Augsburg - Nord-Ost 23.09.15
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Seite 6 Mittwoch, 23. September 2015 36 Jahre<br />
STADTZEITUNG<br />
AUGSBURG<br />
mein lebenal san alphabet<br />
PORTRÄT/Feridun Mikiroglu ist Analphabet. Er arbeitet in <strong>Augsburg</strong> bei Sina TrinkwaldersManomama.Hiererzählt er aus seinemAlltag.<br />
ThomasWinter<br />
<strong>Augsburg</strong>. Speisekarten, Klingelschilder,<br />
der Beipackzettel<br />
eines Medikaments: Den meisten<br />
von uns erscheint esvöllig<br />
normal, lesen zu können. Unser<br />
Gehirn setzt –wie eben jetzt –<br />
Buchstaben zu sinnhaftenWörtern<br />
und Sätzen zusammen, so<br />
selbstverständlich, wie wir uns<br />
die Schnürsenkel binden. Dass<br />
jemand –zumal in Deutschland<br />
–das nichtkann, istschwervorstellbar.<br />
Trotzdem können laut<br />
einer Studie 7,5 Millionen<br />
Menschen im erwerbsfähigen<br />
Alter auch hier nicht richtig lesenund<br />
schreiben. Feridun Mikiroglu,<br />
46, aus Aichach ist einer<br />
davon. In der StadtZeitung<br />
erzählt der Angestellte vonSina<br />
Trinkwalders Manufaktur Manomama,<br />
wie erseinen Alltag<br />
meistert.<br />
Um zu verstehen, wiesichein<br />
Analphabet fühlt, haben wir einen<br />
kleinen Versuchgewagt: In<br />
der Überschrift zu diesem Artikel<br />
wurden alleWörterkleingeschrieben<br />
und die Leerzeichen<br />
verschoben. Als geübter Leser<br />
braucht eseinige Zeit, umden<br />
Sinn zu verstehen. Silbe für Silbe<br />
setzt man mühevoll die<br />
Bruchstücke zu einem Satz zusammen,<br />
der dalautet: Mein<br />
Lebenals Analphabet.<br />
Ähnlich schwer tun sich sogenannte<br />
funktionale Analphabeten<br />
mit dem Lesen. Sie verstehen<br />
den Sinn eines Textes<br />
entweder überhaupt nicht, oder<br />
nicht schnell und mühelos genug.<br />
Feridun Mikiroglu, Vater<br />
von vier Kindern aus Aichach,<br />
weiß mit geschriebener Sprache<br />
null anzufangen. Der<br />
46-Jährige istein fachsprachlich<br />
totaler Analphabet. Lesen und<br />
schreibenkann er gar nicht, lediglich<br />
einzelne Wörter kopieren,<br />
wenn sieinDruckbuchstabengeschrieben<br />
sind –und das,<br />
obwohl Feridun zwei Jahre in<br />
der Türkei, und sechs Jahre in<br />
Deutschland die Schulbank gedrückt<br />
hat. „Bis zur6.Klassebin<br />
ich inKühbach, später in Aichach<br />
in die Schule gegangen“,<br />
berichtetder Deutsch-Türke.<br />
MitachtJahrensei er mit seiner<br />
Familie nach Deutschland<br />
gekommen. „Wegen meiner<br />
Größehabeich diedritteKlasse<br />
übersprungen, die vierte dafür<br />
aber zweimal gemacht“, erzählt<br />
Feridun freimütig und lacht.<br />
Mitseinem Defizit geht er mittlerweile<br />
offen um. „Lange habe<br />
ich mich dafür geschämt, bin<br />
oft rot geworden. Jetzt ist mir<br />
egal, wasdie Leutedenken.“<br />
Gute Noten holte der heute<br />
46-Jährige nur inden Fächern<br />
Sport und Kochen. Dass er weder<br />
schreibennoch lesen kann,<br />
fiel nicht weiter auf – beziehungsweise<br />
wurde schlichtweg<br />
ignoriert. „Wenn es darumging,<br />
etwas aus dem Schulbuch vorzulesen,<br />
sagte der Lehrer: Miki,<br />
du kannst das eh nicht, dann<br />
kamimmer ein anderer dran.“<br />
Förderung bekam er keine,<br />
„die Lehrer haben es einfach<br />
weiterlaufen lassen“,erzählt der<br />
vierfache Vater. Bei Prüfungen<br />
habe er meist von seinem jeweiligen<br />
Banknachbarn abgeschrieben.<br />
Gute Noten kamen<br />
dabei selten heraus, trotzdem<br />
schaffteeresinder Hauptschule<br />
mit einmal Sitzenbleiben bis<br />
