26.10.2015 Views

Zivildienst in Russland - ein Randphänomen?

6P7Ox1kZi

6P7Ox1kZi

SHOW MORE
SHOW LESS

You also want an ePaper? Increase the reach of your titles

YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.

30<br />

Was ist e<strong>in</strong> richtiger Mann?<br />

Vom Mannwerden im Militär- und <strong>Zivildienst</strong><br />

Für die frühere Sowjetunion hatten das Militär<br />

und die „heilige Pflicht“ e<strong>in</strong>es jeden Mannes,<br />

se<strong>in</strong>em Vaterland zu dienen, e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert.<br />

Mit der Transformation des Systems und<br />

der Lockerung der Zensur traten die Schattenseiten<br />

dieser Wehrpflicht und der prestigereichen<br />

Institution, <strong>in</strong> der laut offizieller Rhetorik brüderliche<br />

Kameradschaft und Diszipl<strong>in</strong> ihren angestammten<br />

Platz haben sollten, immer häufiger<br />

<strong>in</strong> den Vordergrund. Die desaströsen Verwicklungen<br />

<strong>in</strong> Afghanistan, die Entsendung von jungen<br />

Rekruten <strong>in</strong> den Tschetschenien-Krieg, aber auch<br />

die grausamen, <strong>in</strong>ternen Praktiken der Rekrutensch<strong>in</strong>derei,<br />

bekannt als Dedowschtsch<strong>in</strong>a, hatten<br />

<strong>in</strong> der Phase des sozialen und politischen Umbruchs<br />

dazu beigetragen, dass viele junge Männer<br />

und ihre besorgten Eltern nach e<strong>in</strong>em Weg<br />

suchten, sich der E<strong>in</strong>berufung <strong>in</strong> die Armee zu<br />

entziehen. Auch heute lässt sich die Angst vor<br />

dem Wehrdienst und die Praxis der <strong>in</strong>formellen<br />

Umgehung, trotz Militärreform und dem Wiedererstarken<br />

e<strong>in</strong>es nationalpatriotischen Erziehungsprogramms,<br />

deutlich beobachten.<br />

In Anbetracht dieser Entwicklungen sche<strong>in</strong>t die<br />

Etablierung des <strong>Zivildienst</strong>es als e<strong>in</strong>e legale<br />

Möglichkeit, den Wehrdienst zu entkommen und<br />

gleichzeitig se<strong>in</strong>en Dienst für Staat und Gesellschaft<br />

abzuleisten, e<strong>in</strong> logischer Schritt zu se<strong>in</strong>,<br />

an dem alle Seiten gleichermaßen <strong>in</strong>teressiert<br />

se<strong>in</strong> müssten. Dennoch steckt dieser Ansatz noch<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Anfängen. Auch wenn hierfür e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />

an Gründen angeführt werden kann, spr<strong>in</strong>gt<br />

e<strong>in</strong> Hemmfaktor besonders <strong>in</strong>s Auge: die tradierte<br />

sowie ungebrochene Verknüpfung von Militär<br />

und Männlichkeit.<br />

Betrachtet man das Militär als e<strong>in</strong>e Institution,<br />

die im Zuge des Nationsbildungsprozesses ihre<br />

Machtstrukturen grundlegend mit dem männlichen<br />

Geschlecht verknüpfte und auch heute<br />

e<strong>in</strong>er der letzten Orte ist, <strong>in</strong> denen Männer e<strong>in</strong><br />

nahezu unangefochtenes Monopol an Macht und<br />

E<strong>in</strong>fluss haben, so erklärt das nicht nur die anhaltende<br />

Attraktivität der Armee als Hort re<strong>in</strong>er<br />

Männlichkeit für manche junge Männer, sondern<br />

auch die kulturelle Bedeutung dieser Verknüpfung<br />

für die gesamtgesellschaftlichen Geschlechterkonstruktionen.<br />

Das Übergreifen des militärischen<br />

Männlichkeitsideals über den funktionalen<br />

Bereich des Militärischen h<strong>in</strong>aus, ermöglicht es,<br />

dass der Großteil der russischen Gesellschaft die<br />

Skandale und die teilweise menschenunwürdigen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> der Armee zwar verurteilt und<br />

als Begleitersche<strong>in</strong>ung zu beseitigen wünscht,<br />

das Militär aber nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er patriarchalen<br />

und männlichen Sozialisations<strong>in</strong>stanz grundsätzlich<br />

<strong>in</strong> Frage stellt.<br />

Der Grund für diese dauerhafte Verknüpfung von<br />

Militär und Männlichkeit liegt aber auch <strong>in</strong> ihrer<br />

fortwährenden Reproduktion und Repräsentation<br />

begründet. Für das Militär, das die alten Werte<br />

und Ordnungssysteme <strong>in</strong> Anbetracht der Entwicklungen<br />

der letzten Jahrzehnte bewahren möchte,<br />

ist die (zwanghafte) E<strong>in</strong>berufung von jungen<br />

Männern zum Wehrdienst essentiell. Dieses Instrument<br />

gewährleistet nicht nur die ständige gesellschaftliche<br />

E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung und Sozialisation der<br />

