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Seelenpflege 2016-3-4 Spezial

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International Perspectives<br />

<strong>Seelenpflege</strong><br />

in Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

Anthroposophical<br />

Curative Education<br />

and Social Therapy<br />

International<br />

Perspectives<br />

Anthroposophische<br />

Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

Internationale<br />

Perspektiven<br />

Reports<br />

Articles<br />

Interviews<br />

Berichte<br />

Beiträge<br />

Interviews<br />

in cooperation with


Editorial<br />

Editorial<br />

Liebe Leserinnen und Leser<br />

Mit diesem Heft möchten wir Ihnen einen Überblick über<br />

die weltweite Arbeit der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie vorlegen. Sein Kernstück sind<br />

die Berichte aus den Ländern, in denen es diese Form<br />

der Arbeit mit und für Menschen mit Behinderung gibt –<br />

in manchen seit vielen Jahrzehnten, in anderen erst seit<br />

kurzer Zeit. Erfahrung und Pioniergeist reichen sich über<br />

Ländergrenzen und Kontinente hinweg die Hände. All<br />

diese Länder arbeiten in der Konferenz für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie zusammen, in der sie einmal im<br />

Jahr – jeden Herbst – zusammenkommen und sich über<br />

ihre gemeinsamen Aufgaben, Themen und Herausforderungen<br />

miteinander verständigen. Es sind die Mitglieder<br />

dieses Runden Tisches, die diese Berichte verfasst<br />

haben. Leider gibt es nicht von allen Ländern in diesem<br />

Heft Berichte, wir werden diese in kommenden Ausgaben<br />

ergänzen.<br />

Die Zukunft unserer Arbeit hängt massgeblich davon ab,<br />

dass wir gut qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

ausbilden. Wir haben zehn junge Menschen, die ihre<br />

heilpädagogische oder sozialtherapeutische Ausbildung<br />

in zehn verschiedenen Ländern machen, gebeten, uns<br />

einige Fragen zu beantworten:<br />

Wie ist Dein persönlicher Bezug zur anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie? Wie bist Du zu<br />

der Ausbildung und Mitarbeit in der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie gekommen?<br />

Welche Aufgaben stellen sich der Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

in der Zukunft?<br />

Was brauchst Du, um im Rahmen der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie in Zukunft<br />

arbeiten zu können?<br />

Welche Aufgabe hat die Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

in der Entwicklung der Gesellschaft, in der Du<br />

lebst?<br />

Entstanden sind zehn ganz unterschiedliche und spannende<br />

Antworten.<br />

Dear readers,<br />

This volume is our attempt at an overview of anthroposophic<br />

curative education and social therapy<br />

work worldwide. Its centrepiece consists of<br />

reports from the countries in which this kind of<br />

work with and for people with disabilities is being<br />

carried out – in some for many decades and in<br />

others only since quite recently. Experience and<br />

the pioneering spirit reach out to each other<br />

across national borders. All of these countries<br />

work together in the Council for Curative Education<br />

and Social Therapy, where they come together<br />

annually—each autumn—and communicate<br />

with each other about common tasks, themes and<br />

challenges. The members of this round table are<br />

the authors of these reports. Some countries have<br />

not provided reports for this volume; they will be<br />

added in future editions.<br />

The future of our work is significantly dependent<br />

on our training well-qualified co-workers. Therefore,<br />

we asked ten young people who are enrolled<br />

in curative education or social therapy training in<br />

ten different countries to answer some questions<br />

for us:<br />

What is your personal relationship to anthroposophic<br />

education for children with special needs<br />

and social therapy? How did you come to<br />

work in anthroposophic education for children<br />

with special needs and social therapy?<br />

What are the tasks of education for children with<br />

special needs and social therapy in the future?<br />

What do you need/what support do you need in<br />

order to be able to work within the framework<br />

of anthroposophic education for children<br />

with special needs and social therapy in<br />

the future?<br />

What is the task of education for children with<br />

special needs and social therapy in the development<br />

of the society in which you live?<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

3


Das Thema Ausbildung finden Sie auch in einem Bericht<br />

von Andreas Fischer wieder, der die wichtigsten<br />

Bildungsanliegen aus unserem Internationalen Ausbildungskreis<br />

für Sie zusammengefasst hat. Ein Meilenstein<br />

dieser Arbeit war die Verabschiedung der neuen<br />

«Charta Berufliche Bildung», die eine gemeinsame Referenz<br />

für die internationale Ausbildungsgemeinschaft<br />

sowie die Grundlage der Akkreditierung und Anerkennung<br />

in diesem Netzwerk bilden.<br />

Es sind die internationalen Kongresse «In der Begegnung<br />

leben», die eine beispielhafte, fast möchte man sagen<br />

beispiellose Erfolgsgeschichte darstellen. Sie haben in<br />

zahlreichen Ländern und Kontinenten bereits stattgefunden<br />

und werden im kommenden Jahr mit einem Weltkongress<br />

in Jekaterinburg, Russland kulminieren. Thomas<br />

Kraus hat eine Übersicht zusammengestellt und Matthias<br />

Pleger, Teilnehmer an allen Europäischen Kongressen<br />

einen Erlebnisbericht beigetragen.<br />

Aus dem künstlerischen Bereich haben wir einen Beitrag<br />

von Ingeborg Woitsch über ihre erfolgreiche Arbeit in den<br />

Schreibwerkstätten, in denen Menschen die Möglichkeit<br />

entdecken, sich auf neue Art auszudrücken und zu erleben.<br />

Hannes Weigert stellt uns die Arbeit des Malers Tor<br />

Janicki vor, der sich mit dem Bühnenvorhang zu den Mysteriendramen<br />

Rudolf Steiners beschäftigt hat.<br />

Eine weitere Farbe, die dieses Heft besitzt, finden Sie in<br />

den Beiträgen von Ute Craemer über die Arbeit in den<br />

Armenvierteln Lateinamerikas, von Jan Göschel über<br />

Kindheit und Vulnerabilität in den Bedingungen des 21.<br />

Jahrhunderts, von Rüdiger Grimm über die Entwicklung<br />

des Ich in Leib und Welt, von Florian Osswald über die<br />

Aufgaben der Erziehung in der Gegenwart, von Annette<br />

Pichler über Bindungsforschung im Zusammenhang mit<br />

dem Punkt-Kreis-Element und schliesslich von Stefan<br />

Siegel-Holz über die Sozialtherapeutische Gemeinschaft.<br />

Bilden die Berichte aus den Ländern die «horizontale»<br />

Situation in den Ländern ab, ihre Ausbreitung und ihren<br />

Beitrag für die jeweils nationale Kultur und Gesellschaft,<br />

so stellen diese Beiträge ein eher «vertikales» Element<br />

dar, indem sie einige Aspekte der Grundlagen und Methoden<br />

der aus der Anthroposophie heraus erwachsenen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie beleuchten. Dies gilt<br />

insbesondere für einen der ersten Aufsätze, der je über<br />

die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

geschrieben worden ist. Ita Wegman schrieb ihn im<br />

Jahr 1926. Sie zeichnete die Ausführungen Rudolf Stei-<br />

Ten very different answers were the result, all of which<br />

are fascinating to read.<br />

Training is also the topic of a report by Andreas Fischer,<br />

who summarized the most important training objectives<br />

from our International Training Circle for you, our<br />

readers. Our establishment of the new ‘Professional<br />

Training Charter’ was a milestone of our work which<br />

provides a common point of reference for the international<br />

training community as well as a basis for accreditation<br />

and recognition within the network.<br />

The international ‘Living in the Encounter’ conferences<br />

represent an exemplary, one could almost say unprecedented<br />

success story. They have now taken place in<br />

numerous countries and on several continents, and<br />

will culminate next year in a worldwide conference in<br />

Yekaterinburg, Russia. Thomas Kraus has composed an<br />

overview and Matthias Pleger, who participated in all<br />

of the European conferences, contributed an account<br />

of his experiences.<br />

From the sphere of the arts, we have a contribution by<br />

Ingeborg Woitsch on her successful work with writing<br />

workshops, in which people learn new ways of expressing<br />

and experiencing themselves. Hannes Weigert introduces<br />

us to the work of the painter Tor Janicki, who<br />

studied and worked with the stage curtain for Rudolf<br />

Steiner’s Mystery Dramas.<br />

This volume also includes wonderful contributions by<br />

Ute Craemer on her work in the slums of Latin America,<br />

by Jan Göschel on childhood and vulnerability in<br />

the context of the 21st century, by Rüdiger Grimm on<br />

the development of the I in body and world, by Florian<br />

Oswald on the tasks of education in our present<br />

time, by Annette Pichler on attachment research as it<br />

relates to the elements of point and periphery, and finally<br />

by Stefan Siegel-Holz on the social therapeutic<br />

community.<br />

If the reports from different countries portray the ‘horizontal’<br />

situations in the countries – their expansion<br />

and their contribution to the national culture and<br />

society, these contributions portray a more ‘vertical’<br />

element, in that they highlight some aspects of the<br />

foundations and methods of anthroposophically based<br />

curative education and social therapy. This is especially<br />

true of one of the first essays that was ever written<br />

about anthroposophic curative education and social<br />

therapy, which was written by Ita Wegman in 1930.<br />

She retraced Rudolf Steiner’s explanations from his<br />

4


ners im «Heilpädagogischen Kurs» nach und erweiterte<br />

sie durch ihre eigenen Erfahrungen und Gesichtspunkte<br />

als zusammenfassenden Beitrag zu den «Grundlagen<br />

der Heilpädagogik». Damit möchten wir auch einen Zusammenhang<br />

herstellen zu unserer eigenen Geschichte,<br />

die eine Geschichte individueller Initiative und gemeinschaftlicher<br />

Verantwortung und Ausgestaltung ist und<br />

den Boden für unsere heutige Arbeit entstehen liess.<br />

Mit Abschluss dieses Jahrgangs scheidet Rüdiger Grimm<br />

aus der Redaktion aus und bedankt sich bei Ihnen, liebe<br />

Leserinnen und Leser, herzlich für Ihre Wertschätzung<br />

und Verbundenheit mit dieser Zeitschrift, die ja ganz aus<br />

Ihren Beiträgen und Berichten und vor allem Ihrem Interesse<br />

lebt. Und dankt Bernhard Schmalenbach, Gabriele<br />

Scholtes und Pascale Hoffmann für die langjährige glückliche<br />

Zusammenarbeit. Jan Göschel, der das Sekretariat<br />

der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie zusammen<br />

mit Bart Vanmechelen und Sonja Zausch künftig<br />

leitet, wird seine Stelle in der Redaktion einnehmen.<br />

Wir hoffen, dass wir mit diesem Heft erreichen konnten,<br />

was der Titel verspricht, nämlich Perspektiven aufzuzeigen,<br />

die vom Leben unserer Bewegung und ihrer Zukunftskraft<br />

zeugen.<br />

‘Curative Education Course’ and expanded them from<br />

her own experiences and perspectives into a comprehensive<br />

article on the ‘Foundations of Curative Education.’<br />

In turn, we would like to connect that with our<br />

own history, which is a story of both individual initiative<br />

and community responsibility and organization,<br />

and which is the basis of our current work.<br />

With this edition, Rüdiger Grimm will be retiring from<br />

the editorial staff. He warmly thanks all of you, our<br />

readers, for your appreciation of and devotion to this<br />

magazine, which stays alive through your contributions<br />

and reports and especially your interest. He also<br />

thanks Bernhard Schmalenbach, Gabriele Scholtes and<br />

Pascale Hoffmann for many years of wonderful collaboration.<br />

Jan Göschel, who will be the new director of<br />

the Council for Curative Education and Social Therapy<br />

secretariat, along with Bart Vanmechelen and Sonja<br />

Zausch, will take over Rüdiger Grimm’s position on the<br />

editorial staff.<br />

We hope that this volume will succeed in living up to<br />

its title, in that it gives perspectives on the life of our<br />

movement and attests to its future-bearing momentum.<br />

Herzliche Grüsse und gute Lektüre wünschen Ihnen / With warm regards and best wishes for your reading pleasure,<br />

Rüdiger Grimm, Bernhard Schmalenbach und Gabriele Scholtes<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

5


Inhaltsverzeichnis | Contents<br />

Länderberichte | National Reports<br />

Interviews | Interviews<br />

Argentinien | Argentina<br />

Armenien | Armenia<br />

Australien Australia<br />

Belgien | Belgium<br />

Brasilien | Brazill<br />

China | China<br />

Kolumbien | Colombia<br />

Dänemark | Denmark<br />

Deutschland | Germany<br />

El Salvador | El Salvador<br />

England | English Region<br />

Finnland | Finland<br />

Frankreich | France<br />

Georgien | Georgia<br />

Indien | India<br />

Irland | Republic of Ireland<br />

Israel | Israel<br />

Italien | Italy<br />

Kirgistan | Kyrgystan<br />

Libanon | Lebanon<br />

Neuseeland | New Zealand<br />

Niederlande | Netherlands<br />

Norwegen | Norway<br />

Nordamerika | North Amerika<br />

Österreich| Austria<br />

Pakistan | Pakistan<br />

Peru | Peru<br />

Portugal | Portugal<br />

Rumänien | Romania<br />

Russland | Russia<br />

Schottland | Scotland<br />

Schweden | Sweden<br />

Schweiz | Switzerland<br />

Spanien | Spain<br />

Thailand | Thailand<br />

Tschechien | Czech Republik<br />

Ukraine | Ukraine<br />

Vietnam | Vietnam<br />

6<br />

8<br />

12<br />

15<br />

17<br />

20<br />

24<br />

26<br />

29<br />

33<br />

37<br />

39<br />

41<br />

43<br />

44<br />

47<br />

50<br />

52<br />

55<br />

59<br />

61<br />

64<br />

67<br />

70<br />

74<br />

79<br />

82<br />

84<br />

86<br />

88<br />

91<br />

94<br />

96<br />

98<br />

103<br />

104<br />

107<br />

110<br />

113<br />

Evelyn Eisele, Argentine<br />

Maria Neder Monteiro, Brazil<br />

Ben Dittmann, Denmark<br />

Dora Weisz, Germany<br />

Guranda Achelashvili, Georgia<br />

Maria Giorgia Ramunni, Italy<br />

Frederike Linger, Norway<br />

Siphamandla Qwabe, North America<br />

Lukas Hermanek, Switzerland<br />

Yuliia Bieliaieva, Ukraine<br />

10<br />

23<br />

31<br />

36<br />

46<br />

57<br />

72<br />

78<br />

101<br />

111<br />

«In der Begegnung leben»<br />

‹Living in the Encounter›<br />

Thomas Kraus 116<br />

Europäische Kongresse für Menschen mit<br />

Behinderung | European Congresses for<br />

People with Special Needs<br />

Ein Rückblick von Matthias Pleger<br />

A review by Matthias Pleger<br />

Weltweite Kongresse «In der Begegnung<br />

leben» | Worlwide Congresses ‹Living<br />

in the Encounter› 121<br />

Der Traum vom Schreiben<br />

The dream of writing<br />

Ingeborg Woitsch 132<br />

Die mittelpunkt-Schreibwerkstätten der<br />

Anthropoi Selbsthilfe | The centre point writing<br />

workshops at Anthropoi Self Help<br />

Goetheanum Vorhang<br />

Goetheanum Curtain<br />

Hannes Weigert 137<br />

Paintings by Tor Janicki and a sketch<br />

by Rudolf Steiner


Beiträge | Contributions<br />

Ausbildung in Heilpädagogik und Sozialtherapie, Andreas Fischer 145<br />

Professional training in Curative Education and Social Therapy, Andreas Fischer 148<br />

Charta Berufliche Bildung 149<br />

Charter Professional Education 150<br />

Favelaarbeit, Ute Craemer 154<br />

Works in the Favelas, Ute Craemer 157<br />

Eine Pädagogik der Gegenwart, Florian Osswald 161<br />

Education for the present time, Florian Osswald 164<br />

Kindheit und Vulnerabilität als Aufgaben im 21. Jahrhundert, Jan Christopher Göschel 167<br />

Childhood and Vulnerability: Tasks for the 21 st Century, Jan Christopher Göschel 171<br />

Die Dynamik von Punkt und Kreis als Grundlage von Bindungssicherheit, Annette Pichler 175<br />

The point-circle dynamic as the foundation of secure attachements, Annette Pichler 181<br />

Die sozialtherapeutische Gemeinschaft – Ein Auslauf- oder Zukunftsmodell? Stefan Siegel-Holz 187<br />

The social therapie community – a Thing of the past or a model for the future? Stefan Siegel-Holz 192<br />

Das «Ich in Leib und Welt» Aspekte zu seiner Entwicklung, Rüdiger Grimm 196<br />

Über die Grundlagen der Heilpädagogik, Ita Wegmann 205<br />

The Foundation of Curative Education, Ita Wegman 210<br />

Herausgeber:<br />

Konferenz für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie<br />

Medizinische Sektion<br />

der Freien Hochschule für<br />

Geisteswissenschaften am Goetheanum<br />

Dornach (Schweiz)<br />

Redaktion:<br />

Rüdiger Grimm<br />

Bernhard Schmalenbach<br />

Gabriele Scholtes<br />

Gratulationen 215<br />

Das neue Leitungsteam der<br />

Konferenz 216<br />

The new Leadership team of<br />

the Council 217<br />

Informationen u. Inserate 218<br />

Impressum 226<br />

pointandcircle 223<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

7


Berichte | Reports<br />

Argentinien | Argentina<br />

Kongress «In der Begegnung Leben» | Congress ‹Living in the Encounter›<br />

Entwicklungen<br />

Vor etwa dreissig Jahren fanden die ersten Keime der heilpädagogischen<br />

Arbeit in Argentinien ihren Anfang. Die Bewegung<br />

hat sich seither stark entwickelt und weit ausgebreitet.<br />

Heute gibt es vier Tagestätten für Jugendliche und erwachsene<br />

Menschen, ein heilpädagogisches Zentrum zur<br />

schulischen und therapeutischen Unterstützung und viele<br />

inklusive Waldorfschulen. Diese unterrichten zwischen<br />

ein bis vier inkludierte Schüler pro Klasse. In einer Waldorfschule<br />

sind parallele Hilfs-Klassen entstanden, die<br />

den heilpädagogischen Schülern die Möglichkeit geben,<br />

den Epochenunterricht nach individuellem Bedarf in der<br />

kleinen oder grossen Klasse zu halten.<br />

Die Schulen befinden sich sowohl in Buenos Aires als auch<br />

im Landesinneren. Es ist in Argentinien undenkbar, eine<br />

Schule ohne Inklusion zu konzipieren.<br />

Die Einrichtungen und Schulen bedürfen vieler Heilpädagogen,<br />

sodass es in Argentinien seit vielen Jahren Ausbildungen<br />

im Bereich der Heilpädagogik und Sozialtherapie in vier<br />

verschiedenen Regionen des Landes gibt. Alles in allem befinden<br />

sich zurzeit 193 Heilpädagogen in Ausbildung.<br />

History<br />

The first seeds of curative education in Argentina were<br />

planted around thirty years ago. Since then the movement<br />

has developed well and spread around the country.<br />

Today we have four day-care centres for youngsters<br />

and adults, one curative education centre with<br />

a school and therapeutic support, and many inclusive<br />

Waldorf schools, where one to four children with<br />

special needs are included in any one class. One of the<br />

Waldorf schools has started a parallel stream of small<br />

classes, where pupils with special needs can attend<br />

main lessons in the small or regular classes, depending<br />

on their individual requirements.<br />

The schools are situated in Buenos Aires as well as in<br />

the interior of the country. In Argentina a school that<br />

doesn’t practise inclusion is inconceivable.<br />

Our centres and schools need many curative teachers,<br />

which is why, for many years now, training in curative<br />

education and social therapy has been available in<br />

four separate regions. At present we have around 193<br />

trainee teachers. Around 171 youngsters and adults at-<br />

8


Berichte | Reports<br />

Die Tagesstätten werden insgesamt von 171 Jugendlichen<br />

und Erwachsenen besucht und im heilpädagogischen Zentrum<br />

35 Kinder begleitet und in den Schulen werden insgesamt<br />

ca. 500 Schüler heilpädagogisch betreut.<br />

Einige Entwicklungen haben sich im Bereich der Sozialtherapie<br />

ergeben: Nach der Teilnahme von 16 betreuten Menschen<br />

am südamerikanischen Kongress «In der Begegnung<br />

leben» in Brasilien im Herbst 2012 waren wir 2014 in<br />

Buenos Aires Gastgeber und reisten <strong>2016</strong> nach Cali, Kolumbien.<br />

Die Bewegung wächst stetig an. Es ist schon ein<br />

schönes soziales Netz entstanden, in dem sich sehr viele<br />

junge und ältere Menschen aus allen Initiativen und Einrichtungen<br />

als Gemeinschaft wohl fühlen.<br />

Die Sozialtherapie weitet sich im gesellschaftlichen Kontext<br />

in kleinen Schritten stetig aus. Es werden Kurse und<br />

kulturelle Veranstaltungen zur Information angeboten,<br />

doch die reiche und tiefgründige Arbeit der Sozialtherapie<br />

ist leider noch sehr unbekannt. In Argentinien gibt es<br />

noch keine Lebensgemeinschaft, nur einige kleine Versuche.<br />

Das hängt damit zusammen, dass die Familien ungern<br />

ihre erwachsenen Kinder anderen anvertrauen, aber<br />

auch damit, dass der nötige Mut und die Kraft fehlen, ein<br />

solches Projekt ohne staatliche Hilfe und finanzielle Ressourcen<br />

anzugehen.<br />

Gesellschaftliche Wirkungen und Aspekte<br />

Die Inklusion ist somit das landesweit bekannteste Merkmal<br />

unserer Waldorfschulen. Sehr geschätzt werden in der<br />

Öffentlichkeit unser ganzheitlicher Blick auf die menschliche<br />

Individualität sowie unsere Bemühungen, nicht nur<br />

heilpädagogische, sondern auch pädagogisch herausfordernde<br />

Kinder und Schüler mit psychiatrischen Krankheiten<br />

aufzunehmen.<br />

Leider ist es uns noch nicht gelungen, an politischen Diskussionen<br />

und staatlichen Projekten teilzunehmen und<br />

wir fragen uns, ob das überhaupt zu realisieren ist, ohne<br />

die eigene Identität und Mission zu verlieren.<br />

Argentinien ist eins der wenigen südamerikanischen Länder,<br />

die seit 25 Jahren für ihre behinderten Menschen aufkommen<br />

und alle Kosten übernehmen, auch an Waldorfschulen<br />

und Tagesstätten. Das ist aber sehr oft für die Familien und<br />

Einrichtungen mit langen Wartezeiten und Behördengängen<br />

verbunden, sodass die Einrichtungen wie auch die Mitarbeitenden<br />

lange auf ihre Gehälter warten müssen.<br />

Fachliche Themen<br />

Die wichtigsten fachlichen Fragen sind die der gesellschaftlichen<br />

Inklusion. Es ist wünschenswert, dass jeder<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

tend the day-care centres, the curative education centre<br />

has 35 children and the schools cater for around<br />

500 children with special needs.<br />

There have been a few new developments in the field<br />

of social therapy: after 16 people with special needs<br />

attended the South-American ‹Living in the Encounter›<br />

Congress in Brazil in the autumn of 2012, we were<br />

host in Buenos Aires in 2014 and we travelled to Cali<br />

in <strong>2016</strong>. The movement keeps growing. In the wonderful<br />

social network that has emerged many young and<br />

older people from all the initiatives and centres enjoy<br />

the feeling of being part of a community.<br />

Social therapy is growing slowly but steadily and finding<br />

its place in society, but although we offer informative<br />

courses and public events, the rich and<br />

profound work of social therapy remains too little<br />

known. There are no residential communities in Argentina<br />

yet, just a few small beginnings. This is due, on the<br />

one hand, to families being reluctant to entrust their<br />

adult children to the care of others, and on the other<br />

hand to the fact that it needs courage and strength to<br />

start such a project without state support and financial<br />

resources.<br />

Societal effects and aspects<br />

Inclusion is therefore the most distinctive hallmark of<br />

our Waldorf schools everywhere in the country. The<br />

public is very appreciative of our holistic approach to<br />

human individuality and of the fact that we not only<br />

accept children with special needs but also those with<br />

challenging behaviours and psychiatric illnesses.<br />

Unfortunately we have not yet been able to take part in<br />

political discussions and state-run projects and we are<br />

even wondering whether this would be possible at all<br />

without losing sight of our own identity and mission.<br />

Argentina is one of few countries in South America<br />

that looks after people with disabilities – and has done<br />

so for the last 25 years – paying all the costs involved,<br />

and this applies also to Waldorf schools and anthroposophical<br />

day-care centres. However, this often involves<br />

long waiting times for families and visits to the authorities,<br />

so that it takes a long time for the centres to<br />

finally receive money to pay staff salaries.<br />

Internal questions<br />

The most important questions are those related to<br />

inclusion. Every adult person with disabilities should<br />

be integrated into the working life, but the necessary<br />

conditions for this are not in place.<br />

9


Berichte | Reports<br />

erwachsene Mensch im Berufsleben eingegliedert werden<br />

kann, doch dazu fehlen die notwendigen Bedingungen.<br />

Weiterhin besteht die Frage der Zusammenarbeit mit den<br />

Familien der betreuten Menschen, sodass ein stützendes<br />

Netz entstehen kann.<br />

Ein weiteres Thema ist die Frage der Öffentlichkeitsarbeit:<br />

Wie können wir die anthroposophische Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie lancieren und für die Verbreitung auch in öffentlichen<br />

Schulen sorgen?<br />

Unsere Seminaristen führen zum Teil ihre Praktika in<br />

staatlichen Einrichtungen durch und sie werden dort mit<br />

offenen Händen empfangen.<br />

Netzwerkarbeit und Interdisziplinarität sind in jeder Hinsicht<br />

ein wichtiger Aspekt unserer täglichen Arbeit, um<br />

den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen einen adäquaten<br />

und Halt gebenden Rahmen zur Bildung ihrer Individualität<br />

zu bieten.<br />

Oft geht es uns so, dass wir mehr Fragen als Antworten<br />

haben und jedes Schicksal eine Herausforderung ist, an<br />

der wir alle wachsen. Mut zum Handeln ist erwünscht,<br />

kleine aber sichere Schritte sind zu gehen, uns der «Gesinnungspflanze»<br />

zu nähern, ihre Wurzeln zu ertasten und<br />

die Frucht an die Welt weiterzugeben. Daran arbeiten wir<br />

einzeln, aber auch gemeinsam als Netz.<br />

Zusammen organisieren wir für Juli 2018 in Buenos Aires die<br />

grosse lateinamerikanische heilpädagogische Tagung, deren<br />

Thema der Heilpädagogische Kurs Rudolf Steiners sein wird.<br />

Dazu laden wir alle sehr herzlich ein!<br />

There is also the aspect of cooperation with the families<br />

of the people with special needs in order to form a<br />

supportive network.<br />

And then there is the question of how we can make<br />

anthroposophical curative education and social therapy<br />

better known, particularly in state-sector schools.<br />

Some of our trainee teachers do their work experience<br />

in state institutions where they are welcomed with<br />

open arms.<br />

Networking and interdisciplinary work are important<br />

aspects of our daily work, because they enable us to provide<br />

an adequate and supportive framework for our children,<br />

adolescents and adults to unfold their individuality.<br />

We often feel we have more questions than answers<br />

and each destiny is a challenge that helps us all to grow.<br />

We need courage to take action and to take small, but<br />

firm steps towards the ‹spiritual plant› that nurtures us,<br />

seek for its roots and pass on its fruit to the world. This<br />

is what we work on individually and as a network.<br />

As a community we are organizing a major Latin-American<br />

Curative Education Congress in July 2018 that<br />

will have Rudolf Steiner’s ‹Education for Special Needs›<br />

as its theme.<br />

Come and be part of it!<br />

Doris Unger, Seminario de Pedagogía Curativa y Terapia<br />

Social Cruz del Sur<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Interview Evelyn Eisele<br />

Evelyn Eisele, born 1977 is an artist, living in Argentina. She is currently completing<br />

her training in Curative Pedagogy and Social Work, at «Cruz del Sur» and she works at<br />

the Rudolf Steiner high school of Buenos Aires as a Teacher of Arts.<br />

2012 begann ich an der Unterstufe der Rudolf Steiner<br />

Schule ein Praktikum und half dem Lehrer<br />

der ersten Klasse. In dieser Gruppe betreute ich<br />

ein Kind mit Hilfebedarf, das oftmals nicht in<br />

der Klasse bleiben konnte. Ich ging mit ihm nach<br />

I started working in 2012 in the primary school<br />

at Rudolf Steiner, accompanying the teacher<br />

of first grade. In this group, I met a child with<br />

special needs. This child often could not stay in<br />

class, so I used to go out with him to do ano-<br />

10


Interview<br />

draussen und unternahm andere Aufgaben. Oft<br />

waren wir im Garten tätig, gruben Löcher, um<br />

einen ‹Schatz› zu entdecken oder wir setzten<br />

Pflanzen. Danach konnten wir in die Klasse und<br />

zur dortigen Arbeit zurückkehren.<br />

Aufgrund dieser Aufgabe durfte ich an Arbeitsgruppen<br />

mit allen Lehrern, der Schulberatung und<br />

verschiedenen Therapeuten teilnehmen, die mit<br />

dem Jungen und seiner Familie arbeiteten und<br />

konnte somit über zwei Jahre hin die Wandlung<br />

und Entwicklung dieses Kindes erleben. Dieser<br />

grossartige kleine Bursche erweckte in mir die<br />

Begeisterung für die Heilpädagogik und ich entschied<br />

mich für das Studium. Durch diese Kinder<br />

entdeckte ich meine grosse Verbundenheit zu Kindern<br />

mit Behinderung.<br />

Die zukünftigen Aufgaben der Pädagogik für Kinder<br />

mit heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />

Bedürfnissen sind: Ein tiefer Blick auf die heute in<br />

Erscheinung tretenden Bedürfnisse, die Sensibilität<br />

dafür zu schärfen, warum gerade jenes Wesen<br />

auf uns zukommt, die Suche nach Mitgefühl, das<br />

Meditieren, das Gebet, die Suche nach Wegen, unsere<br />

Verbindung mit der geistigen Welt zu stärken,<br />

aktive Arbeit an Selbsterkenntnis und Selbsterziehung.<br />

Rudolf Steiner würde vielleicht sagen: ‹Es<br />

geht nicht darum, feingemessene Tricks zu benutzen,<br />

sondern in jedem Fall dasjenige zu tun, was<br />

der Fall selbst verlangt.›<br />

Um im Rahmen der anthroposophischen Pädagogik<br />

mit behinderten Kindern zu arbeiten, muss ich<br />

weiter tief in die Heilpädagogik eindringen, immer<br />

wieder Steiners Hinweise lesen, an Tagungen<br />

teilnehmen, die mich durch dieses grosse Wissen<br />

nähren und den Erfahrungen von Kollegen lauschen.<br />

Und ich muss Rudolf Steiners Nebenübungen<br />

praktizieren und üben.<br />

ther tasks; often we worked on the land, digging<br />

holes to find «treasures» or planting. After this<br />

type of activities, we could return to the work<br />

that was being done in the classroom.<br />

My work with this group and this child finished at<br />

the end of 2nd grade, and soon I could see the<br />

transformation, evolution and adaptation of this<br />

child. During this experience, I was able to make<br />

workgroups with all teachers, school counselling<br />

team, and with the various therapists who worked<br />

with the boy and his family. This great little<br />

kid inspired me to study special pedagogy and<br />

acquire the tools to work in this way.<br />

In those days I discovered I had a great affinity<br />

with children with special needs, in other grades<br />

of the school.<br />

The tasks of education for children with special<br />

needs and social therapy in the future are: To<br />

look in depth at the new needs presented to us<br />

these days, to sharpen our sensitivity to perceive<br />

what brings us each being, to search for empathy,<br />

to meditate, to pray and to seek ways to<br />

strengthen our ties with the spiritual world; to<br />

do active work of self-knowledge and self-education.<br />

Rudolf Steiner would say: «It is not about<br />

using finely measured special tricks, but to do in<br />

each case what the case itself demands.»<br />

To be able to work within the framework of<br />

anthroposophic education for children with<br />

special needs I need to keep going deeply into<br />

curative pedagogy, reading an re-reading Rudolf<br />

Steiner's notes, attending conferences that<br />

nourish me in that huge body of knowledge and<br />

listening to experiences from colleagues. And I<br />

need to practice the collateral exercises that left<br />

Rudolf Steiner gave us.<br />

Translation from English: Christian von Arnim<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

11


Berichte | Reports<br />

Armenien<br />

Armenia<br />

In Armenien sind Menschen mit Behinderungen weiterhin<br />

die gefährdetsten Mitglieder der Bevölkerung. Bei<br />

einer Gesamtbevölkerung von drei Millionen gibt es über<br />

180.000 Menschen mit Behinderungen, davon mehr als<br />

12.000 Kinder. 2012 führte die Regierung eine Gesamtstrategie<br />

mit dem Ziel ein, 25 Sondereinrichtungen zu<br />

entinstitutionalisieren, um seelenpflegebedürftige Kinder<br />

bis 2025 in Regelschulen zu integrieren. Es liegen<br />

keine statistische Daten über seelenpflegebedürftige Erwachsene<br />

vor.<br />

Nach dem Erdbeben 1988 in Spitak und dem Krieg in<br />

Nagorno Karabakh sah sich Armenien mit einer grossen<br />

Anzahl von Menschen mit körperlichen Behinderungen<br />

konfrontiert. Seitdem haben sich viele Organisationen<br />

erfolgreich mit der Unterstützung dieser Menschen befasst.<br />

Gemeinsam haben sie viel erreicht, damit ihnen<br />

das Umfeld zugänglich ist. Ausserdem sind zahlreiche<br />

kulturelle Aktivitäten für Menschen mit Behinderungen<br />

eingerichtet worden. Vor drei Jahren wurde eine Jobbörse<br />

nur für Arbeitssuchende mit Behinderungen eingeführt<br />

und inzwischen gibt es viele Organisationen, die Arbeiter<br />

mit körperlichen Behinderungen einstellen. Infolge der<br />

Fortschritte in der Organisation von sportlichen Aktivitäten<br />

ist die armenische Nationalmannschaft seit vielen<br />

Jahren an den Paralympischen Spielen beteiligt.<br />

Ein grosses Problem mit Anklängen an das vorangegangene<br />

sowjetische System ist jedoch die Voreingenommenheit<br />

gegenüber Menschen mit seelischen Problemen. Es<br />

gibt nur eine staatliche Organisation, die jedoch noch<br />

nach dem sowjetischen Modell arbeitet, was letztlich die<br />

Institutionalisierung von Jugendlichen mit seelischen Behinderungen<br />

bedeutet. Der Kampf um die Rechte dieser<br />

Menschen ist noch im Anfangsstadium. Menschen mit<br />

seelischer Behinderung, die z.B. das Alter von 18 Jahren<br />

erreichen, haben praktisch keine Rechte und können<br />

von der Sozialversorgung des Staats nur sehr begrenzte<br />

finanzielle Leistungen erwarten. Nach dem Verlassen<br />

des Kinderheims sind sie quasi der Wohnungslosigkeit<br />

ausgeliefert. Bisher hat sich der Staat nicht um die äusserst<br />

wichtigen Fragen der Beschäftigung und Integration<br />

gekümmert, deshalb werden sie nur von einigen privaten<br />

Initiativen wahrgenommen.<br />

In Armenia people with disabilities remain, as ever, the<br />

most vulnerable members of the population With an<br />

overall population of 3 millions in Armenia, there are<br />

more than 180,000 people with disabilites, more than<br />

12,000 of them children. In 2012 the government adopted<br />

an overall strategy of de-institutionalizing 25<br />

special institutions, promoting the integration of<br />

children in need of special care into ordinary schools<br />

by the year 2025. Statistical data concerning adults<br />

with special needs are not available.<br />

After the earthquake of 1988 in Spitak and the war<br />

in Nagorno Karabakh, Armenia faced high numbers of<br />

people with physical disabilities. Since then, many organizations<br />

have successfully engaged and dealt with<br />

the support of physically handicapped persons. Jointly,<br />

they have achieved a lot with regard to making the<br />

environment accessible for people with disabilities.<br />

Furthermore, numerous cultural activities have been<br />

established for people with physical disabilities. Three<br />

years ago, a job-fair was launched, dedicated to jobseekers<br />

with disabilities; by now, a lot of organizations<br />

are hiring workers with physical disabilities. And due<br />

to advances in the organization of sports activities,<br />

the Armenian national team has been involved in The<br />

Paralympic Games for many years.<br />

However, a major problem reminiscent of the previous<br />

Soviet system is prejudice against the people with mental<br />

problems. There is only one state organization, still<br />

operating on the Soviet model, i.e. institutionalising<br />

young people with mental disabilities . The struggle for<br />

the rights of these people is still in its initial stage. For<br />

example, people with mental disabilities who reach the<br />

age of 18 years have practically no rights and can only<br />

expect very limited financial support from state social<br />

services. After leaving the children’s homes such people<br />

are doomed to a homeless existence. So far, the state<br />

has paid no attention to the crucial issues of employment<br />

and integration, which are only addressed by a<br />

few private initiatives.<br />

The first anthroposophic initiative began on the basis<br />

of the country's only Waldorf School, which since its<br />

inception has been open for children with disabili-<br />

12


Berichte | Reports<br />

Eine Pause von der Arbeit | A break from work<br />

Die erste anthroposophische Initiative begann auf<br />

Grundlage der einzigen Waldorfschule des Landes, die<br />

seit ihrer Gründung für Kinder mit Behinderung offen<br />

ist. Im Laufe der Jahre sind erfolgreiche Methoden der<br />

Inklusion von Kindern mit verschiedenen Problemen<br />

und Behinderungen entwickelt worden und die Kinder<br />

geniessen den Unterricht mit Assistenz im allgemeinen<br />

pädagogischen Prozess sowie in individuellen pädagogischen<br />

Veranstaltungen.<br />

Als die erste Schülergruppe ihren Abschluss machte, entstand<br />

die Idee, sozialtherapeutische Einrichtungen zu<br />

organisieren, um die weitere Entwicklung dieser jungen<br />

Erwachsenen zu fördern. Im Dezember 2012 wurde die<br />

Theatergruppe «Mayri» gegründet. Im April 2014 leistete<br />

die Förderung von deutschen und niederländischen Stiftungen<br />

einen Beitrag zur Eröffnung des Mayri-Zentrums<br />

für Sozialtherapie mit Werkstätten, die inzwischen schon<br />

22 Jugendliche mit hauptsächlich seelischen Problemen<br />

beschäftigen. Mayri-Produkte sind wegen ihrer Qualität<br />

bekannt und werden in vielen Ausstellungen verkauft.<br />

Wir arbeiten mit allen Organisationen in diesem Bereich<br />

zusammen. Im Oktober 2015 wurde mit Hilfe einer Anzahl<br />

öffentlicher Organisationen ein Kongress für Menschen<br />

mit Behinderungen im Rahmen der europäischen<br />

ties. Over the years, productive methods have been<br />

developed for the inclusion of children with different<br />

problems, including mental care needs, providing accompanied<br />

participation in the general educational<br />

process as well as individual educational sessions.<br />

When the first group of youngsters graduated from<br />

school, the idea came up of organizing social therapeutic<br />

institutions, promoting the further development of<br />

these young adults. December 2012 saw the establishment<br />

of the theatre group ‹Mayri›, and in April 2014, the<br />

support of German and Dutch foundations contributed<br />

to the opening of the Mayri centre for social therapy ,<br />

with workshops that already employ 22 young people,<br />

mostly with mental problems. Mayri products have<br />

become known for their quality and are being sold at<br />

many exhibitions.<br />

We cooperate with all organizations involved in this field.<br />

In October 2015, aided by the joint efforts of a number<br />

of public organizations, a regional congress was organized<br />

for people with disabilities, within the framework of<br />

the European Congress «In der Begegnung leben (‹Living<br />

in the encounter›); it was attended by about 150 people<br />

from local organizations, as well as participants from<br />

Russia, Georgia, the Netherlands and Germany.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

