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Zivildienst in Russland - ein Randphänomen?

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Vom Recht und der Willkür<br />

Im Gespräch <strong>Zivildienst</strong>anwärter Alexander Gorbatschow<br />

Wie haben Sie vom <strong>Zivildienst</strong> erfahren?<br />

Ich erfuhr vom <strong>Zivildienst</strong>, als ich mich an<br />

die Organisation der Soldatenmütter <strong>in</strong> St.<br />

Petersburg wandte. Dort werden regelmäßig<br />

spezielle Sem<strong>in</strong>are für E<strong>in</strong>berufene abgehalten.<br />

In e<strong>in</strong>igen wurde auch der <strong>Zivildienst</strong> thematisiert.<br />

Vorher hatte ich von solch e<strong>in</strong>em<br />

Dienst nichts gehört, obwohl ich selbst Jurist<br />

b<strong>in</strong>. Es waren me<strong>in</strong>e persönlichen Überzeugungen,<br />

auch wenn sie bis zu e<strong>in</strong>em gewissen<br />

Grad unbewusst waren, die mich vorzeitig zur<br />

Organisation geführt haben und mich nach<br />

Möglichkeiten suchen ließen, den Armeedienst<br />

zu entgehen.<br />

Warum haben Sie sich schließlich für den<br />

<strong>Zivildienst</strong> entschieden?<br />

Ich habe mich für diese Art der Dienstableistung<br />

entschieden, nicht weil ich religiös oder<br />

besonders pazifistisch e<strong>in</strong>gestellt b<strong>in</strong>, sondern<br />

eher aus weltlichen Gründen oder besser gesagt,<br />

weil ich e<strong>in</strong>en spezifischen Charakter<br />

habe, der dem Militärdienst e<strong>in</strong>fach widerspricht.<br />

Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach ist die Wehrpflicht<br />

nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie dazu da, um die<br />

Verteidigungsfähigkeit des Landes aufrechtzuerhalten,<br />

zumal <strong>in</strong> den letzten bewaffneten<br />

Konflikten ke<strong>in</strong>e unerfahrenen Rekruten,<br />

sondern professionelle Vertragssoldaten e<strong>in</strong>gesetzt<br />

wurden. Vielmehr stellt die Armee für<br />

mich e<strong>in</strong>e Institution dar, deren Aufgabe dar<strong>in</strong><br />

besteht, die Bürger alle auf e<strong>in</strong>en Nenner zu<br />

br<strong>in</strong>gen und sie <strong>in</strong> der „Schule des Lebens“ zu<br />

Männern zu erziehen. Dort werden Persönlichkeit<br />

und der eigene Wille gebrochen, Menschen<br />

gleichgeschaltet – wer zu widerspenstig<br />

ist, wird gehorsamer; wer zu klug ist, hört nach<br />

e<strong>in</strong>iger Zeit auf, kluge Reden zu halten. Mir gefällt<br />

das nicht, da ich e<strong>in</strong> Verfechter der Freiheit<br />

des Menschen b<strong>in</strong> und f<strong>in</strong>de, dass jeder<br />

im S<strong>in</strong>ne von Kants kategorischem Imperativ<br />

und dem Existenzialismus zufolge selbst entscheiden<br />

sollte, was richtig und falsch ist. Alle<br />

diese Überlegungen haben mich bewegt, den<br />

alternativen <strong>Zivildienst</strong> zu wählen.<br />

Welche Erfahrung haben Sie auf dem Weg<br />

zum <strong>Zivildienst</strong> gemacht? S<strong>in</strong>d irgendwelche<br />