neuen Generation, sondern auch, dass der Militärdienst<br />

als Initiationsritual für das Mannwerden<br />

nicht an Bedeutung verliert. Darüber h<strong>in</strong>aus präsentieren<br />

die Armee und die politische Führung<br />

auch auf symbolischer Ebene den „wehrhaften<br />

Mann“ als wesentlich für die Verteidigungsfähigkeit<br />

und die Aufrechterhaltung des Staates.<br />

Hierfür bedienen sie sich e<strong>in</strong>er Geschichtspolitik<br />

bzw. Er<strong>in</strong>nerungskultur, die mit ihren Fokus<br />

auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ nicht<br />

nur den heroischen Sieg als wichtigste nationale<br />

Errugenschaft unterstreicht, sondern auch gesellschaftliche<br />

Positionen h<strong>in</strong>sichtlich der Generation<br />

und des Geschlechts def<strong>in</strong>iert. Dabei werden<br />

Männer idealtypisch und systematisch auf der<br />

Seite von Militär, Krieg und Gewalt und Frauen<br />

auf der Seite des Zivilen, des Privaten und der<br />

Friedfertigkeit positioniert sowie gleichzeitig das<br />

Weibliche, Zivile und Private als unorganisiert,<br />

staats- und machtfern hierarchisiert.<br />

Wenn aber der Militärdienst als Initiationsritus<br />

für das Mannwerden – sieht man von dem Aspekt<br />

des loyalen Staatsbürgers ab – von der Gesellschaft<br />

nach wie vor und <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von<br />

den Vätern akzeptiert wird, wie verhält es sich<br />

dann mit den jungen Männern, die versuchen<br />

die E<strong>in</strong>berufung gänzlich zu vermeiden oder den<br />

<strong>Zivildienst</strong> <strong>in</strong> Anspruch nehmen? Müssten sie<br />

nicht e<strong>in</strong>en Bruch mit dem militärischen bzw.traditionellen<br />

Männlichkeitsbild vollziehen? Diese<br />

Frage ist nicht e<strong>in</strong>deutig zu beantworten und für<br />

die jeweilige Gruppe der Wehrdienstverweigerer<br />

womöglich nicht identisch: Diejenigen, die<br />

auf <strong>in</strong>formelle Praktiken ausweichen, können<br />

<strong>in</strong> der Regel durch ihre Familie auf f<strong>in</strong>anzielle<br />

Ressourcen oder auf persönliche Beziehungen<br />

zurückgreifen und gehören damit tendenziell zu<br />

e<strong>in</strong>er Gesellschaftsschicht, die Zugang zu Machtstrukturen<br />

hat. Dieser Zusammenhang muss<br />

nicht zwangsläufig e<strong>in</strong> Indiz dafür se<strong>in</strong>, dass diese<br />

Gruppe dem militärischen Männlichkeitsbild<br />

zugeneigt ist, vor allem wenn der Unmut über<br />

die Praktiken im Militär als Grund für die Verweigerung<br />

angeführt werden. Man könnte jedoch<br />

davon ausgehen, dass ihr Männlichkeitsentwurf<br />

ebenso wenig oder vielmehr nicht offenkundig<br />

mit den traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit<br />

bricht. Letztendlich gibt es dazu aber<br />

ke<strong>in</strong>e Untersuchungen, die diese Frage gänzlich<br />

klären könnten.<br />

Bei den <strong>Zivildienst</strong>leistenden sieht die Lage<br />

dagegen anders aus. Für sie kommt das Ausweichen<br />

auf <strong>in</strong>formelle Praktiken entweder aus<br />

Mangel an den eben genannten Ressourcen oder<br />

aus ideellen Gründen nicht <strong>in</strong> Frage. In e<strong>in</strong>igen<br />

Fällen können sie sich nicht e<strong>in</strong>mal auf die aktive<br />

Unterstützung der eigenen Familie verlassen.<br />

Grundsätzlich fällt jedoch auf, dass diejenigen,<br />

die ihren Anspruch auf <strong>Zivildienst</strong> mit Hilfe von<br />

Menschen- oder Bürgerrechtsgruppen durchsetzen,<br />

zu den Informationsveranstaltungen über<br />

den <strong>Zivildienst</strong> vorwiegend <strong>in</strong> Begleitung ihrer<br />

Mütter oder Großmütter ersche<strong>in</strong>en. Die Nähe<br />

zur Familie und <strong>in</strong>sbesondere zu e<strong>in</strong>em weiblichen<br />

Umfeld, die der <strong>Zivildienst</strong> mit sich br<strong>in</strong>gt,<br />

31

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!