13


Berichte | Reports<br />

Kongresse «In der Begegnung leben» organisiert, an dem<br />

etwa 150 Menschen von örtlichen Organisationen sowie<br />

Gäste aus Russland, Georgien, den Niederlanden und<br />

Deutschland teilnahmen.<br />

Leider erhält unser Zentrum keine staatliche Förderung<br />

und bleibt deshalb eine private Initiative, die nur allmählich<br />

die Möglichkeiten findet, die Prozesse im Land aktiv<br />

zu beeinflussen. Zur Zeit erachten wir es als das Beste,<br />

die Frage der Schaffung eines professionalen Rahmens<br />

zu thematisieren, sowohl für die Entwicklung einer inklusiven<br />

Bildung im Land als auch für den Aufbau von<br />

sozialtherapeutischen Institutionen. Es gibt noch viel zu<br />

tun, um diese Prozesse zu fördern, denn ohne sie kann<br />

die Entwicklung einer menschenwürdigen Gesellschaft<br />

nicht bewirkt werden. Sie erstrecken sich von der professionellen<br />

Ausbildung von pädagogischen Fackräften bis<br />

hin zur Verbesserung der Ausbildung von Sonderpädagogen,<br />

besonders hinsichtlich der Förderung ihrer diagnostischen<br />

und praktischen Fähigkeiten.<br />

Solchen Initiativen würde eine anthroposophisch orientierte<br />

Pädagogik zugutekommen. Im Rahmen des<br />

Erasmus-Mundus-Programms planen wir derzeit eine<br />

Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Universität Jerewan<br />

zur Entwicklung von graduierten Kursen für Sozialfürsorge<br />

in Verbindung mit der Universität Oslo. Die<br />

Studierenden im Aufbaustudium der Universität Jerewan<br />

werden dann bei Mayri ihr Praktikum absolvieren. Neben<br />

dem Erwerb von Grundkenntnissen ermöglicht dieses Gemeinschaftsprojekt<br />

auch ein Erlebnis der Sozialtherapie.<br />

In der Zwischenzeit sammeln wir professionelle Erfahrung,<br />

damit wir eine Initiative bilden können, die sich<br />

aufgrund ihres professionellen und humanistischen Ansatzes<br />

im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen<br />

auf ausreichend hohem Niveau etablieren kann, sodass<br />

weitere öffentliche Einrichtungen gefördert werden können.<br />

Gleichzeitig freue ich mich darüber, dass die jungen<br />

Mitarbeiter im Zentrum, die die Mehrheit des Teams ausmachen,<br />

die Anthroposophie mit grosser Begeisterung<br />

studieren. Sie verstehen, dass nur diese ihnen ein tieferes<br />

Verständnis für die Probleme der ihnen anvertrauten<br />

Menschen geben kann. Auf diese Weise ist es möglich,<br />

eine Kontinuität der Erkenntnisse sicherzustellen, die<br />

ein lebendiges Instrument für die schöpferische berufliche<br />

Weiterbildung der neuen Generation sein werden.<br />

Unfortunately, our centre does not receive state funding<br />

and therefore still remains a private initiative,<br />

only gradually transforming its abilitiy to have an active<br />

influence on developments in the country. At this<br />

moment in time , we deem it best to address the problem<br />

of creating a professional framework for the development<br />

of both inclusive education in the country<br />

and for the future development of social therapeutic<br />

institutions. To promote these processes, without<br />

which the development of a human society cannot be<br />

achieved, there is still a lot to do, ranging from the<br />

professional training of ordinary teachers to an improvement<br />

in the qualification of special teachers,<br />

especially in terms of increasing their diagnostic and<br />

practical skills.<br />

Such initiatives would benefit from anthroposophically<br />

oriented education. We are now planning to collaborate<br />

with Yerevan Pedagogical University in the<br />

development of graduate courses in social care, planned<br />

in association with the University of Oslo under<br />

the framework of Erasmus Mundus Programmes.<br />

Mayri then will become a place of practice for graduate<br />

students of Yerevan State University. This joint<br />

venture will have an important influence on helping<br />

them to acquire basic knowledge as well as on their<br />

experience of special methods.<br />

In the meantime, we are actively obtaining professional<br />

experience in order to create an organization<br />

which, due to its professional and humanistic approach<br />

towards people with disabilities, can establish itself as<br />

sufficiently high standard as to encourage the development<br />

of further similar public institutions. At the same<br />

time, I am extremely happy that young co-workers at<br />

the centre, being the majority of the team, are studying<br />

anthroposophy with great enthusiasm, understanding<br />

that only this will allow them to gain a deep insight<br />

into the problems of the people under our care. In<br />

this way it will be possible to ensure the continuity of<br />

knowledge, which will be a living instrument for creative<br />

professional development for the new generation.<br />

Zaruhi Manukyan, Mayri NGO, Yerevan<br />

Translation from English: Christian von Arnim<br />

14


Berichte | Reports<br />

Australien<br />

Australia<br />

Seit Anfang der 1958er Jahre hat die heilpädagogische<br />

und sozialtherapeutische Bewegung in Australien einige<br />

Perioden des Wachstums und der Konsolidierung<br />

durchlaufen. Es gibt weiterhin vielversprechende Bemühungen,<br />

neue Initiativen zu starten, wobei das Zentrum<br />

dieser Arbeit weiterhin im Grossstadtgebiet von Sydney<br />

in Ostaustralien mit Inala und Warrah liegt.<br />

Heute bietet Inala einerseits sozialtherapeutische Tagesdienstleistungen<br />

für etwa 200 Erwachsene in Sydneys<br />

nordwestlichen und östlichen Vororten an, 65 BewohnerInnen<br />

finden in Einrichtungen Unterstützung. In den letzten<br />

Jahren haben die guten Verbindungen mit der Gemeinde es<br />

Inala ermöglicht, eine Reihe von modernen Einrichtungen<br />

zu bauen, u.a. ein grosses Kulturzentrum für die Gemeinde<br />

und eine in das Umfeld integrierte Wohneinrichtung.<br />

Warrah bietet Werkstätten, Aktivitäten, soziales Engagement<br />

und tägliche Unterstützung für etwa 90 Erwachsene,<br />

von denen 50 Menschen auch in Warrahs Gruppenwohnungen<br />

leben. Eine kleine heilpädagogische Schule hat<br />

22 Schüler und wächst weiter.<br />

Die Mitarbeiterzahl steht bei etwa 160 Personen. Ein biologisch-dynamischer<br />

Bauernhof floriert und bietet eine<br />

lebendige Schnittstelle zu der Gemeinschaft.<br />

Eine neu Initiative zur Gründung einer heilpädagogischen<br />

Farmschule in Victoria (Südost Australien) macht<br />

Fortschritte. Eine kleine Initiative in Queensland, Sunhaven,<br />

begann 2009 mit dem Aufbau von Initiativen, die<br />

Wohnungs- und Tagesprogramme entwickeln.<br />

Kreativität in einer Zeit des Umbruchs<br />

Im Zeitraum 2014-2019 wird das System zur Unterstützung<br />

von Menschen mit Behinderungen im Sinne<br />

des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die<br />

Rechte von Menschen mit Behinderungen und der Personenzentrierung<br />

radikal umgewandelt. Im Gegensatz<br />

zum gegenwärtigen unterfinanzierten, krisenbedingten<br />

System, in dem Familien sich oft verzweifelt um Hilfe<br />

und knappe Dienstleistungen bemühen, ist es das Ziel<br />

der aktuellen Entwicklungen, ein Fördersystem direkt mit<br />

der betroffenen Person und ihrer Familie zu etablieren.<br />

Diese positiven Entwicklungen, die Menschen mit Behinderungen<br />

eine personenzentrierte Hilfe anbieten und die<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

From its inception in 1958, the work in Australia has<br />

evolved through periods of thr expansion of initiatives<br />

and of consolidation. Promising efforts to start<br />

new initiatives continue in Australia, but the hub of<br />

Australia’s work in Curative Education & Social Therapy<br />

is still concentrated in Metropolitan Sydney in Eastern<br />

Australia, with Inala and Warrah as the main centres.<br />

Today Inala’s expertise focusses on Social Therapeutic<br />

Day Services supporting over 200 adults in Sydney’s<br />

North West and Eastern suburbs and 65 residents in Accommodation<br />

services. Over the previous years, strong<br />

community support and linkages have enabled Inala to<br />

design and build a range of modern facilities including<br />

a large community arts centre and a hub of residential<br />

facilities integrated into community settings.<br />

Warrah provides workshops, activities, social engagement<br />

and day to day support for about 90 adults, including<br />

50 people who also reside in Warrah’s group<br />

homes. A small but growing Curative School has an enrolment<br />

of 22 – a significant increase over recent years<br />

and still growing. Staff numbers remain at around 160<br />

people. A biodynamic farm is thriving, and provides a<br />

vibrant interface with the broader community.<br />

A new initiative to start a Curative Farm School in Victoria<br />

(south eastern Australia) is making progress. A<br />

rural Steiner School, Little Yarra, has offered land on<br />

a share basis for the school to be build, which would<br />

include access to facilities, and the community life of<br />

the host school. A small initiative in Queensland, Sunhaven,<br />

wich began in 2009, has developed supported<br />

employment and respite services, with the goal of expansion<br />

to include residential and Day programs.<br />

Creating in a time of Change<br />

Over the period 2014-2019 the disability support system<br />

in Australia is being radically transformed in<br />

light of the United Nations Convention of the Rights<br />

of People with Disabilities and individualised funding.<br />

From the current under-resourced, crisis driven system<br />

in which families often desperately seek support and<br />

scarce services, the aim of current developments is<br />

to establish a support system directed by the person<br />

15


Berichte | Reports<br />

Inala Day Services in Cherrybrook<br />

es ihnen ermöglichen, ihr Leben auf Grund ihrer eigenen<br />

Zielsetzungen, Prioritäten und Bedürfnisse zu leben,<br />

sind begrüssenswert. Der Einführung des nationalen Invaliditätsversicherungssystems<br />

liegen starke Ideale zugrunde,<br />

sie ist jedoch gemässigt durch vorhersehbare<br />

Förderungs- und Finanzierungseinschränkung und fehlende<br />

Versorgung für einige kritischen Bedürfnisse, wie<br />

z.B. im Wohnungswesen. Die wachsende Betonung der<br />

wettbewerblichen Vermarktung von Dienstleistungen,<br />

das Risiko der Reduzierung von am Menschen orientierter<br />

Unterstützung auf eine vertragliche «Transaktion»<br />

und die Herausforderung, einen wahren Sinn von inklusiven<br />

Gemeinschaften und des gemeinschaftlichen Engagements<br />

zu pflegen, sind zentrale Fragen, mit der sich<br />

die Arbeit in Australien bewusst auseinandersetzt.<br />

Unsere Arbeit gründet auf Authentizität, Wärme, Kreativität<br />

und Entgegenkommen in menschlichen Beziehungen,<br />

bei denen jeder Einzelne in ein gemeinsames<br />

und wechselseitiges Verhältnis tritt. Die so entstehenden<br />

Bezüge haben eine Bedeutung, die weit über die<br />

prosaischen Transaktionen von «gelieferten Dienstleistungen»<br />

hinausgeht. Wir sind uns der zwingenden<br />

Notwendigkeit bewusst, diesen Ethos in den auf uns zukommenden<br />

sozialen und politischen Zusammenhängen<br />

zu pflegen und zu vertiefen. Es ist nötig, völlig neue<br />

Formen und Prozesse dafür zu entwickeln, eine wirkliche<br />

substantielle Gemeinschaft zu schaffen und Gemeinschaften,<br />

in denen es eine tiefe Anerkennung des<br />

gemeinsamen und persönlichen Schicksals gibt.<br />

with a disability and their families themselves. These<br />

very positive developments, enabling persons with<br />

disabilities to choose the person-centred supports<br />

which enable them to live their lives based on their<br />

own aspirations, priorities and needs, are welcomed.<br />

The introduction of the National Disability Insurance<br />

Scheme has strong foundational ideals, tempered by the<br />

ever -predictable funding and financial constraints, and<br />

the lack of provision for some critical needs such as<br />

housing. The growing future emphasis on competitive<br />

marketing of services offered, the risk of reducing<br />

human centred support to a ‹transactional› contract,<br />

and the challenge to maintain and nurture a true<br />

sense of inclusive communities and wider community<br />

engagement – these are central issues with which the<br />

work in Australia is consciously grappling.<br />

Our work is based on the authenticity, warmth, creativity<br />

and responsiveness in human relationships, in which<br />

each individual enters into a mutual and reciprocal relationship<br />

with another. These relationships which are<br />

created have significance which permeates far beyond<br />

the prosaic transactions of ‹delivered services.› We are<br />

very mindful of the imperative need to maintain and<br />

deepen this Ethos into the coming social and political<br />

contexts. Also, in these new contexts, the need for creating<br />

and developing entirely new forms and processes<br />

for what it is to create a real community of substance is<br />

of great significance – communities wherein lies a deep<br />

appreciation of shared and personal destiny.<br />

16


Berichte | Reports<br />

Entwicklung der Arbeit<br />

Es gibt einen Reichtum im Leben der Gemeinschaften, der<br />

von den Familien geschätzt und von den erwachsenen<br />

Bewohnern und Teilnehmern sehr genossen wird – dies<br />

ist eine Stärke der Arbeit in Australien. Es gibt weiterhin<br />

fortlaufende sozialtherapeutische Schulung, entweder als<br />

formal strukturierte Kurse, die gemeinsam von den Organisationen<br />

getragen werden, oder als auf die einzelnen<br />

Organisationen zugeschnittene Programme für die fortlaufende<br />

Mitarbeiterentwicklung. Ein Kurs über die Grundlagen<br />

der Heilpädagogik wurde von Barbara Baldwin über<br />

drei Jahre hin für die Mitarbeitenden der Heilpädagogischen<br />

Schule gehalten und hiess auch Lehrer aus Regelwaldorfschulen<br />

willkommen, da viele von ihnen Kinder mit<br />

sonderpädagogischen Bedürfnissen unterrichten. Das Ziel<br />

war, einen Dialog und eine Verbindung herzustellen, um<br />

die Arbeit mit den Kindern zu stärken.<br />

Die Kernwerte der Arbeit ziehen weiterhin Menschen an,<br />

es besteht jedoch die Herausforderung sicherzustellen,<br />

dass der anthroposophische Impuls gut fundiert ist, sowohl<br />

durch eine tief verwurzelte Kultur/Praxis als auch<br />

dadurch, erfolgreiche neue Formen der Mitarbeiterschulung<br />

zu finden. Ein jüngst durch Hohepa-Vertreter aus<br />

Neuseeland eingeleiteter Dialog könnte helfen, dies zu<br />

begünstigen und zu erweitern.<br />

Developing the Work<br />

There is a richness in the life of the communities which<br />

is highly valued by families and greatly enjoyed by adult<br />

residents and participants – it is a strength of the work<br />

in Australia. Ongoing training in Social Therapy has<br />

continued, either as formally structured courses jointly<br />

conducted by the organisations or as special organisationally<br />

tailored programs for ongoing staff development.<br />

A Foundations of Curative Education course was delivered<br />

by Barbara Baldwin over three years for Curative<br />

School staff, and welcomed teachers from mainstream<br />

Steiner Schools as many of them educate children with<br />

special needs. This aimed to create a dialogue and connection<br />

to strengthen the work with children.<br />

People continue to be attracted by the core values of<br />

the work, but the challenge remains of ensuring that<br />

the anthroposophical impulse is well grounded through<br />

both an embedded culture/practice and finding successful<br />

new forms for staff training. A very recent dialogue<br />

initiated by Hohepa representatives from New<br />

Zealand may help to foster and broaden this.<br />

Martin Porteous, Inala Day Services, Cherrybrook<br />

Translation from English: Margot Saar<br />

Belgien<br />

Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

wird in Belgien von sieben Organisationen angeboten,<br />

die im ‹Michaelis Verband› zusammenarbeiten. Sie unterstützen<br />

sich gegenseitig auf der politischen Ebene,<br />

bieten Mitarbeiterschulungen an und organisieren Arbeitsgruppen<br />

und Tagungen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit<br />

vertreten sie auch belgische Organisationen<br />

in der Internationalen Konferenz für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie und der ECCE.<br />

Vor etwa 50 Jahren wurden die ersten beiden Organisationen<br />

für Heilpädagogik in Belgien in der Region<br />

Antwerpen gegründet. Am Anfang unterstützte die holländische<br />

heilpädagogische Bewegung durch die Schulung<br />

von Mitarbeitern und die Bereitstellung finanzieller<br />

Mittel die Initiativen. Die Parcivalschool in Antwerpen ist<br />

eine Schule für seelenpflegebedürftige Kinder und Jugendliche<br />

und kann 10 Schüler mit unterschiedlichem<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Belgium<br />

In Belgium curative education and social therapy is provided<br />

by seven organisations. These organisations work<br />

together in the Michaelis Association to support each<br />

other on the policy level and to organise training of coworkers,<br />

study groups and conferences. Based on this<br />

collaboration, they also represent Belgian organisations<br />

in the International Council and in the ECCE.<br />

The start of these initiatives was strongly supported by<br />

the curative education movement in Holland, through<br />

the training of co-workers as well as the provision of<br />

funding. About 50 years ago, the first two organisations<br />

for curative education in Belgium were founded in the<br />

Antwerp region.<br />

The Parcivalschool in Antwerp is a school for children<br />

and adolescents in need of special care and accommodates<br />

210 pupils from many cultural backgrounds.<br />

Iona in Kessel is a residential place for 34 children and<br />

17


Berichte | Reports<br />

kulturellen Hintergrund unterbringen. Iona in Kessel ist<br />

eine Wohngemeinschaft für 34 Kinder und 33 Erwachsene.<br />

Tagsüber arbeiten die Bewohner im Haushalt, in der<br />

Landwirtschaft sowie in den künstlerischen und handwerklichen<br />

Werkstätten. Es besteht eine Zusammenarbeit<br />

mit dem Emiliushoeve (s. unten) im geförderten Beschäftigungsprogramm<br />

und in ähnlicher Weise kommt dem<br />

Förderschulprogramm die enge Verbindung mit der Parcivalschool<br />

und anderen Schulen in der Umgebung zugute.<br />

In den achtziger Jahren gründeten Mitarbeiter dieser<br />

zwei Organisationen zwei neue sozialtherapeutische Initiativen:<br />

Widar in Merksplas und Talander in Arendonk.<br />

Widar ist eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für Sozialtherapie<br />

mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft,<br />

einer Bäckerei und Handwerkstatt für etwa 60 Menschen<br />

mit Förderbedarf. Der Laden und seine Produkte sind in<br />

den nahegelegenen Dörfern und der Stadt gut bekannt<br />

und das Brot wird in vielen Läden verkauft. Talander bietet<br />

Gartenbau, handwerkliche und künstlerische Werkstätten<br />

für etwa 17 Bewohner. Sowohl Widar als auch<br />

Talander sind an der Pflege der nahegelegenen Naturschutzgebiete<br />

beteiligt. Wanderer und Radler werden<br />

von den Bewohnern in Cafés und Teehäusern willkommen<br />

geheissen. Talander hat letztes Jahr einen Preis im<br />

Rahmen eines Wanderweg-Wettbewerbs erhalten.<br />

Vor etwa 30 Jahren entstanden zwei weitere Organisationen:<br />

Die Christoforusgemeenschap in Merelbeke und De<br />

Speelhoeve in Boechout.<br />

De Speelhoeve ist eine heilpädagogische Tagesstätte für<br />

21 Kinder und Jugendliche mit sehr hohem Hilfebedarf.<br />

Wegen ihren komplexen Behinderungen besuchen diese<br />

Kinder nicht die Schule, sie können jedoch in einer heilpädagogischen<br />

Umgebung aus dem Leben mit all seinem<br />

Reichtum lernen und daran arbeiten, ihre Grundfähigkeiten<br />

zu entwickeln. Nun hat sich die rechtliche Lage<br />

dahingehend entwickelt, dass diesen Kindern bald Lernprogramme<br />

angeboten werden können, unterstützt von<br />

den Kollegen der Parcivalschool, während De Speelhoeve<br />

im Gegenzug beim Betreuungsprogramm der Schule<br />

behilflich sein kann.<br />

Die Christoforusgemeenschap ist eine sozialtherapeutische<br />

Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die aus<br />

zwei Häusern für insgesamt 22 Bewohner besteht, mit<br />

Gartenbau und Handwerkstätten. Mit Festen, künstlerischen<br />

Veranstaltungen und Weihnachtsspielen ist<br />

diese Gemeinschaft gut in das Kulturleben der nahegelegenen<br />

Dörfer integriert.<br />

Es ist beachtenswert, dass sich die sozialtherapeutischen<br />

Einrichtungen in den letzten Jahren von einer<br />

Beim Plastizieren | Plasticzing<br />

33 adults. During the day the residents go to work in<br />

household and farm activities as well as in artistic and<br />

crafts workshops. Collaboration with the Emiliushoeve<br />

(see below) is in place regarding the supported work<br />

programme, and similarly, the special school programme<br />

benefits from close links with the Parcivalschool<br />

and with another school in the neighbourhood.<br />

In the 1980s co-workers from these two organisations<br />

established two new initiatives for social therapy:<br />

Widar in Merksplas and Talander in Arendonk. Widar<br />

is a shared living and working community for social<br />

therapy with biological-dynamic farming, a bakery<br />

and craft workshops for about 60 people with special<br />

needs. The shop and its products are well known in the<br />

villages and the town nearby and the bread is being<br />

sold in many of shops in the area. Talander offers gardening,<br />

crafts and artistic workshops for about 17 residents.<br />

Both Widar and Talander are involved in caring<br />

for the nearby nature reserves. Hikers and bikers are<br />

welcomed by the residents in cafés and tea houses. Talander<br />

was very successful in developing an award for<br />

hiking trail competition in the forest last year.<br />

About 30 years ago two other organisations came into<br />

existence: the Christoforusgemeenschap in Merelbeke<br />

and De Speelhoeve in Boechout.<br />

De Speelhoeve is a curative education daycare centre<br />

for 21 children and adolescents with multiple needs. Because<br />

of their complex disabilities these children cannot<br />

attend a school, but in a curative environment they can<br />

learn from life in all its richness and work on their development<br />

of basic skills. Now the legal situation has<br />

changed to the effect that in the near future learning<br />

18


Berichte | Reports<br />

Gemeinschaft für Menschen mit Behinderungen in Organisationen<br />

umgewandelt haben, die einen Beitrag<br />

zum Gesellschaftsleben leisten. Alle Organisationen<br />

haben einen guten Ruf und sind von der Regierung anerkannt,<br />

was bedeutet, dass die Gehälter der Mitarbeiter<br />

und Lehrer und ein grosser Teil der Betriebskosten subventioniert<br />

sind. Im Gegenzug müssen wir uns an viele<br />

Vorschriften halten und der Regierung Bericht erstatten.<br />

Ein System, das Qualität in der Pflege auferlegen soll,<br />

hat zur Professionalisierung des Managements geführt,<br />

fordert uns jedoch auch heraus, über unsere weniger<br />

messbaren Qualitäten und Werte nachzudenken und<br />

Wege der Sicherung zu finden. Der Impuls der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie wird<br />

sich als ein wirksamer Weg erweisen müssen, den Bedürfnissen<br />

der Kinder und Erwachsenen, für die wir arbeiten,<br />

Rechnung zu tragen. Währenddessen erwarten<br />

wir die grösste Reform in der Geschichte unseres Versorgungssystems,<br />

was viel Ungewissheit mit sich bringt.<br />

Die Haupttriebfeder ist die weitere Umsetzung der UN-<br />

Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen,<br />

aber auch der zukünftige Rahmen und die<br />

Bezahlbarkeit des Versorgungssystems selbst. Indem<br />

sie ihr personalisiertes Budget bekommen, haben Menschen<br />

mit Förderbedarf grössere Möglichkeiten, eigene<br />

Entscheidungen zu treffen. Andererseits sind die<br />

Budgets knapp und es geht auch darum, Kosten einzusparen,<br />

damit mehr Menschen ohne Anstieg des Gesamtbudgets<br />

Hilfe finden. Organisationen werden durch<br />

das Paradigma des sozialen Unternehmertums dazu<br />

herausgefordert, ihre Netzwerke zu stärken, Mittel zu<br />

beschaffen und neue, an die Hilfs- und Unterstützungsbedürfnisse<br />

des Einzelnen angepasste Arbeitsformen zu<br />

entwickeln. Die grösste Herausforderung neben diesen<br />

schwierigen externen Voraussetzungen ist jedoch, die<br />

internen Bedingungen zu sichern, damit das Ziel nicht<br />

aus den Augen verloren geht und ein tieferes Verständnis,<br />

hilfreiche Inspirationen und Intuitionen erlangt werden<br />

– indem wir zusammenarbeiten. Wir müssen uns<br />

um die Quelle kümmern, um den Fluss zu stärken!<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

programme can be offered for these children, supported<br />

by the colleagues of the Parcivalschool, while De Speelhoeve<br />

can support the care programme at the school.<br />

The Christoforusgemeenschap is a social therapy community<br />

of shared living and working, made up of two<br />

houses for altogether 22 residents providing garden<br />

work and craft workshops. With festivals, artistic<br />

events and Christmas plays this community is well integrated<br />

in the cultural life of the local villages.<br />

It is worth noting that over the past few years the social<br />

therapy organisations have been changing from being<br />

residential settings for people with disabilities to organisations<br />

that contribute to the quality of life of society<br />

as a whole. All organisations have built up a good reputation<br />

and are recognised by the government, which<br />

means that the salaries of the co-workers and teachers<br />

and most of the operating costs are subsided. In return,<br />

we have to comply with a lot of regulations and have<br />

to report to government. A system which has been set<br />

up to impose quality care has led to the professionalization<br />

of management but also challenges us to reflect<br />

on our less measurable qualities and values and to find<br />

ways to safeguard them. The choice for anthroposophical<br />

curative education and social therapy will have<br />

to be proven as an efficient way to answer the needs<br />

of the children and adults we work for. Meanwhile we<br />

are experiencing the biggest reform in the history of<br />

our care system, which brings a lot of uncertainty with<br />

it. Its main driving force is the further implementation<br />

of the UN Convention on the Rights of Persons with<br />

Disabilities, while another factor is the future framework<br />

and affordability of the care system itself. Being<br />

provided with personalised budgets, people in need of<br />

special care have more possibilities to make their own<br />

choices. On the other hand, those budgets are tight and<br />

the whole operation is also about saving costs in order<br />

to help more people without an increase of the overall<br />

budget. Organisations are challenged by the paradigm<br />

of social entrepreneurship, to strengthen their network,<br />

to fundraise and to develop new work forms tailored<br />

to the individual needs for assistance and support.<br />

But undoubtedly the greatest challenge under these<br />

stressful external conditions is to safeguard the inner<br />

well-beeing to stay focussed, gain deeper insight, helpful<br />

inspirations and intuition – by working together.<br />

Caring for the source to strengthen the flow!<br />

Bart Vanmechelen, De Speelhoeve, Boechout.<br />

Translation from English: Christian von Arnim<br />

19


Berichte | Reports<br />

In der Bäckerei | in the bakery<br />

Brasilien<br />

In Brasilien leben 204 Mio. Einwohner auf einer Fläche von<br />

8,5 Mio. km 2 , wobei die grösste Dichte im Südosten und<br />

Süden besteht.<br />

Anthroposophie ist gegenwärtig in den verschiedensten Lebensbereichen<br />

der brasilianischen Gesellschaft vertreten.<br />

Erste Gründungen und weitere Ausbreitung<br />

Die Etablierung der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

begann etwa 1960 mit der Gründung der Einrichtung<br />

Angaiá in Campos do Jordão (SP) durch die Heilpädagogin<br />

Gunda Bay. In den 80er-Jahren kam in São Paulo die<br />

Puppenfabrik Evi von Karin Evelyn Scheven dazu, die sich<br />

auch der Betreuung pflegebedürftiger Menschen annahm.<br />

Lucinda Dias gründete 1986 das «Sonnenhaus» (A Casa<br />

do Sol), 1991 formierte sich der Gemeinnützige Verein<br />

Parsifal (Ass. Beneficiente Parsifal) innerhalb der Puppenfabrik.<br />

Weitere Einrichtungen entstanden später in São<br />

Paulo und in anderen Städten. 1991 begann die erste<br />

Ausbildung der Heilpädagogik unter Mitwirkung verschiedener<br />

Lehrer aus Europa und einiger brasilianischer Ärzte.<br />

Brazil<br />

In Brazil 204 million people occupy an area of 8.5 million<br />

square kilometres, the population being densest in<br />

the south east and south.<br />

Anthroposophy is now represented in all parts of Brazilian<br />

society.<br />

First foundations and dissemination<br />

Anthroposophical curative education was first established<br />

around 1960 when the curative teacher<br />

Gunda Bay founded Angaiá in Campos do Jordão (SP).<br />

In the 1980s Karin Evelyn Scheven set up the Evi doll<br />

factory in São Paulo and began to work with people<br />

with special needs. In 1986 Lucinda Dias founded the<br />

‹House of the Sun› (A Casa do Sol) and in 1991 Parsifal<br />

was founded as a charitable association (Ass. Beneficiente<br />

Parsifal) within the doll factory. Other centres<br />

followed in São Paulo and in other cities. In 1991 the<br />

first curative education training was established with<br />

the help of various teachers from Europe and some<br />

Brazilian physicians.<br />

20


Berichte | Reports<br />

Der Verband<br />

Mit den Jahren entstand eine Studiengruppe von Therapeuten,<br />

die an Kongressen am Goetheanum teilnahmen.<br />

Schon im Jahre 2000 bildete sich eine Gruppe von Vertretern<br />

der bestehenden Einrichtungen und nach mehreren<br />

Treffen und der Durchführung des fünften Ibero-amerikanischen<br />

Kongresses in Brasilien wurde 2004 der Verband<br />

gegründet, der alle bis dahin existierenden Arbeiten vereinigte<br />

(Federação de Instituições e Profissionais de Educação<br />

Terapêutica e Terapia Social do Brasil).<br />

Diese Ziele bestehen in:<br />

• Netzwerkarbeit<br />

• Entwicklung von anthroposophisch orientierten Einrichtungen<br />

begleiten und unterstützen<br />

• Weiterführende Fortbildungen für Berufstätige<br />

• Unterstützung bei der Konzeptarbeit<br />

• Beratung für Familien und Berufstätige, die Fortbildungskurse<br />

und/oder Arbeitsplätze suchen; für Studenten die<br />

Praktika innerhalb und ausserhalb Brasiliens suchen;<br />

für Familien, die Betreuung oder Beratung suchen<br />

• Repräsentation gegenüber anderen Verbänden<br />

Heute zählen zehn Mitgliedsorganisationen zum Verband,<br />

sieben Initiativen sind im Aufbau, andere in der<br />

Gründungsphase (sechs in São Paulo, andere im Landesinneren<br />

und in anderen Bundesländern Brasiliens).<br />

In den Einrichtungen werden annähernd 400 Menschen<br />

mit Behinderungen von 140 Mitarbeitenden begleitet;<br />

zudem hat der Verband mittels seiner Aktivitäten mehr<br />

als 2.500 Menschen direkt oder indirekt erreicht, darunter<br />

Familien, Erzieher und andere Fachkräfte. Die<br />

Einsatzbereiche reichen von Beratungs- und Fortbildungsangeboten<br />

durch unabhängige Fachkräfte über institutionelle<br />

Tagesbetreuung, therapeutische Werkstätten bis<br />

hin zu Schulbegleitungsangeboten.<br />

Aktionen des Verbandes<br />

Seit 2007 erfolgen jährliche Treffen zur Verbesserung<br />

der Zusammenarbeit und Vernetzung, die inzwischen<br />

Wirkung zeigen.<br />

Der erste Begegnungs-Kongress für Menschen mit Behinderungen<br />

fand 2009 statt und das Projekt wird mit monatlichen<br />

Treffen fortgesetzt. Es konnten Partnerschaften<br />

im Freizeit- und Kulturbereich gewonnen und Gesetze zur<br />

besseren Nutzung des Flugverkehrs vorangetrieben werden,<br />

um die Teilnahmemöglichkeiten an den Kongressen<br />

in anderen Ländern zu verbessern.<br />

The association<br />

Over the years a study group has been formed by the<br />

therapists who attended the conferences at the Goetheanum.<br />

As early as 2000 a group of representatives<br />

of the existing centres came together and, after they<br />

had met several times and organized the fifth Ibero-<br />

American Congress in Brazil, an association was founded<br />

in 2004, uniting all the centres that existed at that<br />

time (Federação de Instituições e Profissionais de Educação<br />

Terapêutica e Terapia Social do Brasil).<br />

The association pursues the following goals:<br />

• Networking<br />

• Supporting the development of anthroposophically<br />

oriented institutions<br />

• Professional development for people in work<br />

• Supporting the conceptual work<br />

• Providing advice to families and working people who<br />

are looking for further training and/or jobs; for students<br />

in search of work experience placements in Brazil<br />

or abroad; for families in need of care or advice<br />

• epresenting our movement to other associations<br />

Today, the association has ten member organizations,<br />

seven initiatives in development and others that are still<br />

in the foundation phase (six in São Paulo, others in the<br />

interior of the country and in other Brazilian states).<br />

In these centres almost 400 people with disabilities are<br />

being supported by 140 staff; in addition the association<br />

is directly or indirectly in contact with more than<br />

2500 people, including families, educators and other<br />

professionals in the field. The services offered range<br />

from consultation and further training through independent<br />

specialists to day-care centres, therapeutic<br />

workshops and learning support in schools.<br />

Association activities<br />

Since 2007 annual meetings have been held in order<br />

to improve cooperation and networking and they are<br />

now proving effective.<br />

The first ‹Encounter› congress for people with disabilities<br />

took place in 2009 and the project is being continued<br />

in monthly meetings. Partnerships have been set<br />

up in the field of leisure and culture and it was possible<br />

to promote laws that make it easier to use flights to<br />

get to congresses in other countries.<br />

The association has increased its publicity, for instance<br />

by organizing events on the International Day of Per-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

21


Berichte | Reports<br />

Der Verband hat seine Öffentlichkeitsarbeit intensiviert,<br />

er organisiert beispielsweise Veranstaltungen anlässlich<br />

des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung<br />

oder beteiligt sich mit einem eigenen Stand an der<br />

ReaTech Messe, der grössten nationalen Messe für Rehabilitation<br />

und Behinderung.<br />

Der Verband veranstaltet nationale wie internationale Tagungen<br />

für Mitarbeitende, Dozenten und Auszubildende,<br />

teilweise mit Unterstützung von Kollegen aus anderen<br />

Ländern und neuerdings auch zum Teil unter Beteiligung<br />

und Mitwirkung von Menschen mit Behinderungen. Beim<br />

Ibero-amerikanischen interdisziplinären Kongress findet<br />

der Verband seit 2013 ein Forum, in dem gemeinsame<br />

Fragen und Berührungspunkte von Pädagogik und dem<br />

Gesundheitsbereich aus anthroposophischer Sicht besprochen<br />

werden.<br />

Seit 1998 nehmen brasilianische Therapeuten an den<br />

Heilpädagogischen Tagungen in Dornach teil und seit<br />

2000 wirken sie mit an den jährlichen Konferenzen für<br />

Vertreter des Internationalen Rates. Eine grosse Inspirationsquelle<br />

stellen die Besuche der brasilianischen<br />

Therapeuten in europäischen Institutionen dar, durch<br />

die neue Programme in den verschiedenen Arbeitsgebieten<br />

des Fachbereichs angeregt und entwickelt<br />

werden können. Zudem vermittelt und empfiehlt der<br />

Verband Praktikumsplätze, ehrenamtliche Dienste in<br />

Brasilien und im Ausland.<br />

Derzeit laufende Projekte: Arbeitsgruppe Unterstützte<br />

Kommunikation, Projekt VINE, Berufsanerkennung in<br />

Brasilien, Unterstützungsgruppe für Inklusion an Schulen,<br />

Vereinsmitgliedschaft von unabhängigen Fachkräften<br />

und neuen Institutionen, Stipendiatsvergabe.<br />

Ausbildung<br />

Seit 1991 findet in Brasilien die Ausbildung zu Fachkräften<br />

statt. Heute werden sechs Ausbildungsseminare<br />

für Therapeutische Erziehung (Heilpädagogik) und Sozialtherapie<br />

in verschiedenen Städten mit mehr als 200<br />

Studierenden durchgeführt, die im Rahmen der beruflichen<br />

Qualifikation vor allem einen Weg zur persönlichen<br />

Entwicklung suchen. Eine Repräsentantin nimmt Teil am<br />

Internationalen Ausbilderkreis in Kassel und die Ausbildung<br />

des gemeinnützigen Vereines Parsifal ist durch den<br />

Internationalen Rat für Heilpädagogik und Sozialtherapie,<br />

durch die Medizinische Sektion am Goetheanum<br />

und durch den Brasilianischen Verein Anthroposophischer<br />

Medizin (ABMA) anerkannt.<br />

sons with Disabilities or by running a stall at ReaTeach,<br />

the biggest national trade fair of technologies in rehabilitation<br />

and disability.<br />

National and international cooperation<br />

The association organizes national and international<br />

conferences for staff, lecturers and trainees, partly with<br />

the support of colleagues from other countries and recently<br />

also involving people with special needs. Since<br />

2013 the association has used the Ibero-American Interdisciplinary<br />

Congress to provide a forum where<br />

people can discuss questions regarding education and<br />

healthcare from an anthroposophical point of view.<br />

Since 1998 Brazilian therapists have attended the curative<br />

education conferences in Dornach and since<br />

2000 Brazil has been represented in the meetings of<br />

the International Council. Visits to European institutions<br />

have been most inspiring and have helped to develop<br />

new programmes in all kinds of fields within our<br />

profession. In addition, the Association arranges and<br />

recommends work experience placements and volunteering<br />

in Brazil and abroad.<br />

Current projects include a working group on facilitated<br />

communication, the VINE project, professional recognition<br />

in Brazil, a support group for inclusion in<br />

schools, the question of association membership for<br />

independent specialists in the field and for new institutions,<br />

and the granting of scholarships.<br />

Training<br />

Training of specialists in Brazil started in 1991 and<br />

training seminars in therapeutic education (curative<br />

education) and social therapy are now held in various<br />

cities. More than 200 students attend these courses in<br />

search not only of professional qualifications but also<br />

of self-development. A representative of the trainings<br />

attends the meetings of the International Training<br />

Group in Kassel and the training at Parsifal, a charitable<br />

organization, is recognized by the International<br />

Curative Education and Social Therapy Council, the<br />

Medical Section at the Goetheanum and the Brazilian<br />

Association for Anthroposophic Medicine (ABMA).<br />

Paula Cardoso Mourao, Federação de Instituições e<br />

Profissionais de Educação, Terapêutica e Terapia Social<br />

do Brasil, São Paulo<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

22


Interview Maria Neder Monteiro<br />

Marina Neder Monteiro is 38 years old and studies at the Seminar for Special Needs Education and Social<br />

Therapy in São Paulo. She teaches Englisch at Escola Livre Areté.<br />

Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr unterrichte ich<br />

Englisch und habe dies immer im Lichte der Anthroposophie<br />

getan. Heute bin ich Englischlehrerin<br />

an der Escola Livre Areté und auch Förderlehrerin<br />

einer jungen Teenagerin mit Hilfebedarf am Colégio<br />

Waldorf Micael de São Paulo in Brasilien.<br />

Da ich mehr und mehr Kinder mit Hilfebedarf in meiner<br />

Klasse zu unterrichten hatte, fand ich es an der<br />

Zeit, dass ich die Art Pädagogin werde, die meine<br />

Kinder brauchen. Eine, die ihnen helfen und sie<br />

durch die Schuljahre begleiten kann, immer in Anbetracht<br />

ihrer Bedürfnisse.<br />

Anthropsophische Heilpädagogik sollte den Kindern<br />

helfen, sich in der bestmöglichen Weise zu entwickeln<br />

und zu Menschen zu werden, die (so weit wie<br />

möglich) ein unabhängiges und würdiges Leben<br />

führen können. Die direkte Arbeit mit der Teenagerin,<br />

sie das Lesen und Schreiben zu lehren, ihr<br />

soziale Kompetenzen näherzubringen, ihren Lernrhytmus<br />

und ihre Wesensart verstehen zu lernen,<br />

erfüllte mich. Doch meistens zeigte es sich, dass<br />

ich selbst Lernende war.<br />

Eine wichtige Aufgabe der heilpädagogischen und<br />

sozialtherapeutischen Arbeit ist die soziale Inklusion.<br />

Es hat sich weltweit mit Bezug auf diesen Aspekt<br />

viel verbessert, wir haben jedoch noch einen<br />

langen Weg vor uns. In Brasilien haben Kinder mit<br />

Hilfebedarf das Recht, die Regelschule zu besuchen<br />

und der Lehrplan wird ihren Bedürfnissen<br />

und den Fähigkeiten, die sie brauchen, um sich zu<br />

entwickeln, angepasst. Die Entwicklung einer Hilfsgruppe<br />

wäre für die Unterstützung von Förderlehrern<br />

und der Schulgemeinschaft sehr wichtig.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

