Zivildienst in Russland - ein Randphänomen?
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„Ich gehe nicht <strong>in</strong> die Armee“ - Aufschrift auf der Tür des Wehrkommissariats von Murmansk<br />
br<strong>in</strong>gt. Wenn zum Beispiel jemand den Wehrdienst<br />
nicht ableisten möchte, dann versucht<br />
er sich auf legalem oder illegalem Weg davon<br />
zu befreien. Anstatt jedoch die Korruption zu<br />
fördern, sollten mehr Menschen darüber <strong>in</strong>formiert<br />
werden, dass sie e<strong>in</strong>e Alternative zum<br />
Wehrdienst haben.<br />
Wie denken die russischen Bürger über den<br />
<strong>Zivildienst</strong>?<br />
Hierzu kann ich Ihnen nur me<strong>in</strong>e subjektive<br />
Me<strong>in</strong>ung mitteilen, da ich vorwiegend mit<br />
Leuten Kontakt habe, die sich wegen des <strong>Zivildienst</strong>es<br />
an mich wenden. Deshalb habe ich<br />
persönlich das Gefühl, dass der Dienst positiv<br />
wahrgenommen wird. Gleichzeitig denke ich<br />
aber, dass die Mehrheit der russischen Bürger<br />
dem <strong>Zivildienst</strong> gleichgültig gegenübersteht.<br />
Natürlich gibt es auch Leute, die negativ e<strong>in</strong>gestellt<br />
s<strong>in</strong>d, da sie der Überzeugung s<strong>in</strong>d,<br />
dass es die Pflicht e<strong>in</strong>es Mannes se<strong>in</strong> sollte.<br />
den Wehrdienst zu durchlaufen.<br />
Wie hat Ihr Umfeld darauf reagiert, dass Sie<br />
sich für den <strong>Zivildienst</strong> entschieden haben?<br />
Die Mehrheit hat sehr positiv darauf reagiert.<br />
Natürlich gab es e<strong>in</strong>ige, die me<strong>in</strong>e Entscheidung<br />
h<strong>in</strong>terfragt haben, aber ich würde sagen,<br />
das lag daran, dass sie ke<strong>in</strong>e Vorstellungen von<br />
me<strong>in</strong>er Tätigkeit hatten. Aber es gab ke<strong>in</strong>e aggressiven<br />
Reaktionen.<br />
Im russischen Alltag ist das Militär sehr präsent,<br />
sei es durch die zahlreichen Kriegsdenkmäler<br />
oder durch die kriegerischen<br />
Ause<strong>in</strong>andersetzungen der letzten Jahre.<br />
Denken Sie, dass diese Präsenz der Entwicklung<br />
des <strong>Zivildienst</strong>es schadet?<br />
Das hat zweifellos e<strong>in</strong>e Auswirkung auf den<br />
<strong>Zivildienst</strong>. Es wirkt sich aber nicht auf die<br />
Leute aus, die den <strong>Zivildienst</strong> antreten wollen,<br />
sondern auf die, die sich mit den Fragen des<br />
<strong>Zivildienst</strong>es als Alternative zum Wehrdienst<br />
generell ause<strong>in</strong>andersetzen. Außerdem f<strong>in</strong>det<br />
man oft negative Kommentare <strong>in</strong> den sozialen<br />
Netzwerken, manchmal entwickeln sich sogar<br />
Streitgespräche <strong>in</strong> Foren. Das hat natürlich zur<br />
Folge, dass Druck auf die Leute ausgeübt wird,<br />
die den <strong>Zivildienst</strong> absolvieren wollen. Wenn<br />
man vom „Kult des Starken“ spricht, dann ist<br />
es schon so, dass dieser e<strong>in</strong>igen Leuten Anstoß<br />
gibt, zur Armee zu gehen. Aber für den <strong>Zivildienst</strong><br />
ist er nicht so e<strong>in</strong>e starke Bee<strong>in</strong>trächtigung.<br />
Warum entscheidet sich dann lediglich e<strong>in</strong><br />
Prozent e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>berufungsjahrgangs für<br />
den <strong>Zivildienst</strong>?<br />
Das ist vorwiegend e<strong>in</strong> Problem des Systems.<br />
E<strong>in</strong> großes Problem besteht dar<strong>in</strong>, das bei der<br />
Wehrkommission kaum Informationen zum<br />
<strong>Zivildienst</strong> vorzuf<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Des Weiteren ist<br />
es e<strong>in</strong> großes H<strong>in</strong>dernis, dass falsche Informationen<br />
zum <strong>Zivildienst</strong> kursieren. Beispielsweise,<br />
dass man den <strong>Zivildienst</strong> <strong>in</strong> Sibirien<br />
ableisten muss. Ich glaube nicht, dass diese<br />
Informationen absichtlich verbreitet werden,<br />
sondern dass solche Informationen e<strong>in</strong>fach<br />
weitergegeben werden ohne sich vorher darüber<br />
zu <strong>in</strong>formieren, ob es auch der Wahrheit<br />
