Zivildienst in Russland - ein Randphänomen?
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Was ist e<strong>in</strong> richtiger Mann?<br />
Vom Mannwerden im Militär- und <strong>Zivildienst</strong><br />
Für die frühere Sowjetunion hatten das Militär<br />
und die „heilige Pflicht“ e<strong>in</strong>es jeden Mannes,<br />
se<strong>in</strong>em Vaterland zu dienen, e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert.<br />
Mit der Transformation des Systems und<br />
der Lockerung der Zensur traten die Schattenseiten<br />
dieser Wehrpflicht und der prestigereichen<br />
Institution, <strong>in</strong> der laut offizieller Rhetorik brüderliche<br />
Kameradschaft und Diszipl<strong>in</strong> ihren angestammten<br />
Platz haben sollten, immer häufiger<br />
<strong>in</strong> den Vordergrund. Die desaströsen Verwicklungen<br />
<strong>in</strong> Afghanistan, die Entsendung von jungen<br />
Rekruten <strong>in</strong> den Tschetschenien-Krieg, aber auch<br />
die grausamen, <strong>in</strong>ternen Praktiken der Rekrutensch<strong>in</strong>derei,<br />
bekannt als Dedowschtsch<strong>in</strong>a, hatten<br />
<strong>in</strong> der Phase des sozialen und politischen Umbruchs<br />
dazu beigetragen, dass viele junge Männer<br />
und ihre besorgten Eltern nach e<strong>in</strong>em Weg<br />
suchten, sich der E<strong>in</strong>berufung <strong>in</strong> die Armee zu<br />
entziehen. Auch heute lässt sich die Angst vor<br />
dem Wehrdienst und die Praxis der <strong>in</strong>formellen<br />
Umgehung, trotz Militärreform und dem Wiedererstarken<br />
e<strong>in</strong>es nationalpatriotischen Erziehungsprogramms,<br />
deutlich beobachten.<br />
In Anbetracht dieser Entwicklungen sche<strong>in</strong>t die<br />
Etablierung des <strong>Zivildienst</strong>es als e<strong>in</strong>e legale<br />
Möglichkeit, den Wehrdienst zu entkommen und<br />
gleichzeitig se<strong>in</strong>en Dienst für Staat und Gesellschaft<br />
abzuleisten, e<strong>in</strong> logischer Schritt zu se<strong>in</strong>,<br />
an dem alle Seiten gleichermaßen <strong>in</strong>teressiert<br />
se<strong>in</strong> müssten. Dennoch steckt dieser Ansatz noch<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Anfängen. Auch wenn hierfür e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />
an Gründen angeführt werden kann, spr<strong>in</strong>gt<br />
e<strong>in</strong> Hemmfaktor besonders <strong>in</strong>s Auge: die tradierte<br />
sowie ungebrochene Verknüpfung von Militär<br />
und Männlichkeit.<br />
Betrachtet man das Militär als e<strong>in</strong>e Institution,<br />
die im Zuge des Nationsbildungsprozesses ihre<br />
Machtstrukturen grundlegend mit dem männlichen<br />
Geschlecht verknüpfte und auch heute<br />
e<strong>in</strong>er der letzten Orte ist, <strong>in</strong> denen Männer e<strong>in</strong><br />
nahezu unangefochtenes Monopol an Macht und<br />
E<strong>in</strong>fluss haben, so erklärt das nicht nur die anhaltende<br />
Attraktivität der Armee als Hort re<strong>in</strong>er<br />
Männlichkeit für manche junge Männer, sondern<br />
auch die kulturelle Bedeutung dieser Verknüpfung<br />
für die gesamtgesellschaftlichen Geschlechterkonstruktionen.<br />
Das Übergreifen des militärischen<br />
Männlichkeitsideals über den funktionalen<br />
Bereich des Militärischen h<strong>in</strong>aus, ermöglicht es,<br />
dass der Großteil der russischen Gesellschaft die<br />
Skandale und die teilweise menschenunwürdigen<br />
Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> der Armee zwar verurteilt und<br />
als Begleitersche<strong>in</strong>ung zu beseitigen wünscht,<br />
das Militär aber nicht im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er patriarchalen<br />
und männlichen Sozialisations<strong>in</strong>stanz grundsätzlich<br />
<strong>in</strong> Frage stellt.<br />
Der Grund für diese dauerhafte Verknüpfung von<br />
Militär und Männlichkeit liegt aber auch <strong>in</strong> ihrer<br />
fortwährenden Reproduktion und Repräsentation<br />
begründet. Für das Militär, das die alten Werte<br />
und Ordnungssysteme <strong>in</strong> Anbetracht der Entwicklungen<br />
der letzten Jahrzehnte bewahren möchte,<br />