I have been teaching English since I was twenty and<br />

have always done that in the light of anthroposophy.<br />

Nowadays, apart from being an English teacher<br />

at Escola Livre Areté, I am also a learning support<br />

teacher of a young teenage girl with special needs<br />

at Colégio Waldorf Micael de São Paulo in Brazil.<br />

Since I started having a large number of children<br />

with special needs attending my classes, I believed<br />

it was time for me to become the type of educator<br />

my children needed me to be. One who would be<br />

able to help and guide them through their school<br />

years, always taking their needs into account. As<br />

I had already become a Waldorf teacher, I decided<br />

to become a special needs teacher too.<br />

Education for children with special needs and social<br />

therapy have the role of helping children to develop<br />

themselves at their best and become human beings<br />

capable of living their lives with dignity. and as<br />

much autonomy as possible. Working directly with<br />

a teenage girl, teaching her how to write and read,<br />

teaching her social skills, and learning to respect her<br />

learning rhythm and her way of being, fulfilled my<br />

soul and showed me that most of the times when I<br />

thought I was teaching I was actually learning.<br />

I believe one important task of education for children<br />

with special needs and social therapy is social<br />

inclusion. The world community has improved a<br />

lot regarding this aspect but we still have a long<br />

way to go.In Brazil children with special needs<br />

have the right to go to a regular school and have<br />

the curriculum adapted to their needs and the<br />

abilities they need to develop. The development<br />

of a care group would be of great importance to<br />

support learning support teachers and the school<br />

community as a whole.<br />

Translation from English: Christian von Arnim<br />

23


Berichte | Reports<br />

China | China<br />

Gegenwärtig gibt es drei offizielle Schulen für seelenpflegebedürftige<br />

Kinder, es existieren jedoch private Initiativen,<br />

von denen einige mit Regelwaldorfschulen bzw.<br />

als unabhängige Dienste zusammenarbeiten, z.B. mit<br />

dem Schwerpunkt der traditionellen und anthroposophischen<br />

Medizin, Schulungsmethoden oder rhythmische<br />

Massage. Sie sind in Beijing und anderen Provinzen in<br />

Südchina gelegen, es ist jedoch schwierig, exakte statistische<br />

Daten zu bekommen.<br />

Wesentliche Entwicklungen der letzten drei Jahre<br />

Jeden Sommer wird das International Postgraduate Medical<br />

Training (IPMT) unter der Leitung von Michaela<br />

Glöckler veranstaltet; dieses Programm hat die berufliche<br />

Entwicklung verbessert und findet nun im fünften<br />

Jahr statt. Das Programm bietet eine heilpädagogische<br />

Schulung und Lehrerausbildung.<br />

Über zwei Jahre wurde eine von Barbara Baldwin geleitete<br />

heilpädagogische Ausbildung für Schulen im Süden und<br />

Osten von China angeboten. Eine Klasse für Fortgeschrittene<br />

wird in der Waldorfschule Chengdu betrieben, jedoch<br />

noch ohne Zertifizierungen der Studierenden durch<br />

das Goetheanum. Neben der Heilpädagogik finden Schulungsveranstaltungen<br />

und Arbeitstreffen für rhythmische<br />

Massage, Heileurythmie und anthroposophische Medizin<br />

statt. An den Lehrerausbildungsveranstaltungen nahmen<br />

neben Lehrern von Waldorfschulen auch Eltern, andere<br />

potenzielle Lehrer und interessierte junge Leute teil. Die<br />

meisten sind Eltern, die vom gegenwärtigen Bildungssystem<br />

enttäuscht sind, oft auch Eltern von seelenpflegebedürftigen<br />

Kindern, die keine passenden Schulen für ihre<br />

Kinder finden können. In den letzten zwei Jahren waren<br />

viele Heilpädagogen, anthroposophische Ärzte und Therapeuten<br />

aus dem Ausland eingeladen.<br />

Die heutige Situation<br />

Die anthroposophische Heilpädagogik in China befindet<br />

sich im Pionierstadium und das bedeutet, dass sie nur<br />

wenigen Menschen bekannt ist. Es wird also ein sehr langer<br />

Weg sein, sie in China zu entwickeln und zu etablieren.<br />

Es gibt keine offizielle staatliche Finanzierung und wir verwenden<br />

neben den Schulgeldern unser eigenes Geld, um<br />

die Gehälter und Einrichtungen bezahlen zu können.<br />

Nur wenige Menschen verstehen das Anliegen der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik: Die meisten denken,<br />

dass es sich nur darum handelt, mit den seelenpflege-<br />

There are currently three official schools for children in<br />

need of special care, but there are also private initiatives,<br />

some of which work together with regular Waldorf<br />

schools or as independent services, with emphases on<br />

traditional and anthroposphic medicine, anthroposophic<br />

training methods, or rhythmic massage. They are located<br />

in Beijing and other provinces in southern China; however,<br />

it is difficult to obtain exact statistical data.<br />

Key developments in the last three years<br />

Every summer, the International Postgraduate Medical<br />

Training (IPMT) takes place, directed by Michaela<br />

Glöckler. This programme has improved professional<br />

development, and is now in its fifth year. It offers curative<br />

education training and teacher training.<br />

For two years, Barbara Baldwin directed a curative<br />

education training programme for schools in the<br />

south and east of China. An advanced training class<br />

is offered in the Waldorf school in Chengdu, though<br />

it is not certified by the Goetheanum. In addition to<br />

curative education, there are training events and professional<br />

meetings for rhythmic massage, Eurythmy<br />

Therapy and anthroposophic medicine. Besides Waldorf<br />

teachers, many parents, other potential teachers<br />

and interested young people have been taking part in<br />

teacher training events. A large number of them are<br />

parents who are disappointed with the current education<br />

system, and many are parents of children with<br />

special needs who are unable to find suitable schools<br />

for their children. In the last two years, many curative<br />

educators, anthroposophic physicians and therapists<br />

have been invited from other countries.<br />

The current situation<br />

Anthroposophic curative education in China is in the<br />

pioneer stages, which means that it is known to only a<br />

few. Therefore, it will be a long path to developing and<br />

establishing it in China. There is no official governmen-<br />

24


Berichte | Reports<br />

bedürftigen Kindern zu spielen und fröhliche Zeiten mit<br />

ihnen zu verbringen. Das ist ein weiterer Grund, warum<br />

wir so viele Ausbilder aus dem Ausland eingeladen<br />

haben – um dieser Art von Missverständnis zu begegnen<br />

und verständlich zu machen, was die Ziele der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik sind.<br />

Die wichtigsten Themen und Fragen<br />

Was ist anthroposophische Heilpädagogik? Oder was ist<br />

ihr Ziel und wie wird das Ziel erreicht?<br />

Trotz der Bereitschaft, die notwendigen hohen Gehälter<br />

für fachkundige Mitarbeiter zu finanzieren, gibt es kaum<br />

qualifizierte Lehrer oder Therapeuten und offensichtlich<br />

wenig Bereitschaft, eine Ausbildung zu absolvieren. Die<br />

Qualität der Pädagogik bleibt unter diesen Umständen<br />

eine Herausforderung. Das gleiche trifft auf das Verständnissniveau<br />

der Elternschaft und deren Erwartungen zu.<br />

Ist es notwendig, eine Gemeinschaft zu bilden? Wer sind<br />

die wichtigen Personen in der Schule? Was ist die Verantwortung<br />

des Lehrers? Neben grundlegenden Fragen<br />

in Bezug auf die Zusammenarbeit der Lehrer mit einem<br />

interdisziplinären Therapeutenteam besteht die Diskussion<br />

über einen individuellen Bildungsplan und die<br />

Überwachung der Leistungen des Kindes von einem<br />

Team verschiedener Pädagogen. Allgemein herrscht ein<br />

grosser Mangel an anthroposophisch ausgebildeten Ärzten<br />

und Therapeuten.<br />

Entwicklungsimpulse und nächste Schritte<br />

In den letzten zwei Jahren wurden hochwertige Schulungen<br />

mit dem Schwerpunkt Heilpädagogik organisiert,<br />

die neben Heilpädagogen auch Lehrer mit einbezogen,<br />

um die Qualität der Heilpädagogik in Regelschulen<br />

zu verbessern. Als Ergebnis dieser Schulungen haben<br />

wir schon eine Gemeinschaft von anthroposophischen<br />

Heilpädagogen aufgebaut, die mehr als 300 Personen<br />

umfasst. Gegenwärtig ist unsere Schulung darauf ausgerichtet,<br />

alle interessierten Waldorfschulen und deren<br />

Mitarbeiter zu unterstützen.<br />

Wir wünschen uns Hilfe aus Dornach, um die Entwicklung<br />

der Heilpädagogik in China weiterzubringen und zu<br />

etablieren. Unsere Überlegungen richten sich zur Zeit auf<br />

das Folgende: Eine umfangreiche Lehrerausbildung und<br />

elementare Strategie für eine heilpädagogische Ausbildung,<br />

Netzwerkarbeit mit den anthroposophischen Ärzten<br />

und Therapeuten und die Übersetzung von kurzen<br />

Schlüsseldokumenten in die einheimische Sprache, um<br />

Eltern Informationen über eine gesunde Lebensweise<br />

und die gegenwärtigen Entwicklungen geben zu können.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

tal financial support, and we spend our own money, in<br />

addition to the schools’ money, in order to be able to<br />

pay the salaries and institutional costs.<br />

Only a few people understand the goals of anthroposophic<br />

curative education: Most believe that its focus<br />

is simply to play with the children with special needs<br />

and to spend cheerful time with them. This is a further<br />

reason for inviting so many educators from other<br />

countries – in order to counter this kind of misunderstanding<br />

and to help people understand the goals of<br />

anthroposphic curative education.<br />

The most important themes and questions<br />

What is anthroposophic curative education? Or what<br />

is the goal, and how do we reach it ? In spite of our<br />

willingness to finance the necessarily high salaries for<br />

specialized professionals, there are very few qualified<br />

teachers or therapists and apparently little willingness<br />

to complete a training programme. Under these conditions,<br />

the quality of education remains a challenge.<br />

This applies to the parents’ level of understanding and<br />

expectations as well.<br />

Is it necessary to build a community? Who are the important<br />

people in a school? What are the teachers’ responsibilities?<br />

Besides fundamental questions relating<br />

to collaboration between teachers and an interdisciplinary<br />

team of therapists, there is debate regarding individual<br />

educational plans and monitoring of children’s<br />

performance by a team of educators. In general, there<br />

is a massive lack of anthroposophically trained physicians<br />

and therapists.<br />

Development impulses and next steps<br />

In the last two years, high quality training programmes<br />

emphasizing curative education, have been organized,<br />

drawing in both curative educators and teachers in order<br />

to improve the quality of curative education in regular<br />

schools. As a result of these work we have already built<br />

a community of anthroposophic curative educators including<br />

over 300 people. Currently, our training aims to<br />

support all interested Waldorf schools and their staff.<br />

We wish for help from Dornach in order to further<br />

develop the establishment of curative education in<br />

China. Our current focal points are: A comprehensive<br />

teacher training programme and basic plan for a<br />

curative education training; networking with anthroposophic<br />

physicians and therapists and translation of<br />

short key documents into the local language, to make<br />

basic information on a healthy lifestyle and current<br />

developments available to parents.<br />

25


Berichte | Reports<br />

Wang Zhen ist Mutter eines behinderten Kindes und Schulgründerin<br />

der ersten heilpädagogischen Schule in China (bearbeitet<br />

und gekürzt von Gabriele Scholtes).<br />

Da die Entwicklungen in China mit einem rasanten Tempo fortschreiten,<br />

entspricht dieser Beitrag nicht mehr dem gegewärtigen<br />

Stand. Leider hat uns ein aktuellerer Bericht erst nach<br />

Redaktionsschluss erreicht, sodass wir ihn für dieses Heft nicht<br />

mehr berücksichtigen konnten. Sie finden ihn auf unserer Internetseite<br />

unter: khsdornach.org<br />

Wang Zhen is mother of a child with disabilities and founder<br />

of the first curative education school in China (edited and<br />

condensed by Gabriele Scholtes).<br />

Because developments in China are happening so rapidly,<br />

this contribution is no longer up to date. Unfortunately, a<br />

more current report reached us only after the editorial deadline,<br />

and can no longer be included in this volume. It can be<br />

found on our website: khsdornach.org.<br />

Translation from English: Tascha Babitch<br />

Die Menschen in Agualinda | The people in Agualinda<br />

Kolumbien<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie kamen vor weniger als<br />

30 Jahren nach Kolumbien. Nun gibt es drei Einrichtungen,<br />

die pädagogische und sozialtherapeutische Dienste<br />

anbieten. In der Schule Arca Mundial in Medellin wird<br />

seit 17 Jahren Heilpädagogik und Sozialtherapie praktiziert.<br />

Sie versorgt 50 Menschen, die von 20 Personen,<br />

darunter Lehrer, Therapeuten und anderen Mitarbeiter,<br />

unterstützt werden. Zwar begleitete diese Einrichtung<br />

noch mehr Menschen, aber ein Wechsel in der Regierungspolitik<br />

veranlasste einige Familien, ihre Kinder anderweitig<br />

unterzubringen. Die in Cali gelegene Schule<br />

Granja Tarapaca startete vor sieben Jahren in einer ländlichen<br />

Umgebung mit der Versorgung von Kindern und<br />

Erwachsenen. Auch nach der Umsiedelung in eine städtische<br />

Region konnte die ländliche Atmosphäre, die das<br />

Colombia<br />

Curative education and social therapy (Cest) arrived<br />

in Colombia less than 30 years ago; now there are<br />

three institutions offering education and social therapy<br />

services. Arca Mundial, in Medellin, is a 17-yearold<br />

school where both curative education and social<br />

therapy are being practiced. It serves 50 individuals,<br />

supported by 20 people, among them teachers, therapists,<br />

co-workers and other staff. Although this institution<br />

used to support more individuals, a change of<br />

government policy on subsidies led some families to<br />

take their young ones to other places. Granja Tarapaca<br />

is another school, located in Cali, which started seven<br />

years ago in a rural setting serving children and adults.<br />

After a period of time they relocated to the city, and<br />

their chosen location has allowed them to keep the<br />

26


Berichte | Reports<br />

Tagesprogramm charakterisiert, beibehalten werden.<br />

Die Schule versorgt 20 Menschen mit insgesamt zwölf<br />

Mitarbeitern in der Unterstützungsgruppe. Agualinda<br />

liegt in einem Vorort der Hauptstadt Bogota und legt<br />

grösseres Gewicht auf die sozialtherapeutische Komponente.<br />

Auf einer Farm, eine Stunde von der Hauptstadt<br />

entfernt gelegen, werden seit drei Jahren im Sinne des<br />

Camphill-Gedankens sechs Personen von sieben Mitarbeitern<br />

betreut. Andere Einrichtungen, Einzelpersonen<br />

und unabhängige Programme bieten heilpädagogische<br />

oder sozialtherapeutische Dienste an, was die Gesamtzahl<br />

der in diesem Berich arbeitenden Menschen auf<br />

landesweit 150 Personen bringt.<br />

In Kolumbien herrscht seit 68 Jahren Krieg. Viele Variablen<br />

des Konflikts, eine extrem ungleiche Vermögens- und<br />

Chancenverteilung und die Korruption innerhalb der Regierung<br />

sind nur einige der Bedingungen, die unser Leben<br />

beeinflussen – auch das Leben von seelenpflegebedürftigen<br />

Menschen. Fehlende finanzielle Regierungsförderung<br />

zusammen mit den Erfordernissen bürokratischer<br />

Vorschriften charakterisieren die Einstellung des Staates<br />

gegenüber den pädagogischen und therapeutischen<br />

Grundsätzen der Heilpädagogik und Sozialtherapie. Ausserdem<br />

ist es schwierig, qualifiziertes Personal auf diesem<br />

Gebiet zu finden und vielfältige Hürden stehen der<br />

Einführung von Methoden im Hochschulsektor im Weg,<br />

die nicht als traditionell angesehen werden.<br />

Trotzdem bestehen die Pioniere entgegen allen Erwartungen<br />

weiter. Härten wurden bewältigt und obgleich<br />

eine Einrichtung aufgeben musste, hat die Flamme der<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie sich in den Händen<br />

einer mutigen und standhaften Gruppe von Kämpfern<br />

erhalten. Das Schicksal blies seinen Anteil an Solidarität<br />

von europäischen Einzelpersonen der entstehenden<br />

Bewegung zu. Andere leisteten einen Beitrag zur Pflege<br />

der sich entwickelnden Keime aus der Perspektive der<br />

Waldorfpädagogik. 2014 wurde der erste Versuch eines<br />

von der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

unterstützten Schulungsprogramms mit über 40 Teilnehmern<br />

erfolgreich abgeschlossen. Viele Kolumbianer<br />

waren Mitarbeitende oder Auszubildende in Europa,<br />

haben ihr Wissen zurückgebracht und damit unsere Entwicklung<br />

bereichert. In diesem Jahr fand ein lateinamerikanischer<br />

Kongress für Jugendliche und Erwachsene<br />

mit Beeinträchtigung statt und stellte einen weiteren erfolgreichen<br />

Schritt in der Entwicklung von Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in unserem Land dar. Soeben ist die<br />

erste Umfrage über Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

abgeschlossen worden, die klar den Willen der Befragten<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

country flavour that characterizes their day programme.<br />

The school serves 20 individuals, with 12 staff in<br />

total in its support group. Agualinda, in a suburb of<br />

Bogota, the capital, places more emphasis on the Social<br />

Therapy component. Located on a farm less than<br />

an hour from the city, it has been in existence for three<br />

years and their Camphill style life and work serves six<br />

persons, who are being taken care of by seven staff<br />

members. Other institutions, individuals, and independent<br />

programmes offer certain CEST services, bringing<br />

the total of people involved to an estimated 150 individuals<br />

nationwide.<br />

Colombia has been at war for 68 years. Many variables<br />

within the conflict, an extremely unequal distribution<br />

of wealth and opportunities, and a high level of governmental<br />

corruption are only some of the conditions<br />

that have affected all aspects of our life – the lives of<br />

individuals in need of special care of the soul not being<br />

an exception. Lack of governmental financial support,<br />

on top of the demands of bureaucratic regulations,<br />

have characterized the state’s position towards the pedagogical<br />

and therapeutic tenets CEST entails. In addition,<br />

it remains difficult to find qualified personnel in<br />

the field, and an abundance of obstacles get in the way<br />

of trying to introduce into the higher education sector<br />

any methods that may be deemed far from traditional.<br />

Nevertheless, pioneers have survived against all odds.<br />

Hardships were overcome, and though one institution<br />

disappeared in the process, the flame of CEST has prevailed<br />

in the hands of a group of courageous and dedicated<br />

warriors. Destiny blew its share of solidarity from<br />

European individuals to the nascent movement as well<br />

as others who contributed to looking after the growing<br />

seeds from the perspective of Waldorf Education.<br />

In 2014, the first attempt at a training programme<br />

supported by CEST Council was successfully concluded<br />

with over 40 participants. Many Colombians have become<br />

co-workers in Scotland, Germany, and elsewhere,<br />

and have brought back their new knowledge to<br />

enrich our development. Others have pursued formal<br />

education abroad to do the same. In March this year,<br />

a Latin-American Congress for Youth and Adults with<br />

Special Talents was held in Cali and constituted another<br />

successful step in the development of CEST in our<br />

country. At the time of writing this, the first national<br />

survey on Curative Education and Social Therapy has<br />

been completed, clearly spelling out the respondent’s<br />

will to pursue bigger and better achievements in organizational,<br />

educational, financial, and social terms.<br />

27


Berichte | Reports<br />

zum Ausdruck brachte, grössere und bessere organisatorische,<br />

pädagogische, finanzielle und soziale Errungenschaften<br />

zu erzielen.<br />

Die Dauer des Krieges hat zu einer Art kollektiven Gleichgültigkeit<br />

der Realität gegenüber geführt. Trotz des<br />

Bestehens von Initiativen, Impulsen und engagierten Einzelpersonen,<br />

die das Wachstum der Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie betreiben, ist die Wirkung weit entfernt<br />

von dem, was gebraucht wird. Dies bedeutet, dass soziale,<br />

wirtschaftliche und politische Aspekte unserer Realität<br />

nicht so angesprochen werden, wie es eigentlich nötig<br />

wäre. Die gegenwärtigen Initiativen haben jedoch eindeutig<br />

eine partizipative Haltung und enorme Tatkraft. Mit<br />

einem riesigen Sprung in die auf uns zukommende Zeit<br />

suchen sie die Mittel, um mehr Beteiligung zu erreichen,<br />

um die nötige Zusammengehörigkeit und Kraft herbeizuführen<br />

und wirtschaftliche und politische Unterstützung<br />

nicht nur zu suchen, sondern einzufordern – Initiativen,<br />

die ihren grossen Beitrag auf der Suche nach einer auf Solidarität<br />

beruhenden Zukunft bewiesen haben.<br />

Wie können Heilpädagogik und Sozialtherapie sich entwickeln,<br />

sodass sie einerseits die ihnen zustehende Anerkennung<br />

bekommen und andererseits ihr eigenes Wachstum<br />

und Überleben sichern? Einigkeit, Pädagogik, Beteiligung<br />

am sozialen System und das Streben nach Nachhaltigkeit<br />

ergeben sich als die anfänglichen Antworten. Irgendwann<br />

wird der Versuch gemacht werden müssen, sich an bestehende<br />

Gesetze zu halten, die der Staat selbst nicht einhält<br />

und neue, dringend gebrauchte zu formulieren.<br />

Die Gründung eines landesweiten Verbandes wird bald<br />

in die Wege geleitet. Die Schulungs- und pädagogischen<br />

Bedürfnisse der Mitglieder wird als nächstes in Angriff<br />

genommen. Die Entwicklung alternativer Finanzierungskonzepte<br />

und die Wahrnehmung der Rechte von Menschen<br />

mit Hilfebedarf stehen schon als Schlüsselpunkte<br />

auf der vorgesehenen Tagesordnung.<br />

Die heilpädagogische und sozialtherapeutische Bewegung<br />

ist in Kolumbien, einem Land, in dem die Ungleichheit<br />

herrscht und die Gewalt es scheinbar schafft,<br />

die Menschen einzuschläfern, nicht mehr wegzudenken.<br />

Während Friedensabkommen unterzeichnet werden,<br />

deren Versprechen noch eingelöst werden müssen,<br />

sind die Heilpädagogik und Sozialtherapie bestrebt, ein<br />

Samen und eine Frucht zu werden, durch die wir hoffen,<br />

dass unsere Willenskraft in der Kunst aufblüht, Behinderungen<br />

in Fähigkeiten zu verwandeln.<br />

The length of the war resulted in a sort of collective attitude<br />

of indifference towards reality. Despite the presence<br />

of initiatives, impulses, and committed individuals<br />

pursuing the growth of CEST, the impact has been far<br />

from what was and is needed. This means that social,<br />

economic and political aspects of our reality have not<br />

been addressed as they should have been. Current<br />

proposals reflect a positive attitude to the immediate<br />

tasks, aiming to work together in hope and strength,<br />

seeking and finding economic and political support for<br />

the social initiatives which have been proven to contribute<br />

so much to a future based on solidarity.<br />

How will CEST develop so that it can, on the one hand,<br />

achieve the recognition it deserves, and on the other,<br />

guarantee its own growth and survival? Unity, education,<br />

involvement in the social component, and the<br />

pursuit of sustainability come up as the initial answers.<br />

Somewhere along the line, compliance with existing<br />

laws that the state itself does not abide by, and formulation<br />

of others badly needed, will have to be sought.<br />

The establishment of a national association will soon be<br />

initiated. Addressing the training and educational needs<br />

of its members will follow. Developing alternatives to<br />

dealing with the economic issues and pursuing the defense<br />

of the rights of individuals with special needs do<br />

already feature as key points in the evolving agenda.<br />

The Curative Education and Social Therapy movement<br />

in Colombia, a country where inequality has ruled<br />

and where violence has seemed to deprive people of<br />

initiative, is here to stay. As peace treaties are signed<br />

as a promise of what remains to be seen, CEST strives<br />

to become a fruit and a seed in one single form, by<br />

which we hope our will blossom into the art of turning<br />

disability into talent.<br />

Oscar Betancourt, Granja del Angel, Medellin<br />

Translation from English: Christian von Arnim<br />

28


Berichte | Reports<br />

Dänemark<br />

Einrichtungen in Dänemark<br />

Marjatta (Seeland), ist das grösste heilpädagogische<br />

Schulheim in Dänemark und betreibt vier sozialtherapeutische<br />

Einrichtungen mit betreutem Wohnen und<br />

Werkstätten für über 210 Kinder, Jugendliche und Erwachsene.<br />

Ebenso ist Marjatta ein Forschungscenter und<br />

bietet eine Ausbildung für Heilpädagogen an.<br />

In der Tagesstätte Solhjorten werden 23 Kinder und Jugendliche<br />

betreut. Zudem gibt es ein kleines Wohnheim<br />

mit fünf Kindern.<br />

In der Dorfgemeinschaft Ølsted (Fünen) leben 26 Jugendliche<br />

und Erwachsene verteilt in zwei Heimen. Dazu kommt<br />

eine kleine Schulgruppe mit sechs Schülern, die der Waldorfschule<br />

in Odense angeschlossen ist und die kleine<br />

Wohngemeinschaft «Bernards Hus» mit sechs Erwachsenen.<br />

Die Dorfgemeinschaft Hertha (Jütland) betreut 26 Menschen<br />

mit geistiger Behinderung. Tornsbjerggård ist ein<br />

Heim für fünfzehn Erwachsene, Hadruplund ein Schulheim<br />

für 20 Kinder und Jugendliche. Die Waldorfschule<br />

in Århus beschult zwölf Kinder, die heilpädagogisch betreut<br />

werden. Die Silkeborg Waldorfschule hat eine kleine<br />

Gruppe mit drei Kindern.<br />

Zentrale Entwicklungen und Ereignisse<br />

Die öffentlichen Haushalte haben in den letzten sechs<br />

Jahren Einsparungen vornehmen müssen, was auch zu<br />

Kürzungen in vielen heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />

Einrichtungen führte. Zugleich sind etliche<br />

Kommunen bemüht, heilpädagogische Angebote lokal<br />

und in eigener Regie durchzuführen. Die Regierung beabsichtigt,<br />

dass 97% Kinder eines Jahrgangs in den öffentlichen<br />

Schulen inkludiert werden. Als Folge dieser<br />

Bestrebungen der Kommunen ist die Zahl der Kinder<br />

unter 18 Jahren, die in Schulheimen betreut werden, seit<br />

2008 drastisch gefallen.<br />

Unter dem Motto «Allkunst» wurde ein grosses nordisches<br />

Kultur- und Sportfestival mit über 400 Teilnehmenden organisiert,<br />

das inhaltlich und formell zusammen mit den<br />

behinderten Menschen geplant und vorbereitet wurde.<br />

Nach dem Rückzug der Pioniere befindet sich der Dänische<br />

Verband für Heilpädagogik und Sozialtherapie in einem<br />

Prozess der Transformation, aus dem neue Möglichkeiten<br />

zur Zusammenarbeit und Selbstorganisation entstehen. Es<br />

wurde ein Vorstand gegründet, der eine enge Zusammenarbeit<br />

mit der heilpädagogischen Ausbildung aufgenom-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Denmark<br />

Danish institutions<br />

Marjatta (Zealand) is the biggest residential school<br />

for curative education in Denmark. It encompasses<br />

four centres for social therapy with assisted living and<br />

workshops for more than 210 children, adolescents<br />

and adults. It is also a research centre and offers training<br />

for special needs teachers.<br />

Solhjorten day-care centre has places for 23 children<br />

and youngsters. There is also a small residential house<br />

with five children.<br />

Ølsted, a village community in Funen, has two homes<br />

for 26 youngsters and adults. There is also a small class<br />

of six pupils, which is affiliated to the Odense Waldorf<br />

School, and a small residential community, Bernards<br />

Hus, with six adults.<br />

Hertha is a village community in Jutland, which offers<br />

care for 26 people with learning disabilities. Tornsbjerggård<br />

is a home for fifteen adults, Hadruplund a<br />

boarding school for 20 children and adolescents. The<br />

Waldorf School in Århus takes in twelve children who<br />

receive special learning support and the Silkeborg<br />

Waldorf School has a small class of three children with<br />

special needs.<br />

Important developments and events<br />

The government has cut back on expenditure over the<br />

last six years which means that many curative education<br />

and social therapy centres receive less funding. In<br />

addition to this, a number of local councils are trying<br />

to offer special needs education themselves. The government<br />

wants to include 97% of children in any one<br />

age group into state schools.As a result of these developments<br />

the number of children under the age of 18,<br />

who are cared for in our residential schools, has fallen<br />

drastically since 2008.<br />

A big Nordic culture and sports festival called Allkunst,<br />

which was attended by more than 400 people, was<br />

planned, prepared and organized together with people<br />

with special needs.<br />

Now that the pioneers have gone, the Danish curative<br />

education and social therapy association is undergoing<br />

a transformative process that reveals new ways<br />

of cooperation and self-organization. A board of directors<br />

has been formed which works closely with the<br />

special needs teacher training in order to organize<br />

small conferences for interested staff members and<br />

29


Berichte | Reports<br />

men hat, um mehrere kleinere Tagungen zu veranstalten<br />

für alle interessierten Mitarbeiter. In Zusammenhang mit<br />

dem Verband ist auch eine neue Zeitschrift namens «Kairos»<br />

erschienen, die sich mit vielen interessanten Artikeln<br />

nicht nur an Heilpädagogen wendet.<br />

Gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Aspekte<br />

Die administrativen Aufgaben wachsen Jahr für Jahr. Die<br />

Behörden fordern konkret messbare pädagogische Zielsetzungen<br />

für jeden Schüler und betreuten Menschen<br />

mit überprüfbaren Indikatoren. Qualitätskontrolle und<br />

Qualitätsentwicklung im Zuge von «New Public Management»<br />

gewinnen zunehmend Einfluss und stellen eine<br />

Herausforderung für anthroposophisch orientierte heilpädagogische<br />

Einrichtungen dar, die sich an der individuellen<br />

Konstitution des Kindes orientieren.<br />

Angesichts der Regionalisierungstendenzen ist es für<br />

die kleineren Organisationen schwer zu überleben, weil<br />

die Kommunen eigene Betreuungs-Dienste anbieten<br />

und die bei uns betreuten Menschen in ihre Heimatkommune<br />

holen wollen. Die Kommunen bestehen auf<br />

wirtschaftlicher Kontrolle und es ist entscheidend, dass<br />

die Eltern für das Recht auf die freie Wahl des Wohnortes<br />

ihrer Kinder kämpfen.<br />

Fachliche Fragen<br />

In fachlicher Hinsicht beschäftigt uns vorzugsweise die<br />

Frage, wie eine zeitgemässe anthroposophische Gemeinschaftsbildung<br />

in Zeiten der zunehmenden Individualisierung<br />

gefördert und gelebt werden kann.<br />

Daneben stehen wir im pädagogischen Austausch über<br />

die Problematik fremdaggressiven Verhaltens. Dazu bedarf<br />

es neben Übungen zur Selbsterkenntnis der Vertiefung<br />

der Menschenkunde und der Schulung der<br />

Beobachtungsgabe.<br />

Entwicklungsmwotive und nächste Schritte<br />

Es ist eine zunehmende Herausforderung für Einrichtungen<br />

mit Erwachsenen, dass die Betreuten älter werden. Wie<br />

schafft man gute Lernbedingungen, Beschäftigungsmöglichkeiten,<br />

kulturelle Angebote und zuletzt gute Wohnräume?<br />

Marjatta hat in den letzten Jahren in Forschung und Ausbildung<br />

investiert und bemüht sich, die anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie zeitgemäss zu<br />

vermitteln und weiterzuentwickeln im Dialog mit anderen<br />

pädagogischen Theorien und Ansätzen.<br />

Weiterhin besteht die Intention, tragfähige gemeinschaftsbildende<br />

Formen des Zusammenlebens zu ent-<br />

Reigentanz | Round dance<br />

co-workers. The association also publishes a new journal<br />

– Kairos – with many interesting articles, not only<br />

for curative teachers.<br />

Socio-political and economic aspects<br />

The administrative work increases with every year. The<br />

authorities demand concrete and measurable educational<br />

objectives with verifiable indicators for every<br />

person in our care. The ‹New Public Management›<br />

concept demands increasing degrees of quality control<br />

and quality development. This is a challenge for<br />

anthroposophically oriented centres where the main<br />

focus is on the child’s individual constitution.<br />

The smaller organizations struggle to survive because<br />

of the trend for regionalization: the local councils<br />

offer their own care provision and want the people<br />

who are cared for in our centres to return to their own<br />

homes. The local councils insist on having financial<br />

control and it is important that parents fight for their<br />

right to choose freely where their children should live.<br />

Internal questions<br />

At a professional level, we are mostly concerned with<br />

the question of anthroposophical community building<br />

and the form this has to take in order to do justice<br />

to the process of individualization. In addition,<br />

we share our experiences of dealing with aggressive<br />

behaviours. For these studies to be successful we need<br />

to strengthen our self-knowledge, deepen our insight<br />

into the human being and train our observation skills.<br />

Developmental motifs and next steps<br />

The adult centres are increasingly facing the challenge<br />

of those in their care growing older. How can one<br />

30


Berichte | Reports<br />

wickeln, wo der einzelne eine Wahlmöglichkeit hat, sein<br />

persönliches Leben mit anderen zu gestalten, z.B. durch<br />

inkludierende Arbeitsplätze, in einem beschützten Rahmen<br />

in Zusammenarbeit mit freiwilligen Bürgern und<br />

Vereinen sowie beruflichen Einrichtungen.<br />

Beitrag zur Entwicklung der anthroposophischen<br />

Bewegung<br />

Im Rahmen der Einrichtungen werden in Zusammenarbeit<br />

mit der anthroposophischen Gesellschaft Dänemarks<br />

drei bis vier Mal im Jahr Klassenstunden<br />

gehalten. Marjatta hat ein Entwicklungs- und Ausbildungscenter,<br />

das zu anthroposophischen Kursen, Tagungen,<br />

Ausbildung und Fortbildung einlädt. Weiterhin<br />

hat Marjatta eine Forschungsabteilung, welche aktiv<br />

Mittel sucht, um Forschungsprojekte mit anthroposophischen<br />

Fragen durchzuführen.<br />

Ausserdem existiert ein Kreis von Menschen, die sich<br />

mindestens zweimal im Jahr mit dem Ziel versammeln,<br />

alle anthroposophischen Arbeitsfelder zu inspirieren,<br />

die Arbeit der anthroposophischen Gesellschaft zu stärken<br />

und in der Öffentlichkeit zu verbreiten.<br />

Lars Svendsen, Elmehøjen, Broby<br />

Übersetzung aus dem Deutschen: Margot Saar<br />

create good learning conditions, occupational and cultural<br />

possibilities and well-designed living spaces?<br />

In recent years Marjatta has invested in research and<br />

training and is trying to convey anthroposophical curative<br />

education and social therapy in a way that is<br />

suited to our time, and to develop it in dialogue with<br />

other educational theories and approaches.<br />

We are furthermore striving to develop strong, community-building<br />

forms of living together, where individuals<br />

can choose in which way to share their life<br />

with others, for instance by introducing inclusive work<br />

places in a protected environment, together with volunteers,<br />

associations and professional institutions.<br />

Contributions to the development of the anthroposophical<br />

movement<br />

In collaboration with the Anthroposophical Society in<br />

Denmark our institutions hold class lessons three to<br />

four times a year. Marjatta has a centre for development<br />

and training, offering anthroposophical courses, conferences,<br />

training and professional development, and a research<br />

department that is actively seeking funding to<br />

carry out research into anthroposophical questions.<br />

A group of people meet at least twice a year; their<br />

aims are to inspire all anthroposophical fields of work,<br />

to strengthen the work of the Anthroposophical Society<br />

and to make it better known to the wider public.<br />

Interview Ben Dittmann<br />

Ben Dittmann, 23 years old, takes part in the practice integrated curative education<br />

training at House Marjatta in Denmark.<br />

Neben meinem täglichen Bezug durch Arbeit oder Ausbildung<br />

bin ich vor allem an den Erklärungsansätzen<br />

der Heilpädagogik interessiert. Durch meine Arbeit<br />

bin ich aussergewöhnlichen Phänomenen begegnet,<br />

die innerhalb der Anthroposophie ihren Platz und<br />

in der Betrachtung einen hohen Stellenwert hatten.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Besides my daily relationship with curative education<br />

through my work and training, I am especially<br />

interested in its explanatory approaches.<br />

Through my work, I have encountered unusual<br />

phenomena which can be found within anthroposophy<br />

and are afforded a high significance. I<br />

31


Interview<br />

Ich habe mich für diesen Weg entschieden, nachdem<br />

ich während eines sozialen Jahres in Frankreich<br />

damit hervorragende Erfahrung gemacht hatte.<br />

Heilpädagogik und Anthroposophie sollten insgesamt<br />

viel mehr als Forschungsgegenstand betrachtet<br />

werden. Die Möglichkeiten, Perspektiven und auch<br />

Grenzen müssen neu ausgelotet werden, wobei<br />

auch vermehrt wissenschaftliche Methoden angewandt<br />

werden sollten. Eine engere Zusammenarbeit<br />

mit anderen Wissenschaftszweigen halte ich für<br />

notwendig, ebenso die Ausweitung anthroposophischer<br />

Ideen auf weitere Forschungsgebiete. Ich erlebe<br />

dabei oftmals eine Selbstgewissheit, die einen<br />

unvoreingenommenen Diskurs erschwert.<br />

Innerhalb meiner heilpädagogischen Praxis wünsche<br />

ich mir die Freiheit, neue Ideen umzusetzen und<br />

mir mit deren Resultaten Gehör zu verschaffen. Anthroposophischen<br />

Separierungstendenzen sollten<br />

kritisch hinterfragt werden. Ich würde mich freuen,<br />

bei Vorträgen o.ä. neue Gesichter zu sehen oder<br />

neue Gedanken zu hören. Meine Beobachtung ist,<br />

dass die Anthroposophie von wenigen Experten in<br />

der Öffentlichkeit repräsentiert wird und ich wünsche<br />

mir, dass die Bewegung in Zukunft breiter aufgestellt<br />

sein wird.<br />

Eine Aufgabe der Zukunft wird sein, Inhalte der Anthroposophie<br />

als Idee in Frage zu stellen. Um gesellschaftlich<br />

mehr wahrgenommen zu werden, ist es<br />

notwendig, dass Begriffe erneuert und zeitgemässe<br />

Fragen gestellt werden, dass die Anthroposophie neu<br />

repräsentiert wird und bspw. durch Forschung, auch<br />

andere Methoden angewandt werden. Es ist wichtig,<br />

sich der Moderne und dem Zeitgeist zu öffnen,<br />

um auf heutige Gegebenheiten eingehen zu können.<br />

Dass man dabei trotz abstrakter Denkmodelle auch<br />

empirisch vorgehen kann, sollte besonders in der Beziehung<br />

zur Gesellschaft nie vergessen werden.<br />

chose this path after an outstanding experience<br />

with it during a year of volunteering in France.<br />

Curative education and anthroposophy should be<br />

regarded more as research subjects. The possibilities,<br />

perspectives and also limits must be<br />

re-explored, with the increased application of<br />

scientific methods. I believe that closer collaboration<br />

with other branches of science is necessary,<br />

along with the expansion of anthroposophic<br />

ideas to further areas of research. I often come<br />

up against a self-certainty that renders impartial<br />

discourse difficult.<br />

Within my curative education practice, I would<br />

like to have the freedom to implement new ideas<br />

and to have their results recognized. Anthroposophic<br />

tendencies toward separation should be<br />

critically scrutinized. I would be so glad to see<br />

new faces or hear new thoughts at lectures and<br />

similar events. In my observation, anthroposophy<br />

is represented in the public sphere by only a few<br />

experts and my wish for the future is that the<br />

movement have a broader base.<br />

One of our future tasks will be to question the<br />

contents of anthroposophic ideas. In order for<br />

it to be taken seriously in our society, it is necessary<br />

for terms to be re-evaluated and timely<br />

questions asked, for anthroposophy to be represented<br />

in a new way and applied in new ways, as<br />

in new research methods. It is important that we<br />

be open to the contemporary zeitgeist in order<br />

to be able to address current situations. And we<br />

should never forget that, despite abstract hypotheses,<br />

it is possible to proceed empirically, especially<br />

in relation to society.<br />

Translation from German: Tascha Babitsch<br />

32


Berichte | Reports<br />

Deutschland<br />

Germany<br />

Statistisches<br />

Der Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen<br />

e.V. (kurz Anthropoi Bundesverband) ist ein Zusammenschluss<br />

von derzeit 178 Trägerorganisationen mit rund<br />

240 Einrichtungen, in denen ca. 16.000 Menschen<br />

mit geistiger, seelischer oder mehrfacher Behinderung<br />

leben, lernen und arbeiten.<br />

Die Bandbreite der Angebote der Mitgliedsorganisationen<br />

(MO) reicht von der Frühförderung und ambulanten<br />

Heilpädagogik über Tages- und Heimschulen, Jugendhilfeeinrichtungen,<br />

Werkstätten, Dorf- und Lebensgemeinschaften,<br />

sozialpsychiatrischen Nachsorgeeinrichtungen<br />

und sozialen Landwirtschaftsbetrieben bis hin zu Angeboten<br />

der Tagesstruktur und der Pflege für schwerstbehinderte<br />

oder betagte Menschen. Seit drei Jahren<br />

firmiert der Verband unter seinem neuen Namen mit<br />

dem Slogan: Gemeinsam Mensch sein.<br />

Die Einrichtungen arbeiten in neun Regionalkonferenzen<br />

und acht Fachbereichen zusammen. So können sie ihre<br />

anthroposophischen Grundlagen pflegen und gemeinsam<br />

fachliche Entwicklung gestalten. Auch Aus-, Fort- und<br />

Weiterbildung von SelbstvertreterInnen und Mitarbeitenden<br />

gehören zum Aufgabenspektrum des Verbandes.<br />

Auf Bundesebene ist Anthropoi Bundesverband einer der<br />

fünf Fachverbände für Menschen mit Behinderung, die gemeinsam<br />

in Deutschland ca. 90% der Dienste und Einrichtungen<br />

für Menschen mit geistiger, seelischer, körperlicher<br />

oder mehrfacher Behinderung repräsentieren und seit 37<br />

Jahren auf sozial- und gesundheitspolitischem Feld, in ethischen<br />

Fragen und fachlichen Projekten zusammenarbeiten.<br />

Er ist Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband<br />

– Gesamtverband e.V. – und steht in Kooperation mit<br />

anthroposophischen Fach- und Berufsorganisationen, sowohl<br />

in Deutschland als auch international.<br />

Wichtige Entwicklungen der letzten drei Jahre<br />

Gewaltprävention<br />

In den vergangenen Jahren wurden drei regionale Fachstellen<br />

für Gewaltprävention aufgebaut, die Beratung,<br />

Unterstützung und Schutz für Menschen mit Assistenzbedarf,<br />

deren Angehörige und die Mitarbeitenden in<br />

den Einrichtungen bieten. Es finden Fortbildungsangebote,<br />

auch im Sinne eines erweiterten Gewaltbegriffs,<br />

statt und die Vertrauensstellen in vielen Einrichtungen<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Statistical information<br />

