,in <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> einzelne Mensch freientwickeln kann in <strong>der</strong> Selbstverantwortunggegenüber Gott. Hier kannman erkennen, wie <strong>die</strong> jeweilige Offenbarungsschrift<strong>die</strong> Gesellschaftunterschiedlich be<strong>einfluss</strong>en konnte.Das Evangelium führte <strong>die</strong> Begrenztheit<strong>der</strong> Scholastik in <strong>die</strong> Freiheit <strong>der</strong>Meinungsbildung, da <strong>der</strong> Mensch,nach <strong>der</strong> Schrift, selbstverantwort-88 Band/Vol. IV (2009) - STUTTGARTER THEOLOGISCHE THEMEN
lich gegenüber Gott handelt. Im Islamdagegen, führte <strong>die</strong> Scholastikzur Orthodoxie, da <strong>der</strong> Mensch nachdem Qur‘an nicht selbstverantwortlichhandeln „kann“, son<strong>der</strong>n sein Lebenvon Gott vorherbestimmt ist. Dassind zwei diametral entgegengesetzteBetrachtungsweisen <strong>der</strong> Beziehungzwischen Gott und Mensch, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> <strong>die</strong>strukturellen Unterschiede <strong>der</strong> Erklärung<strong>des</strong> Daseins in den jeweiligenOffenbarungsschriften zurückzuführensind.Wenn man <strong>die</strong> Geschichte <strong>der</strong> Scholastikverfolgt, kann man erkennen,dass <strong>die</strong> unterschiedlichen Offenbarungsinhalte<strong>der</strong> jeweiligen heiligenSchrift <strong>die</strong> eigentliche Ursache für<strong>die</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzungen in denunterschiedlichen Epochen und Kulturkreisenwaren und somit zu denunterschiedlichen Weltbil<strong>der</strong>n geführthaben, <strong>die</strong> wir heute haben. Denn <strong>die</strong>Philosophie, <strong>auf</strong> <strong>der</strong> einen Seite, versucht<strong>die</strong> Fragen <strong>des</strong> Daseins <strong>auf</strong> <strong>der</strong>Grundlage <strong>der</strong> Logik zu klären. DieReligionen dagegen müssen in <strong>die</strong>serFrage von <strong>der</strong> Offenbarung in ihrenjeweiligen Schriften ausgehen. DieseDiskrepanzen zwischen „Logik“ und„Offenbarung“ waren immer wie<strong>der</strong><strong>der</strong> Grund dafür, dass in <strong>der</strong> jeweiligenEpoche ein Bruch mit <strong>der</strong> Scholastikstattgefunden hat.Anhand einiger Grafiken sollen <strong>die</strong>unterschiedlichen Vorstellungen <strong>der</strong>jeweiligen Offenbarung im Verhältniszu den zu den klassischen Modellen<strong>der</strong> Philosophie verdeutlicht werden.Dabei wurden zwei Themen ausgewählt:a) Das Weltbild: <strong>die</strong> Beziehung zwischenSchöpfer und Geschöpfb) Das Menschenbild: das Verhältniszwischen Leib, Seele und ErlösungSTUTTGARTER THEOLOGISCHE THEMEN - Band/Vol. IV (2009) 89