in die 8.Klasse und bekam –<br />
auch ohne Abschluss –sofort<br />
nach der Schule eine Stelle bei<br />
der Firma Meisinger, heute<br />
MEA AG, in Aichach. Hier arbeitete<br />
Feridun 13 Jahre lang,<br />
besuchte die Berufsschule,<br />
machte<br />
den Staplerführerschein,<br />
bediente<br />
Maschinen.<br />
„Ich habe mir immer<br />
alles abgeguckt. Dabei ist<br />
zwar manchmalauchSchmarrn<br />
herausgekommen, oft hat es<br />
aber funktioniert“, sagt der<br />
46-Jährige schmunzelnd und<br />
auch ein bisschen stolz.<br />
Für einen Analphabeten hat<br />
er viel erreicht.Beim ersten Anlauf<br />
haterdie Führerscheinprüfung<br />
bestanden. Ein Türkisch-<br />
Deutsch-Dolmetscher hat ihm<br />
die Fragen vorgelesen, so konnte<br />
„Miki“, wie ihn Freunde und<br />
Bekannte nennen, seine<br />
Schwächekaschieren.<br />
„In 15Jahren habe ich noch<br />
keinen Unfall gebaut“, sagt Feridun.<br />
Namen auf Verkehrszeichen<br />
hat erals Schrift-Bild verinnerlicht.<br />
Fährt er zu Verwandten<br />
indie Türkei oder in<br />
die Niederlande, lernt erOrtsund<br />
Straßennamen auswendig<br />
oder benutzt einfach ein Navigationsgerät,<br />
denn Namen in<br />
die Tastatur eingeben, kann er.<br />
„Neue Techniken wie das Handy<br />
oder Navi helfen mir sehr.<br />
Mittlerweilegibt es Apps,die einem<br />
den Inhalt einer Webseite<br />
vorlesen“, sagt Miki. Ansonsten<br />
helfen ihm seine zwölfjährige<br />
TochterMeltem, ein Neffe oder<br />
seine Frau Hulya.<br />
„Auf Ämtern habe ich oft gesagt,<br />
ich versteh’ nicht richtig,<br />
um was es geht. Die<br />
Beamten haben mir die Sache<br />
dann mehrmals erklärt, bis ich<br />
gesagt habe, ach, schreiben sie<br />
mir das doch gleich rein ins<br />
Formular“, erklärt Feridun einen<br />
seiner Tricks.<br />
Zeitweise hat der Deutsch-<br />
Türke auch einen Gemüseladen<br />
in Aichachbetrieben, später einen<br />
Obsthandel mit mehreren<br />
Mitarbeitern. „Was ich bei<br />
der Buchhaltung beachten<br />
musste,hat mir mein Steuerberater<br />
erklärt. Mit Zahlen hatte<br />
ich nie Probleme“, sagt Miki.<br />
Trotzdem stieß er durch sein<br />
Handicap immer wieder an<br />
Grenzen. Sein Wunsch als<br />
Schiedsrichter bei Fußballspielen<br />
zupfeifen etwa, blieb unerfüllt.<br />
„Weil ichkeine Rotenund<br />
Gelben Karten vergeben kann,<br />
da muss man ja auch den Namen<br />
der Spieler aufschreiben“,<br />
erklärtder 46-Jährige.<br />
Hin und wieder eckte erbei<br />
Vorgesetzten auch an, wenn er<br />
sich wieder einmal einer bestimmten<br />
Aufgabe widersetzte.<br />
Dabei ging esnicht selten darum,<br />
irgendetwas in den Computer<br />
eintippen oder aufschreibenzumüssen.<br />
Dennochnahm<br />
er die Nachteile in Kauf. Denn<br />
so entging er zumindest der<br />
Peinlichkeit, sich als Analphabetouten<br />
zu müssen.<br />
Mittlerweile arbeitet Feridun<br />
bei Manomama in <strong>Augsburg</strong>,<br />
ein Textilunternehmen mit sozialem<br />
Engagement. In Sina<br />
Trinkwalders Manufaktur sind<br />
Menschen mit Behinderung,<br />
Migrationshintergrund,<br />
Alleinerziehende<br />
und Menschen ohne Schulabschluss<br />
beschäftigt. Lesen<br />
und schreiben lernen,<br />
möchte er nicht mehr, dazu sei<br />
er zu alt, sagt Feridun. Stolz ist<br />
er aber,dassseine TochterMeltem<br />
das kann, womit ihr Vater<br />
so großeSchwierigkeiten hat.<br />
Neue Techniken wie die Sprachsteuerung<br />
am Smartphone helfen<br />
Feridun Mikiroglu enorm.<br />
Foto:Thomas Winter<br />
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(pm)