The German curative education and social therapy association<br />

(Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen<br />

e.V. or Anthropoi Bundesverband for short) is<br />

a federation of 178 providers with approximately 240<br />

centres, where around 16,000 individuals with mental,<br />

intellectual or multiple disabilities live, learn and work.<br />

The services offered by its member organizations (MO)<br />

range from early intervention based on curative education<br />

and home visits to day and boarding schools,<br />

youth welfare centres, workshops, village and residential<br />

communities, socio-psychiatric after-care centres<br />

and social farming to day-care and general care provision<br />

for people with severe disabilities and for the elderly.<br />

Three years ago the association added the slogan<br />

‹being human together› to its logo.<br />

The centres work together in nine regional councils and<br />

eight specialist groups, which allows them to foster their<br />

anthroposophical foundations and pursue professional<br />

development. The association also provides training opportunities<br />

(basic, further, in-service) for self-employed<br />

as well as employed specialists in the field.<br />

At the national level Anthropoi is one of five special<br />

needs associations representing around 90 per cent of<br />

services and institutions for people with intellectual,<br />

mental, physical or multiple disabilities in Germany.<br />

These associations have worked together on social and<br />

healthcare questions, ethics and themed projects for<br />

the last 37 years. Anthropoi is a member of Deutscher<br />

Paritätischer Wohlfahrtsverband, a German umbrella<br />

welfare organization, and cooperates with anthroposophical<br />

professional or specialist organizations in<br />

Germany and abroad.<br />

Important developments in the last three years<br />

Prevention of violence<br />

Three regional bureaus for the prevention of violence<br />

have been set up in recent years. They offer advice, support<br />

and protection to people with special needs, their<br />

families and staff, and provide in-service training, for<br />

instance on topics such as an extended concept of violence.<br />

Many institutions have adopted their advice and<br />

prevention scheme. A compilation of guidelines offers<br />

information on basic principles and formal procedures.<br />

33


Berichte | Reports<br />

haben ihr Beratungs- und Präventionsangebot aufgenommen.<br />

Ein Kompendium zeigt dazu Grundlagen und<br />

formale Vorgehensweisen auf.<br />

Sozialpolitische und wirtschaftliche Aspekte<br />

In Deutschland wird gegenwärtig die Eingliederungshilfe<br />

als wichtigste Form staatlicher Unterstützung und Förderung<br />

von Menschen mit Behinderung neu geordnet. Mit<br />

dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) wird das Ziel verfolgt,<br />

die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen vom<br />

Fürsorgesystem zum Teilhaberecht weiterzuentwickeln.<br />

Die Leistungen sollen sich zukünftig am persönlichen Bedarf<br />

orientieren und entsprechend eines bundeseinheitlichen<br />

Verfahrens personenbezogen ermittelt werden,<br />

was untrennbar mit der politischen Vorgabe verknüpft<br />

ist, keine neue Ausgabendynamik entstehen zu lassen.<br />

Neben dem BTHG erfordert das Dritte Pflegestärkungsgesetz<br />

(PSG III) und damit die Schnittstelle Eingliederungshilfe/Pflege<br />

seitens der Fachverbände hohe<br />

Aufmerksamkeit. Ein dritter Schwerpunkt schliesslich<br />

betrifft die Reform der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII)<br />

hin zu einer «Inklusiven Lösung».<br />

Die Interessen von Anthropoi Bundesverband werden<br />

über die Konferenz der Fachverbände für Menschen mit<br />

Behinderung in die gesellschaftliche Diskussion und die<br />

Gesetzgebungsverfahren eingebracht.<br />

Fachlichen Themen<br />

Fachlich beschäftigt uns die Entwicklung von Angeboten<br />

zur Begleitung von Menschen mit hohem Hilfebedarf (Pflegebedürftigkeit,<br />

herausforderndes Verhalten) sowie von<br />

Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung und<br />

einer parallelen psychischen Erkrankung. Hierzu gab und<br />

gibt es Fort- und Weiterbildungsangebote, eine Weiterentwicklung<br />

akademischer Studienangebote ist geplant.<br />

Im letzten Jahr fand mit «Anthropoi Bundesverband: Perspektiven<br />

2030» ein moderierter Prozess für Menschen<br />

mit Assistenzbedarf und Mitarbeitende aus allen MO des<br />

Verbandes mit folgenden Ausgangspunkten statt:<br />

• Erwartungen der MO an ihre Verbandsarbeit.<br />

• Langfristige Aufgaben des Verbandes.<br />

• Strategische Gestaltung der Zusammenarbeit der MO<br />

im Bundesverband.<br />

Das Ergebnis subsumiert sechs Schwerpunktthemen: 1.<br />

Stärkung der anthroposophischen Grundlagen, 2. Mitwirkung<br />

von Menschen mit Assistenzbedarf, 3. Entwicklung<br />

neuer heilpädagogischer und sozialtherapeutischer<br />

Angebote und Zukunftsimpulse, 4. Weiterentwicklung<br />

Socio-political and economic aspects<br />

In Germany inclusion is seen as the most important<br />

way for the state to support and promote people with<br />

disabilities. The federal participation act (Bundesteilhabegesetz,<br />

BTHG) aims to transform the process of<br />

inclusion from an act of welfare provision into a right<br />

of participation. All services will in future depend on<br />

individual needs and will be granted, in each case, in<br />

accordance with a uniform national assessment procedure<br />

that is firmly bound by the political directive to<br />

keep a cap on expenditure.<br />

As well as on the participation act, the attention of the<br />

professional associations is focused on the third care<br />

enhancement act (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG<br />

III), which concerns the area where inclusion assistance<br />

and care come together. A third point of interest is the<br />

reform of the child and youth welfare services and their<br />

adaptation to the concept of inclusion.<br />

The interests of Anthropoi are carried into the public<br />

arena and into the legislative procedures by the Conference<br />

of Special Needs Associations.<br />

Internal aspects<br />

In our particular field we are concerned with developing<br />

ways of helping people who need a high level of<br />

support (people in need of care or with challenging<br />

behaviours) and of people with learning disabilities in<br />

conjunction with a psychiatric disorder. Further training<br />

and professional development courses have been<br />

Foto: Ingeborg Woitsch<br />

Mitgliederversammlung Anthropoi <strong>2016</strong> | General Assembly Anthropoi <strong>2016</strong><br />

34


Berichte | Reports<br />

der beruflichen Bildung, 5. Sozialpolitik, Öffentlichkeitsarbeit,<br />

Lobbyarbeit, 6. Verbesserung der Zusammenarbeit<br />

und Vernetzung.<br />

Mitwirkung von Menschen mit Assistenzbedarf<br />

In vielen Fachbereichen und Regionen, bei Thementagen<br />

und Fortbildungen nimmt die Selbstvertretung von Menschen<br />

mit Assistenzbedarf zunehmend Gestalt an.<br />

Sie sind, je nach Fachbereich, inklusiv mitwirkendende<br />

Mitglieder (FB LebensOrte) oder arbeiten als Delegierte<br />

in einem eigenen Gremium und treffen sich regelmässig<br />

zu gemeinsamen Sitzungen (FB Arbeitsleben).<br />

Zudem ist ihre Mitwirkung in den Regionalkonferenzen<br />

und die Beratung der Vorstände des Bundes- und<br />

des Elternverbands auf Bundesebene gefragt, sie beteiligen<br />

sich aktiv an den mittelpunkt-Seiten der Zeitschrift<br />

‹Punkt und Kreis› sowie an der Veranstaltung<br />

von Bildungsangeboten.<br />

Beitrag zur Entwicklung der anthroposophischen<br />

Bewegung<br />

Seit diesem Jahr beteiligt sich Anthropoi Bundesverband<br />

aktiv an den Jahrestagungen der Anthroposophischen<br />

Gesellschaft in Deutschland.<br />

Für 2017 wird ein gemeinsamer Kongress zu «100 Jahre<br />

anthroposophischer Sozialimpuls» in Bochum vorbereitet.<br />

An gesellschaftlich relevanten Fragestellungen arbeiten<br />

wir zurzeit mit dem Projekt «Zukunftsfähige<br />

Teilhabe am Arbeitsleben: Auf dem Weg in eine Postwachstumsgesellschaft».<br />

Manfred Trautwein, Anthropoi Bundesverband anthroposophisches<br />

Sozialwesen e.V., Bingenheim<br />

Übersetzung aus dem Deutschen: Margot Saar<br />

provided on the topic and there are plans to develop<br />

academic study courses.<br />

Last year Anthropoi organized ‹Perspectives 2030›, a<br />

moderated process for people with special needs and<br />

staff in all of the Association’s MOs, focusing on the<br />

following issues:<br />

• What do the MOs expect of the association?<br />

• Long-term tasks of the association.<br />

• What should the cooperation of MOs within the national<br />

association look like?<br />

The outcome can be divided into six main categories:<br />

1. Strengthening the anthroposophical foundations,<br />

2. Involving people with special needs, 3. Developing<br />

new steps and future impulses in curative education<br />

and social therapy, 4. Continuing to develop vocational<br />

training opportunities, 5. Social policy, publicity, lobbying,<br />

6. Improving cooperation and networking.<br />

Involvement of people with special needs<br />

People with special needs increasingly represent themselves<br />

in their professional fields or regions, during<br />

theme days and professional development opportunities.<br />

They are either inclusively involved members or<br />

work as delegates in a particular committee and come<br />

together in regular meetings.<br />

They act as advisors to the boards of professional and<br />

parents’ associations, contribute to regional conferences,<br />

to ‹Punkt und Kreis› (the German journal for anthroposophical<br />

curative education) and to educational events.<br />

Contributions to the development of the anthroposophical<br />

movement<br />

As from this year, Anthropoi also actively contributes<br />

to the annual conferences of the Anthroposophical<br />

Society in Germany.<br />

A joint congress to celebrate the centenary of the anthroposophical<br />

social impulse is being prepared and<br />

are due to take place in Bochum in 2017.<br />

We are also working on socially relevant questions, at<br />

present under the heading of ‹Sustainable participation<br />

in working life: on the way to a post-growth society›.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

35


Interview<br />

Interview Dora Weisz<br />

Dora Weisz is a certified kindergarten teacher, Group Leader at the Friedel-Eder<br />

School in Munich since 2007, and student at the Rudolf Steiner Institute in Bad<br />

Boll since 2015.<br />

Während meiner staatlichen Schullaufbahn war ich nicht<br />

glücklich, da mir der Überblick und Zusammenhang<br />

fehlten. Dies erlebte ich im Laufe des Praktikums in<br />

einer heilpädagogischen Schule völlig anders und ich<br />

habe seitdem viele Aspekte des anthroposophischen<br />

Ansatzes sehr schätzen gelernt. Vieles davon passt so<br />

gut in mein immer schon gefühltes Weltbild. Jetzt habe<br />

ich eine anthroposophische heilpädagogische Ausbildung<br />

begonnen, die ich sehr schätze. Ich arbeite heute<br />

als Erzieherin an meiner ersten Praktikumsstelle und<br />

bin viel glücklicher, als zu meiner eigenen Schulzeit.<br />

Ich sehe die zukünftigen Aufgaben der Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie darin, die Inklusion so umzusetzen,<br />

dass alle Beteiligten davon profitieren und ein<br />

gemeinsames Miteinander wachsen kann, ohne dass<br />

Benachteiligung und Ausgrenzung geschehen. Ich<br />

denke, dass auch aus der aktuellen Flüchtlingsthematik<br />

umfassende Aufgaben entstehen werden.<br />

Um im Rahmen der anthroposophischen Heilpädagogik arbeiten<br />

zu können, brauche ich vor allem Zeit, Vertrauen<br />

und Unterstützun! Dabei geht es sowohl um meine Zeit<br />

wie auch um die der Klienten und des ganzen Umfelds.<br />

Beim Vertrauen denke ich an Selbstvertrauen, an eine<br />

vertrauensvolle Beziehung zum Klienten und zur Umgebung.<br />

Im Hinblick auf Unterstützung sehe ich die<br />

Notwendigkeit, mir selbst über meine Möglichkeiten<br />

bewusst zu sein, es gibt eine wechselseitige Unterstützung<br />

zwischen dem Klienten und mir als Heilpädagogin<br />

und wir zusammen sind wiederum angewiesen auf die<br />

Hilfe des gesamten Umfelds.<br />

Als gesellschaftliche Aufgabe der Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie sehe ich die Gewährleistung, dass<br />

jeder Mensch mit seiner Persönlichkeit, mit dem was<br />

er mitbringt, mit seinen Stärken und Besonderheiten<br />

ein altersgerechtes, partizipierendes und anerkanntes<br />

Leben führen kann. Ausserdem sollte die individuelle<br />

Lebensgestaltung in der Gesellschaft Geltung<br />

haben und positiv unterstützt werden.<br />

During my public schooling I was unhappy, because<br />

I had no overview or context. In my experience<br />

at a curative education school I discovered<br />

something very different, and have since learned<br />

to appreciate many aspects of the anthroposophic<br />

approach. Much of it fits so well with what<br />

has always been my instinctive worldview. I have<br />

now begun an anthroposophic curative education<br />

training, which I value greatly. I am currently<br />

working as a kindergarten teacher in my first<br />

practice and am so much happier than I was during<br />

my own schooling.<br />

I see the future task of curative education and social<br />

therapy as implementing inclusion in such a way<br />

that everyone involved benefits and a community is<br />

able to grow, without disadvantaging or marginalizing<br />

anyone. I also think that the current refugee<br />

situation will give rise to many related tasks.<br />

In order to work within the framework of anthroposophic<br />

curative education, I need time, trust<br />

and support! By time, I mean my own, as well as<br />

that of my clients and our whole environment.<br />

In terms of trust, I am thinking of trust in myself,<br />

a trusting relationship with my clients, and with<br />

those around me. Regarding support, I see the<br />

necessity of being conscious of my own capacities,<br />

there is a reciprocal support between the<br />

clients and me as curative educator, and we are<br />

both dependent on the help of our environment.<br />

I see the social task of curative education and social<br />

therapy to be to guarantee that all human<br />

beings can lead an age-appropriate, participatory<br />

and recognized life with their own personality,<br />

with whatever they bring to the table, with their<br />

strengths and characteristics. In addition, individual<br />

life choices should be respected and supported<br />

in our society.<br />

Translation from German: Tascha Babitsch<br />

36


Berichte | Reports<br />

La Tutuni in San Salvador<br />

El Salvador<br />

El Salvador<br />

Entstehung und Entwicklung der heilpädagogischen<br />

Arbeit<br />

Seit etwa 1997 ist die Waldorfpädagogik in El Salvador<br />

etabliert. Zuvor gab es immer wieder neue Impulse und<br />

eine kleine Gruppe hegte den innigen Wunsch, eine Waldorfschule<br />

zu gründen. Anfangs kamen Dozentinnen und<br />

Dozenten aus Italien, der Schweiz und Deutschland nach<br />

El Salvador, um Fortbildungen anzubieten.<br />

Inzwischen ist nach diesen ersten anthropsophisch-pädagogischen<br />

Impulsen das heilpädagogische und soziale<br />

Projekt «La Tutuni» entstanden, das von einer Absolventin<br />

des Rudolf-Steiner-Seminars in Bad Boll mit Unterstützung<br />

des gesamten Kurses, der Leitung und der<br />

Lehrerschaft gegründet wurde.<br />

Dies ist ein wichtiger Punkt: Eine Gruppe ganz neu ausgebildeter<br />

Heilpädagogen hat dieses Projekt initiiert<br />

und jahrelang mitgetragen. Daneben wurde das Projekt<br />

durch die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

in Dornach begleitet und ausserdem unterstützt von<br />

vielen HeilpädagogInnen, HeilerzieherInnen oder Freunden<br />

aus deren Reihen. Zurzeit bekommt die Initiative Unterstützung<br />

durch die «Freunde der Erziehungskunst»<br />

und einen Freundeskreis aus Frankreich.<br />

The origins and history of curative education<br />

in El Salvador<br />

Waldorf Education has been established in El Salvador<br />

since 1997. Before that time there had been a small<br />

group of people who felt strongly that they wanted to<br />

found a Waldorf School, and made repeated efforts to<br />

do so. At first, lecturers came from Italy, Switzerland and<br />

Germany in order to offer professional development.<br />

La Tutuni has grown from these initial anthroposophical<br />

and educational impulses. It is a curative education<br />

and social therapy project that was founded<br />

by a graduate of the Rudolf Steiner Seminar in Bad<br />

Boll, with the backing of all other course members,<br />

the course leader and the teachers. It is significant<br />

that a group of newly trained curative teachers initiated<br />

and, for years, continued to carry this project.<br />

Support was also received from the Curative Education<br />

and Social Therapy Council in Dornach and from<br />

many curative teachers and educators or friends of<br />

the movement. At present, the initiative is supported<br />

by the Friends of Rudolf Steiner Education and a<br />

group of friends in France.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

37


Berichte | Reports<br />

Die Kinder<br />

Die Kinder sind im Alter zwischen zwei und zehn Jahren<br />

und werden am Nachmittag betreut. Sie selbst nennen<br />

diesen Ort «La escuelita» (die kleine Schule). La Tutuni<br />

ist nicht nur für die Kinder eine Schule, sondern auch für<br />

uns Erwachsene! Wir alle, die dort arbeiten oder helfen,<br />

können ein Lebenspraktikum in La Tutuni absolvieren.<br />

Hier wird auf eine sehr natürliche und gesunde Art Inklusion<br />

praktiziert.<br />

Die anthroposophische Bewegung in El Salvador<br />

Es gibt zwei Eurythmielehrer in El Salvador, die sich sehr<br />

intensiv für die Verbreitung der Eurythmie in diesem<br />

Land einsetzen, um sie bekannt zu machen und die Menschen<br />

dafür zu begeistern.<br />

Ein Netzwerk anthroposophischer Arbeit ist dort leider<br />

wenig vertreten, allerdings gibt es zumindest einmal monatlich<br />

einen Studienkreis.<br />

Die heutige Situation<br />

In El Salvador gehören der Konsum wie auch der Handel<br />

von Drogen zum Alltag. Das Projekt La Tutuni befindet sich<br />

im Stadtteil Tutunichapa, einem der gefährlichsten Wohnviertel<br />

der Hauptstadt San Salvador. Da die Kriminalität in<br />

dieser Umgebung so hoch ist und um die Anonymität der<br />

Kinder zu schützen, haben wir bewusst darauf geachtet,<br />

das Projekt im eigenen Land nicht bekannt zu machen.<br />

Begonnen haben wir unsere Arbeit in einer Wohnung.<br />

Die Gruppe ist aber in den letzten drei Jahren von 15 auf<br />

29 Kinder gewachsen, sodass zwei weitere Wohnungen<br />

erworben wurden. Es gibt drei verschiedene Gruppen,<br />

deren Kinder zwischen drei und dreizehn Jahren alt sind.<br />

Hier wird viel gelernt: Angefangen vom Zähneputzen und<br />

Händewaschen über den respektvollen Umgang miteinader<br />

bis hin zum Lesen und Schreiben.<br />

Die Eltern sind aktiver geworden und sehr glücklich darüber,<br />

dass La Tutuni nun an fünf Nachmittagen geöffnet ist.<br />

Für die Zukunft wünschen wir uns als Projekt selbständiger<br />

zu werden. Es hindern uns aber vor allem finanzielle<br />

Probleme daran, noch mehr Aktivitäten anzubieten, die<br />

Öffnungszeiten zu erweitern und künstlerische Kurse zu<br />

ermöglichen. Unsere Vision ist es, mit allen an Waldorfpädagogik<br />

und Heilpädagogik interessierten Menschen<br />

im Land zusammen zu arbeiten, die Kräfte zu vereinen<br />

und trotz unterschiedlicher Ideen oder Projekte eine<br />

starke Bewegung zu werden.<br />

The children<br />

The children are between two and ten years old and are<br />

looked after in the afternoons. They call this place La<br />

escuelita (little school). La Tutuni is not only a school<br />

for the children but also for us adults! All who work<br />

or help here are learning for life at La Tutuni, ehre inclusion<br />

is practised in a very natural and healthy way.<br />

The anthroposophical movement in El Salvador<br />

There are two dedicated eurythmy teachers in El Salvador<br />

who do their best to make eurythmy better known<br />

in this country and to awaken people’s interest in it.<br />

Unfortunately there is no real anthroposophical network,<br />

but we have a monthly study group.<br />

The situation today<br />

Drug use and drug dealing are part of everyday life in<br />

El Salvador. La Tutuni is located in Tutunichapa, one of<br />

the most dangerous districts in the capital, San Salvador.<br />

Because the crime rate in this area is so high<br />

and we want to protect the children’s anonymity we<br />

deliberately refrain from advertising our project in this<br />

country. We started our work in one apartment, but<br />

since now that the group has grown from 15 to 29<br />

children over the last three years we have acquired<br />

two more apartments. We have three groups of children<br />

whose ages range from three to thirteen. They are<br />

learning many things, from cleaning their teeth and<br />

washing their hands to being considerate and respecting<br />

each other, as well as reading and writing.<br />

The parents have become more active and are very<br />

pleased that La Tutuni is now open on five afternoons<br />

every week.<br />

Our wish for the future is for our project to become<br />

more independent. It is largely because of a shortage<br />

of money that we are unable to provide more activities,<br />

extend our opening times and offer artistic<br />

courses.<br />

Our vision is to be able to work together with everyone<br />

in this country who is interested in Waldorf and<br />

curative education, to pool our resources and become<br />

a strong movement even if we pursue different ideas<br />

and projects.<br />

Carolina Merino, La Tutuni, San Salvador<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

38


Berichte | Reports<br />

England<br />

In England gibt insgesamt 14 Camphill-Gemeinschaften<br />

(elf Orte für Erwachsene, eine heilpädagogische Schule<br />

und zwei Ausbildungsstätten) und drei unabhängige Einrichtungen.<br />

Die letzteren liegen in der Grafschaft Sussex:<br />

ein Pflegeheim, ein Internat und eine Ausbildungs- und<br />

Arbeitsstätte für Erwachsene, in der es auch eine Theatergesellschaft<br />

gibt.<br />

Die Englische Camphill-Bewegung hat in den letzten<br />

drei Jahren eine sehr kritische Phase durchlaufen, in der<br />

viele regulative, Führungs- und strukturelle Veränderungen<br />

vorherrschten. In Verbindung mit der Abkehr von der<br />

Selbstverwaltung und der Einführung neuer Führungsstrukturen<br />

hat dies zu einer erheblichen Reduzierung<br />

von Lebensgemeinschaften geführt, die jedoch weiterhin<br />

Mitglieder des Camphill-Verbandes sind. Der Verband<br />

ist für den Namen und das Ethos von Camphill verantwortlich,<br />

das von den Idealen der Dreigliederung des<br />

sozialen Organismus, der Anthroposophie, des Christentums<br />

und des gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens<br />

geprägt ist. Darin liegt sowohl eine Herausforderung als<br />

auch eine Ermutigung für die Vielfalt, die weiterhin in der<br />

Englischen Region, 50 Jahre nach dem Todestag von Dr.<br />

Karl König am Ostersonntag 1966, besteht.<br />

Ein weitere Faktor für den Rückgang traditioneller Camphill-Plätze,<br />

in denen das Teilen des Lebens und Schicksals<br />

über 70 Jahre lang ein Leuchtfeuer gewesen ist, ist<br />

zweifellos der Generationswechsel und die Herausforderung,<br />

neue Mitarbeitende zu finden und zu behalten.<br />

Junge Menschen sehen ihre Einstellung nicht mehr unbedingt<br />

als eine lebenslange Berufung an. In diesem<br />

Zusammenhang kämpfen alle Einrichtungen damit,<br />

Schulungen anzubieten, um die anthroposophischen<br />

Werte und Kultur zu vermitteln.<br />

Im September 2015 wurde die Aktionsgruppe «Allianz<br />

für Camphill» gegründet, um über die Vorteile des gemeinschaftlichen<br />

Lebens in Camphill zu informieren und<br />

dafür zu werben. Im Westminster Palast in London fand<br />

eine erfolgreiche Präsentation unter dem Motto «Entscheidung<br />

für intentionale Gemeinschaften» vor Mitgliedern<br />

des Unter- und Oberhauses des Parlaments und<br />

Interessensgruppen für Menschen mit Behinderungen<br />

statt, die die vielen Vorteile von Gemeinschaftsleben<br />

hervorhob. Diese Initiative, der viele Familienangehörige<br />

von Menschen mit Behinderungen angehören, ermutigt<br />

Gemeinschaften, neue Wege der Partnerschaft im Leben<br />

und in der Arbeit mit und nicht an erster Stelle Betreuung<br />

für Menschen mit Hilfebedarf zu finden.<br />

Die schwierige Finanzierungssituation für die Arbeit mit<br />

Menschen mit Behinderungen in allen Altersgruppen<br />

wirkt sich auf sämtliche Organisationen aus und ist ein<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

English Region<br />

In England there are now a total of 14 Camphill<br />

Communities – of which eleven are adult communities,<br />

including one school and two colleges – and<br />

three independent places. The latter are situated in<br />

the counties of Sussex: a care home, a residential<br />

school and a training and work place for adults<br />

which incorporates a theatre company.<br />

The Camphill English Region presents a complex picture<br />

during the past three years dominated by many regulatory,<br />

governance and life structural changes. These<br />

together with a departure from self-management and<br />

the introduction of new management structures have<br />

led to a considerable reduction of places who continue<br />

to be members of the Association of Camphill Communities.<br />

The Association is responsible for the name of<br />

Camphill and its ethos which is inspired by the ideals of<br />

the Threefold Social Order, Anthroposophy, Christianity<br />

and shared living and working. Therein lies both a challenge<br />

and encouragement for the diversity that continues<br />

to exist in the English region 50 years after Dr Karl<br />

Koenig died on Easter Sunday 1966.<br />

Further factors in the reduction of traditional Camphill<br />

places where life and destiny sharing has been<br />

the beacon for over 70 years are no doubt the change<br />

of generation and its challenges to recruit and retain<br />

with ever more challenging role descriptions a new<br />

generation who may no longer see their appointments<br />

as a lifelong vocation. In this connection all places are<br />

struggling to provide the mandatory training as well<br />

as the anthroposophical values and culture.<br />

At the time of writing a further mediation process is taking<br />

place between co-workers of some adult communities,<br />

their managers and trustees in order to preserve<br />

some community elements and to build trust and confidence<br />

in a future where living out of the Association’s<br />

ideals can once more become a visible force.<br />

In September a campaign group ‹Alliance for Camphill›,<br />

was set up to inform and promote the benefits<br />

of Camphill Shared Living communities. A successful<br />

presentation to Members of the Parliament , the Lords<br />

(of the government) and other disability stakeholders<br />

‹Choice for Intentional Community›, highlighting the<br />

many benefits of community in delivering support to<br />

learning disabled adults took place at Westminster Palace<br />

in London. This initiative which has many family<br />

members of people with disabilities, is encouraging<br />

39


Berichte | Reports<br />

Kampf nicht nur für die unabhängigen Einrichtungen,<br />

sondern auch für die Camphill-Initiativen. Im März wurde<br />

die vor 70 Jahren gegründete St. Christopher Schule<br />

von einem überregionalen Pflegeunternehmen infolge<br />

vernichtender Berichte über schlechtes Management<br />

übernommen. Nutley Hall, Philpots Manor und Pericles<br />

verändern sich zusehends und finden innovative Wege,<br />

innerhalb der Grenzen enger Pflegebudgets den Anforderungen<br />

von Kindern und Erwachsenen mit vielfältigen<br />

Bedürfnissen zu genügen.<br />

Im Mai fand zum wiederholten Mal ein Schlichtungsprozess<br />

zwischen Mitarbeitenden einiger Gemeinschaften<br />

für Erwachsene, ihren Managern und den Treuhändern<br />

statt, um übereinstimmende Elemente zu finden und<br />

Vertrauen und Zuversicht für eine Zukunft zu bilden, in<br />

der das Leben aufgrund der Ideale des Verbandes wieder<br />

eine sichtbare Kraft werden kann.<br />

Zurzeit ist es fraglich, ob die Zukunft des Verbandes ACE-<br />

STA (Verband für Anthroposophische Pflege, Pädagogik<br />

und Sozialtherapie), der ursprünglich als Zusammenschluss<br />

der Organisationen in Grossbritannien gegründet<br />

wurde, um bei der freiwilligen Registrierung der Fachkräfte<br />

zu helfen, angesichts seiner Richtungslosigkeit und der<br />

veränderten Umstände weiterhin gewährleistet ist.<br />

communities to find new ways of partnership in life<br />

and work with, rather than primarily care provision for<br />

people of all abilities and support needs.<br />

Securing funding for people with disabilities of all ages<br />

is affecting all organisations and presents a struggle<br />

for the independent places as well as Camphill. In<br />

March St Christopher’ School, which was started 70<br />

years ago in Bristol, was taken over by a national care<br />

company following damning reports of poor management<br />

and huge deficits. Nutley Hall, Philpots Manor<br />

and Pericles continue to adapt and find innovative<br />

ways to meet the needs of children and adults with<br />

diverse needs within the care budget restraints.<br />

At the time of writing the future of ACESTA (Association<br />

for those working with people with complex needs<br />

in Care, Education and Social Therapy out of Anthroposophy)<br />

which was initially founded to unite members<br />

and organisations of the United Kingdom and aid<br />

voluntary registration of its health professionals, is<br />

unclear due to lack of direction and changed circumstances<br />

regarding the registration.<br />

Brigitte van Rooij, The Mount Camphill Community,<br />

Wadhurst<br />

Translation from English: Christian von Arnim<br />

40


Berichte | Reports<br />

Finnland<br />

Finnland gehört zu den nördlichsten Ländern Europas. Es<br />

leben ca. 5,3 Mill. Einwohner auf 338.000 Quadratkilometern<br />

und das Land ist somit eines der dünnsten besiedelten<br />

Länder Europas.<br />

Anfänge der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

Die anthroposophische Heilpädagogik hat sich hier in<br />

drei Wellen entwickelt. Die ersten Schritte wurden durch<br />

das Ehepaar Donner im Jahr 1928 unternommen. Aus<br />

unbekanntem Grund musste das Heim im Jahr 1932 aufgelöst<br />

werden. Ein neuer Anfang wurde durch das Ehepaar<br />

Berthold im Jahr 1936 gemacht, doch auch diese<br />

Einrichtung musste 1942, dieses Mal kriegsbedingt, wieder<br />

geschlossen werden. Die dritte und dann dauerhafte<br />

Verankerung der Heilpädagogik erfolgte 1956 durch<br />

die Heilpädagogin Carita Stenbäck mit der Begründung<br />

von Sylvia-koti in Hyvinkää, die im Jahre 1970 nach Lahti<br />

umzog. Heute gibt es 13 heilpädagogische und sozialtherapeutische<br />

Einrichtungen (Schulen, Berufsschule,<br />

Heime für Kinder und für Jugendliche und Erwachsene).<br />

Sie sind zerstreut hauptsächlich in der südlichen Hälfte<br />

des Landes. Die meisten Heime sind klein. Die ältesten,<br />

Sylvia-koti und Marjatta-koulu, sind die grössten, mit ca.<br />

50-80 Kindern und Jugendlichen.<br />

Die sozialpolitische und wirtschaftliche Situation<br />

Mit der Gründung und dem Wachstum von Sylvia-koti<br />

wurde es möglich, eine heilpädagogische Ausbildung<br />

anzubieten, die durch die Gründung der Marjatta-Schule<br />

in Helsinki 1972 mit einem zweiten heilpädagogischen<br />

Seminar ergänzt wurde. Seit der Änderung der Schulgesetze<br />

1999 besteht diese Möglichkeit nicht mehr, aber<br />

es konnte eine Grundausbildung unter dem heilpädagogischen<br />

Verein Finnland erhalten werden.<br />

Eine grosse Aufgabe waren in den letzten Jahren die<br />

Bemühungen um eine staatliche Anerkennung von<br />

heilpädagogischen Lehrern. Nach einer Konzeptionsphase<br />

in Abstimmung mit dem Schulministerium<br />

erwarteten wir die schriftliche Erlaubnis zur anerkannten<br />

heilpädagogischen Lehrer-Ausbildung in Kooperation<br />

mit der Snellman-Hochschule, was aber leider<br />

nicht gelang. Da demnächst in den heilpädagogischen<br />

Schulen und den sozialtherapeutischen Einrichtungen<br />

ein Generationenwechsel ansteht, besteht in diesen<br />

Bereichen ein hoher Bedarf an Fachkräften, während<br />

in den Schulheimen aufgrund der Inklusionsbestre-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Finland<br />