entspricht. Das ist im Allgeme<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> großes<br />
Problem <strong>in</strong> <strong>Russland</strong>.<br />
Natürlich besitzt die Armee auch aufgrund<br />
ihrer Geschichte e<strong>in</strong> großes Ansehen <strong>in</strong> <strong>Russland</strong>,<br />
so dass sich viele lieber für den Wehrdienst<br />
als für den <strong>Zivildienst</strong> entscheiden. Erst<br />
recht, wenn sie hören, dass der <strong>Zivildienst</strong><br />
neun Monate länger dauert. Sie sehen es als<br />
e<strong>in</strong>e Art Zeitverschwendung und nicht als e<strong>in</strong>en<br />
Dienst an der Gesellschaft.<br />
Wie hat sich das Gesetz der ausländischen<br />
Agenten auf die Organisation der Soldatenmütter<br />
ausgewirkt? Hat es Ihre Arbeit erschwert?<br />
Ohne Zweifel ist es im Großen und Ganzen<br />
für uns schwerer geworden. Vor dem E<strong>in</strong>tritt<br />
dieses Gesetzes wäre niemand auf die Idee gekommen,<br />
NGOs <strong>in</strong> <strong>Russland</strong> zu beschuldigen,<br />
dass sie zerstörerisch handeln würden. Natürlich<br />
hat es immer Kritik gegeben und diese war<br />
nie objektiv und entsprach nicht immer den<br />
Tatsachen, aber generell war die Arbeit e<strong>in</strong>facher.<br />
Jetzt ist es schwierig, man stößt immer<br />
mit der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung aufe<strong>in</strong>ander.<br />
Man sollte aber darüber nachdenken, <strong>in</strong>wiefern<br />
diese Me<strong>in</strong>ung gesellschaftlich verankert<br />
ist und <strong>in</strong>wiefern sie der Realität entspricht.<br />
So bewerten nach Ergebnissen e<strong>in</strong>er soziologischen<br />
Untersuchung 75% der Befragten <strong>in</strong><br />
Petersburg unsere Arbeit als positiv. Und die<br />
Bekanntheit der Organisation ist ähnlich, ungefähr<br />
70% kennen unsere Organisation. Deswegen<br />
ist es sehr schwer zu sagen, <strong>in</strong>wieweit<br />
diese „öffentliche Me<strong>in</strong>ung“ der Realität entspricht.<br />
Aber im Allgeme<strong>in</strong>en hatte das Gesetz<br />
natürlich E<strong>in</strong>fluss, weil etwa die Beziehung der<br />
Wehrdienstleistenden zu uns sich verschlechtert<br />
hat. Es ist zweifellos schwerer geworden,<br />
zu arbeiten, aber wir haben noch zu tun.<br />
Denken Sie, dass die aktuellen politischen<br />
Entwicklungen <strong>in</strong> <strong>Russland</strong> e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss<br />
auf den <strong>Zivildienst</strong> haben?<br />
Ja, ohne Frage hat dies e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf den<br />
<strong>Zivildienst</strong>. Momentan ist e<strong>in</strong>e deutliche Propaganda<br />
für das Militär im Land zu spüren. Es<br />
zeigt sich zurzeit auch die Tendenz, dass mehr<br />
Männer als üblich den Wehrdienst ableisten<br />
wollen. Zwar betreibt der Staat derzeit aktiv<br />
Werbung für das Militär, doch ist andererseits<br />
<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise festzustellen, dass die Regierung<br />
versucht, direkt e<strong>in</strong>en negativen E<strong>in</strong>fluss<br />
auf den <strong>Zivildienst</strong> auszuüben.<br />
Wie schätzen Sie die Entwicklung des Wehrdienstes<br />
e<strong>in</strong>? Könnte die Wehrpflicht <strong>in</strong> den<br />
kommenden Jahren eventuell abgeschafft<br />
und e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Berufsarmee e<strong>in</strong>geführt werden?<br />
Ich denke diese Entwicklung wird bestimmt irgendwann<br />
<strong>in</strong> <strong>Russland</strong> e<strong>in</strong>treten, aber nicht <strong>in</strong><br />
der kommenden Zeit. Vielleicht wird es noch<br />
zwei bis drei Jahre dauern, bis e<strong>in</strong> solcher Entwicklungsprozess<br />
e<strong>in</strong>setzt. Das wäre e<strong>in</strong> sehr<br />
wichtiger Schritt, wenn die Wehrpflichtigenarmee<br />
gegen e<strong>in</strong>e ausschließliche Berufsarmee<br />
ersetzt werden würde. Hierdurch würden<br />
nur diejenigen zum Militär gehen, die diesen<br />
Wunsch auch hegen.<br />
Fotos: © Soldatenmütter St. Petersburg<br />
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