Schwierigkeiten aufgetreten?<br />

Im Vergleich zu e<strong>in</strong>igen mir bekannten Fällen,<br />

die bis zu fünf Jahre um ihr Recht auf <strong>Zivildienst</strong><br />

kämpften, ist me<strong>in</strong>e Geschichte halb so<br />

kompliziert. Ich habe me<strong>in</strong>en Antrag gestellt,<br />

gleich nachdem ich vom Ersatzdienst erfahren<br />

habe. Zu diesem Zeitpunkt war die Frist<br />

für die E<strong>in</strong>reichung der Unterlagen jedoch<br />

überschritten. Dennoch konnte ich vor die<br />

E<strong>in</strong>berufungskommission treten und war unglaublich<br />

nervös, was e<strong>in</strong> weiterer Faktor dafür<br />

war, warum mir die Zulassung zum Dienst<br />

verweigert wurde. Daraufh<strong>in</strong> reichte ich e<strong>in</strong>e<br />

Beschwerde beim Gericht e<strong>in</strong>, verlor aber. Danach<br />

reichte ich e<strong>in</strong>e Verfassungsbeschwerde<br />

e<strong>in</strong>, aber auch diese brachte mich nicht weiter.<br />

In der Zwischenzeit war die E<strong>in</strong>berufungsphase<br />

fast verstrichen. In den letzten zwei<br />

Wochen tauchte ich also unter und ließ mich<br />

nicht beim Wehrkommissariat blicken. Beim<br />

der nächsten E<strong>in</strong>berufung reichte ich den Antrag<br />

erneut an und zu me<strong>in</strong>er großen Verwunderung<br />

wurde ihm diesmal stattgegeben. Anschließend<br />

unterzog ich mich der Musterung,<br />

bei der sich überraschenderweise herausstellte,<br />

dass ich als untauglich gelte und von jeder<br />

Dienstpflicht befreit werde.<br />

Generell kann ich sagen, dass <strong>in</strong> St. Petersburg,<br />

also <strong>in</strong> Großstädten, die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit,<br />

zu se<strong>in</strong>em Recht zu kommen, größer ist als <strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>en und abgelegenen Orten. Dort kommt<br />

es immer noch zu strafrechtlichen Verfahren<br />

gegen Wehrdienstverweigerer bzw. <strong>Zivildienst</strong>anwärter.<br />

Das liegt daran, dass die<br />

Militärbeamten dort weder Kenntnis über<br />

die gesetzliche Lage, noch Erfahrung mit <strong>Zivildienst</strong>anwärtern<br />

haben. Wenn dann zum<br />

ersten Mal e<strong>in</strong> Antrag auf <strong>Zivildienst</strong> e<strong>in</strong>geht,<br />

empf<strong>in</strong>den sie es sozusagen als persönliche<br />

Beleidigung. Die erste Reaktion ist dann, die<br />

jungen Männer zur Verantwortung zu ziehen.<br />

Grundsätzlich ist es e<strong>in</strong>e persönliche Abneigung<br />

gegen etwas, was der <strong>Zivildienst</strong>anwärter<br />

sagt oder tut, das dem Beamten missfällt<br />

und als Grund für die Absage dient. E<strong>in</strong>en<br />

Menschen, der se<strong>in</strong> ganzes Leben <strong>in</strong> der Armee<br />