Finland is one of the northernmost – and most sparsely<br />

populated – countries in Europe: around 5.3 million<br />

people live here in a space of 338,000 square kilometres.<br />

The origins of anthroposophical curative<br />

education<br />

Anthroposophical curative education has developed<br />

in three stages. The first steps were taken in 1928 by<br />

Mr and Mrs Donner. For unknown reasons the home<br />

they started had to be closed down in 1932. Another<br />

couple, the Bertholds, then made a new beginning<br />

in 1936, but their centre also had to close down,<br />

this time because of the war. The third and permanent<br />

establishment of curative education occurred in 1956,<br />

thanks to the curative teacher Carita Stenbäck who<br />

founded Sylvia-koti in Hyvinkää, a centre that would<br />

move to Lahti in 1970. Today there are thirteen centres<br />

for curative education and social therapy (schools,<br />

vocational colleges and residential homes for children,<br />

adolescents and adults.) They are mostly scattered<br />

around the southern half of the country and most<br />

of them are quite small. The oldest centres, Sylvia-koti<br />

and Marjatta-koulu, are also the largest, providing care<br />

for 50 to 80 children and young people<br />

Finland’s socio-political and economic situation<br />

With the foundation and continuing growth of Sylviakoti<br />

the possibility arose for a training course in curative<br />

education to which a second training seminar was<br />

added when the Marjatta-School was founded in Helsinki<br />

in 1972. Since the laws on education were amended<br />

in 1999 this provision is no longer available, but<br />

the curative education association in Finland can still<br />

offer basic training.<br />

One of the important steps we took in recent years<br />

was to apply for curative teachers to gain state recognition.<br />

After a conceptual phase that was agreed with<br />

the board of education we expected to receive written<br />

permission to conduct a recognized curative teacher<br />

training in cooperation with the Snellman College, but<br />

unfortunately this did not happen. Because we are facing<br />

a generation change in our curative schools and<br />

social therapy centres, we urgently need specialist<br />

staff. The number of children attending our boarding<br />

schools, on the other hand, has dropped massively because<br />

of the inclusion policy. This involved a big reduction<br />

in incoming for our children’s homes.<br />

41


Berichte | Reports<br />

bungen immer weniger Kinder zu betreuen sind. Es ist<br />

für die Heime ein grosser wirtschaftlicher Verlust.<br />

Auch in der beruflichen Aus- und Weiterbildung führt<br />

die Inklusionsbewegung zu einem Rückgang der Schülerzahlen,<br />

indem die Sozialbeamten den weiteren Prozess<br />

steuern. Die freie Berufsschule Ristola-yhteisö war<br />

sogar von der Weiterbildungsliste gestrichen worden und<br />

es bestand keine Wahl mehr für die Jugendlichen, was<br />

gegen das Recht auf Selbstbestimmung verstösst und<br />

mithilfe von Anwälten eingefordert wird.<br />

Ähnliche Entwicklungen bestehen im Bereich des Wohnens,<br />

was auch hier zu wirtschaftlichen Engpässen führt.<br />

Insgesamt ist die Situation in Finnland ist sehr schwierig,<br />

was sich natürlich auch in der Behindertenhilfe spiegelt.<br />

In nächster Zeit steht eine Überarbeitung der Richtlinien<br />

unserer Arbeit im Hinblick auf die Zukunft an, um die<br />

nächsten Schritte angesichts der Flut von neuen Gesetzen<br />

und Reglements im Sozial- und Schulbereich planen<br />

zu können. Dabei sollen einerseits die Grundlagen unserer<br />

anthroposophischen Arbeit erhalten bleiben, um die<br />

Identität zu bewahren und andererseits die staatlichen<br />

Auflagen erfüllt werden, um wettbewerbsfähig zu sein.<br />

Bis August <strong>2016</strong> soll jede Schule nach staatlichen Lehrplanvorgaben<br />

einen eigenen Lehrplan entwickeln. Die<br />

heilpädagogischen Schulen haben aufgrund des Konzepts<br />

der Individualität bei der Formulierung von Lehrzielen<br />

und -wegen dabei gute Möglichkeiten, nach dem<br />

anthroposophischen Menschenbild zu arbeiten und die<br />

anthroposophische Pädagogik bewusst in die Zukunft zu<br />

tragen. Um im Umfeld Bewusstsein für unsere charakteristischen<br />

Konzepte zu wecken, bieten wir seit einigen<br />

Jahren monatlich im heilpädagogischen Verein öffentliche<br />

Arbeitsabende zur anthroposophischen Grundlagenarbeit<br />

an. Dabei konnten wir bemerken, wie wichtig die<br />

inhaltliche Arbeit ist, um Kraft zu gewinnen und bei der<br />

Flut von neuen Gesetzen und Regeln durchzuhalten und<br />

nicht die Identität zu verlieren.<br />

Entwicklungsmotive für die Zukunft<br />

Die Zusammenarbeit mit der Poliklinik und den Sozialbeamten<br />

ist eng und regelmässig. Die Psychologen<br />

schätzen die Zusammenarbeit mit den heilpädagogischen<br />

Einrichtungen sehr und sehen sie als wertvolle<br />

Bereicherung der Sonderpädagogik in Finnland. Um diesen<br />

guten Ruf zu halten, brauchen wir in den nächsten<br />

Jahren neue, begeisterte Heilpädagogen und Sozialtherapeuten.<br />

Wenn die grossen Aufgaben der Lehrplangestaltung<br />

bewältigt sind, können die Gespräche zu<br />

As a result of the inclusion movement pupil numbers in<br />

our vocational training and further training courses are<br />

also going down, now that the various authorities are<br />

taking control of this process. Our independent vocational<br />

college, Ristola-yhteisö, was even removed from<br />

the list of further training colleges, which means that<br />

young people no longer have that choice. This impinges<br />

on their right of self-determination and we are proceeding<br />

against this decision with the help of legal advisors.<br />

We see similar developments in the residential centres,<br />

leading to financial constraints there too. The economic<br />

situation in Finland is very difficult as it is and this is, of<br />

course, reflected in the work with people with disabilities.<br />

We need to revise our working guidelines shortly as we<br />

look towards the future, so that we can plan our next<br />

steps, seeing that the social and educational spheres<br />

are being flooded with new laws and regulations. We<br />

are determined to retain the foundations of our anthroposophical<br />

work and protect our identity while we<br />

do what we can to meet state requirements in order to<br />

remain competitive.<br />

By August <strong>2016</strong> each school has to draft its own curriculum<br />

in accordance with official directives. Because<br />

of their individuality principle the curative schools<br />

have the chance to formulate their aims and objectives,<br />

which are based on the anthroposophical image<br />

of the human being, and carry anthroposophical education<br />

into the future. The curative association has, for<br />

some years now, organized monthly open evenings to<br />

call attention to our particular approach and explain<br />

the basics of anthroposophy. We have realized how<br />

important this work is, how it gives us new strength to<br />

persevere in the face of all the new laws and regulations<br />

and to retain our identity.<br />

Developmental motifs<br />

We are in close and regular cooperation with the polyclinic<br />

and the social authorities. Psychologists appreciate<br />

working with the curative education centres<br />

and recognize the important contribution these centres<br />

make to special-needs education in Finland. If we<br />

want to keep our good reputation we need to continue<br />

the discussion of training questions and pool all<br />

our resources in Finland in order to achieve a state recognized<br />

qualification. We have some ideas, but they<br />

need to become more concrete and practicable. We are<br />

setting our hopes on an enthusiastic younger generation<br />

and we are seeing the first promising signs.<br />

42


Ausbildungsfragen weitergeführt werden, um alle Kräfte<br />

in ganz Finnland zu bündeln, um einen Weg zu einem<br />

staatlichen Abschluss zu finden. Dazu gibt es bereits<br />

Gedanken, die aber noch konkretisiert und praxistauglich<br />

gemacht werden müssen. Wir hoffen auf eine neue<br />

begeisterte Generation. Es sind schon Merkmale da.<br />

Leni Knutar, Suomen hoitopedagoginen yhdistys ry,<br />

Helsinki<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Frankreich<br />

France<br />

Theaterspiel | Theatre<br />

Es gibt insgesamt acht anthroposophisch geprägte heilpädagogische<br />

und sozialtherapeutische Einrichtungen<br />

in Frankreich. In drei Einrichtungen werden Kinder, Jugendliche<br />

und junge Erwachsene zwischen drei und fünfundzwanzig<br />

Jahren betreut. In fünf Organisationen leben<br />

Erwachsene, die über zwanzig Jahre alt sind.<br />

Die 205 Kinder werden von 149 Mitarbeitenden und<br />

etwa 165 Erwachsene von 107 Betreuerinnen und Betreuern<br />

in ihrem Alltag begleitet, sodass in Frankreich<br />

insgesamt 256 Mitarbeitende für 371 Kinder und Betreute<br />

da sind.<br />

Sozialpolitische und wirtschaftliche Einflüsse<br />

Im Laufe der letzten Jahre hat sich die französische Sozialpolitik<br />

zunehmend bürokratisiert, was zu mehr und<br />

vielfach aufgeblähten Verwaltungsabläufen führt. Es zeigen<br />

sich schon jetzt signifikante Folgen, wie beispielsweise<br />

Engpässe in den Budgets.<br />

Zurzeit sind die wichtigsten Fragen die folgenden Punkte:<br />

• Eine Lösung für die älteren Personen finden.<br />

• In allen Einrichtungen soll eine weiterführende Fortbildung<br />

etabliert werden, um die anthroposophisch fundierte<br />

heilpädagogische und sozialtherapeutische<br />

Fachkompetenz zu stärken. Vor allem beschäftigt uns<br />

die Bildung der Jugendlichen, Erwachsenen und Menschen,<br />

die mit einer psychischen Behinderung leben.<br />

• Es zeichnet sich schon jetzt ein Generationenwechsel<br />

bei den Erziehern, den Direktoren und den Mitgliedern<br />

des Verwaltungsrates ab. Dies gilt es wahrzunehmen<br />

und aufmerksam umzusetzen.<br />

• Wir stehen vor grossen Veränderungen und sehen die<br />

Herausforderung und Notwendigkeit, uns kompetent<br />

für die Zukunft zu positionieren.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

In France we have eight anthroposophically oriented<br />

centres for curative education and social therapy.<br />

Three of them take in children and young adults between<br />

the ages of three and 25 years. The other five<br />

organizations are for adults over twenty.<br />

There are altogether 149 caregivers supporting 205<br />

children with special needs in their daily lives and 107<br />

caregivers for 165 adults. In total 256 people are looking<br />

after 371 children and adults with special needs.<br />

Socio-political and economic influences<br />

French social policy has become increasingly bureaucratic<br />

in recent years and this has led to ever more and<br />

often excessive administrative procedures. This has<br />

far-reaching consequences which are becoming apparent<br />

now, for instance in reduced budgets.<br />

The following are the most urgent questions at present:<br />

• Finding a solution for the situation of the elderly.<br />

• Introducing further training in all institutions in order<br />

to strengthen the competences that are specific to anthroposophical<br />

curative education and social therapy.<br />

We are focusing particularly on the education of young<br />

people, adults and people with psychiatric disorders.<br />

• We are already observing the generational transition<br />

among our educators, managers and board members.<br />

This is a process that we need to be aware of and actively<br />

guide.<br />

• Last but not least, we are facing important changes<br />

generally and we see it as a particular challenge and<br />

necessity to position ourselves in a way that allows<br />

us to go competently towards the future.<br />

Magali Bourcart, Association le Champ de la Croix, Orbey<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

43


Berichte | Reports<br />

Georgien | Georgia<br />

In Georgien gibt es zwei spezielle Schulen für taubstumme<br />

und blinde Kinder, doch es existieren keine staatlichen<br />

Schulen für Kinder mit mentalen Störungen. Diese<br />

Kinder befinden sich in Tageszentren, die von NGOs gegründet<br />

wurden und heute staatlich finanziert sind. Insgesamt<br />

gibt es 34 Tageszentren für Kinder bis 18 Jahre<br />

(737). Für Menschen mit Behinderung die über 18 Jahre<br />

alt sind, gibt es 21 Tageszentren (507 Menschen).<br />

Drei Organisationen davon sind gemeinnützige, staatsunabhängige<br />

anthroposophische Initiativen:<br />

1. Das Zentrum für freie Pädagogik in Tbilissi betreut 95<br />

Kinder und Jugendliche im Alter von eins bis achtzehn<br />

Jahren mit einem ganzheitlichen, künstlerisch-therapeutischen<br />

Ansatz. Es betreibt eine Frühförderstelle, den<br />

heilpädagogischen Kindergarten Mseschina, die heilpädagogische<br />

Michaelschule und ein Tageszentrum. Zur<br />

beruflichen Vorbereitung gibt es das Artstudio (Mosaik)<br />

und unterschiedliche Werkstätten, im psycho-pädagogischen<br />

Rehabilitationszentrum finden ambulante Beratungen<br />

statt. Ausserdem besteht die Möglichkeit zur<br />

Ausbildung an einem Heilpädagogischen Seminar.<br />

2. Im Haus für Sozialtherapie leben 55 Menschen mit Behinderung,<br />

die in sieben Werkstätten beschäftigt sind,<br />

es gibt ein sozialtherapeutisches Seminar und den Verlag<br />

«Azmko», in dem anthroposophische Literatur in georgischer<br />

Sprache erscheint.<br />

3. Die Camphill-Gemeinschaft «Kedeli» befindet sich in<br />

einem malerischen Ort in Kachetien (Ostgeorgien). Hier<br />

wohnen 22 Benefiziare, Absolventen der Michaelschule,<br />

die in der Bäckerei oder in anderen Werkstätten arbeiten.<br />

Alle drei Einrichtungen stehen in aktiver Kooperation mit<br />

den Universitäten, Ministerien für Ausbildung und der<br />

Sozialen Fürsorge. Studierende der Fakultät für Psychologie<br />

machen in diesen Einrichtungen das professionelle<br />

Praktikum und es ist geplant, dass die Schülerinnen und<br />

Schüler der Waldorfschule hier ein soziales Praktikum<br />

absolvieren.<br />

Die sozialpolitische und wirtschaftliche Situation<br />

Im Jahr 1991 hatte Georgien wesentliche wirtschaftliche<br />

Schwierigkeiten. Es gab kein Gas, kein Strom, keine Heizung.<br />

Der öffentliche Transport funktionierte nicht. Für<br />

die sozialen Einrichtungen gab es überhaupt keine Finanzierung,<br />

nur die Hilfe von Freunden. Doch der grosse<br />

Enthusiasmus, der Wunsch zu arbeiten, die anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie zu entwickeln<br />

Michaelschule | Michael School<br />

Georgia has two special schools, one for deaf-mute<br />

children and one for blind children, but no state schools<br />

for children with learning disabilities. Such children attend<br />

day-centres which were originally founded by<br />

NGOs and are now state-funded. All in all there are 34<br />

day-centres for children up to the age of 18 (737) and<br />

21 day-centres for people with special needs who are<br />

older than 18 (507).<br />

Three of these centres are independent anthroposophical<br />

charities:<br />

1. The Centre for Independent Education in Tbilisi caters<br />

for 95 children and adolescents from one to eighteen<br />

years, applying a holistic and artistic-therapeutic<br />

approach. It includes an early years’ support centre, a<br />

kindergarten for special-needs children (Msechina), the<br />

Michael School for curative education and a day-centre.<br />

Vocational training is provided by the art studio (Mosaik)<br />

and various other workshops. A psychoeducational<br />

rehabilitation centre provides counselling and there is<br />

also a training seminar for curative teachers.<br />

2. 55 people with disabilities live in the Social Therapy<br />

House which has seven workshops. It includes a Social<br />

Therapy training course and ‹Azmko Press› which publishes<br />

anthroposophical books in the Georgian language.<br />

3. ‹Kedeli› is a Camphill community in the picturesque<br />

region of Kakheti (Eastern Georgia). The twenty-two<br />

adults with special needs who live here are former pupils<br />

of the Michael School. They work in the bakery and<br />

in other workshops.<br />

All three centres work in cooperation with the universities<br />

and the ministries of education and social welfare.<br />

Students of psychology find practical work placements in<br />

these centres and there are plans to make it possible for<br />

Waldorf pupils to do their social work experience there.<br />

44


Berichte | Reports<br />

und natürlich den Kindern zu helfen, war immer da. Am<br />

meisten betroffen waren die Kinder aus den armen, sozial<br />

ungeschützten Familien, für welche die Mahlzeiten in<br />

diesen Einrichtungen manchmal die einzige Möglichkeit<br />

war, Essen zu bekommen.<br />

Heute erhält jeder Leistungsempfänger vom Staat zehn<br />

Euro pro Monat. Von diesem Geld sollen die Gehälter für<br />

Pädagogen sowie alle andere Kosten der Schule gedeckt<br />

werden. Die Eltern können meist keinen Beitrag leisten,<br />

weil alle diese Familien arm sind.<br />

Entwicklungen und Netzwerkarbeit<br />

Ab 1991 und bis zum heutigen Tag ist die anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie in Georgien<br />

in Entstehung und ringt um die eigene Identität. Es ist<br />

grundsätzlich wichtig, in der schnell lebigen und modernen<br />

Welt die anthroposophischen Werte zu erhalten und<br />

doch allen Anforderungen der Zeit gerecht zu werden, die<br />

Ansprüche des Ministeriums für Ausbildung zu berücksichtigen<br />

und den eigenen Prinzipien treu zu bleiben. Erschwert<br />

wird dies dadurch, dass es in der georgischen<br />

Gesetzgebung keinen Begriff für eine alternative Pädagogik<br />

gibt und unsere Positionen immer wieder verdeutlicht<br />

werden müssen.<br />

Im Jahre 2011 wurde in Georgien ein Kongress für Menschen<br />

mit Behinderung durchgeführt. Im April <strong>2016</strong> hat<br />

die fünfte Internationale Konferenz für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie anlässlich des 25-jährigen Bestehens<br />

der Michaelschule in Tbilissi stattgefunden, an der<br />

Gäste aus der Schweiz, Deutschland, Russland, Ukraine,<br />

Armenien, der Türkei und Vertreter von Ministerien der<br />

Ausbildung und der Sozialen Fürsorge teilgenommen<br />

haben. Das Zentrum für freie Pädagogik und das Haus<br />

für Sozialtherapie sind Mitglieder des internationalen<br />

Projektes KRUG (Ausbildungsnetzwerk in Kirgisien, Russland,<br />

Ukraine, Georgien).<br />

Der Verein für seelenpflegebedürftige Menschen ist Mitglied<br />

des internationalen Kreises für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie. In Georgien konnten sich die Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie nur dank der Hilfe und finanziellen<br />

Unterstützung der Freunde aus Deutschland,<br />

der Schweiz und Belgien entwickeln, die bis heute fortgesetzt<br />

wird. Ohne Hilfe unserer Partnerorganisationen<br />

und den «Freunden der Erziehungskunst» würde unsere<br />

Arbeit nicht gelingen.<br />

Dr. Marina Shostak, Zentrum für Freie Pädagogik e.V., Tbilisi<br />

Übersetzung aus dem Deutschen: Margot Saar<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

The socio-political and economic situation<br />

In 1991 Georgia was facing considerable economic difficulties.<br />

There was no gas, electricity or heating and<br />

public transport was not working. Social institutions received<br />

no money at all but had to rely on help from<br />

friends. There has nevertheless always been great enthusiasm<br />

and the wish to work and to develop anthroposophical<br />

curative education and social therapy and, of<br />

course, the will to help the children with special needs.<br />

The situation was worst for children from poor, socially<br />

vulnerable families. The meals they were given in these<br />

centres were sometimes the only food they could get.<br />

Today, everyone who is entitled to public benefits receives<br />

ten Euros per month from the state. This money<br />

has to cover the teachers’ salaries and all other school<br />

expenses. Most parents are too poor to be able to pay<br />

school fees.<br />

Developments and networking<br />

Anthroposophical curative education and social therapy<br />

started in Georgia in 1991 and is still struggling to establish<br />

its own identity. In our fast-paced modern world<br />

it is very important to retain the anthroposophical values<br />

and remain faithful to our principles while trying<br />

to meet the needs of our time and to accommodate the<br />

demands of the ministry for education. This situation is<br />

not helped by the fact that Georgian legislation does<br />

not include the concept of alternative education and<br />

that we therefore keep having to explain our approach.<br />

In 2011 Georgia hosted a congress for people with disabilities.<br />

In April <strong>2016</strong> the fifth International Curative<br />

Education and Social Therapy Conference took place<br />

here in celebration of the 25th anniversary of the Michael<br />

School in Tbilisi. Guests from Switzerland, Germany,<br />

Russia, Ukraine, Armenia and Turkey attended the<br />

conference, as did representatives of the ministries for<br />

education and social welfare. The centre for independent<br />

education and the Social Therapy House are both<br />

members of the international KRUG project (a training<br />

network spanning Kirgizia, Russia, Ukraine, Georgia).<br />

The association for people with special needs is a member<br />

of the International Curative Education and Social<br />

Therapy Council. We owe it to the ongoing help and<br />

financial support from friends in Germany, Switzerland<br />

and Belgium that it was possible to develop curative<br />

education and social therapy in Georgia. Our work could<br />

not flourish without the help from our partner organizations<br />

and the Friends of Rudolf Steiner Education.<br />

45


Interview<br />

Interview Guranda Achelashvili<br />

Guranda Achelashvili, born 1986. Education: Psychology, management in the field of education. Workplace: Rehabilitation<br />

daycare centre for adults with problems of mental and physical development.<br />

Guranda Achelashvili is a student on the basic courses in social therapy run by the Association for People in<br />

Need of Special Care (Tbilisi, Georgia). She is married and has three children.<br />

Ich habe eine sehr positive Einstellung zur anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie.<br />

Diese Weltanschauung beantwortet viele Fragen, die<br />

sich mir stellen. Ich arbeite in einer Tagesstätte für<br />

Menschen mit Behinderungen und dort wurde mir<br />

empfohlen, den Grundkurs für Sozialtherapie zu besuchen,<br />

um mich besser zu qualifizieren.<br />

Die zukünftigen Aufgaben der Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie sind die Integration von Menschen<br />

mit Hilfebedarf, die Entwicklung ihrer Fähigkeiten<br />

und die Teilhabe am Arbeitsprozess, sodass sie<br />

Nützliches produzieren können. Ebenso geht es<br />

darum, die stereotypen Bilder über diese Menschen<br />

in der Gesellschaft zu verändern und aufzuzeigen,<br />

dass sie sich wie jeder andere Mensch<br />

auch entwickeln können.<br />

Ich bin Studierende an einem Grundkurs für Sozialtherapie.<br />

Die theoretischen, praktischen und künstlerischen<br />

Teile geben mir eine sehr gute Grundlage für<br />

meine eigene Arbeit mit Menschen mit Hilfebedarf.<br />

Es wäre ein Gewinn, andere Länder zu besuchen und<br />

dort die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen<br />

kennenzulernen. Es wäre auch hilfreich, dort an<br />

Kursen und Seminaren teilzunehmen. Das bedarf<br />

natürlich der Finanzierung und es wäre schön,<br />

wenn es eine Stiftung gäbe, die es Absolventen des<br />

Grundkurses ermöglicht, sich weiter zu entwickeln.<br />

In der Gesellschaft, in der ich lebe, muss noch vieles<br />

getan werden, um die soziale Einstellung gegenüber<br />

Menschen mit Hilfebedarf zu verändern. Es<br />

gibt Familien, die ihre behinderten Mitglieder verstecken,<br />

weil sie sich dafür schämen. Die Aufgabe<br />

der Heilpädagogik und Sozialtherapie ist es, diese<br />

Menschen zu unterstützen, damit sie echte Mitglieder<br />

unserer Gesellschaft werden können.<br />

I have a very positive attitude full of trust towards<br />

anthroposophical curative education and<br />

social therapy. This worldview clearly answers the<br />

questions I have.<br />

The future tasks of anthroposophical curative education<br />

and social therapy are the integration of<br />

people in need of special care, development of<br />

their abilities, engaging them in the work process<br />

so that they can make useful products,<br />

changing the social stereotypes of these people,<br />

showing that they can develop like any other<br />

human being.<br />

I am a student on the basic course in social therapy.<br />

The theoretical, practical and artistic parts of<br />

this course provide very good foundations for<br />

my independent work with people in need of<br />

special care. It would be very helpful for me to<br />

visit other countries and see the work of people<br />

with disabilities there.<br />

It would also be useful to participate in courses and<br />

workshops in other countries. This, of course, requires<br />

finance and it would be good if a foundation<br />

could be set up that would help graduates of<br />

the basic course in their further development.<br />

I work in a daycare centre for people with disabilities<br />

where it was suggested to me that I attend<br />

the basic courses in social therapy in order to<br />

raise my qualification level.<br />

In the society where I live, much has to be done in<br />

order to change social attitudes towards people in<br />

need of special care. There are families that hide<br />

their members with disabilities as they are ashamed<br />

of them. The task of anthroposophical curative education<br />

and social therapy is to enable these people<br />

to become full members of our society.<br />

Translation from English: Christian von Arnim<br />

46


Berichte | Reports<br />

Indien<br />

India<br />

Der Impuls der Heilpädagogik und Sozialtherapie existiert<br />

in Indien schon seit vielen Jahren. Vom ersten in<br />

England ausgebildeten heilpädagogischen Therapeuten<br />

bis zu den vielen heute existierenden Zentren ist es eine<br />

Reise mit ausserordentlichen Lern- und Entwicklungserfahrungen<br />

gewesen, sowohl aus der Perspektive des Einzelnen<br />

als auch der Gemeinschaft. Die Anthroposophie<br />

hat das Leben vieler Menschen berührt, andere sind<br />

immer noch auf der Suche, ihre Bedeutung zu verstehen.<br />

Spiritualität gehört als eine uralte Tradition zu Indien<br />

und die Anthroposophie bietet einen Weg, diese Spiritualität<br />

durch das Verständnis des eigenen inneren Wesens<br />

wieder zu entzünden.<br />

Heute hat Indien 13 etablierte Zentren, die im Bereich<br />

der Heilpädagogik und Sozialtherapie arbeiten, drei von<br />

ihnen ausschliesslich sozialtherapeutisch. Es gibt fast<br />

50-60 Menschen die hier tätig sind und Dienste für Menschen<br />

mit Behinderungen anbieten, u.a. Heilpädagogen,<br />

Sozialtherapeuten, anthroposophische Ärzte, Therapeuten<br />

für rhythmische Massage und Eurythmisten.<br />

Die Bewegung konzentriert sich eher in Südindien mit<br />

Chennai als dem Zentrum der Initiativen. Hier gibt es<br />

viele fortlaufende Aktivitäten auf diesem Arbeitsgebiet<br />

und eine grosse Anzahl ausgebildeter Heilpädagogen<br />

kommt aus dieser Region. Auch in den Städten Bangalore,<br />

Pune, Goa und Mumbai finden sich weitere heilpädagogische<br />

und sozialtherapeutische Zentren.<br />

Der Grundkurs für anthroposophische Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie startete 2005 in Bangalore. Er ist nun<br />

in seinem dritten Durchlauf und ein Keim für viele andere<br />

Initiativen geworden. Er bietet seinen Studierenden eine<br />

Ausbildung, die Gelegenheit gemeinsam zu studieren,<br />

gemeinsam zu wachsen und, am wichtigsten, den Impuls<br />

in die Welt zu tragen.<br />

In den letzten Jahren fand eine enorme Ausbreitung<br />

statt, besonders auf dem Gebiet der Heilpädagogik.<br />

Viele heilpädagogische und integrative Zentren sind eröffnet<br />

worden. Die Schulen verstehen, wie wichtig eine<br />

Ausbildung ist und regen ihre Mitarbeitenden zur Teilnahme<br />

an, sodass sie ein tieferes Verständnis der Arbeit<br />

und der Anthroposophie erlangen. Die meisten Personen<br />

werden im Grundkurs für anthroposophische Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie ausgebildet, der in der Gemeinschaft<br />

«Freunde des Camphill Indien» in Bangalore<br />

(Südindien) angeboten wird. Einige Kollegen haben ihre<br />

The Curative Education and Social Therapy impulse has<br />

existed in India for quite a few years. From the first<br />

Curative therapist trained in England many years ago<br />

to the many centres existing today, this journey has<br />

been one of exceptional learning and development,<br />

both from an individual as well as from a community-based<br />

perspective. Anthroposophy has touched the<br />

lives of many and others are still seeking to understand<br />

its meaning. Spirituality has been engrained in India<br />

as an ancient tradition and Anthroposophy has offered<br />

a path to reignite this spirituality by understanding<br />

one’s Inner Being as well as recognising the other as a<br />

Human Being.<br />

Today, India has 13 established Centres working across<br />

the field of Curative Education and Social Therapy,<br />

three of which are exclusively working with Social Therapy.<br />

There are between 50-60 people working in the<br />

field and offering services to people with disabilities;<br />

these include Curative Education Teachers, Social Therapy<br />

workers, Anthroposophical doctors, Rhythmical<br />

Massage Therapists and Eurythmists.<br />

The movement is concentrated more in southern India,<br />

with Chennai being the current hub of activity. There are<br />

many ongoing activities and opportunities in the area of<br />

work, and a large number of trained Curative Educators<br />

come from this region. The cities where Anthroposophical<br />

Curative Education and Social Therapy can be found<br />

are Chennai, Bangalore, Pune, Goa, Mumbai.<br />

The Foundation Course in Anthroposophical Curative<br />

Education and Social Therapy started in Bangalore in<br />

the year 2005. It has become the seed for many other<br />

initiatives. It offers its students training, an opportunity<br />

to study together, to grow together and most important,<br />

to take the impulse out into the world.<br />

The past few years have seen a tremendous growth<br />

in the field, especially in the field of Curative Education.<br />

Many Curative centres and Integrated Centres<br />

have opened. The schools understand the importance<br />

of Training and they encourage their staff to attend<br />

courses so that they get a deeper understanding of<br />

the work as well as of Anthroposophy. Most people<br />

are currently being trained through the Foundation<br />

Course in Anthroposophical Curative Education<br />

and Social Therapy, which is being offered at the Friends<br />

of Camphill India community based in Bangalore<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

47


Berichte | Reports<br />

Ausbildung in England und den USA absolviert und sind<br />

zurückgekehrt, um in diesem Bereich zu arbeiten. Es gibt<br />

auch ein Seminar für Waldorfpädagogik, das ein fundiertes<br />

Verständnis der Anthroposophie zusammen mit Aspekten<br />

der kindlichen Entwicklung und eine Einführung<br />

in die künstlerische Arbeit mit Kindern vermittelt. Viele<br />

Lehrer besuchen dieses Seminar, um ein besseres Verständnis<br />

der kindlichen Entwicklung zu erwerben.<br />

Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

sind heute im Hinblick auf die Inklusion eine wichtige<br />

Voraussetzung in Indien, denn es mangelt gegenüber<br />

Menschen mit Behinderungen noch immer an Akzeptanz.<br />

Die Pädagogik und die Lebensweise, die diese<br />

Einrichtungen bieten, eröffnen ihnen Möglichkeiten,<br />

akzeptiert und als Menschen behandelt zu werden.<br />

Der Ansatz fördert Fürsorge, Liebe, Gemeinsamkeit und<br />

Respekt in der Gesellschaft und behandelt jeden als<br />

gleichwertig. Heilpädagogik und Sozialtherapie sind<br />

notwendig, da sie Kindern und Erwachsenen Schönheit<br />

und Ruhe in einer Zeit bringen, in der die sozialen Systeme<br />

sich tiefgreifend verändern. Noch an traditionelle<br />

Anschauungen gebunden, wird die Gesellschaft immer<br />

korrupter und verliert ihre Werte und moralischen Vorstellungen.<br />

Indem Kindern ein rhythmisches, mit Farbe,<br />

Musik, Kunst und Heilung ausgefülltes Leben angeboten<br />

wird, geben wir ihnen die Möglichkeit, eine Kindheit zu<br />

erfahren, wie sie sein sollte.<br />

Wir haben jedoch immer noch Fragen, wie wir unser Wissen<br />

vertiefen können. Wie können wir uns selbst weiter<br />

entwickeln? Wie bekräftigen wir den Wert der Schulung in<br />

unserem Arbeitsfeld? Wie werden wir bessere Menschen?<br />

Die Hauptaufgabe in Indien ist derzeit die Gründung eines<br />

Verbandes für Heilpädagogik und Sozialtherapie. Dies ist<br />

schon viele Jahre lang ein Wunsch, aber leider ist es uns<br />

wegen der geografischen Standorte und Infrastruktur in<br />

Indien noch nicht gelungen. Wir streben trotzdem weiter<br />

und hoffen, dass wir bis Jahresende eine Gruppe zusammengebracht<br />

haben, die Interesse an einer gemeinsamen<br />

Arbeit und einer Verbandsgründung hat, um miteinander<br />

zu lernen und sich gegenseitig zu unterstützen. Dies ist<br />

ein wichtiger Schritt, da er die Möglichkeit bietet, Ressourcen<br />

und Wissen zu bündeln und sich in diesen Zeiten<br />

gegenseitig zur Seite zu stehen. Zudem erweitern wir die<br />

Ausbildungsmöglichkeiten und laden Lehrer und Kollegen<br />

aus aller Welt ein, um uns zu unterstützen.<br />

Die Bewegung der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in Indien ist noch im Keimstadium,<br />

wächst jedoch jeden Tag immer schneller mit der Unterstützung<br />

der geistigen Welt.<br />

48<br />

(South India). A few of the colleagues there have trained<br />

in England and the US and have returned to work<br />

in the field. There is also a Waldorf Education Seminar<br />

which provides a sound understanding of Anthroposophy<br />

along with the integral aspects of Child Development<br />

and introduction to artistic ways of working with<br />

children. Many teachers also attend this seminar to get<br />

a better understanding of child development.<br />

Anthroposophic Curative Education and Social Therapy<br />

is a crucial need in India today. Attitudes towards people<br />

with disabilities can still be quite non-inclusive. This<br />

education system and the way of life it offers opens up<br />

opportunities for marginalised persons to be accepted<br />

and treated as a Human Being. The approach promotes<br />

care, love, togetherness and respect into the broader<br />

society, treating everyone as equal. Curative Education<br />

and Social Therapy are needed as they bring beauty<br />

and calm to children and adults at a time when the social<br />

structure is undergoing deep changes. Whilst still<br />

bound by traditionalist views , society is yet becoming<br />

more corrupt and losing its values and morals. By offering<br />

children a rhythmical life filled with colour, music,<br />

art and healing, among others, we are allowing them<br />

the opportunity to experience childhood as it should be.<br />

But we still have questions as to how do we deepen<br />

our knowledge. How do we make it a path of self-development?<br />

How do we encourage the importance of<br />

training in our field of work? How do we become better<br />

Human Beings?<br />

The main task in India at the moment is the formation<br />

of an Association for Curative Education and Social<br />

Therapy. This has been a wish for many years, but unfortunately<br />

due to the logistics of communication and<br />

travel in India we have been unable to achieve this. But<br />

yet again, we strive and hope that by the end of this<br />

year, we will have a group of people who are interested<br />

to work and learn and support each other, and we will<br />

form a council. This is an important step as it will offer<br />

an opportunity to share resources, knowledge and<br />

support to each other in these times of need. We are<br />

also widening our possibilities for training and inviting<br />

teachers and colleagues from around the world<br />

to support us.<br />

The Anthroposophic Curative Education and Social<br />

Therapy movement in India is still in a nascent stage,<br />

but growing ever so rapidly every day with the support<br />

of the spiritual world.<br />

Liane da Gama, Atmavishwas, Goa<br />

Translation from English: Christian von Arnim


Philomena Heinel, Humanushaus (Schweiz)<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

49


Berichte | Reports<br />

Republik Irland<br />

In Irland arbeiten 16 Zentren im Rahmen der anthroposophischen<br />

Behindertenhilfe. Mit Ausnahme von einer<br />

einzigen Gemeinschaft arbeiten alle anderen unter dem<br />

Dachverband der Camphill-Bewegung in Irland. Mountshannon<br />

Camphill-Gemeinschaft in Clare ist von dieser<br />

rechtlichen Struktur unabhängig.<br />

Die Republik Irland ist sicher eines der letzten europäischen<br />

Länder, in dem die Umstellung des staatlichen<br />

Sicherungssystems vorgenommen wurde. Besonders in<br />

den letzten drei bis vier Jahren, in denen die Überprüfung<br />

und Registrierung der Einrichtungen begann, war<br />

die Einstellung von externen Vorgesetzten in einzelnen<br />

Gemeinschaften oder von staatlichen Organisatoren ein<br />

wesentliches Merkmal der Veränderung. Die Anzahl der<br />

partizipativen Hauskoordinatoren ist dramatisch gesunken<br />

– in letzter Zeit hat es jedoch erneutes Interesse gegeben.<br />

Die meisten dieser neuen Mitarbeitenden haben<br />

nur wenig Kenntnis der Grundlagen von Camphill bzw. der<br />

Anthroposophie, doch ohne deren Hilfe hätten viele der<br />

Institutionen diesen Prozess womöglich nicht überstanden.<br />

Das hat jedoch auf beiden Seiten sehr viel Toleranz<br />

und gegenseitiges Lernen verlangt: Was bedeutet es z.B.,<br />

dass eine Organisation ihre Organisationsstruktur auf der<br />

Dreigliederung begründet? Besonders wenn der Begriff<br />

einem grossen Teil der Beteiligten fremd ist. Das Positive<br />

ist, dass diese Polarität einen konstruktiven Dialog angeregt<br />

und neue Schulungsinitiativen ausgelöst hat.<br />

Die Camphill-Gemeinschaften decken einen breiten Bereich<br />

der Angebote ab, von traditionellen Dorfeinrichtungen<br />

mit acht oder neun Häusern, einer Farm und<br />

Werkstätten einerseits bis zu Gemeinschaften in einer<br />

städtischen Umgebung andererseits, wo die Häuser zwischen<br />

den anderen Gebäuden der Stadt verteilt sind, oft<br />

mit ihren eigenen Cafés. Im Gebiet von Kilkenny gibt es<br />

eine Vielzahl an kleinen Gemeinschaften – einige städtisch,<br />

einige ländlich, die als «Gemeinschaft der Gemeinschaften»<br />

zusammenkommen. Der Saal einer dieser<br />

Gemeinschaften wird regelmässig vom nationalen Sender<br />

RTE benutzt und empfängt internationale Musiker –<br />

ein echtes Beispiel von «umgekehrter Integration».<br />

Der Druck und die negativen Aspekte, die von grösserer<br />

Regierungskontrolle ausgehen, haben die Suche nach<br />

neuen Ansätzen in der Gemeinschaftsbildung angeregt,<br />

besonders das «co-housing»-Modell, mit dramatischen<br />

und spannenden Vorschlägen für Dörfer im alten Stil. Wir<br />

Kreative Arbeit | Creative work<br />

Republic of Ireland<br />

All the anthroposophical activity in Curative education<br />

and Social Therapy takes place in one of the 16<br />

Camphill Communities or the two day activity centres.<br />

All except one, work under the umbrella organisation<br />

of the Camphill Communities of Ireland. Mountshannon<br />

Camphill community in Clare, is independent of<br />

this legal structure.<br />

The republic of Ireland is one of the last European<br />

countries to be regulated in the realm of Social Care.<br />

Particularly in the last three to four years when inspections<br />

leading to registration of Communities have<br />

begun, the employment of managers of individual<br />

communities and national organisers has become a<br />

major feature of change. The number of life sharing<br />

house co-ordinators has dropped dramatically in the<br />

last ten years – however of late there has been renewed<br />

interest. Most of these new people have very limited<br />

background in either Camphill or Anthroposophy.<br />

Without their intervention it is unlikely that many of<br />

the places would have survived the registration process.<br />

On both sides, this has involved a very steep learning<br />

curve. What does it mean that an organisation<br />

bases its organisational structure on the Threefold Social<br />

Order, for example? Especially when a large proportion<br />

of those involved have never met the concept.<br />

The positive is that this polarity has stimulated a lot of<br />

productive dialogue and fired new training initiatives.<br />

The Camphill communities cover a wide range, from the<br />

traditional Village setting with eight or nine houses, a<br />

50


Berichte | Reports<br />

brauchen dringend einen anthroposophischen Arzt für<br />

einige unserer Gemeinschaften. Leider endete die letzte<br />

Kinderklasse in Ballytobin vor zwei Jahren, sodass es<br />

keine Heilpädagogik in der Republik mehr gibt, obwohl<br />

die Fachkenntnis weiter besteht.<br />

Trotz schlimmer Unterfinanzierung – eine Mutter sagte<br />

in einem parlamentarischen Ausschuss aus, man würde<br />

kein Zimmer mit Frühstück für die Summe bekommen,<br />

die die Behörden für Pflege rund um die Uhr für ihre<br />

schwer behinderte Tochter bezahlten! – gibt es eine sehr<br />

aktive Spendensammlungsgruppe unter den Eltern und<br />

viel Elternengagement im Registrierungsprozess.<br />

Camphill nimmt eine führende Rolle in der Organisation<br />

und Entwicklung des Impulses der sozialen Landwirtschaft<br />

in Irland ein, auch in der Unterstützung des biologisch-dynamischen<br />

Impulses.<br />

Einer der Tagesdienste ist ein integriertes künstlerisches<br />

Kollektiv und Kolleg, das viele positive öffentliche Aufmerksamkeit<br />

in der Presse und dem Fernsehen auf sich<br />

zieht und sowohl das Inland wie das Ausland viel bereist.<br />

In dieser kurzen Übersicht sei noch gesagt, dass viele<br />

Gemeinschaften aktiv in ihrer örtlichen Gemeinde engagiert<br />

sind und dort oft als ein wesentliches und lebendiges<br />

Element anerkannt werden – der soziale Zauber<br />

des Menschen mit Behinderung! Oft ist uns der schöpferische<br />

Funke bewusst, der sich zwischen den beiden<br />

scheinbar unvereinbaren Polaritäten von gesetzlicher<br />

Pflichterfüllung und dem Streben nach menschlicher Gemeinschaft<br />

entzündet!<br />

Tony Whittle, Camphill Jerpoint, Thomastown, County<br />

Kilkenny<br />

Übersetzung ins Deutsche: Christian von Arnim<br />

farm, and workshops on the one hand, to Communities<br />

in an urban setting where the houses are scattered in<br />

among the houses of the town, often with their own<br />

Cafes (two in the Kildare area). Around the Kilkenny area<br />

are a host of little communities – some urban, some<br />

rural, that come together as the ‹Community of Communities›.<br />

In one of them is a hall which is regularly used<br />

by the national broadcaster RTE, and hosts international<br />

musicians – a real example of ‹reverse integration›.<br />

The pressure and negative aspects of greater governmental<br />

control have stimulated the search for new<br />

approaches to community building, especially the ‹cohousing›<br />

model, with dramatic and exciting proposals<br />

for the old style village. We are sorely in need of an<br />

Anthroposophical Doctor for some of our places. Sadly<br />

the last children’s class in Ballytobin finished two years<br />

ago, so there is no longer Curative education in the<br />

Republic, though the expertise remains.<br />

Despite severe underfunding – one parent said to a<br />

parliamentary committee that you wouldn’t get Bed<br />

and Breakfast for the amount paid by the authorities<br />

for the 24 hour care of her very disabled daughter! –<br />

there is a very active parents fundraising group, and a<br />

lot of parental involvement in the Registration process.<br />

Camphill is taking a lead in the organisation and development<br />

of the Social Farming impulse in Ireland, as<br />

it does in the support of the biodynamic impulse. One<br />

of the day services is an integrated Arts collective and<br />

college which attracts a lot of positive publicity in the<br />

press and television and travels widely both nationally<br />

and internationally.<br />

In this short over-view, suffice it to say that many Communities<br />

are actively involved in their own local community<br />

and are often recognised as being a significant<br />

element in the vitality of that local community – the<br />

Social Magic of the person with special needs! Often<br />

we are aware of the spark of creativity flying between<br />

the two, apparently irreconcilable polarities, of statutory<br />

compliance and human community endeavour!<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