ist die (zwanghafte) E<strong>in</strong>berufung von jungen<br />
Männern zum Wehrdienst essentiell. Dieses Instrument<br />
gewährleistet nicht nur die ständige gesellschaftliche<br />
E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung und Sozialisation der<br />
neuen Generation, sondern auch, dass der Militärdienst<br />
als Initiationsritual für das Mannwerden<br />
nicht an Bedeutung verliert. Darüber h<strong>in</strong>aus präsentieren<br />
die Armee und die politische Führung<br />
auch auf symbolischer Ebene den „wehrhaften<br />
Mann“ als wesentlich für die Verteidigungsfähigkeit<br />
und die Aufrechterhaltung des Staates.<br />
Hierfür bedienen sie sich e<strong>in</strong>er Geschichtspolitik<br />
bzw. Er<strong>in</strong>nerungskultur, die mit ihren Fokus<br />
auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ nicht<br />
nur den heroischen Sieg als wichtigste nationale<br />
Errugenschaft unterstreicht, sondern auch gesellschaftliche<br />
Positionen h<strong>in</strong>sichtlich der Generation<br />
und des Geschlechts def<strong>in</strong>iert. Dabei werden<br />
Männer idealtypisch und systematisch auf der<br />
Seite von Militär, Krieg und Gewalt und Frauen<br />
auf der Seite des Zivilen, des Privaten und der<br />
Friedfertigkeit positioniert sowie gleichzeitig das<br />
Weibliche, Zivile und Private als unorganisiert,<br />
staats- und machtfern hierarchisiert.<br />
Wenn aber der Militärdienst als Initiationsritus<br />
für das Mannwerden – sieht man von dem Aspekt<br />
des loyalen Staatsbürgers ab – von der Gesellschaft<br />
nach wie vor und <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von<br />
den Vätern akzeptiert wird, wie verhält es sich<br />
dann mit den jungen Männern, die versuchen<br />
die E<strong>in</strong>berufung gänzlich zu vermeiden oder den<br />
<strong>Zivildienst</strong> <strong>in</strong> Anspruch nehmen? Müssten sie<br />
nicht e<strong>in</strong>en Bruch mit dem militärischen bzw.traditionellen<br />
Männlichkeitsbild vollziehen? Diese<br />
Frage ist nicht e<strong>in</strong>deutig zu beantworten und für<br />
die jeweilige Gruppe der Wehrdienstverweigerer<br />
womöglich nicht identisch: Diejenigen, die<br />
auf <strong>in</strong>formelle Praktiken ausweichen, können<br />
<strong>in</strong> der Regel durch ihre Familie auf f<strong>in</strong>anzielle<br />
Ressourcen oder auf persönliche Beziehungen<br />
zurückgreifen und gehören damit tendenziell zu<br />
e<strong>in</strong>er Gesellschaftsschicht, die Zugang zu Machtstrukturen<br />
hat. Dieser Zusammenhang muss<br />
nicht zwangsläufig e<strong>in</strong> Indiz dafür se<strong>in</strong>, dass diese<br />
Gruppe dem militärischen Männlichkeitsbild<br />
zugeneigt ist, vor allem wenn der Unmut über<br />
die Praktiken im Militär als Grund für die Verweigerung<br />
angeführt werden. Man könnte jedoch<br />
davon ausgehen, dass ihr Männlichkeitsentwurf<br />
ebenso wenig oder vielmehr nicht offenkundig<br />
mit den traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit<br />
bricht. Letztendlich gibt es dazu aber<br />
ke<strong>in</strong>e Untersuchungen, die diese Frage gänzlich<br />
klären könnten.<br />
Bei den <strong>Zivildienst</strong>leistenden sieht die Lage<br />
dagegen anders aus. Für sie kommt das Ausweichen<br />
auf <strong>in</strong>formelle Praktiken entweder aus<br />
Mangel an den eben genannten Ressourcen oder<br />
aus ideellen Gründen nicht <strong>in</strong> Frage. In e<strong>in</strong>igen<br />
Fällen können sie sich nicht e<strong>in</strong>mal auf die aktive<br />
Unterstützung der eigenen Familie verlassen.<br />
Grundsätzlich fällt jedoch auf, dass diejenigen,<br />
die ihren Anspruch auf <strong>Zivildienst</strong> mit Hilfe von<br />
Menschen- oder Bürgerrechtsgruppen durchsetzen,<br />
zu den Informationsveranstaltungen über<br />
den <strong>Zivildienst</strong> vorwiegend <strong>in</strong> Begleitung ihrer<br />
Mütter oder Großmütter ersche<strong>in</strong>en. Die Nähe<br />
zur Familie und <strong>in</strong>sbesondere zu e<strong>in</strong>em weiblichen<br />
Umfeld, die der <strong>Zivildienst</strong> mit sich br<strong>in</strong>gt,<br />
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