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Handbuch des Staatsrechts der BRD §25

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H. F. Zacher: Das soziale Staatsziel <strong>§25</strong><br />

tragen, „soziale" Verhältnisse und Entwicklungen zu bewirken. Und weithin<br />

leisten sie das auch. Aber wo sie das nicht tun, wo sie <strong>der</strong> normativen<br />

Steuerung und Korrektur bedürfen, wird das Mißverhältnis zwischen Wort<br />

und Sache zum Problem.<br />

B. Historisches und lan<strong>des</strong>verfassungsrechtliches Umfeld<br />

I. Vorläufer<br />

Die Frage nach den Vorläufern 2 setzt Unterscheidungen voraus. Wollte man 3<br />

nach Verfassungsaussagen von sozialer Relevanz fragen, so wäre die<br />

Geschichte <strong>des</strong> Sozialstaates so alt wie die Geschichte <strong>der</strong> Grundrechte<br />

überhaupt. Schon in <strong>der</strong> Magna Charta Libertatum (1215) finden sich <strong>der</strong><br />

Schutz <strong>des</strong> Warenlagers eines Kaufmanns und <strong>der</strong> Habe eines Bauern und die<br />

Absage an die Käuflichkeit von Recht und Gerechtigkeit. Freiheitsrechte und<br />

rechtsstaatliche Garantien sind immer auch von sozialer Relevanz. Näher an<br />

das Thema führt <strong>der</strong> Aufbruch <strong>des</strong> Verfassungsstaates heran, <strong>der</strong> sich Ende<br />

<strong>des</strong> 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts vollzieht. Die Declaration of Rights von Virginia vom<br />

12. Juni 1776 formuliert das Recht eines jeden, „Glück und Sicherheit zu<br />

erlangen und zu erstreben", und verpflichtet die Regierung, das allgemeine<br />

Wohl zu bewirken und „den höchsten Grad von Glück und Sicherheit hervorzubringen"<br />

3 . Im Verlauf <strong>der</strong> Französischen Revolution werden Verfassungsaussagen<br />

zum Recht auf Arbeit, zur Armenfürsorge, zum Bildungswesen usw.<br />

gefor<strong>der</strong>t und vereinzelt auch erreicht 4 . Die Zukunft aber gehört zunächst den<br />

Freiheitsrechten. Das gilt vor allem für die deutschen Verfassungen 5 . Auch die<br />

Paulskirchenverfassung von 1849 nähert sich <strong>der</strong> sozialen Thematik nur unter<br />

dem Aspekt <strong>des</strong> Zugangs zur Bildung 6 . Die Präambel <strong>der</strong> Reichsverfassung<br />

Frühe soziale<br />

Verfassungsaussagen<br />

2 Gemeint sind Vorläufer <strong>der</strong> Verfassungsaussage über den Sozialstaat, nicht <strong>des</strong> Sozialstaates selbst. Zur<br />

Geschichte <strong>des</strong> Sozialstaats s. zuletzt etwa Gerhard A. Ritter, Entstehung und Entwicklung <strong>des</strong> Sozialstaates<br />

in vergleichen<strong>der</strong> Perspektive, in: HZ 243 (1986), S. 1-90 m. w. Nachw. - Zur Wortgcschichtc s. u. Rn. 19.<br />

3 Zur Tradition <strong>der</strong> Staatsziele <strong>der</strong> Wohlfahrt, <strong>des</strong> Glückes und <strong>der</strong> Sicherheit in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> deutschen<br />

Staatstheorie s. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2 1980.<br />

4 Etwa Peter Krause, Die Entwicklung <strong>der</strong> sozialen Grundrechte, in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und<br />

Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, 1981, S. 402-431.<br />

5 Die, soweit zu sehen, einzige Ausnahme bildet Titel II Art. 8 Abs. 2 <strong>des</strong> Grundgesetzes für die vereinigte<br />

landwirtschaftliche Verfassung <strong>des</strong> Herzogtums Sachsen-Meiningen vom 23. 8. 1929 (abgedr. bei Felix<br />

2<br />

StoerklFriedrich-Wilhelm v. Rauchhaupt, <strong>Handbuch</strong> <strong>der</strong> Verfassungen, 1913, S. 415ff.): „Unterthanen<br />

haben Anspruch auf Versorgung, wenn sie ihren Unterhalt nicht mehr zu erwerben vermögen, mit<br />

Vorbehalt <strong>der</strong> über die Verbindlichkeit <strong>der</strong> Blutsverwandten bestehenden o<strong>der</strong> noch zu erlassenden Gesetze,<br />

zunächst in ihrer Gemeinde und sodann von den allgemeinen Armengel<strong>der</strong>n nach den hierüber bestehenden<br />

Ordnungen." - Eine ganz an<strong>der</strong>e, weiter ausgreifende Frage ist die, welchen Beitrag die deutschen<br />

Verfassungen <strong>des</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts dazu geleistet haben, alte Ungleichheiten (politische Ungleichheiten in<br />

Gestalt ungleichen Wahlrechts, ungleichen Zugangs zu den Ämtern; Ungleichheit vor dem Gesetz; rechtlich<br />

soziale Ungleichheit wie etwa Leibeigenschaft) abzubauen (freilich auch neue, „kapitalistische" Ungleichheiten<br />

zuzulassen und so Ungleichheit nicht nur zu min<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n auch zu wandeln) und <strong>der</strong> Legitimation<br />

staatlicher Herrschaft als Herrschaft für das Volk einen neuen institutionellen und ideellen Rahmen zu<br />

geben.<br />

6 Garantie öffentlicher Schulen (§ 155), Schulgeldfreiheit und Volksschulen (§ 157 Abs. 1), freier Unterricht<br />

für Unbemittelte an allen öffentlichen Unterrichtsanstalten (§ 157 Abs. 2).<br />

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