51


Berichte | Reports<br />

Israel<br />

Israel<br />

Die anthroposophische heilpädagogische Arbeit in Israel<br />

begann 1969 mit der Gründung von zwei kleinen Internaten:<br />

Beit Eliahu im Süden des Landes und Beit Uri im<br />

Norden. 47 Jahre später sind die aktiven Einrichtungen<br />

auf diesem Gebiet die folgenden:<br />

• Beit Uri, eine zusammengeschlossene Einrichtung in<br />

Afula mit 97 erwachsenen Bewohnern, fünf erwachsenen<br />

Tagesteilnehmern, 15 Internatsschülern und<br />

20 Tagesschülern.<br />

• Kfar Rafael (1981 gegründet), eine Dorfgemeinschaft in<br />

Be'er Sheva mit 52 Bewohnern, einige von ihnen ehemalige<br />

Schüler von Beit Eliahu.<br />

• Tuvia (1993 gegründet), eine Schulgemeinschaft für gefährdete<br />

Kinder und Jugendliche, innerhalb des Kibbuz<br />

Harduf, mit 60 Schülern im Alter von 6-18 Jahren.<br />

• Beit Elisha (1995 gegründet), eine sozialtherapeutische<br />

Gemeinschaft mit über 60 Bewohnern, innerhalb<br />

des Kibbuz Harduf und in der Umgebung.<br />

• Hadvir Hachadash (2003 gegründet), eine Tagesschule<br />

in Jerusalem mit 26 Schülern im Alter von 8-17 Jahren.<br />

Insgesamt ist die allgemeine Situation der heilpädagogischen<br />

Bewegung in Israel stabil mit verlässlicher öffentlicher<br />

und staatlicher Unterstützung. Es wird jedoch<br />

zunehmend schwierig, grössere Entwicklungen anzukurbeln,<br />

zu vollenden und neue Unternehmungen zu gründen.<br />

Einige bedeutende Herausforderungen in unserem<br />

Arbeitsfeld scheinen gegenwärtige zu sein:<br />

Ausbildung<br />

Die Gründergeneration hatte ihre berufliche Ausbildung<br />

und praktische Erfahrung in etablierten Zentren im Ausland.<br />

Im Lauf der Jahre hat es mehrere Versuche gegeben,<br />

Seminare in Israel zu gründen, gegenwärtig gibt es<br />

aber nur Einführungskurse vor Ort. Eine neue Unternehmung<br />

in Zusammenarbeit mit einem staatlichen Lehrerseminar<br />

in Jerusalem ist vor kurzem eingeleitet worden.<br />

Generationenwechsel<br />

Die Mehrheit der ursprünglichen Gründer erreichen nun<br />

das Pensionsalter oder sind schon darüber hinaus. Viele<br />

von ihnen bleiben eng verbunden, sind weiter involviert<br />

und leisten auf verschiedene Weise einen Beitrag, es ist<br />

The established anthroposophical curative work in Israel<br />

began in 1969 with the founding of two small<br />

boarding schools: Beit Eliahu in the south of the country<br />

and Beit Uri in the north. 47 years later, the active<br />

institutions in this field are the following:<br />

• Beit Uri, a combined institution in Afula with 97<br />

boarding adult residents, 5 day adults, 15 boarding<br />

pupils and 20 day pupils.<br />

• Kfar Rafael (est. 1981), a village community in Be'er<br />

Sheva with 52 residents, some of whom are former<br />

pupils of Beit Eliahu.<br />

• Tuvia (est. 1993), a school community for children<br />

and youngsters at risk, within Kibbutz Harduf, with<br />

60 pupils aged 6-18.<br />

• Beit Elisha (est. 1995), a social therapy community<br />

with over 60 residents, within Kibbutz Harduf and in<br />

the vicinity.<br />

• Hadvir Hachadash (est.2003), a day school in Jerusalem<br />

with 26 pupils aged 8-17.<br />

All in all, the general situation of the curative movement<br />

in Israel is stable with reliable public and state<br />

support. However, to generate and accomplish major<br />

developments and to establish new ventures seems<br />

to be increasingly difficult. Some current substantial<br />

challenges in our field of work seem to be:<br />

Training<br />

the founding generation had their professional training<br />

and practical experience in established centres<br />

abroad. Over the years there have been several attempts<br />

at establishing full seminars in Israel, but to<br />

date there are only introduction courses available locally.<br />

A new venture of collaboration with a state teachers'<br />

seminar in Jerusalem has recently been initiated.<br />

Generation change<br />

The majority of the original founders are now reaching<br />

pension age, or are already beyond it. Many of<br />

them remain close and continue their involvement<br />

and contribution in various ways, but it is not easy<br />

to find young responsible staff members who will be<br />

dedicated to this work as a mission for life. The lack<br />

52


Berichte | Reports<br />

jedoch nicht einfach, junge verantwortliche Mitarbeitende<br />

zu finden, die sich dieser Arbeit als Lebensaufgabe<br />

widmen wollen. Das Fehlen von ausreichenden örtlichen<br />

Ausbildungsgelegenheiten macht die Lage noch schwieriger,<br />

da wenige Personen – und noch viel weniger Familien<br />

– bereit sind, einige Jahre ins Ausland zu gehen;<br />

wenn sie es doch tun, kommen sie nicht immer zurück<br />

,um der Arbeit hier beizutreten.<br />

Unverbindliche Zusammenarbeit zwischen den<br />

Zentren<br />

Obwohl wir ein Bewusstsein voneinander haben und es<br />

viele warme persönliche Verbindungen gibt, besteht kein<br />

etablierter nationaler Verband der heilpädagogischen<br />

Zentren; in den letzten zwei Jahrzehnten hat es auch<br />

keine nationale Tagungen gegeben, wo Mitarbeitende<br />

sich hätten treffen und Gespräche führen können. Angeblich<br />

wegen begrenzter Zeit und Energie widmet sich<br />

jeder Platz voll seinen eigenen Herausforderungen vor<br />

Ort, darunter auch die Verbindung mit anderen anthroposophischen<br />

Initiativen in der Umgebung. Hoffentlich<br />

wird sich die landesweite Zusammenarbeit irgendwann<br />

fortsetzen und ihre unverzichtbare Rolle im Leben der<br />

Bewegung erfüllen.<br />

Zunehmende staatliche administrative und rechtliche<br />

Anforderungen<br />

Wie auch in anderen westlichen Ländern, macht der<br />

Staat Israel zunehmende regulative Auflagen in Bezug<br />

auf die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen, deren<br />

Rechte und Pflegebedingungen, geltend. Dies hat seine<br />

positiven Seiten, indem es uns auffordert, uns professioneller<br />

zu verhalten (im herkömmlichen Sinn), vorurteilsloser<br />

und mit der Welt verbundener zu sein. Gleichzeitig<br />

stehen wir vor der Herausforderung, nicht nur das lebendige<br />

Wesen unserer Lebens- und Arbeitsart zu erhalten,<br />

sondern auch zu lernen, wie wir es den mit uns arbeitenden<br />

staatlichen Beamten in einer Weise kommunizieren,<br />

dass es verständlich und nachvollziehbar wird. Es ist<br />

immer wieder eine bewegende Erfahrung, wie staatliche<br />

Beamte allmählich ihre Ansichten und Überzeugungen<br />

in der Zusammenarbeit ändern, eine warme und flexible<br />

Herzgesinnung mit Bezug auf unsere Arbeit bilden und<br />

keine Mühe scheuen, die «Formel» zu finden, die uns inof<br />

adequate local training opportunities adds to this<br />

difficulty, since fewer individuals – let alone families<br />

– are prepared to go abroad for a few years, and if<br />

they do, they do not necessarily come back to join the<br />

work here.<br />

(Lack of) inter-centre collaboration<br />

Though we are aware of each other and there are many<br />

warm personal connections, there is no established<br />

national association of curative centres; neither have<br />

there been, over the past two decades, any national<br />

conferences where staff members could have met and<br />

conversed. Apparently due to limited time and energy,<br />

each place is fully dedicated to its local challenges,<br />

including connections with other anthroposophical<br />

initiatives in their vicinity. Hopefully nationwide collaboration<br />

will eventually resume and fulfil its vital role<br />

in the life of the movement.<br />

Increasing state administrative and legal<br />

demands<br />

Similarly to other countries in the West, the state of<br />

Israel enforces more and more regulatory demands regarding<br />

disabled persons, their rights and care conditions.<br />

This has its positive sides, urging us to be more<br />

professional (in the usual meaning), open-minded<br />

and connected to the outer world. At the same time,<br />

we are therefore faced with the challenge not only<br />

to maintain the living essence of our way of life and<br />

work, but also to learn how to present it to the state<br />

officials working with us in such a way that they can<br />

relate to it and accept it, despite their understandable<br />

inability to fully comprehend it. It is moving to experience<br />

again and again how state officials gradually<br />

change their views and convictions during their work<br />

with us, form a warm and flexible heart-attitude to<br />

our way of life and go out of their way to find the<br />

‹formulas› that can accommodate us within the increasingly<br />

rigidifying ‹forest› of regulations. We are very<br />

grateful for this, though there is no certainty how long<br />

it will last.<br />

Security and inter-ethnic tensions<br />

Unfortunately peace in our region is not around the<br />

corner yet and each spell of warfare has an immediate<br />

and challenging effect on our daily life. From 2006 to<br />

2014 there were four major rounds of violence when<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

53


Berichte | Reports<br />

Foto: Raffaela Brambilla<br />

nerhalb eines sich zunehmend verfestigenden Systems<br />

unterbringen kann. Wir sind sehr dankbar dafür, obwohl<br />

es keine Sicherheit gibt, wie lange es andauern wird.<br />

Sicherheit und ethnische Spannungen<br />

Leider liegt der Frieden in unserer Region noch nicht<br />

gleich um die Ecke und jede Kriegsphase hat eine sofortige<br />

und herausfordernde Wirkung auf unser tägliches<br />

Leben. Von 2006 bis 2014 gab es vier grosse Runden<br />

der Gewalt, als mehrere Wochen lang Raketen und Bomben<br />

in der Umgebung unserer Einrichtungen abgeschossen<br />

wurden. Glücklicherweise wurde keines der Zentren<br />

direkt getroffen, aber diese Zwischenfälle verursachen<br />

tiefe Angst sowie erhebliche Mühsal, so z.B. die Einschränkung<br />

der täglichen Routine, Schwierigkeiten,<br />

Freiwillige aus dem Ausland anzuwerben und in einigen<br />

Fällen die Notwendigkeit, die Bewohner einige Wochen<br />

lang an sicherere Orte zu evakuieren. Hoffentlich wird<br />

sich ein Bewusstsein für die Sinnlosigkeit, mit Gewalt<br />

Probleme zu lösen, auch in unserer Region durchsetzen,<br />

so wie es in Europa vor 70 Jahren geschah.<br />

Wie jedoch schon erwähnt, ist die Gesamtlage der<br />

Zentren in Israel gut und erfolgreich. Wir sind dafür<br />

dankbar und freuen uns, wenn Menschen aus der Bewegung<br />

weltweit ihr berufliches Wissen und ihre Erkenntnisse<br />

mit uns teilen.<br />

rockets and bombs were fired around our centres for<br />

several weeks. Fortunately non of the centres suffered<br />

a direct hit , but these incidents cause deep anxiety as<br />

well as various considerable hardships such as limitations<br />

on daily routine, difficulty to recruit volunteers<br />

from abroad and in some cases the need to actually<br />

evacuate the population to quieter and safer places<br />

for a period of some weeks. Hopefully the awareness<br />

of the futility and absolute impracticality of violence<br />

as a means to solve problems will be recognised come<br />

in our area, as it was in Europe 70 years ago.<br />

However, as already mentioned, the overall situation<br />

of the Israeli centres is good and thriving. We are<br />

grateful for it and welcome people from around the<br />

worldwide movement to share with us their professional<br />

knowledge and insights.<br />

Yiftach Ben Shalom, Kfar Rafael<br />

Reuven Shaliv, Harduf<br />

Translation from English: Christian von Arnim<br />

54


Berichte | Reports<br />

Italien<br />

Italy<br />

In Italien gibt es acht heilpädagogische Einrichtungen<br />

und Initiativen, vier ambulante heilpädagogische Praxen,<br />

elf an Waldorfschulen angeschlossene heilpädagogische<br />

Gruppen und zwei Ausbildungsstätten.<br />

Die Heilpädagogik<br />

Infolge des Inklusionsgesetzes aus dem Jahr 1971 sind in<br />

Italien heilpädagogische Einrichtungen und Sonderklassen<br />

verboten. Nur einige kleinere Werkstätten und Arbeitsgruppen<br />

für behinderte Kinder in staatlichen oder privaten<br />

Schulen oder auch in Beratungszentren konnten weiterhin<br />

bestehen. Es gibt etwa elf Waldorfschulen in ganz Italien,<br />

die eine heilpädagogische Initiative begleiten, doch es besteht<br />

immer wieder die Gefahr, dass Anklage wegen der<br />

Führung «unerlaubter Sonderklassen» erhoben wird, wie<br />

jüngst an einer Mailänder Waldorfschule.<br />

Das Interesse für die anthroposophische Heilpädagogik<br />

wächst in den letzten Jahren kontinuierlich. Viele Studierende<br />

besuchen zurzeit die zwei anthroposophischen<br />

heilpädagogischen Seminare in Italien, zu den Tagungen<br />

melden sich Teilnehmende aus ganz Italien an und die<br />

Nachfrage für Beratungen ist stark gewachsen.<br />

Einen frischen Impuls hat die vor fünf Jahren neu gegründete<br />

«Associazione per la Pedagogia Curativa e<br />

Socioterapia Antroposofiche» (Gesellschaft für die Anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie in<br />

Italien) gebracht, um ein Netz zwischen allen schulischen<br />

heilpädagogischen Initiativen aufzubauen. Es<br />

wurde eine Koordinationsgruppe ins Leben gerufen, die<br />

sich jeden zweiten Monat trifft und die die gemeinsame<br />

Arbeit der heilpädagogischen und der soziotherapeutischen<br />

Institutionen unterstützt, indem regelmässige<br />

Tagungen und Weiterbildungen organisiert sowie Öffentlichkeitsarbeit<br />

betrieben werden.<br />

Ein wichtiges Element brachte kürzlich der Wissenschaftler<br />

Pietro Crispiani mit seinem Buch «Storia della pedagogia<br />

speciale» (Geschichte der Sonderpädagogik) ein,<br />

in dem neben der Biografie mehrerer wichtiger Pädagogen<br />

auch Karl König aufgeführt wird.<br />

Die Sozialtherapie<br />

Die anthroposophische Sozialtherapie wird in den kleinen<br />

Kreisen, in denen sie praktiziert wird, sehr ge-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

There are eight centres and initiatives for curative education<br />

in Italy, four day-care practices, eleven special<br />

needs groups that are affiliated to Waldorf schools,<br />

and two training centres.<br />

Curative education<br />

As a result of the 1971 inclusion act separate special<br />

needs classes or schools are not permitted in Italy. The<br />

only places that have survived are a few smaller workshops<br />

and work groups for children with disabilities in<br />

state or private schools or consultation centres. In the<br />

whole of Italy, there are around eleven Waldorf schools<br />

supporting curative education initiatives, but they are<br />

in constant danger of being sued for running “unauthorized<br />

special classes”, as happened recently at one<br />

of the Milan Waldorf Schools.<br />

And yet: interest in anthroposophical curative education<br />

has been growing continuously in recent years, the<br />

two training courses for curative teachers in Italy are<br />

well attended, interested people come from all over<br />

the country to attend specialist conferences and there<br />

is an ever growing demand for consultations.<br />

With the foundation, five years ago, of the Association<br />

for Anthroposophical Curative Education and Social<br />

Therapy in Italy (Associazione per la Pedagogia Curativa<br />

e Socioterapia Antroposofiche) new impulses were<br />

introduced to create a network of all special needs<br />

initiatives. A coordinating group was formed which<br />

meets bi-monthly and supports the joint efforts of the<br />

curative education and social therapy centres by organizing<br />

regular conferences and further training events<br />

as well as by promoting their public image.<br />

The scientist Pietro Crispiani made an important contribution<br />

recently in publishing a history of special<br />

needs education (Storia della pedagogia speciale)<br />

which includes biographies of Karl König and other<br />

important educationists.<br />

Social therapy<br />

Anthroposophical social therapy is highly valued in<br />

the small circles where it is practised, but nationally it<br />

is of little importance. The few social therapy centres<br />

in Italy are medium-sized or small. They have grown<br />

55


Berichte | Reports<br />

schätzt, doch auf nationalem Niveau hat sie nur eine<br />

minimale Bedeutung. Die wenigen sozialtherapeutischen<br />

Einrichtungen in Italien sind mittelgross bis klein.<br />

Sie sind langsam gewachsen und haben in der Regel<br />

kein Sonderdasein, das heisst, es ist ihnen gelungen,<br />

im Laufe der Zeit eine Anerkennung und die nötige Akkreditierung<br />

zu erhalten. In der Regel brauchen sie mehr<br />

ökonomische Unterstützung, um die Qualität der Arbeit<br />

zu gewährleisten und jede Einrichtung ist mit einer ständigen<br />

Suche nach Finanzen beschäftigt.<br />

In den letzten Jahren konnte mehr Kontakt und Austausch<br />

miteinander gewonnen werden.<br />

Gesellschaftliche Aspekte<br />

Information und Verbreitung durch Tagungen<br />

Die «Gesellschaft für Heilpädagogik und Soziotherapie<br />

in Italien» hat im Januar 2014 zusammen mit der SIMA<br />

(Gesellschaft anthroposophischer Ärzte in Italien) eine<br />

Tagung zum Thema: «Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

als Impulse für eine individuelle und soziale Verwandlung»<br />

veranstaltet. Diese Tagung wurde von etwa 200<br />

Menschen besucht und brachte einen neuen Impuls in<br />

der Beziehung und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen<br />

Einrichtungen.<br />

In April 2014 wurde dann am Institut für Allgemeine Pädagogik<br />

der Universität in Rom eine Tagung veranstaltet<br />

zum Thema «Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

nach 90 Jahren Erfahrung». Diese Tagung<br />

war ein wichtiger Meilenstein im Dialog mit der akademischen<br />

Welt und wurde von den Studierenden mit Interesse<br />

und grosser Aufmerksamkeit verfolgt. Trotzdem wird<br />

es noch ein weiter Weg sein, als qualifizierte Stimme in<br />

Fachkreisen gehört zu werden oder Ansprechpartner für<br />

die akademische Welt zu sein.<br />

Zurzeit stehen vor allem die sozialtherapeutischen Einrichtungen<br />

in Italien, möglichst auch mit nicht-anthroposophischen<br />

Einrichtungen, mit der Vorbereitung und<br />

Veranstaltung einer Tagung über und mit behinderten<br />

Menschen vor einer grossen Herausforderung.<br />

Wirkungen der anthroposophische Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

In Kreisen, die sich mit der Thematik von Behinderung<br />

beschäftigen, wurden gewisse sozialtherapeutische Impulse<br />

aufgenommen, doch es ist bisher nicht wirklich<br />

gelungen, das Spezifische des anthroposophischen<br />

Menschenbildes verständlich zu machen. Die kleinen sozialtherapeutischen<br />

Einrichtungen sind langsam stabiler<br />

Blick aus dem Fenster | A view out of the window<br />

slowly and have, over the years, acquired recognition<br />

and the obligatory accreditation. They usually need<br />

more financial support in order to guarantee quality<br />

provision and each centre is permanently and actively<br />

trying to raise funds.<br />

Contact and exchange between the institutions have<br />

grown in recent years.<br />

Information and dissemination through conferences<br />

In January 2014, the association for curative education<br />

and social therapy in Italy organized a conference<br />

in collaboration with SIMA (Italian society of physicians),<br />

entitled ‹Curative education and social therapy<br />

as impulses for individual and social change›. Around<br />

200 people attended this conference which gave fresh<br />

impetus to the relationship and cooperation between<br />

the various centres.<br />

In April 2014 a conference was held by the Institute for<br />

General Education at Rome University on the topic of<br />

‹90 years of experience in Anthroposophical Curative<br />

Education and Social Therapy›. This conference was an<br />

important milestone in our dialogue with academe and<br />

drew much interest from the students. Nevertheless,<br />

we are a long way from being perceived as a qualified<br />

voice in the field or from having our approach become<br />

a point of reference for the academic community.<br />

At present all social therapy centres in Italy, and possibly<br />

non-anthroposophical institutions too, are facing<br />

the challenge of preparing a conference on, and including,<br />

people with special needs.<br />

56


Berichte | Reports<br />

geworden, aber sie haben es nicht geschafft, den Funken<br />

für neue Initiativen zu bilden und für eine Verbreitung<br />

der Bewegung zu sorgen.<br />

Für die anthroposophische Bewegung in Italien, die<br />

gelegentlich mit Spannungen und internen Konflikten<br />

zu kämpfen hat, leisten die heilpädagogischen und<br />

sozialtherapeutischen Initiativen mit ihrem grundlegenden<br />

Prinzip der sozialen Arbeit einen stillen, aber<br />

wichtigen und dauerhaften Beitrag zur Lösung der<br />

Probleme und Schwierigkeiten.<br />

The effects of anthroposophical curative education<br />

and social therapy on society<br />

Certain aspectes of social therapy have been well received<br />

in circles that are concerned with the question<br />

of special needs, but it has so far not been possible to<br />

really demonstrate what is special about the anthroposophical<br />

image of the human being. The small social<br />

therapy centres are gradually gaining greater stability,<br />

but have been unable to spark interest in new initiatives<br />

or further the dissemination of the movement.<br />

Within the anthroposophical movement in Italy, which<br />

occasionally struggles with tensions or internal conflicts,<br />

the initiatives for curative education and social therapy<br />

with their fundamental social orientation, contribute in<br />

a modest but important and consistent way to the solving<br />

of problems and overcoming of difficulties.<br />

Raffaela Brambilla, Milano<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Interview Maria Giorgia Ramunni<br />

Maria Giorgia Ramunni (1989) finished her studies in Milan at the ‹Accademia di Belle<br />

Arti di Brera›.<br />

During her time at university she enrolled in a three-year training in Waldorf education<br />

and in 2015 she started the anthroposophical special needs and social therapy<br />

training in Verona. She is pursuing her artistic research and working in a curative education<br />

group in a Waldorf school of Milan.<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie sind für mich eine<br />

Lebensart. Sie sind Wege, das Leben zu betrachten<br />

und zu führen, die einem jeden Tag helfen, ein<br />

besserer Mensch zu werden und seine Grenzen<br />

zu überwinden. Sie sind eine Form von Selbsterziehung.<br />

Mit Rudolf Steiners meditativen Übungen<br />

lerne ich die Welt in einer objektiveren Weise<br />

wahrzunehmen und das Streben, das jedes Kind<br />

mit sich bringt, zu erkennen.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

First of all, in my opinion anthroposophical curative<br />

education and social therapy are a way of life.<br />

They represent special ways to see and live your<br />

life which help you every day to become a better<br />

person and to surpass your limits. They are a<br />

form of self-education. Thanks to Rudolf Steiner's<br />

meditative exercises, I am learning to perceive the<br />

world in a more objective way and in particular to<br />

acknowledge the quest that each child brings.<br />

57


Interview<br />

Mein persönliches Interesse an der Heilpädagogik<br />

begann während meiner Ausbildung zur Waldorflehrerin.<br />

Durch ein Praktikum in der heilpädagogischen<br />

Gruppe einer Waldorfschule in Mailand<br />

konnte ich die Grundlagen der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik vertiefen. Die beste Art, sich<br />

der Konstitution eines Kindes zu nähern, ist in sich<br />

einen inneren Raum zu schaffen. Anthroposophische<br />

Heilpädagogik erlaubt die Anwendung vieler<br />

Lehrmaterialien und fördert damit die natürlichen<br />

Prozesse des Kindes.<br />

Die Anerkennung des menschlichen Wesens sollte<br />

der wesentliche Aspekt von Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

sein: Aus einer solchen Sicht werden<br />

Schwierigkeiten nicht als Einschränkungen gesehen,<br />

sondern als Ausgangspunkt. Jeder hat das<br />

Recht so zu sein, wie er ist. Pädagogen sollten den<br />

Impuls aufgeben, die Kinder zu korrigieren und zu<br />

verändern. Ihre Rolle ist das gemeinsame Tun, die<br />

vom Kind benötigte Betreuung zu erkennen und<br />

anzubieten. Kinder haben somit die Gelegenheit,<br />

mit der Welt in Beziehung zu treten, dem anderen<br />

im täglichen Rhythmus und sogar in jeder kleinen<br />

bedeutungsvollen Tat zu begegnen.<br />

In Italien wäre die beste Unterstützung der Heilpädagogik<br />

die formelle Anerkennung durch die Behörden<br />

und den italienischen Staat. Es wäre sehr<br />

positiv, in der italienischen Bevölkerung allgemein<br />

grössere Sensibilität und mehr Interesse zu schaffen,<br />

aber besonders auch bei den Behörden und<br />

den Waldorf-Einrichtungen.<br />

The best way to receive each child and to come<br />

closer to its constitution is to create an inner<br />

space within me. Curative education allows me<br />

to use all the teaching materials in order to<br />

support the organic processes of the child. This<br />

aspect is really important.<br />

My personal interest in anthroposophical curative<br />

education began during my teacher training<br />

in Waldorf education. For my practice placement<br />

I picked a special needs group in a Waldorf<br />

school in Milan, one of the first schools in Italy<br />

to have hosted curative education groups which<br />

has done so for a long time. This joyful choice<br />

has given me the possibility to go deep into the<br />

matter, starting work as an assistant to the class<br />

teacher, a role for which I feel so thankful.<br />

The respect for the essence of each child should<br />

be the central aspect of a curative education<br />

path: in such a way difficulties are not seen as<br />

limits but as starting points. I think that everyone<br />

has the right to be as they are. Educators<br />

should give up the impulse of correcting<br />

and changing the children they have in front<br />

of them. Their role is that of “doing together”,<br />

of offering the care children need, of caressing<br />

their souls. Anthroposophical curative education<br />

gives us great help: the children have the opportunity<br />

to learn to relate to the world – encountering<br />

the other – through daily rhythm and<br />

even through every little act which becomes full<br />

of meaning.<br />

In Italy, the best support for anthroposophical curative<br />

education would be its formal recognition by<br />

the political authorities and the Italian state. This<br />

would be extremely positive in creating greater<br />

sensitivity and interest within the Italian population<br />

in general, but in particular among the authorities<br />

and also Waldorf institutions, helping them<br />

to become more aware of this kind of reality. Tr<br />

Tanslation from English: Christian von Arnim<br />

58


Berichte | Reports<br />

Kirgistan<br />

Kyrgyzstan<br />

Das Kinderzentrum Nadjeschda für Kinder mit Behinderungen<br />

wurde 1989, noch zu Zeiten der Sowjetunion, gegründet.<br />

Heute besteht das Kinderzentrum Ümüt-Nadjeschda<br />

aus einem Netzwerk verschiedener Einrichtungen:<br />

Eine Kindergartengruppe für Kinder mit schweren Behinderungen<br />

mit 15 Kindern, fünf inklusive Kindergartengruppen,<br />

in denen insgesamt 84 Kinder betreut werden,<br />

vier Schulgruppen (30 Kinder), eine Werkstufengruppe<br />

(9 Kinder), drei therapeutische Werkstätten (15 Kinder)<br />

und zwei Wohngruppen (30 Kinder).<br />

In einem heilpädagogischen Seminar befinden sich derzeit<br />

30 Studierende in Ausbildung.<br />

Nadjeschda ist darüber hinaus mit einem Netzwerk von<br />

Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderungen<br />

verbunden, die mit Unterstützung des Kinderzentrums<br />

oder durch ehemalige Eltern und Mitarbeiter<br />

aufgebaut wurden, wie beispielsweise die Lebensgemeinschaft<br />

Manas.<br />

Die Lage der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in Kirgistan<br />

Nach vielen Jahren grosser Schwierigkeiten ist das Kinderzentrum<br />

Ümüt-Nadjeschda ein Modellprojekt geworden.<br />

Rosa Otunbajeva, die als junge Politikerin 1989 die<br />

Gründung von Nadjeschda ermöglichte, hat in ihrer Funktion<br />

als UNESCO-Kommissarin der UdSSR die Aufnahme<br />

des Nadjeschda Zentrums in das UNESCO-Schulprojekt<br />

befürwortet. Dadurch wurde die kleine Nadjeschda<br />

Schule die erste Waldorfschule, die als «participating<br />

institution in the Unesco Associated Schools Project in<br />

Education for International Co-operation and Peace» aufgenommen<br />

wurde. So kam es, dass Kinder mit Behinderungen<br />

auch anderen Kindern in Kirgistan einen Zugang<br />

zur Waldorfpädagogik ermöglicht haben. Heute gibt es<br />

hier neben der staatlich anerkannten Ausbildung zum<br />

Heilpädagogen auch eine staatlich anerkannte Ausbildung<br />

zum Waldorflehrer und zur Waldorferzieherin.<br />

Trotz der offiziellen Anerkennung der Waldorfpädagogik<br />

und anthroposophischen Heilpädagogik durch den kirgisischen<br />

Staat geniessen die Einrichtungen keine finanzielle<br />

Unterstützung. So ist die gesamte Arbeit bis heute<br />

nur dank der Spenderinnen und Spender aus Kirgistan,<br />

dem Ausland und durch spezielle Projekte möglich.<br />

The Nadezhda centre for children with special needs<br />

was founded in 1989, when Kyrgyzstan was still part<br />

of the Soviet Union. Today, the Umut-Nadezhda<br />

children's centre consists of a network of different<br />

establishments:<br />

A kindergarten group for 15 children with severe disabilities,<br />

five inclusive kindergarten groups where 84<br />

children are supported, four school groups (30 children),<br />

one workshop group (9 children), three therapeutic<br />

workshops (15 children) and two residential groups<br />

(30 children).<br />

There is also a curative education seminar with currently<br />

30 students. Furthermore, Nadezhda is part of a<br />

network of centres for adults with learning disabilities<br />

(for instance the Manas community), which were set<br />

up with the assistance of the children's centre and of<br />

former parents and staff.<br />

The current situation of curative education<br />

and social therapy in Kyrgyzstan<br />

After many difficult years, the Umut-Nadezhda<br />

children's centre has grown into a model project.<br />

Rosa Otunbayeva who, as a young politician in 1989,<br />

enabled the founding of Nadezhda, used her position<br />

as UNESCO commissioner of the USSR to approve<br />

the inclusion of the Nadezhda centre in the UNESCO<br />

school project, thereby making the little Nadezhda<br />

school the first Steiner School to become a ‹participating<br />

institution› in the ‹UNESCO Associated Schools<br />

Project in Education for International Cooperation and<br />

Peace.› This is how it came about that children with<br />

special needs enabled access to Waldorf education for<br />

other children in Kyrgyzstan. Today there are several<br />

state-recognized Waldorf teacher and educator training<br />

courses as well as state-recognized curative education<br />

training.<br />

Although Waldorf education and anthroposophical<br />

curative education are now recognized by the state,<br />

the centres and communities do not receive state funding.<br />

This means that all the work we have done up<br />

until now has been made possible by donors in Kyrgyzstan<br />

and abroad and through specific projects.<br />

Over the last few years important developments and<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

59


Berichte | Reports<br />

Klassenspiel | Drama Production<br />

Zentrale Entwicklungen und Ereignisse der letzten<br />

Jahre waren der Ausbau des Beratungszentrums «Podero»,<br />

in dem Kinder und Eltern Hilfe finden können<br />

sowie der Aufbau des kulturellen und inklusiven Treffpunktes<br />

im Janusz Korczak Zentrum.<br />

Zukünftige Aufgaben<br />

Ein nächster Schritt besteht in der Entwicklung von Modellen<br />

zur Inklusion, die das Kinderzentrum Ümüt-Nadjeschda<br />

gemeinsam mit der Stiftung von Rosa Otunbajeva,<br />

die als Präsidentin von Kirgistan die UN-Konvention über<br />

die Rechte für Menschen mit Behinderungen unterschrieben<br />

hat, anstrebt.<br />

Fachlich beschäftigen uns vor allem Fragen zur individuellen<br />

Förderung und Wahrnehmung von Kindern mit<br />

mehrfachen Behinderungen und die Bearbeitung dieser<br />

Fragen mit den Studierenden im Seminar.<br />

Einen wichtigen Beitrag für die anthroposophische Bewegung<br />

sehen wir in der über viele Jahre gefestigten Erfahrung<br />

der Entstehung eines geistigen Raumes durch die<br />

gemeinsame und regelmässige Arbeit an der «Philosophie<br />

der Freiheit», der selbst in den zwei Bürgerkriegen nicht zerstört<br />

werden konnte.<br />

events include the expansion of the Podero Consultation<br />

Centre where children and parents can find help<br />

and support, and the founding of the Janusz Korczak<br />

Centre, an inclusive cultural institution.<br />

Tasks for the future<br />

The next step is to continue with the development of inclusion<br />

models, an endeavour that the Umut-Nadezhda<br />

Centre shares with the Foundation of Rosa Otunbayeva<br />

who, as Kyrgyzstan’s president, has signed the UN Convention<br />

on the Rights of Persons with Disabilities.<br />

Internally we are studying ways of perceiving and<br />

supporting the individual children with multiple disabilities<br />

and ways of working on the corresponding<br />

questions with the student teachers at the seminar.<br />

We see it as an important contribution to the anthroposophical<br />

movement that we have been able to consolidate<br />

our work over the years and to create, through<br />

our joint and regular work on the ‹Philosophy of Freedom›,<br />

a spiritual space that was strong enough to survive<br />

two civil wars.<br />

Igor Schälike, Kinderzentrum Ümüt-Nadjeshda, Bischkek<br />

Translation from German: Leonard Saar<br />

60


Berichte | Reports<br />

Libanon<br />

Lebanon<br />

Übersicht<br />

Libanon ist eine demokratische Republik am östlichen<br />

Mittelmeer mit einer geschätzten Bevölkerung von fünf<br />

Millionen, welche zahlreiche religiöse Gemeinschaften<br />

einschliesst. Das kulturelle und sprachliche Erbe des libanesischen<br />

Volks ist eine Mischung von einheimischen<br />

Elementen und ausländischen Kulturen, die im Laufe<br />

tausender von Jahren das Land und seine Menschen beherrscht<br />

haben.<br />

Der libanesische Zusammenhang<br />

Das soziale und politische Klima in Libanon stellt eine<br />

grosse Komplexität im Bildungsbereich dar, besonders<br />

in Bezug auf die Einführung neuer Programme. Das grösste<br />

Hindernis einer Entwicklung sind die fehlenden Mittel<br />

angesichts der ständigen politischen, ökologischen<br />

und gesundheitlichen Probleme. Zudem sind die Instabilität<br />

und Unsicherheit eine echte Bedrohung für das Land<br />

insgesamt. Diese Frage der Sicherheit hat eine grundlegende<br />

Wirkung auf unsere Kinder. Wie können wir die in<br />

unsicheren Bedingungen lebenden Schüler schützen? An<br />

erster Stelle, indem wir jeder Form von Aggression widerstehen<br />

und indem wir Liebe und Enthusiasmus betonen.<br />

Zweitens, indem wir die Pädagogen unterstützen, sowie<br />

sie sich in ihrem tiefen menschlichen Auftrag auf den<br />

Weg machen.<br />

Hintergrund von Step-Together<br />

Fehlende Regierungsvorschriften zur Sonderpädagogik<br />

haben es vielen Verbänden ermöglicht, mit einer ganzen<br />

Reihe von Methoden in Erscheinung zu treten. In der<br />

Step-Together-Schule wurden die anthroposophischen<br />

heilpädagogischen Methoden gewählt. Step-Together ist<br />

die erste und einzige Schule in Libanon, die dem Ansatz<br />

Rudolf Steiners folgt. Sie ist eine Non-Profit-Organisation,<br />

die zunächst Fista-Beirut genannt und von Dr. Wali<br />

Merhej 1993 gegründet wurde. Bis jetzt hat unser Verband<br />

über 200 Menschen mit besonderem Förderbedarf<br />

aufgenommen.<br />

Step-Together begann zunächst als Kindergarten und<br />

wuchs dann im Lauf der Jahre zu einer fest etablierten<br />

Schule und Berufsschule für alle Altersgruppen. Unser<br />

Lehrplan, der oft der wachsenden Anzahl der sonderpädagogischen<br />

Bedürfnisse angepasst wird, umfasst<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Overview<br />