verbracht hat, ist es schwer vom eigenen<br />

Standpunkt zu überzeugen. Nach außen versuchen<br />

sie h<strong>in</strong>gegen, möglichst sachlich zu<br />

argumentieren, und führen <strong>in</strong> den meisten<br />

Fällen zwei Begründungen an: das Versäumnis<br />

der gesetzlichen Frist und das Fehlen e<strong>in</strong>er<br />

stichhaltigen Beweisführung für die eigenen<br />

Überzeugungen. Meist sagen sie, dass <strong>in</strong><br />

den beigelegten Beurteilungen ke<strong>in</strong>e genauen<br />

Aussagen gemacht wurden, die gegen e<strong>in</strong>e<br />

Ableistung des Wehrdienstes sprechen. Für<br />

den Fall, dass <strong>in</strong> den Schreiben dieser Punkt<br />

doch genau aufgeführt wird, br<strong>in</strong>gen sie Zweifel<br />

an bezüglich des Zeitpunkts des Motivationsschreibens,<br />

ganz nach dem Motto: Wenn<br />

du solche Überzeugungen hast, warum hast<br />

du sie dann nicht schon viel früher offenbart.<br />

Dennoch ist es schwer von e<strong>in</strong>em Muster oder<br />

e<strong>in</strong>er Regelmäßigkeit zu sprechen. Es gibt Gebiete<br />

und Kreise, <strong>in</strong> denen niemand zu se<strong>in</strong>em<br />

Recht kommt. Dann gibt es wieder andere<br />

Orte, <strong>in</strong> denen nur Zeugen Jehovas oder Pazifisten<br />

den <strong>Zivildienst</strong> ableisten dürfen. Es gibt<br />

viele Abstufungen und Unregelmäßigkeiten,<br />

auch <strong>in</strong> Abhängigkeit der Haltung des Vorgesetzten<br />

beim Wehrkommissariat und von denen,<br />

die das Recht auslegen und anwenden.<br />

Ist demnach die Willkür der Wehrbeamten<br />

hauptsächlich dafür verantwortlich, warum<br />

wenige Menschen, den <strong>Zivildienst</strong> antreten?<br />

Naja, eigentlich kann nicht von e<strong>in</strong>em Grund<br />

gesprochen werden. Es gibt e<strong>in</strong>ige Faktoren,<br />

die zu dieser Situation führen. Zum e<strong>in</strong>en ist<br />

der ger<strong>in</strong>ge Wissensstand <strong>in</strong> der Bevölkerung<br />

e<strong>in</strong> Problem, das trotz der steigenden Zahl der<br />

Menschenrechtsorganisationen, die Aufklärungsarbeit<br />

<strong>in</strong> Bezug auf dieses Thema betreiben,<br />

<strong>in</strong> vielen Orten nach wie vor vorhanden<br />

ist, mit dem Zugang zum Internet aber hoffentlich<br />

e<strong>in</strong>e Verbesserung erfährt. Zum anderen<br />

ist e<strong>in</strong> Militarismus im Land zu spüren, der<br />

sich, wie die Journalisten schreiben, vor allem<br />

im Kult um den Zweiten Weltkrieg offenbart.<br />

Viele ziehen <strong>in</strong> ihren Artikeln e<strong>in</strong>en Vergleich<br />

mit Deutschland und se<strong>in</strong>em Umgang mit<br />

diesem Thema, das die Er<strong>in</strong>nerung an den<br />

Krieg im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Mahnung an die nächsten<br />

Generationen wachhält und nicht, wie <strong>in</strong><br />

<strong>Russland</strong>, als S<strong>in</strong>nbild der nationalen Stärke.<br />

Schließlich könnte man noch e<strong>in</strong>en Aspekt<br />

anbr<strong>in</strong>gen, der unmittelbar die Me<strong>in</strong>ung der<br />

Bevölkerung über die <strong>Zivildienst</strong>leistenden<br />

widerspiegelt. Pr<strong>in</strong>zipiell sagen die Leute aber,<br />

dass derjenige, der den Armeedienst antritt,<br />

ke<strong>in</strong> besonders kluger Mensch ist, derjenige<br />

aber, der den <strong>Zivildienst</strong> leisten möchte, um<br />

e<strong>in</strong> Zweifaches dümmer ist. Das hängt damit<br />

zusammen, dass die meisten nicht verstehen,<br />

wieso man so viel Zeit für e<strong>in</strong>en sozialen<br />

Dienst an der Gesellschaft opfert, obwohl die<br />

Möglichkeit besteht, sich vom Dienst freizukaufen<br />

und die Zeit nutzen könnte, um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

anderen Bereich mehr Geld zu verdienen.<br />

Daraus resultieren auch die negativen Stereotypen<br />

über den <strong>Zivildienst</strong>, der <strong>in</strong> ihren Augen<br />

nur von ganz sonderbaren und weltentrückten<br />

Menschen abgeleistet wird.<br />

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