Lebanon is a democratic republic in the Eastern Mediterranean<br />

with a population estimated at nearly 5 million,<br />

which includes numerous religious communities.<br />

The cultural and the linguistic heritage of the Lebanese<br />

people is a blend of both indigenous elements and foreign<br />

cultures that have come to rule the land and its<br />

people over the course of a thousand years.<br />

The Lebanese Context<br />

The social and the political climates in Lebanon present<br />

a major complexity in the educational field particularly<br />

for the initiation of new schemes. Due to constant political,<br />

environmental and health issues, lack of funds<br />

and resources remain the major barriers for our development,<br />

while instability and insecurity continue<br />

to be a solid threat for the country as a whole. From<br />

another angle, security being a fundamental necessity<br />

affects our children. How can we shield those students<br />

living in unsafe conditions as they do? Primarily,<br />

by withstanding any form of aggression, and above all<br />

by emphasizing love and enthusiasm. Secondarily, by<br />

supporting educators as they embark on their mission<br />

as a deeply human one.<br />

Step Together Background<br />

Strong deficits in government directives in relation to<br />

special education have allowed many associations to<br />

emerge, following a whole range of methodologies. At<br />

Step Together School, we have chosen the anthroposophical<br />

curative education methods. Step Together is<br />

the first and only school in Lebanon that follows the<br />

principles of Rudolf Steiner. It is a non-profit organization<br />

initially known as Fista-Beirut founded by Dr. Wali<br />

Merhej in 1993. To date, our association has enrolled<br />

over 200 individuals with special needs.<br />

Step Together started first as a kindergarten and grew<br />

over the years to become what it is today, a well-established<br />

school and vocational college for all ages. Our<br />

curricular model, often customized to match the current<br />

growing number of special needs, covers early<br />

intervention programmes to more developed craftbased<br />

programmes, which suits adults’ skills, too. Most<br />

of our students come from a poor socio-economic<br />

61


Berichte | Reports<br />

Frühförderkonzepte sowie mehrere handwerklich-basierte<br />

Programme, die auch für die Fähigkeiten von Erwachsenen<br />

passend sind. Die meisten Schüler kommen<br />

aus einer schlechten sozioökonomischen Situation und<br />

brauchen dringend unsere Hilfe. Mit der gemeinnützigen<br />

Arbeit leisten wir unsere Aufgabe mit Hingabe und Engagement.<br />

Wir haben das Vertrauen, dass die uns nachfolgenden<br />

Generationen diesen Geist übernehmen und<br />

sie die Fähigkeit zur weiteren Entwicklung mitbringen<br />

werden.<br />

Heilpädagogik in Step-Together<br />

Der Ansatz der anthroposophischen Heilpädagogik trat<br />

im Westen nach dem ersten Weltkrieg als eines der<br />

praktischen Felder der Anthroposophie auf und nach<br />

dem Brand des ersten Goetheanums hatte Rudolf erklärt:<br />

«Viel Arbeit und lange Jahre». Jetzt, wo wir an der<br />

Reihe sind nach einer dreissigjährigen Reise voller Unsicherheiten<br />

und Instabilität, sagen auch wir: «Viele, viele<br />

Leben, viel, viel Arbeit, aber immer, immer ein starker<br />

Wille». Mit dem Durchhaltevermögen des libanesischen<br />

Volks, seiner positiven Einstellung und Lebensverbundenheit<br />

haben die starken Kräfte des Gebens, Wachsens<br />

und der Pädagogik immer die Gefühle der Trauer,<br />

Angst und Unsicherheit überwunden. Es ist beachtenswert,<br />

dass die Betonung von menschlichen Werten, Gewissenhaftigkeit,<br />

Fürsorge und gegenseitigem Respekt<br />

es jedem Erzieher erlauben, die Herausforderungen und<br />

Schwierigkeiten zu überwinden: «Eine Kerze anzünden<br />

ist besser ,als die Dunkelheit zu verfluchen.»<br />

Heilpädagogisches Modell<br />

Die Heilpädagogik ist ein ganzheitliches Modell. Wir teilen<br />

Erkenntnisse und Erfahrungen und erwerben parallel<br />

dazu auch Werte der Bescheidenheit, die sich auf<br />

Menschlichkeit, Geduld, Toleranz und Respekt beziehen.<br />

Schüler mit Hilfebedarf sind tatsächlich unsere Engel<br />

und in schwierigen Lagen haben sich ihre reinen Seelen<br />

immer als unsere zauberhaften Retter erwiesen. Wir<br />

glauben an unserer Aufgabe, weil Step-Together mehr ist<br />

als ein Lehrplanprogramm: Es ist eine Lebensart-Initiative,<br />

die die geistigen Gemüter stärkt.<br />

Die Rolle des Heilpädagogen<br />

Beim Musizieren | Playing music<br />

Die Rolle des Heilpädagogen ist enorm. «Lehrer sind<br />

grosse Heiler», ein Wort, das in Libanon doppelt relevant<br />

ist. Aus diesem Grund schenken wir der Ausbildung<br />

grosse Aufmerksamkeit, von der alle Lehrer durch Arbackground<br />

and urgently need our support. Through<br />

charity work, we perform a fundamentally loyal mission<br />

that embodies devotion and commitment. We trust<br />

that our successive generations will inherit this beautiful<br />

spirit that will empower them to build, to form<br />

and to make a difference.<br />

Curative Education at Step Together<br />

The principles of curative education came to light in<br />

the West at a critical period of time, after the First<br />

World War, when ideas of anthroposophy resulting<br />

in practical manifestations became tangible and constructive.<br />

In fact, upon the burning down of the first<br />

Goetheanum, Rudolf Steiner commented: ‹much work<br />

and long years›. It is now our turn and despite a journey<br />

that stretches for 30 years and beyond across insecurity<br />

and instability, we say out loud ‹many, many<br />

lives, much, much work, but always, always a strong<br />

will›. With the perseverance of the Lebanese people,<br />

their positive mind sets and their attachment to life,<br />

the great powers to give, to grow and to educate have<br />

always overcome the feelings of grief, fear and insecurity.<br />

It is worth noting that the emphasis on human<br />

values, diligence, care and mutual respect allows every<br />

educator to overcome the challenges and the difficulties<br />

frequently exposed: ‹to light a candle is better<br />

than to curse the darkness.›<br />

Curative Education Model<br />

Curative Education is a holistic model. While we get<br />

involved in this special education by sharing insights<br />

and experiences, in parallel we also acquire humble<br />

62


Berichte | Reports<br />

beitstreffen, Vorträge und Seminare Nutzen ziehen. Eine<br />

strukturierte Ausbildung für Heilpädagogik begann 2006<br />

und wurde 2013 von der Heilpädagogischen Konferenz<br />

akkreditiert. Jedes Jahr arbeiten wir mit internationalen<br />

Ausbildern zusammen, um unsere heilpädagogische<br />

Lehrerausbildung weiter zu verbessern. Dadurch stärken<br />

wir die Fähigkeit der Pädagogen, sich selbst und<br />

den Menschen allgemein besser zu verstehen. Für das<br />

ausführlichere Studium der Anthroposophie wurden<br />

Schulungen für Teilgruppen mit dem Schwerpunkt der<br />

künstlerischen Praxis oder auch spezialisierte Schulungen,<br />

z.B. rhythmische Massage und Heileurythmie, eingerichtet.<br />

Wie geht es weiter?<br />

Mahatma Gandhi hat einmal gesagt, «die Zukunft hängt<br />

ab von dem, was wir in der Gegenwart tun». Diese Worte<br />

veranlassen uns dazu, das Beste aus uns herauszuholen<br />

und uns den kommenden Herausforderungen zu stellen.<br />

Libanon, dieses geliebte Land, leidet traurigerweise weiter<br />

unter der Last einer unendlichen Zahl von Hürden. Mit Mut,<br />

Eifer, Leidenschaft und der richtigen Vorstellung gewinnen<br />

wir die Stärke und Energie, unsere Ziele zu erreichen.<br />

Zu guter Letzt und in Anerkennung der Arbeit Rudolf<br />

Steiners freuen wir uns darauf, eine Auswahl seiner Zitate<br />

mit denjenigen zu teilen, sowohl im Libanon als<br />

auch im Mittleren Osten, die sonst keinen Zugang zu<br />

dieser Gabe hätten. Nachdem sie ins Arabische übersetzt<br />

worden sind, werden sie dann mit verschiedenen<br />

anderen Artikeln über die Heilpädagogik in unserer<br />

Jahreszeitschrift veröffentlicht.<br />

Unsere Aufgabe ist ohne Ende … und wäre ein Ende überhaupt<br />

möglich?<br />

Denn von jedem Berg, den wir erklimmen, öffnet sich ein<br />

neuer verlockender Horizont – ein neuer Ausblick und<br />

zugleich der Impuls neues zu entdecken und zu erobern.<br />

Reem Mouawad, FISTA Association, Mansourieh<br />

Übersetzung ins Deutsche: Christian von Arnim<br />

values related to humanity, patience, tolerance and<br />

respect. Special needs students are indeed our angels<br />

and during difficult circumstances, their pure souls always<br />

proved to be our magical saviours. We strongly<br />

believe in our mission because Step Together goes beyond<br />

the curricular programmes: it is a lifestyle initiative<br />

that strengthens the spiritual minds.<br />

Curative Educators’ Role<br />

The role of curative educators is enormous. ‹Teachers<br />

are great healers›, a saying which is twice as relevant<br />

in Lebanon. For this reason, we give a lot of attention<br />

to training by which all teachers benefit from intensive<br />

workshops, lectures and seminars. Structured training in<br />

curative education began in 2006 and was accredited<br />

by the curative council in 2013. Every year, we collaborate<br />

with international trainers to improve our teacher<br />

training in curative education. By doing this, we empower<br />

educators to become more competent at understanding<br />

themselves and the human being in general.<br />

To study anthroposophy in depth, training programmes<br />

organized for sub-groups were introduced with a focus<br />

on practicing arts such as painting for teachers; a more<br />

specialzed training that includes rhythmical massage<br />

and eurythmy therapy also started in 2015.<br />

What’s Next?<br />

Mahatma Gandhi once said, ‹the future depends on<br />

what we do in the present›. These words cannot but<br />

prompt us to bring out the best in ourselves and to<br />

face the challenges we encounter. Lebanon, this beloved<br />

country, sadly continues to suffer under the burden<br />

of an infinite number of obstacles. Armed with<br />

courage, eagerness, passion and a proper vision, we<br />

gain strength and energy to achieve our goals.<br />

Last but not least and in admiration to Rudolf Steiner’s<br />

work, we look forward to sharing with those who<br />

would otherwise have no access to his gifts, both in<br />

Lebanon and in the Middle East, a selection of one<br />

hundred quotes. After their translation into Arabic,<br />

these will be eventually published with various other<br />

articles on curative education in our annual magazine.<br />

Our mission has no end … and would it be possible<br />

to have one?<br />

For from every new hill we climb, another alluring horizon<br />

appears – a new vista and with it a new impulse<br />

to explore and conquer.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

63


Berichte | Reports<br />

Neuseeland<br />

Hohepa ist ein einzigartiger Dienstleister sowohl in Neuseeland<br />

als auch im anthroposophischen Umfeld. Es befindet<br />

es sich in den Jahren seines Bestehens in einem<br />

ständigen Prozess, ein Gleichgewicht zu finden zwischen<br />

seiner anthropsophischen Ausrichtung der Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie und der neuseeländischen Kultur<br />

mit deren spezifischen sozialen Umgebung. Es ist an vier<br />

weit voneinander entfernten Standorten tätig: Auckland,<br />

Hawkes Bay, Wellington und Christchurch.<br />

Ein neuseeländischer Zusammenhang<br />

Die zunehmend multikulturelle Bevölkerung von Neuseeland<br />

beträgt 4,5 Millionen, davon werden zwei Prozent<br />

als «intellektuell behindert» bezeichnet (Statistics NZ<br />

Disability Survey 2013).<br />

Hohepa ist die einzige Organisation in Neuseeland,<br />

die auf den Grundlagen der Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

arbeitet und ist deswegen einzigartig, weil<br />

es lange vor der Deinstitutionalisierungsbewegung der<br />

siebziger Jahre schon eine Alternative zu den komplexen<br />

Heimkonzepten bot.<br />

Der Keim von dem, was Hohepa werden sollte, wurde<br />

im Mai 1956 gepflanzt. Ein Jahr später wurde die Home<br />

School in Hawke's Bay an der Ostküste der Nordinsel<br />

eröffnet. Im Laufe der Jahre kamen noch eine Farm und<br />

eine Wohngemeinschaft für Erwachsene hinzu. 1965 öffnete<br />

eine Schule in Christchurch (an der Ostküste der Südinsel)<br />

die Türen, die sich später in eine Gemeinschaft für<br />

Erwachsene umwandelte. Hohepa Auckland im oberen<br />

Teil der Nordinsel wurde 1997 gegründet und unterstützt<br />

Erwachsene nach dem Schulabgang. Vor zwei Jahren<br />

startete eine kleine Gemeinschaft für Erwachsene an der<br />

Kapiti Küste an der Westküste der Nordinsel.<br />

Beziehung zur Anthroposophie<br />

Im Laufe der Zeit haben externe und interne Kräfte auf Hohepas<br />

Verhältnis zur Anthroposophie gewirkt. Es treten<br />

immer wiederkehrende Fragen für die Organisation auf:<br />

Was ist Anthroposophie? Wie kommt sie zum Ausdruck?<br />

Warum sollten wir sie pflegen? Brauchen wir sie noch?<br />

Durch die jüngsten organisatorischen Veränderungen sowohl<br />

auf regionaler als auch überregionaler Ebene zeigt<br />

sich starker und positiver Wille, mit diesen Fragen zu arbeiten.<br />

Sie führen zu einer bewussten Anerkennung der<br />

Kerngrundsätze der Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

und regen zur laufenden Entwicklung von Ausbildungs-<br />

New Zealand<br />

Hohepa is a unique provider in both a New Zealand<br />

and an Anthroposophical context. Over the years of<br />

its existence, it has continually navigated a balance<br />

working out of Anthroposophy delivering Curative<br />

Education and Social Therapy (CE and ST) that<br />

fits within New Zealand culture and its specific social<br />

environment. It operates in four locations with large<br />

distances between them: Auckland, Hawkes Bay, Wellington<br />

and Christchurch.<br />

A New Zealand Context<br />

New Zealand's population, which is becoming more<br />

and more multicultural, is currently 4.5 million, of<br />

which two percent are identified as having an intellectual<br />

disability (Statistics NZ disability survey 2013).<br />

Hohepa is the only organization working with the<br />

principles of Curative Education and Social Therapy in<br />

New Zealand. Hohepa was unique in that it offered<br />

an alternative to institutionalization, well before the<br />

deinstitutionalization movement started in the 70s.<br />

The seed of what has become Hohepa was first planted<br />

in May 1956. A year later, the Home School opened<br />

in Hawke's Bay on the east coast of the North<br />

Island; this was added to over some years to include<br />

a farm and residential community for adults. In<br />

1965 a school opened in Christchurch (on the east<br />

coast of the South Island), then evolved into an adult<br />

community. Hohepa Auckland, in the upper North Island,<br />

was established in 1997, supporting adults from<br />

school leaving age onwards. Two years ago, a new<br />

small adult community began on the Kapiti Coast, on<br />

the west coast of the North Island.<br />

Relationship with Anthroposophy<br />

Over time, external and internal forces have had an<br />

effect on Hohepa's relationship with Anthroposophy.<br />

The organisation has experienced recurring questions:<br />

what is Anthroposophy? How does it manifest? Why<br />

cultivate it? Do we still need it?<br />

Recent organisational changes at both regional and<br />

national levels have shown a strong and positive will<br />

towards working with these questions. They are leading<br />

to a conscious recognition of the core principles<br />

of CE and ST and the ongoing development of training<br />

programmes. The organisation as a national entity is<br />

64


Berichte | Reports<br />

programmen an. Die Organisation als überregionales<br />

Unternehmen sucht eine erneute Beziehung zur Anthroposophie,<br />

die eine Antwort auf die spezifischen Bedürfnisse<br />

und den spezifischen Charakter einer jeden Hohepa Region<br />

gibt. Diese Beziehung prägt das Wesen der Hohepa<br />

Arbeitspraktiken. Die Arbeit im Zusammenhang mit anderen<br />

anthroposophischen Initiativen in Neuseeland sowie<br />

international baut ein Netzwerk zwischen allen Beteiligten<br />

auf, die aktiv an der Entwicklung der Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie weltweit mitwirken.<br />

Veränderungen und Herausforderungen<br />

Hohepa wächst landesweit weiter. Als Organisation geht<br />

es auf Veränderungen in seiner Umgebung und sich ändernde<br />

Bedürfnisse ein. Es erlebt die wachsenden Erfordernisse<br />

von Kindern und Jugendlichen mit komplexen<br />

Bedürfnissen und herausforderndem Verhalten, das oft<br />

mit schwerem Trauma in der frühen Kindheit verbunden<br />

ist. Dies verlangt neue Ansätze mit schöpferischen therapeutischen<br />

Interventionen. Ausserdem werden die Menschen,<br />

mit denen wir arbeiten, älter und leben länger, was<br />

neue Aufgaben und Herausforderungen mit sich bringt.<br />

In dem Mass, wie sich der Bedarf an Dienstleistungen und<br />

Philosophien weiterentwickelt, so entwickelt sich auch<br />

die Organisation weiter. Alle Hohepa Regionen haben ihre<br />

eigenen Charakteristiken und erleben ihre eigenen Herausforderungen,<br />

die sie zu bewältigen versuchen und erhalten<br />

zugleich den anthroposophischen Impuls lebendig<br />

und aktuell. Die allgemeinen gegenwärtigen sozialpolitischen<br />

Herausforderungen bringen ihre eigenen Fragestellungen,<br />

von denen einige auch die Arbeit von Hohepa<br />

beeinflussen: Ein überhitzter Wohnungsmarkt im Norden,<br />

Dienstleistungen, die über ein breites geografisches Gebiet<br />

bereitgestellt werden müssen und eine schwierige<br />

nationale Transportinfrastruktur. Die Wirkung der jüngsten<br />

grossen Erdbeben in der südlichen Region haben<br />

einiges davon verschlimmert, mit Auswirkungen in den<br />

wirtschaftlichen und sozialen Bereichen im ganzen Land.<br />

Neuseelands Sozialdienstleistungssektor ist mit mehreren<br />

Pilotprojekten auf der Suche nach besseren Modellen,<br />

damit auf die vielfältigen Bedürfnisse eingegangen<br />

werden kann. Das schafft jedoch eine Dienstleistungslandschaft<br />

der Ungewissheit und Zersplitterung.<br />

Auf die Veränderungen eingehen<br />

Hohepa hat eine potenzielle Rolle, diese sich verändernde<br />

Umgebung mit seinem über 60 Jahre lang entwickelten Erfahrungsschatz<br />

zu navigieren. Es untersucht mit anderen<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

seeking a renewed relationship with Anthroposophy<br />

that responds to the specific needs and character of<br />

each Hohepa region. This relationship informs the essence<br />

of Hohepa work practices. Working in relationship<br />

with other Anthroposophical initiatives in New<br />

Zealand and also internationally, it is beginning to<br />

construct a network of all parties contributing actively<br />

to develop CE and ST worldwide.<br />

Changes and Challenges<br />

Hohepa continues to grow across the country. As an<br />

organism, it responds to a changing environment and<br />

changing needs. It is experiencing the growing demands<br />

of children and young people presenting with<br />

high and complex needs and related behaviour challenges,<br />

associated with severe early-life traumas. This<br />

requires new approaches with creative therapeutic interventions.<br />

Alongside this, the people we work with<br />

age and live longer, bringing new complexities as well<br />

as different needs.<br />

As human services requirements and philosophies<br />

evolve, so too does the organisation. All the Hohepa<br />

regions have developed their own characteristics<br />

and experience their own challenges, which they are<br />

striving to meet while keeping the Anthroposophical<br />

impulse alive and current. Wider socio-political challenges<br />

currently at play in New Zealand bring their<br />

own set of issues, some of which affect the work<br />

of Hohepa: an overheated housing market in the<br />

North, services being delivered over a wide geographic<br />

area, and a difficult national transport infrastructure.<br />

The effects of the recent major earthquakes in<br />

the southern region have compounded some of these,<br />

with flow on effects in the economic and social realms<br />

across the country. New Zealand’s human services sector<br />

is attempting to find better models to respond to<br />

this multitude of needs with a number of pilot projects.<br />

However, this is creating a service landscape of<br />

uncertainty and fragmentation.<br />

Responding to Change<br />

Hohepa has a potential role in navigating this changing<br />

environment with a wealth of experience built<br />

over 60 years. It is working with other providers to<br />

explore what constitutes a genuine quality of life.<br />

New living models are being developed together with<br />

families or natural support networks. Part of this involves<br />

close collaboration with local authorities. Ac-<br />

65


Berichte | Reports<br />

Typisch neuseeländische Schafe | Typical New Zealand sheep<br />

Anbietern die Frage, was echte Lebensqualität bedeutet.<br />

Neue Wohnmodelle werden zusammen mit Familien oder<br />

natürlichen sozialen Netzwerken entwickelt. Dies beinhaltet<br />

teilweise die Zusammenarbeit mit Kommunalbehörden.<br />

Aktive Gemeinschaftspartnerschaften werden mit<br />

Maori iwi (Stämme) und interkulturellen Gruppen gegründet.<br />

Hohepas Wissen wird auch über Sektor-spezifische<br />

Plattformen weitergegeben und macht einen Beitrag in<br />

der Überarbeitung der Gesetzgebung.<br />

Während es allgemein im sozialen Sektor in Neuseeland<br />

anerkannt wird, dass Hohepas Arbeit ihren Ursprung in<br />

Kernwerten hat, gibt es wenig Verständnis für die Anthroposophie,<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie. Die Herausforderung<br />

besteht darin, eine Antwort auf Neuseelands aktuelle<br />

sozial-politische Realität zu finden, in offener und aufrichtiger<br />

Arbeit mit dem, was das Besondere an Hohepa ist.<br />

tive community partnerships are being established<br />

with Maori iwi (tribes) and cross-cultural groups.<br />

Hohepa’s knowledge is also being shared through<br />

sector-specific platforms and is contributing to legislation<br />

review processes.<br />

While it is widely recognised in the human services<br />

sector of New Zealand that Hohepa’s work stems from<br />

core values, there is minimal understanding of Anthroposophy,<br />

and Curative Education and Social Therapy.<br />

The challenge is to respond to the needs of New<br />

Zealand’s current socio-political reality, working with<br />

Hohepa's special character openly and genuinely.<br />

Trisha Glover, Hohepa Auckland, Titirangi Waitakere<br />

Auckland<br />

Translation from English: Christof von Arnim<br />

66


Berichte | Reports<br />

Niederlande<br />

Netherlands<br />

In den Niederlanden gibt es ungefähr zwanzig Organisationen<br />

(Träger), die zusammen etwa 3.500 Menschen<br />

mit geistiger Behinderung begleiten, 7.000<br />

Mitarbeitende beschäftigen und mehr als 200 Millionen<br />

Euro umsetzen. Neben den grossen Trägern wie die<br />

Raphaëlstichting, De Seizoenen, Lievegoed und Intermetzo,<br />

die verschiedene Einrichtungen in einer weiten<br />

Region umfassen, gibt es mittelgrosse Träger wie Orion,<br />

OlmenEs, Christophorus und Urtica de Vijfsprong, die<br />

in einer Stadt oder kleineren Region tätig sind. Daneben<br />

existieren mehrere ortsgebundene Einrichtungen,<br />

wie Ilmarinen und Maartenhuis.<br />

Der Schwerpunkt liegt in Wohnheimen und Werkstätten<br />

für Erwachsene. Für Kinder gibt es einige spezialisierte<br />

Wohnheime, zwei Heilpädagogische Schulen und acht<br />

Kindertagesstätten. Ambulante Begleitung gibt es in einigen<br />

Städten in geringem Umfang.<br />

Die grosse Ausbreitung der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />

Bewegung in den letzten Jahrzehnten<br />

hat sich angesichts der nationalen Politik (die weniger<br />

Kosten und weniger Plätze will) in den letzten Jahren<br />

nicht weiter durchsetzen können. Durch Änderungen in<br />

der Gesetzgebung sind Menschen mit leichter Behinderung<br />

auf ihre regionalen oder kommunalen Behörden<br />

angewiesen. Das hat zur Folge, dass die traditionellen<br />

Einrichtungen vor allem Menschen mit schwerer und<br />

schwerster geistigen Behinderung betreuen. Der Pflegesatz<br />

(Tarif) für einen betreuten Menschen senkt sich jährlich<br />

um ein bis zwei Prozent, beträgt aber immerhin für<br />

eine vollständige Pflege im Durchschnitt etwa 50.000 bis<br />

60.000 Euro pro Jahr.<br />

Bemerkenswert ist, dass im letzten Jahrzehnt verschiedene<br />

anthroposophische Organisationen ihre Selbständigkeit<br />

verloren haben, da sie Insolvenz anmelden mussten<br />

(wie das Zonnehuizen in Zeist) oder gezwungen waren, zu<br />

fusionieren. Dabei sind verschiedene Organisationen von<br />

einem nicht-anthroposophischen Träger übernommen<br />

worden. So wurden De Zonnehuizen zum Teil von der jugendpsychiatrischen<br />

Organisation Intermetzo und zum<br />

Teil von der Krankenhausfirma MC-Gruppe, Christophorus<br />

von Amerpoort, übernommen. Die Ursachen liegen, wie<br />

verschieden sie auch aussehen, überhaupt nicht darin,<br />

dass Eltern sich abwenden oder Mitarbeitende weggehen,<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

The twenty or so organizations (providers) in the<br />

Netherlands support ca. 3500 people with special<br />

needs, employ 7000 staff and have a turnover of more<br />

than 200 million Euros. Apart from the big providers<br />

such as the Raphaëlstichting, De Seizoenen, Lievegoed<br />

and Intermetzo, which include a number of centres<br />

across a wider region, there are medium-sized providers<br />

such as Orion, OlmenEs, Christophorus and Urtica<br />

de Vijfsprong, which are active in towns or smaller<br />

regions. Additionally there are several localized centres<br />

such as Ilmarinen and Maartenhuis.<br />

Most centres consist of residential homes and workshops<br />

for adults. For children there are a few specialized<br />

homes, two curative education schools and eight daycare<br />

centres. A limited degree of individual support at<br />

home is available in some towns.<br />

The original expansion of the curative education and<br />

social therapy movement has come to a standstill in recent<br />

decades because of the political development (that<br />

seeks to cut costs and reduce places). Because the law<br />

has changed, people with minor disabilities now depend<br />

on their regional or local authorities. As a result of this<br />

the traditional centres now mainly look after people with<br />

severe to very severe intellectual disabilities. The money<br />

available for full time care is going down by one to two<br />

per cent every year, but nevertheless still amounts to<br />

50,000 to 60,000 Euros per person on average.<br />

Various anthroposophical organizations have lost their independent<br />

status in the last decade because they went<br />

into administration (for instance the Zonnehuizen in Zeist)<br />

or were forced to merge. As part of this process some of<br />

them were taken over by non-anthroposophical providers.<br />

De Zonnehuizen, for instance, was taken over partly by Intermetzo,<br />

an organization for adolescent psychiatry, and<br />

partly by the hospital network MC-Group, and Christophorus<br />

has merged with Amenpoort. This development<br />

was not caused by lack of parental support or coworkers<br />

leaving, but by the growing financial problems. The new<br />

providers respect the organizations’ anthroposophical<br />

foundation and promote it as far as possible.<br />

The curative education and social therapy movement is<br />

doing quite well in the Netherlands because the people<br />

67


Berichte | Reports<br />

sondern dass finanzielle Probleme entstanden sind. Die<br />

neuen Träger respektieren die anthroposophische Grundlage<br />

und fördern sie weitgehend.<br />

Um die heilpädagogische und sozialtherapeutische Bewegung<br />

in den Niederlanden steht es immerhin insofern<br />

gut, dass die betreuten Menschen zufrieden sind, Eltern<br />

positiv gestimmt und Mitarbeitende engagiert sind, sodass<br />

es dadurch eine grosse Kontinuität in den anthroposophisch<br />

ausgerichteten Aktivitäten der Begleitung<br />

und Betreuung gibt.<br />

Ausbildung<br />

Nach mehr als vierzig Jahren, in denen die gemeinsame<br />

nationale Ausbildung auf Grundlage einer Zusammenarbeit<br />

aller Einrichtungen gut funktioniert hat, geht<br />

die eigenständige, staatlich anerkannte Ausbildung für<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie in <strong>2016</strong> zu Ende. Die<br />

Struktur des letzten Jahrzehnts, in der eine staatliche<br />

Fachhochschule die Diplomierung legitimierte, konnte<br />

aus gesetzlichen Gründen nicht bestehen bleiben.<br />

Damit verlieren die anthroposophischen Einrichtungen<br />

ihren eigenen, inhaltlich wie methodisch einzigartigen<br />

Studiengang. Jede Einrichtung soll nun in der eigenen<br />

Region eine Lösung bzw. einen Anschluss an eine reguläre<br />

Fachhochschule finden. Viele Institutionen haben<br />

daneben ein grosses Angebot an fachspezifischen und<br />

sozialtherapeutischen Kursen entwickelt, durch die die<br />

(neuen) Mitarbeitenden besseren Anschluss an die berufliche<br />

Aufgabe finden können.<br />

Forschung<br />

Der Bernard Lievegoed Lehrstuhl an der Freien Universität<br />

Amsterdam ist 2015 nach zehn Jahren beendet worden,<br />

doch es wird versucht, in diesem Jahr einen neuen<br />

zu gründen. Der Lehrstuhl hat ein neues Qualitätsinstrument<br />

auf der Grundlage von genauer Wahrnehmung<br />

in der Praxis und objektiver Beschreibung von realen Situationen<br />

aus teilnehmender Beobachtung entwickelt.<br />

Dieses Instrument hat in den Niederlanden ein grosses<br />

allgemeines Echo gefunden. Weiterhin sind neben Büchern<br />

über die methodische Begleitung mehrfachbehinderter<br />

Kinder und verhaltensauffälliger Erwachsener<br />

Publikationen über die Klientenkonferenz erschienen.<br />

In 2014 hat die Raphaelstichting den national anercared<br />

for within this movement are happy, their parents<br />

are supportive and staff members are devoted to their<br />

work – all of which helps to maintain a continuity of care<br />

and anthroposophically oriented activities.<br />

Training<br />

Although the joint national training, in which all centres<br />

cooperate, has worked well for more than forty years, the<br />

independent, state-recognized training in curative education<br />

and social therapy will come to an end in <strong>2016</strong>.<br />

The way the training was run in the last ten years, imbedded<br />

in a state college and leading to a state diploma,<br />

was discontinued for legal reasons. This means that<br />

the anthroposophical organizations lose their own unique<br />

study course and methods. It is now up to each centre<br />

to find its own solution regionally or attach itself to<br />

a mainstream specialist training provider. Many centres<br />

have developed a wide range of specialist courses in social<br />

therapy that will help new staff members to connect<br />

better with their work.<br />

Research<br />

After ten years, the Bernard Lievegoed chair at Amsterdam<br />

Independent University has come to an end, but<br />

attempts are being made to establish a new professoral<br />

chair this year. This chair has made it possible to develop<br />

a new quality tool based on the close observation<br />

and objective description of real situations, which met<br />

with great interest in the Netherlands. As well as books<br />

on ways of supporting children with multiple disabilities<br />

and adults with challenging behaviours, there has<br />

also been a publication on client studies. In 2014 the<br />

Raphaelstichting (Raphael Foundation) received the national<br />

Han Nakken Award for its publication on the effectiveness<br />

of physical heat therapy in children with<br />

multiple disabilities.<br />

Umbrella organization<br />

Ten years ago the former national umbrella organization<br />

(HPV) joined forces with other anthroposophical organizations<br />

(of physicians, therapists, health centres) and is<br />

now called NVAZ. The financial basis, which is provided<br />

mostly by the curative education and social therapy centres,<br />

has shrunk to a quarter of its original size because<br />

68


kannten Han Nakken Preis bekommen für ihre Publikation<br />

über die Effektivität von körperlicher Wärmetherapie<br />

bei Kindern mit mehrfacher Behinderung.<br />

Dachverband<br />

Der einstige nationale Dachverband (HPV) hat sich vor<br />

einem Jahrzehnt mit anderen anthroposophischen Verbänden<br />

(von Ärzten, Therapeuten, Gesundheitszentren)<br />

zusammengeschlossen unter dem Namen NVAZ. Die<br />

finanzielle Grundlage, die vor allem von den heilpädagogischen<br />

und sozialtherapeutischen Einrichtungen geschaffen<br />

wird, ist in den letzten Jahren zu einem Viertel<br />

geschrumpft, weil ein Solidaritätsbeitrag offenbar nicht<br />

selbstverständlich ist. Der Dachverband hat jetzt eine<br />

Projekt-Struktur und unterstützt Initiativen und Projekte,<br />

die von den Einrichtungen selbst gewollt und getragen<br />

werden. Projekte gibt es z.B. für Methodisierung der Sozialtherapie<br />

und für (ambulante) Altenpflege.<br />

Öffentlichkeit<br />

In der Öffentlichkeit hat die anthroposophische Behindertenhilfe<br />

einen guten Ruf, obwohl die finanziellen<br />

Schwierigkeiten das Image beeinträchtigt haben. Die<br />

gesellschaftliche Teilhabe wächst, indem zum Beispiel<br />

nicht nur mit Kommunen, sondern auch mit interessierten<br />

Firmen gut zusammengearbeitet wird (z.B. im<br />

Tulpenhandel, Weinbau, Anwaltschaft, Gastronomie, Bestattung,<br />

Camping). Produkte aus Werkstätten werden<br />

manchmal mit Hilfe von Designexperten vergebessert<br />

und (online) angeboten.<br />

Windmühlenbäckerei | Windmill Bakery<br />

the paying of a solidarity fee is not necessarily seen as<br />

acceptable. The umbrella organization now supports initiatives<br />

and projects that the centres want and carry out<br />

themselves. One of the current projects aims to describe<br />

the methodology of social therapy and individual homecare<br />

for the elderly.<br />

Public image<br />

Although its public image has suffered somewhat due to<br />

its financial difficulties, the anthroposophical work with<br />

people with disabilities has generally a good name in<br />

the Netherlands. Participation in society is growing due<br />

to the good cooperation with local authorities and with<br />

enterprises that show an interest (tulip trade, viticulture,<br />

advocacy, catering industry, funeral services, camping).<br />

The workshop products are occasionally improved with<br />

the help of expert designers and offered for sale online.<br />

Pim Blomaard, Raphaelstichting, Schoorl<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

69


Berichte | Reports<br />

Norwegen<br />

Die insgesamt dreizehn selbständigen anthroposophischen<br />

Einrichtungen für seelenpflegebedürftige<br />

Menschen in Norwegen haben sich in dem Verbund «Sosialterapeutisk<br />

forbund» zusammengeschlossen. Es gibt<br />

vier heilpädagogische Schulen mit etwa 119 Schülerinnen<br />

und Schülern, sechs Camphill-Gemeinschaften mit<br />

insgesamt 320 Einwohnern (120 «Dörfler») und fünf sozialtherapeutische<br />

Einrichtungen, in denen ca. 88 Menschen<br />

begleitet werden.<br />

Dieses Jahr feiert Camphill Norwegen das Jubiläum des<br />

50-jährigen Bestehens, denn einen Tag nach Pfingsten<br />

1966 haben Margit Engel, Trygve Thornes, Ivan und<br />

Phyllis Jacobsen auf dem Bauernhof Bakke das erste<br />

Feld gepflügt. Damit war der Grundstein für das Dorf Vidaråsen<br />

Landsby gelegt.<br />

Ein offizielles Gesicht in der Öffentlichkeit erhält unsere<br />

Arbeit durch die nationale Zeitschrift «LandsByLiv».<br />

Verbands- und Netzwerkarbeit<br />

Alle zwei Jahre wird eine nationale Fachtagung veranstaltet,<br />

ebenso nehmen wir zweijährlich an der Nordischen<br />

Fachtagung in Järna/Schweden teil, die vom «Nordisk<br />

forbund for helsepedagogikk og sosialterapi» veranstaltet<br />

wird. Der NFLS veranstaltet auch die Tagung Nordisk<br />

Allkunstverk für die BewohnerInnen und SchülerInnen<br />

aller nordischen Einrichtungen.<br />

Aktuelle Entwicklungen<br />

Seit 2012 besteht die Möglichkeit eines staatlich anerkannten<br />

Bachelorstudiums für Sozialpädagogik an der<br />

Rudolf Steiner Hochschule in Oslo. Wir sind sehr stolz<br />

über die ersten 18 Studierenden, die dieses Jahr ihr Zertifikat<br />

in den Händen hielten.<br />

Die Arbeit des Verbandes war in den letzten Jahren vor<br />

allem geprägt von der Konzeption und dem Start des Studiums<br />

für Sozialpädagogik. Das zentrale Interesse dieser<br />

Ausbildung besteht darin, den anthroposophischen Impuls<br />

zu erhalten und weiterzuentwickeln sowie den formellen<br />

Anforderungen des Staates und den Kommunen<br />

gerecht zu werden.<br />

2013 wurde in Norwegen das Übereinkommen über die<br />

Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert.<br />

Die Erfüllung der kommunalen Rahmenbedingungen<br />

in der praktischen Arbeit nimmt viel Kraft in Anspruch.<br />

Kompetenz- und Dokumentationsanforderungen steigen<br />

Norway<br />

Norway has thirteen independent anthroposophical<br />

centres for people with special needs; all of them are<br />

members of the Norwegian social therapy association,<br />

Sosialterapeutisk forbund. There are four special<br />

needs schools with a total of 119 pupils, six Camphill<br />

communities with 320 residents in total, 120 of whom<br />

have special needs, and five social therapy centres<br />

where around 88 people are being cared for.<br />

Camphill Norway is celebrating its 50th anniversary<br />

this year: it was on the day after Whitsun 1966 that<br />

Margit Engel, Trygve Thornes and Ivan and Phyllis Jacobsen<br />

ploughed the first field on their farm, Bakke,<br />

laying the foundation, as it were, for the Vidaråsen<br />

Landsby village community. LandsByLiv, our national<br />

journal, is the official organ that makes our work<br />

known to a wider public.<br />

Association and networking<br />

Every two years we organize a national specialist conference<br />

and we ourselves take part, also biennially, in<br />

the Nordic Specialist Conference in Järna, Sweden,<br />

which is organized by the Nordisk forbund for helsepedagogikk<br />

og sosialterapi, an association that is also<br />

responsible for the Nordisk Allkunstverk, a conference<br />

for the residents and pupils of all special needs centres<br />

in the Nordic countries.<br />

Current developments<br />

In 2012 a state-recognized Bachelor degree course in<br />

Special Needs Education was set up at the Rudolf Steiner<br />

College in Oslo. We are very proud of the first eighteen<br />

students who graduated this year.<br />

The work of the association has, in recent years, focused<br />

mainly on creating and introducing this course.<br />

The main objective of this training is to retain and<br />

promote the anthroposophical impulse whilst meeting<br />

the formal requirements set by the state and the<br />

local authorities.<br />

In 2013 Norway ratified the Convention on the Rights<br />

of Persons with Disabilities. Implementing the necessary<br />

conditions in our daily practice is taking up a great<br />

deal of energy. The amount of expertise and documentation<br />

expected keeps growing and it is an enormous<br />

challenge for us to bring these criteria together with<br />

our own quality standards. We nevertheless see this<br />

70


stetig an und es ist eine grosse Herausforderung, diese<br />

Kriterien mit unserem Qualitätssystem in Einklang zu<br />

bringen. Dennoch sehen wir darin eine Chance, denn so<br />

kann Dokumentation Bewusstsein fördern, Beobachtung<br />

schulen und wir können schnell sehen, was in unserer<br />

Arbeit funktioniert und was nicht gut geht.<br />

Die Heilpädagogischen Waldorfschulen haben in den<br />

letzten Jahren vor allem um das Gesetz der freien Schulen<br />

gekämpft. Alle vier Schulen pflegen auf unterschiedliche<br />

Art eine gute Zusammenarbeit mit den lokalen Schulbehörden.<br />

Sie geniessen Anerkennung für die Qualität der<br />

pädagogischen Arbeit und die Behörden erkennen den<br />

grossen Bedarf für unsere heilpädagogischen Schulen.<br />

Mehr und mehr wird eingesehen, dass durch die ideologiegeprägte<br />

und undifferenzierte Integrationsbewegung<br />

der letzten dreissig Jahren die schwächsten unter den<br />

Schülern getroffen werden. Das gab den heilpädagogischen<br />

Schulen einen Zustrom an Bewerbern und den vier<br />

Schulen grösseren pädagogischen Handlungsraum.<br />

Die Camphill-Gemeinschaften erhalten ihre Finanzierung<br />

direkt aus dem Staatsbudget und geniessen somit einen<br />

Sonderstatus unter den anthroposophischen Einrichtungen,<br />

während die Schulen und sonstigen Lebensgemeinschaften<br />

sich bei den Kommunen bewerben müssen, wo<br />

Qualität dem Preis gegenüber steht.<br />

Insgesamt geniessen die anthroposophischen Einrichtungen<br />

eine hohe Anerkennung von Seiten der Angehörigen<br />

und Bewohnern.<br />

Beitrag für die anthroposophische Bewegung<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Dorfleben in Norwegen| Village life in Norway<br />

Das Anthroposophische Menschenbild ist unser wichtigstes<br />

Werkzeug, doch unser Einflussbereich ist sehr<br />

klein und es gibt nur wenige aktiv Mitwirkende. Bestenfalls<br />

wird unsere Arbeit als spannend erlebt und das<br />

anthroposophische Menschenbild ist von Interesse,<br />

jedoch möchten viele sich nicht uneingeschränkt offen<br />

und lernend einbringen.<br />

Es stellt sich die Frage, ob unseren Einrichtungen eine<br />

positive Weiterentwicklung, trotz des Gegenwindes und<br />

der Bürokratisierung, einer lebendigen Bewegung gelingt.<br />

Und weiter: Gibt es eine anthroposophische Bewegung?<br />

Wie sieht diese dann aus? Welche Richtung<br />

nimmt diese Bewegung? Braucht es Erneuerung – oder<br />

bedarf es der Vertiefung und Forschung? Was macht den<br />

stärksten Eindruck, wenn man ganz frisch und neugierig<br />

zum ersten Mal auf die Anthroposophie trifft? Ist es<br />

die Theorie oder sind es die Menschen mit ihrer lebendig-praktizierten<br />

Weltanschauung? Was geschieht zwias<br />

an opportunity, because the process of documenting<br />

enhances our awareness and observation skills and we<br />

find out sooner what works well and what doesn’t.<br />

In recent years the special needs Waldorf schools have<br />

had to fight hard for legal status as independent schools.<br />

All four schools try, each in their own way, to maintain a<br />

good relationship with their local authorities. The quality<br />

of our education is being recognized and the authorities<br />

acknowledge that the need for our schools is great.<br />

They also realize increasingly that the weakest pupils<br />

who have suffered most from the ideology-based, undifferentiated<br />

integration movement of the last thirty<br />

years. As a result we now receive more applications for<br />

our special needs schools and the four schools have been<br />

granted greater educational freedom.<br />

The Camphill communities are state-funded which<br />

gives them a special status among the anthroposophical<br />

centres, because our schools and other residential<br />

communities are required to apply for<br />

funding to the local authorities where cost considerations<br />

take priority over quality.<br />

On the whole, the anthroposophical centres are highly<br />

appreciated by relatives and residents.<br />

Contributions to the anthroposophical movement<br />

The anthroposophical image of the human being is our<br />

most important tool, but we have very little influence<br />

and only few people choose to take an active interest.<br />

People may find our work and our approach appealing,<br />

but they rarely feel called upon to commit themselves<br />

to it openly or to deepen their knowledge of it.<br />

Will our institutions be able to move forward in a positive<br />

way and retain their vitality despite all the opposi-<br />

71


Berichte | Reports<br />

schen Mitarbeitenden und Bewohnern? Handelt es sich<br />

vielleicht eher darum, nicht Teil einer Bewegung zu sein,<br />

sondern um eine innere, persönliche Verbundenheit mit<br />

dem, was ich tue – also selbst in Bewegung zu sein?<br />

Was braucht der einzelne Mitarbeitende, um sich persönlich<br />

mit dem anderen Menschen und dem anthroposophischen<br />

Menschenbild zu verbinden? Wie können wir<br />

die Anthroposophie auf neue Weise vermitteln, wie beleben<br />

wir genau diese Art und Weise zu leben? Wir werden<br />

von aussen unter Druck gesetzt mit Gesetzen und<br />

Regeln, aber das muss nicht unbedingt Stagnation bedeuten.<br />

Von innen heraus können wir das zur Bewusstwerdung<br />

in unserer Arbeit nutzen und zur Gestaltung<br />

eines würdigen Lebens nutzen. Für alle.<br />

Birka-Ruth Schmidt-Bäumler, Granly Stiftelse, Lena<br />

Übersetzung aus dem Deutschen: Margot Saar<br />

tion and growing bureaucracy? – This is one question,<br />

and there are more: Is there an anthroposophical movement?<br />

What is it like? Which way is it going? Is renewal<br />

what it needs most, or does it need deepening and reflection?<br />

What impresses people most when they come<br />

fresh to anthroposophy? Is it the underlying theory or<br />

the people who live and practise anthroposophy? What<br />

happens between care-providers and care-receivers?<br />

Could it be that being part of a movement is less important<br />

than connecting with one’s work personally – or in<br />

other words – than being in motion oneself?<br />

What do we each need in order to connect with others<br />

and with anthroposophy? How can we convey anthroposophy<br />

in a new way and bring it to life? We experience<br />

much outside pressure through laws and regulations,<br />

but we must not let that paralyze us. We can make the<br />

best of the situation by developing greater awareness<br />

and creating a dignified life – for all of us.<br />

Interview Friederike Linger<br />

Frederike Linger, 29, lives and works in Norway and studies social therapy at the<br />

Rudolf Steiner College in Oslo, Norway.<br />

Ich finde es sinnvoll, wie wir mit den Menschen arbeiten.<br />

Das drückt sich in den Tätigkeiten aus,<br />

aber auch im Menschenbild. Die Anerkennung des<br />

gesunden Wesenskerns jedes Menschen, die Reinkarnation<br />

und dass jeder seine Aufgabe hat, sind<br />

wichtige Werte für mich. Ich habe viel gelernt von<br />

den Menschen mit Behinderung. Auch die Themen<br />

Landwirtschaft, Sinnesstimulierung, Ernährung und<br />

Pflege sind mir wichtig.<br />

The way we work with people in the realm of anthroposophic<br />

social therapy makes sense to me.<br />

It is expressed in the activities, but also in the<br />

understanding of the human being. The recognition<br />

of the healthy core of each human being, of<br />

reincarnation and of the fact that everyone has a<br />

task – these are important values for me. I have<br />

learned so much from people with disabilities.<br />

Agriculture, sensory stimulation, nourishment and<br />

care are also important topics for me.<br />

72


Interview<br />

Während eines Praktikums auf einem biodynamischen<br />

Hof in Norwegen entdeckte ich erste Bücher von R.<br />

Steiner. Bei meiner späteren Arbeit in sozialtherapeutischen<br />

Wohngemeinschaften habe ich die Atmosphäre<br />

genossen, besonders das Vertrauen und<br />

dass ich Verantwortung übernehmen durfte. Meine<br />

Neugierde auf die sozialtherapeutische Arbeit<br />

wurde geweckt, deswegen wollte ich mehr lernen<br />

und habe mit dem Studium an der Rudolf Steiner<br />

Hochschule in Oslo begonnen.<br />

Beim Schreiben meiner Bachelor Arbeit fiel mir auf,<br />

dass es wenig norwegische Literatur mit anthroposophischem<br />

Hintergrund zum Thema Behinderung und<br />

Demenz gibt. Auch in den Schriften Steiners habe<br />

ich nichts dazu gefunden, was möglicherweise an der<br />

heutigen Aktualität dieses Themas liegt. Deswegen<br />

denke ich, dass die Demenz eines von vielen Themen<br />

ist, mit denen wir uns auseinander setzen müssen.<br />

Ich wünsche mir, dass es immer mehr Menschen gibt,<br />

die die anthroposophischen und fachlichen Werte<br />

und das Wissen mit mir teilen, ja mittragen. Es sollte<br />

mehr Austausch zwischen den Einrichtungen stattfinden.<br />

Fachlich und menschlich gesehen ist mein<br />

Studium enorm bereichernd, deswegen sollte es von<br />

den Einrichtungen gefördert werden. Andere Elemente<br />

sind Offenheit, Humor, Kreativität und Struktur.<br />

Die Orte an denen wir arbeiten, sollten Orte des Vorbildes<br />

für Vertrauen und Wärme sein. In unserer<br />

Zeit brauchen wir diese Qualitäten als Gegenbewegung<br />

zu Kontrolle (Vertrauen) und der digitalen<br />

Welt (Wärme). Vertrauen, wie ich es erlebt habe, hat<br />

meine Motivation geweckt.<br />

Sozialtherapie sollte eine Brücke zwischen der Gesellschaft<br />

und dem Individuum mit Behinderung bilden.<br />

Es besteht eine grosse Gefahr der Isolation von<br />

Menschen mit Behinderung und dabei haben sie so<br />

viele Qualitäten, die die Welt farbiger machen.<br />

I first discovered books by Rudolf Steiner during<br />

a practicum on a biodynamic farm in Norway.<br />

Later, in my work in social therapeutic communities,<br />

I enjoyed the atmosphere – especially the<br />

trust and the fact that I was allowed to take on<br />

responsibility. My curiosity regarding social therapeutic<br />

work was awakened; I wanted to learn<br />

more, so I began studying at the Rudolf Steiner<br />

College in Oslo.<br />

While writing my bachelor’s thesis, I noticed the<br />

lack of Norwegian anthroposophic literature on<br />

the topic of disability and dementia. I also found<br />

nothing in Steiner’s writings that touches on the<br />

current importance of this topic. For this reason,<br />

I believe that dementia is one of the many topics<br />

we need to address today.<br />

My wish is for more and more people to share anthroposophic<br />

values and knowledge on the subject<br />

with me – to help carry them into the future.<br />

There should be more exchange between the<br />

various institutions. My course of study is enormously<br />

enriching, both topically and humanly,<br />

and should really be supported by the institutions.<br />

Other elements are openness, humour, creativity<br />

and structure.<br />

The places where we work should be havens of<br />

trust and warmth. We need these qualities in our<br />

time to counteract control (trust) and the digital<br />

world (warmth). My experience of trust awakened<br />

my motivation.<br />

Social therapy should be a bridge between society<br />

and the individual with a disability. The danger of<br />

isolation for people with disabilities is great, and<br />

yet they have so many qualities that make the<br />

world more colourful.<br />

Translation from German: Tascha Babitsch<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

73


Berichte | Reports<br />

Nordamerika<br />

Das gesamte Nordamerika und Hawaii bilden eine Region.<br />

Die Entfernung von Küste zu Küste in Nordamerika<br />

ist fast so weit wie von der nordamerikanischen Ostküste<br />

nach Irland, was uns natürlich eine beträchtliche Grösse<br />

und Vielfältigkeit verleiht. Es gibt etwa 25 Initiativen in<br />

unseren Regionen, deren Grössenordnung von grösseren<br />

Gemeinschaften wie Camphill Village USA, einer Gemeinschaft<br />

mit etwa 300 Menschen, bis zum Zusammenleben<br />

in Einzelfamilien reicht. Die Mehrzahl unserer Organisationen<br />

sind Gemeinschaften in denen etwa 50 Menschen<br />

zusammenleben. Die meisten Gemeinschaften sind<br />

ländlich geprägt, obgleich es auch einige erfolgreiche<br />

städtische Initiativen gibt. Es gibt eine wachsende Anzahl<br />

erfolgreicher Bestrebungen mit Tagesprogrammen,<br />

Möglichkeiten des unabhängigen Wohnens und mit Mitarbeitern<br />

«besetzten» Wohnhäuser, das Modell der lebensteilenden<br />

Gemeinschaft verschiedener Menschen<br />

mit und ohne Hilfebedarf, die zusammenleben und das<br />

tägliche Leben mit allen anfallenden Aufgaben teilen,<br />

bleibt jedoch die Norm in der Mehrheit unserer Plätze.<br />

In der gesamten Region sind die Camphill-Gemeinschaften<br />

sowohl historisch als auch gegenwärtig die best etablierten<br />

Einrichtungen, doch es gibt auch einige andere<br />

anthroposophisch-orientierte Gemeinschaften in Nordamerika.<br />

Die Nordamerikanische Konferenz für Anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie (NAC), ein<br />

Verband von Organisationen, die aus dem anthroposophischen<br />

Impuls in der Heilpädagogik, Jugendberatung<br />

und Sozialtherapie arbeiten, ist direkt mit der internationalen<br />

Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

(KHS) verbunden. Die NAK wurde 2001 mit der Aufgabe<br />

gegründet, die Kommunikation und Zusammenarbeit<br />

zwischen und die Entwicklung von anthroposophischstrebenden<br />

Gemeinschaften und Haushalten zu fördern<br />

und zu vermitteln.<br />

Organisatorisches Streben und organisatorische<br />

Fragen<br />

Ein Thema der NAC betrifft die Frage der Verbindung und<br />

Stärkung unserer Region mit der Internationalen Konferenz<br />

und wie die Mitglieder an den einzelnen Orten<br />

unterstützt werden können, sich selbst und ihren Platz<br />

innerhalb dieser zu erkennen – einer Organisation, die<br />

manchmal als sehr weit entfernt von diesem Kontinent<br />

empfunden werden kann. Bisher haben wir mit der Frage<br />

so gearbeitet, dass wir Berichte über die Arbeit der Kon-<br />

Freude | Joy<br />

North America<br />

All of North America and Hawaii makes up one region.<br />

The distance across North America is nearly the<br />

same as from North America's eastern coast to Ireland,<br />

which, of course, makes us enormus and diverse. There<br />

are about 25 initiatives in our regions which range<br />

in size from larger communities, like Camphill Village<br />

USA, a community of about 300 people, to small<br />

single family lifesharing homes. The majority of our<br />

organizations are lifesharing communities of 50 or so<br />

people. Our communities are mostly rural and agricultural<br />

though there are several, thriving urban initiatives.<br />

Explorations in and successful endeavors with day<br />

programs, independent housing options and ‹staffed›<br />

residences are increasing yet a lifesharing model in<br />

which a community of diverse people, both with and<br />

without recognized special needs, live together and<br />

share in all aspects of daily life and tasks, is still the<br />

norm in the majority of our places.<br />

Across the region, both historically and at present,<br />

the Camphill Communities are the most established.<br />

There are several other anthroposophically-based<br />

lifesharing communities in North America that are<br />

not Camphills. The North American Council for Anthroposophic<br />

Curative Education and Social Therapy<br />

(NAC), an association of organizations working<br />

out of the anthroposophical impulse in curative<br />

education, youth guidance and social therapy, provides<br />

a direct link to the International Council for<br />

Curative Education and Social Therapy (ICEST). The<br />

NAC was established in 2001 with a mission to support<br />

and facilitate communication and cooperation<br />

74


Berichte | Reports<br />

ferenz in NAC-Rundbriefen veröffentlicht haben, ein<br />

Delegierter an den Klausurtagungen teilnimmt, die Mitglieder<br />

dazu anregen, an den internationalen Tagungen<br />

in Dornach teilzunehmen und diese Aktivitäten finanziell<br />

unterstützen. Eine neuere Entwicklung, von der wir<br />

erwarten, dass sie unsere Vernetzung stärken wird, ist<br />

dass Jan Goeschel von der Camphill-Special-School und<br />

der Camphill-Akademie eine leitende Rolle in der KHS<br />

übernehmen wird. Obwohl Jan enorm viel in unserer Region<br />

trägt, freuen wir uns darüber und damit auf die grössere<br />

Verbindung, die dadurch hergestellt werden kann.<br />

Wirtschaftliche Grundlagen<br />

Ein anderer wesentlicher Aspekt unserer Organisationen<br />

sind die finanziellen Strukturen, die über die beiden<br />

Länder und ihre Staaten und Provinzen hinweg sehr verschieden<br />

sind. Es ist jedoch möglich, etwas zu generalisieren.<br />

In Kanada werden Organisationen in grösserem<br />

Umfang durch die Behörden gefördert. Zwar gibt es Spendensammlungen<br />

durch Einzelpersonen oder private Zuwendungen,<br />

sie stellen jedoch keinen grossen Anteil des<br />

Jahreseinkommens dar. In den USA gibt es in den meisten<br />

Gemeinschaften wesentliche Bemühungen, durch Zuwendungen<br />

und Einzelspenden Mittel einzubringen und<br />

die Tatsache, dass die meisten Spenden von der Steuer<br />

absetzbar sind, ist dabei eine Hilfe. Die meisten, wenn<br />

auch nicht alle Gemeinschaften, decken die Kapitalkosten<br />

durch solche Bemühungen der Mittelbeschaffung<br />

und die meisten verwenden auch Spenden, um jedes Jahr<br />

ein ausgeglichenes Betriebsbudget zu erreichen.<br />

Aktuelle Trends<br />

Regulatorischer Handlungsrahmen<br />

Staatliche Förderung bringt von aussen auferlegte Bestimmungen<br />

mit sich, die uns Anlass geben, uns selbst<br />

neu zu überdenken. Können wir sowohl Dienstleister als<br />

auch intentionale Gemeinschaften sein? Kann die traditionelle<br />

Weise des Zusammenarbeitens und -lebens,<br />

oft ohne Beschäftigungsstatus, weiter ein realistische<br />

Möglichkeit sein, zumal die Menschen, die auf uns zukommen,<br />

zunehmende Herausforderungen mitbringen?<br />

Was ist das Wesentliche, dem wir treu bleiben müssen,<br />

damit unsere grundlegenden Bestrebungen ungefährdet<br />

bleiben? Können wir unsere geistigen Grundlagen genug<br />

vertiefen, dass sie uns in einer sich verhärtenden Zeit<br />

standhaft halten?<br />

Die kanadischen Gemeinschaften sind schon länger mit<br />

diesen Fragen konfrontiert als diejenigen in den USA.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

among, and the development of, Anthroposophically<br />

striving lifesharing communities and households.<br />

Organizational Strivings and Questions<br />

One of the questions the NAC carries is how to<br />

strengthen our region's connection to the International<br />

Council and to how to support the members of<br />

individual places in recognizing themselves and their<br />

place within the wider circle of ICEST -- an organization<br />

that can sometimes feel very far away from this<br />

continent. So far we have worked with that question<br />

by publishing reports on the work of ICEST in the NAC's<br />

newsletters, by having an NAC delegate to ICEST, by<br />

encouraging members of the NAC to attend the biannual<br />

International conference in Dornach and by<br />

providing financial support for these pursuits. A recent<br />

development that we expect will greatly strengthen<br />

our inter-connectedness is that Jan Goeschel, from<br />

Camphill Special School and Camphill Academy, will<br />

be taking on a leadership role with ICEST. Though Jan<br />

carries a tremendous amount in our region, we are<br />

very pleased that he will now take on this new role<br />

and we look forward to the increased connection this<br />

will bring about.<br />

Economic Foundations<br />

Another aspect of our organizations that is relevant,<br />

especially in relationship to some current trends, is our<br />

financial structures. Financial structures vary greatly<br />

across the two countries and across the States and<br />

Provinces however some generalizations can be made.<br />

In Canada organizations are more fully supported<br />

through governmental agencies. Fundraising efforts<br />

through individuals or private grants do happen but<br />

are not a large percentage of annual income. In the<br />

US significant effort is put in by most communities to<br />

raise funds through grants and individual donations<br />

and the fact that most donations are tax-deductible<br />

is helpful in this pursuit. Most if not all communities<br />

cover the costs of capital improvements through these<br />

fund-raising efforts and most also use donations to<br />

reach a balanced operating budget each year.<br />

Current Trends<br />

Regulatory Confines<br />

With State funding comes externally imposed regulation.<br />

This regulation causes us to re-think ourselves. Can<br />

75


Berichte | Reports<br />

Camphill Ontario hat sich wegen Konflikten zwischen<br />

seiner ursprünglichen, traditionellen Camphill-Struktur<br />

und der Regierung von Ontario in grösserem Ausmass<br />

umgewandelt: Die Mitarbeiter erhalten nun ein Gehalt<br />

und viele von ihnen wohnen nicht mehr in der Gemeinschaft,<br />

der Schwerpunkt liegt zunehmend darauf, die<br />

Menschen mit Behinderungen in ihrer eigenen Wohnung<br />

zu unterstützen und mit ihnen eine Gemeinschaft<br />

im Rahmen einer unabhängigen Lebensweise innerhalb<br />

eines grösseren sozialen Zusammenhangs zu bilden,<br />

ein personenbezogener Ansatz und personenbezogene<br />

Ausbildungsstruktur wird verfolgt und keine Mitarbeiter<br />

sitzen im Vorstand. Trotz dieser Veränderungen hat<br />

Camphill Ontario ein dynamisches Selbstgefühl. Es ist<br />

der Überzeugung, dass es weiterhin Träger des Camphill-Ethos<br />

ist, dieses Ethos jedoch auf eine für die traditionelle<br />

Form des Camphill-Dorfs untypische Weise<br />

vertritt. Die Cascadia Society und Glenora Farm (Ita<br />

Wegman Assoc.) in Britisch-Kolumbien und das Maison<br />

Emanuel in Quebec haben Wege gefunden, auf denen<br />

sie innerhalb der von den Behörden festgelegten Grenzen<br />

arbeiten und gleichzeitig mit ihrem lebensteilenden<br />

Modell fortfahren können.<br />

In den USA hat die Bundesregierung neue Bestimmungen<br />

über den Zugriff der Staaten auf Medicaid-Waiver-<br />

Gelder erlassen, die es Einzelpersonen ermöglichen,<br />

langfristige Dienstleistungen und Unterstützung zu<br />

Hause und in der Gemeinde zu erhalten. Die neuen<br />

Vorschriften bekamen 2014 ihre endgültige Form. Die<br />

Staaten, die diese Gelder erhalten und verteilen, mussten<br />

ihre Pläne vorlegen und haben Zeit bis 2019, um<br />

sie vollständig umzusetzen. Einige unserer Gemeinschaften<br />

sind schon bzw. werden unmittelbar davon<br />

betroffen sein. Diese Entwicklung in den auf Medicaid-<br />

Waiver-Gelder bezogenen Vorschriften ist ein Weckruf an<br />

die sozialtherapeutische Bewegung in den USA. Es ist<br />

deutlich geworden, dass wir nicht genug an der zu dieser<br />

Entwicklung führenden Diskussion beteiligt waren<br />

und versuchen, dies jetzt nachzuholen. CANA hat eine<br />

Arbeitsgruppe eingerichtet, die mögliche Auswirkung<br />

dieser Vorschriften untersuchen soll.<br />

In dem Ausmass, wie wir unseren Platz in diesem<br />

grossen Gespräch einnehmen, beleuchten wir möglicherweise<br />

auch das Gute, das geschehen kann, wenn<br />

Menschen bestrebt sind, für das Wohl der anderen zu<br />

arbeiten, im Vertrauen, dass ihre eigenen Bedürfnisse<br />

auch abgedeckt werden.<br />

we be 'service providers' and also intentional communities?<br />

Can the traditional way of living and working<br />

together, often without employment status, continue<br />

to be a viable option, especially as the people we have<br />

coming toward us carry increasing challenges? What<br />

is the essential that we must remain true to for our<br />

fundamental strivings to be uncompromised? Can we<br />

deepen our spiritual foundations enough so that they<br />

keep us steadfast and open in a hardening time?<br />

The Canadian communities have faced these questions<br />

for longer than those in the US. Camphill Ontario,<br />

through conflicts between its original, traditional<br />

Camphill structure and the Government of Ontario,<br />

has made some major shifts: coworkers are now salaried<br />

and many do not live within the community;<br />

focus is increasingly on supporting persons with<br />

disabilities in their own homes, and on building community<br />

with them in the general context of independent<br />

living within the larger social environment; a<br />

person-directed approach and training structure is<br />

followed, and no coworkers are on the board of directors.<br />

Despite these major shifts Camphill Ontario feels<br />

itself to be vibrant. They are confident that they are<br />

carriers of the Camphill ethos but that they carry out<br />

that ethos in a manner atypical of Camphill's traditional<br />

village form. The Cascadia Society and Glenora<br />

Farm (Ita Wegman Assoc.) in British Columbia and<br />

Maison Emanuel in Quebec have found ways of working<br />

within governmental confines while continuing<br />

with the lifesharing model.<br />

In the US the federal government has issued new regulations<br />

concerning access, by the states, to federal<br />

Medicaid Waiver funding for individuals to receive<br />

home and community-based long-term services and<br />

supports. The new rules took their final form in 2014.<br />

The states, who receive and distribute these funds,<br />

were required to submit transition plans and have 5<br />

years, until 2019, to complete implementation. Some<br />

of our communities are now, or will be, directly affected.<br />

These developments in the rules related to Medicaid<br />

Waiver funding have been a wake-up call to the<br />

social therapy movement in the US. There has been a<br />

recognition that we have not been sufficiently involved<br />

with the discussions that led to these policy developments<br />

and we are now trying to catch up. CANA<br />

has formed a task force to look into the potential impact<br />

of these rules.<br />

76


Berichte | Reports<br />

Die Camphill-Akademie<br />

Mit der Gründung des Kollegiums der Camphill-Akademie<br />

im Mai 2013 wurde ein in der nordamerikanischen<br />

Camphill-Bewegung eingebetteter Dachverband für<br />

Pädagogik und Forschung gegründet. Diese Organisation,<br />

die noch am Anfang ihrer Entwicklung steht, hat die<br />

Möglichkeit, die Qualität der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />

Arbeit in der Region zu vertiefen und<br />

die Forschung, Innovation und Entwicklung von Zukunftsperspektiven,<br />

die gleichzeitig aktuell und tief in der Anthroposophie<br />

verwurzelt sind, zu unterstützen. Ziel der<br />

Akademie ist es, einen Weg des transformativen Lernens<br />

zu vermitteln, der es dem einzelnen Menschen ermöglicht,<br />

sein Potenzial zu entfalten und einen Beitrag zur<br />

Heilung des Menschen, der Gesellschaft und der Erde zu<br />

leisten. Ausser der Erfahrung innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft<br />

besuchen die Studierenden auch andere Gemeinschaften<br />

und treffen sich regelmässig zu Klausuren.<br />

Diese gemeinsame Arbeit vertieft die Verbundenheit,<br />

das Verständnis und die Kraft unter denen, die unsere<br />

Bewegung in die Zukunft tragen.<br />

Beiträge zur anthroposophischen Bewegung<br />

Die Anthroposophie bildet die Grundlage unserer Arbeit.<br />

Viele Menschen aus der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />

Bewegung spielen wichtige Rollen in<br />

der anthroposophischen Gesellschaft und der Freien<br />

Hochschule für Geisteswissenschaft, viele andere wirken<br />

unterstützend. Unsere Beiträge zur Bewegung sind<br />

vielseitig: Wir fördern das Verhältnis mit Partnerorganisationen,<br />

wir unterhalten eine öffentlich zugängliche<br />

anthroposophische Bibliothek, wir bieten öffentliche<br />

Kurse in den Geisteswissenschaften und Arbeitsgruppen<br />

über Rudolf Steiners Hauptbücher, etliche von uns<br />

sind aktive Mitglieder der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft,<br />

noch mehr sind tätig in oder leiten unsere<br />

örtlichen Zweige, einige von uns sind Mitglieder der<br />

Camphill-Gemeinschaft und unterstützen so die Pflege<br />

der Anthroposophie in der Welt, fördern die Camphill-<br />

Ideale und bieten Kraft für die Fortführung der Arbeit von<br />

intentionalen Gemeinschaften.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

As we take our place within the greater conversation<br />

we may also bring a spotlight on the good that may<br />

come when people strive to work for the benefit of<br />

others while trusting that their own individual needs<br />

will be also be met.<br />

The Camphill Academy<br />

With the founding of the Collegium of the Camphill<br />

Academy in May 2013, an umbrella organization for<br />

education and research embedded within the North<br />

American Camphill Movement was established. This<br />

organization, which is still in the early stages of its development,<br />

has the potential to significantly enhance<br />

and deepen the quality of the curative educational and<br />

social therapeutic work in the region and to support<br />

research, innovation and the development of future<br />

perspective that are at the same time contemporary<br />

and deeply rooted in anthroposophy. The Academy<br />

aims to provide a path of transformative learning that<br />

allows individuals to unfold their potential to contribute<br />

to the healing of the human being, society and<br />

the earth. Aside from the experience within one's own<br />

community, students visit other communities and join<br />

together periodically for retreats. This work together<br />

deepens bonds, understanding and strength among<br />

those who may carry our movement into the future.<br />

Contributions to the Anthroposophical Movement<br />

Anthroposophy is the foundation of our work. Many<br />

individuals out of the curative education and social<br />

therapy movement play significant roles with the Anthroposophical<br />

Movement and the School of Spiritual<br />

Science while many others carry supporting roles.<br />

Our contributions to the movement are varied: we<br />

promote relationship with sister organizations, we<br />

maintain a publicly available anthroposophical library,<br />

we offer public courses in the arts and study groups of<br />

R. Steiner's primary books, many of us are active members<br />

of the School of Spiritual Science, many more of<br />

us are active, or are leaders, in our local branches, some<br />

of us are Camphill Community Members and thereby<br />

support the cultivation of anthroposophy in the world,<br />

promote Camphill ideals and offer strength to the<br />

continuation of intentional community work.<br />

Kimberly Dorn, Plowshare Farm, Greenfield<br />

Translation from English: Christian von Arnim<br />

77


Interview<br />

Interview Siphamandla Qwabe<br />

Siphamandla Qwabe (28) was born in Cape Town and grew up in Hermanus, South Africa.<br />

He is currently completing his BA in Human Development from Prescott College in conjunction<br />

with the Diploma in Curative Education from the Camphill Academy. He has also<br />

joined Beaver Run’s high school faculty as the class 11 class teacher.<br />

Meine Beziehung zur anthroposophischen Heilpädagogik<br />

wird am besten mit den Worten von Jim Rohn ausgedrückt:<br />

Was immer wir an Gutem aufbauen, baut<br />

am Ende uns selbst auf.<br />

Meine Begegnung mit der anthroposophische Heilpädagogik<br />

kam zu einer Zeit, in der ich an einem Scheideweg<br />

stand. Als junger Mann hatte ich keinen festen<br />

Plan, ausser dem Wunsch, materielle Güter zu erwerben.<br />

Das Schicksal hatte jedoch eine deutlich andere<br />

Vorstellung für mein Leben. Damals war ich noch nicht<br />

klug genug, das zu verstehen. Kierkegaards Worte:<br />

«Das Leben kann nur rückwärts verstanden werden»,<br />

treffen in meinem Fall gewiss zu. Vor etwa acht Jahren<br />

traf ich eine Frau, die mich mit der Camphill-Bewegung<br />

(und Anthroposophie) bekannt machte und ich wollte<br />

diese Arbeit drei Monate lang erleben, um danach<br />

meine gut durchdachten materialistischen Ziele weiterzuverfolgen.<br />

Seitdem ist mein Leben ein Abenteuer<br />

mit zahllosen bereichernden Herausforderungen und<br />

lebensverändernden Erfahrungen.<br />

Die anthroposophische Heilpädagogik wird immer noch<br />

grösstenteils missverstanden, wenigstens im Bildungssektor.<br />

Ich glaube jedoch, dass sie innovativ ist und in<br />

den vergangenen zehn Jahren erkannten das auch andere<br />

pädagogische Richtungen. Kein Kind sollte quantifiziert<br />

und in eine Schublade eingeordnet werden.<br />

Anthroposophische Gemeinschaften (Camphill insbesondere)<br />

sollten untersuchen, wie die Anforderungen der<br />

Arbeit mit dem Anspruch des Einzelnen auf ein tragfähiges<br />

Leben zu vereinbaren sind. Ich glaube, wir müssen<br />

unsere Organisationen umstrukturieren, ohne das<br />

Wesentliche und die grundlegenden Werte unserer<br />

einmaligen Art der Gemeinschaftsbildung zu verlieren.<br />

Ich fühle mich aufgefordert, meine Arbeit zu teilen und<br />

möchte mich als Heilpädagoge aktiv weiterentwickeln,<br />

sodass ich meine Aufgabe im Bereich der Pädagogik<br />

besser erfüllen kann. Und ich möchte als einen Beitrag<br />

für die Gesellschaft an einer wesensgemässen Erziehung<br />

mitwirken.<br />

Übersetzung aus dem Englischen: Christian von Arnim<br />

78<br />

My relationship to anthroposophical curative education<br />

is best articulated in the following words by Jim Rohn:<br />

Whatever good things we build end up building us.<br />

My initiation into anthroposophical curative education<br />

came at a time when I was at a crossroads.<br />

As a young man fresh out of school, I had no definite<br />

plan beyond the desire of acquiring material<br />

possessions, but destiny had a clear, life-altering<br />

idea for my life. However, at that particular time I<br />

did not have the wisdom to comprehend this. Kierkegaard<br />

once said: “Life can only be understood<br />

backwards.” This has certainly been true in my<br />

case. About eight years ago, I met a women who<br />

introduced me to Camphill (and anthroposophy). I<br />

joined Camphill with the prospect of experiencing<br />

this work for three months and then proceeding to<br />

pursue my well mapped-out materialistic pursuits.<br />

Since then, my life has been an adventure filled<br />

with innumerable, enriching challenges and lifealtering<br />

experiences.<br />

Anthroposophical curative education is still mostly<br />

misunderstood, at least in the mainstream education<br />

sector. However, I believe such curative education<br />

to be innovative, and in the past ten years alone<br />

mainstream education has begun to recognise and<br />

notice the significant contribution that this curative<br />

education makes. No child should be quantified<br />

and be made to fit into a box.<br />

Anthroposophical communities (Camphill in particular)<br />

need to examine how the demands of work<br />

can be balanced with the individual’s needs for a<br />

sustainable life. I think we need to restructure our<br />

organisations without losing the essence of our<br />

model of community and the fundamental values<br />

of our unique way of building community.<br />

I feel called upon to share my work and actively<br />

continue the process of developing myself as<br />

a special needs teacher so as to better serve and<br />

fulfill my purpose in the realm of education. And,<br />

unquestionably, my role in the quest of educating<br />

the child organically is in itself an offering to society<br />

at large.


Berichte | Reports<br />

Mit den Wiener Philharmonikern | With the Wiener Philharmonics<br />

Österreich<br />

Im Jahr 1884 begann Rudolf Steiner eine Tätigkeit<br />

als Erzieher im Hause des Baumwollimporteurs Ladislaus<br />

Specht in Wien. Es gelang ihm, das «Sorgenkind»<br />

der Familie, Otto Specht, der für nicht<br />

bildungsfähig gehalten wurde, zum Besuch des Gymnasiums<br />

vorzubereiten und um später das Medizinstudium<br />

zu absolvieren. Im Hause Specht erfuhr<br />

Rudolf Steiner so sein grundlegendes heilpädagogisch-therapeutisches<br />

Studium und Praktikum.<br />

Somit kann behauptet werden, dass die anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie ihren<br />

weltbedeutenden Anfang in Wien begonnen hat.<br />

Diese praktischen heilpädagogischen Erfahrungen<br />

des jungen Rudolf Steiners, verbunden mit seinen<br />

grundlegenden erkenntnistheoretischen Arbeiten<br />

einer goetheanistisch-phänomenologischen Betrachtungsweise,<br />

bilden die geistigen Keime, die<br />

dann im Jahre 1924 als Frucht in Form des Heilpädagogischen<br />

Kurses die anthroposophische heilpädagogische<br />

Weltbewegung impulsierte.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Austria<br />

In 1884 Rudolf Steiner began to work as a private<br />

teacher in the home of the cotton merchant Ladislaus<br />

Specht in Vienna. He managed to prepare<br />

Otto Specht, the family’s ‹problem child›, previously<br />

thought to be uneducable, for grammar school<br />

and even for his subsequent medical studies. It was<br />

in the Specht home, therefore, that Rudolf Steiner<br />

received his training and first practical experience<br />

of curative education and therapy.<br />

Anthroposophical curative education and social<br />

therapy can therefore be said to have originated in<br />

Vienna. The practical experience the young Rudolf<br />

Steiner gained there, in conjunction with his fundamental<br />

epistemological studies based on Goethean-phenomenological<br />

observation, formed the<br />

seed from which, in 1924, the Curative Education<br />

Course could grow and inspire a worldwide anthroposophical<br />

movement for curative education.<br />

All this started in Vienna, and this is why Austria<br />

boasts a range of anthroposophical curative educa-<br />

79


Berichte | Reports<br />

Das alles hat in Wien seinen Ausgang genommen und<br />

insofern ist es erklärlich, dass Österreich heute über<br />

ein ansehnliches Spektrum an anthroposophischen<br />

heilpädagogischen Einrichtungen verfügt. Die anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie ist 90<br />

Jahre nach dem Heilpädagogischen Kurs von Rudolf<br />

Steiner in Österreich etabliert und anerkannt.<br />

Drei heilpädagogische Schulen, neun sozialtherapeutische<br />

Einrichtungen, zwei Ausbildungsstätten<br />

und ein Elternverein arbeiten unter dem österreichischen<br />

Dachverband PlatO – Plattform anthroposophischer<br />

therapeutischer Organisationen. PlatO ist<br />

das Bindeglied zur Konferenz für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie in der Medizinischen Sektion der Freien<br />

Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum<br />

in Dornach/Schweiz.<br />

Einige anthroposophisch orientiert arbeitende Initiativen,<br />

die nicht dem Dachverband PlatO beigetreten<br />

sind, stehen in einem guten Verhältnis zu den anderen<br />

Einrichtungen. Die beiden Rudolf-Steiner-Seminare<br />

für Heilpädagogik und Sozialtherapie in Breitenfurt<br />

bei Wien und in Graz bilden SozialbetreuerInnen für<br />

die Begleitung von Menschen mit Behinderung bzw.<br />

SozialtherapeutInnen und HeilpädagogInnen für alle<br />

Institutionen aus. Die Einrichtungen gedeihen und<br />

wirken positiv anregend auf das Umfeld.<br />

Die drei Schulen haben jede für sich ein eigenes Profil<br />

entwickelt, aber alle auf der Grundlage der Waldorfpädagogik.<br />

Das sind die Karl Schubert Schulen in Wien, in<br />

Graz und die Paracelsus Schule Salzburg.<br />

Die verschiedenen sozialtherapeutischen Einrichtungen,<br />

von denen die Mehrzahl an biologisch-dynamischen<br />

Bauernhöfe angegliedert sind, verteilen sich auf<br />

Kärnten, Steiermark, Niederösterreich, Oberösterreich<br />

und Salzburg. Es werden insgesamt ca. 500 seelenpflegebedürftige<br />

Menschen in diesen Organisationen<br />

betreut. Weil hier eine Beschreibung der einzelnen Institutionen<br />

den Rahmen sprengen würde, weise ich auf<br />

einen ausführlichen historischen Bericht von Frau Ulrike<br />

Wenniger hin, den sie 2014 verfasst hat und der in<br />

der Zeitschrift «Wegweiser Anthroposophie» publiziert<br />

wurde. Darin finden sich eine schöne Beschreibung und<br />

Charakterisierung der einzelnen Initiativen und auch<br />

eine Erwähnung der einzelnen Persönlichkeiten, die<br />

tatkräftigt für die Impulse gesorgt haben.<br />

tion centres today. Ninety years after Rudolf Steiner<br />

presented the Curative Education Course, anthroposophical<br />

Curative Education and Social Therapy<br />

are established and recognized in Austria.<br />

Three schools offering curative education, nine<br />

social therapy centres, two training centres and a<br />

parents’ association are all members of the umbrella<br />

organization PlatO – Platform for anthroposophical<br />

therapeutic Organizations. PlatO is<br />

Austria’s link to the Curative Education and Social<br />

Therapy Council, which is part of the Medical Section<br />

of the School of Spiritual Science at the Goetheanum<br />

in Dornach, Switzerland.<br />

The anthroposophically oriented initiatives which<br />

are not PlatO members have a good relationship<br />

with the other centres. The two Rudolf Steiner training<br />

seminars for Curative Education and Social<br />

Therapy, one in Breitenfurt near Vienna and the<br />

other in Graz, train social care workers to support<br />

people with special needs as well as social therapists<br />

and curative teachers to work in any of our institutions.<br />

These centres are thriving and have a positive<br />

and inspirational effect on their environment.<br />

The three schools – the Karl Schubert Schools in Vienna<br />

and Graz and the Paracelsus School in Salzburg<br />

– have developed their own individual identity, but<br />

they are all based on Waldorf Education.<br />

The various social therapy centres, most of which are<br />

attached to biodynamic farms, are spread out across<br />

Carinthia, Styria, Lower Austria, Upper Austria and<br />

Salzburg. Around 500 people with special needs are<br />

being looked after in these organizations.<br />

In recent years, the anthroposophical curative education<br />

and social therapy movement in Austria has<br />

worked on the following issues:<br />

• In 2008 a monitoring committee was formed in Austria<br />

for the implementation of the UN Convention<br />

on the Rights of People with Disabilities. The<br />

question of inclusion was also taken up by the government<br />

of Lower Austria and discussed within<br />

the various institutions.<br />

• In the Vienna area and in Lower Austria two growing<br />

centres, LebensArt and the village community in<br />

Breitenfurt, are receiving positive feedback and<br />

support from the authorities. Anthroposophical<br />

80


Berichte | Reports<br />

In den letzten Jahren hat sich die anthroposophische<br />

heilpädagogische und sozialtherapeutische Bewegung<br />

in Österreich mit folgenden Themen auseinandergesetzt:<br />

• 2008 hat sich der Österreichische-Monitoring-Ausschuss<br />

zur Umsetzung der UN-BRK konstituiert. Die Inklusionsthematik<br />

wurde auch von der NÖ Landesregierung<br />

aufgegriffen, ebenso in den Institutionen<br />

thematisiert.<br />

• Im Raum Wien und Niederösterreich wird das Wachstum<br />

der Einrichtungen LebensArt und Dorfgemeinschaft<br />

Breitenfurt von den Behörden positiv bewertet und<br />

unterstützt. Die anthroposophische Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie ist in NÖ sehr anerkannt und geniesst<br />

teilweise Modellcharakter. Die wirtschaftliche<br />

Unterstützung ist in NÖ im Vergleich zu anderen Bundesländern<br />

wie Kärnten und Steiermark sehr stabil.<br />

Alle laufenden Kosten sind durch staatliche Subventionen<br />

gedeckt. Die Dorfgemeinschaft wurde bei der<br />

letzten Baustufe wesentlich vom Land unterstützt.<br />

• Folgende fachliche Fragen haben uns in den letzten<br />

Jahren intensiv beschäftigt: Der Paradigmenwechsel<br />

von der Integration zur Inklusion, individuelle (persönliche)<br />

Zukunftsplanung und selbstbestimmtes<br />

Leben, Unterstützte Kommunikation, Aufbau von<br />

Selbstvertretungen, medizinische Versorgung für<br />

Menschen mit Behinderung und Krisenintervention.<br />

• Unser Beitrag: Verknüpfung von zeitgemässer anthroposophischer<br />

Sozialtherapie und Ausbildung. Verbreitung<br />

des Impulses an junge Menschen durch viele<br />

PraktikantInnen eines Freiwilligen Sozialen Jahres,<br />

Auszubildende und Schulpraktikanten.<br />

curative education and social therapy are recognized<br />

in Lower Austria to the extent that they<br />

are sometimes presented as exemplary. Unlike in<br />

other states, such as Carinthia and Styria, financial<br />

support in Lower Austria is very reliable: all running<br />

costs are covered by state funding and the<br />

village community received state support for its<br />

most recent building project.<br />

• The following topics have been particularly relevant<br />

in recent years: the paradigm shift from integration<br />

to inclusion, individual (personal) planning<br />

for the future and self-determined living, facilitated<br />

communication, establishing self-advocacies,<br />

medical care for people with disabilities and crisis<br />

intervention.<br />

• Our contribution: combining modern anthroposophical<br />

social therapy and training. Spreading the<br />

impulse to young people via the many volunteers,<br />

students and pupils on work experience.<br />

Michael Mullan, Dorfgemeinschaft Breitenfurt,<br />

Breitenfurt b. Wien<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

81


Berichte | Reports<br />

Pakistan<br />

Als Shahida und Hellmut Hannessen vor 16 Jahren die<br />

Entscheidung trafen, den Impuls der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie nach Pakistan<br />

zu tragen, konnten sie noch nicht ahnen, welche<br />

weitreichende Folgen sich aus dieser Entscheidung<br />

ergeben würden! Beide leben inzwischen aus persönlichen<br />

Gründen wieder in Deutschland, nachdem sie<br />

über zehn Jahre massgeblich und leitend den Aufbau in<br />

Lahore vorangebracht haben.<br />

Das Leben in Roshni<br />

In Roshni leben heute ungefähr dreissig erwachsene<br />

Menschen mit Assistenzbedarf in zwei grossen Häusern,<br />

die mit deutscher Unterstützung für diesen Zweck gebaut<br />

wurden und die auch die Werkstätten und einen kleinen<br />

Saal beherbergen. Das Anwesen befindet sich in einem<br />

noch ländlichen, aber schon locker bebauten Vorstadtgebiet<br />

von Lahore. Zu jeder Seite der in Pakistan üblichen<br />

Mauer zur Sicherung des Grundstücks grenzt eine<br />

Moschee. Zuweilen wird man morgens nicht nur vom Ruf<br />

des Muezzin, sondern auch von einem Löwen geweckt,<br />

den sich einer der Nachbarn als Haustier hält.<br />

Das Leben innerhalb dieser Mauern folgt seinem eigenen<br />

Gang, bei dem sich die vom Islam geprägte pakistanische<br />

Kultur und heilpädagogisch-sozialtherapeutische<br />

Traditionen die Hand reichen.<br />

Ein vielseitiger Ort<br />

Während die am Ort lebenden Mitarbeitenden und PraktikantInnen<br />

ihre Zeit mit den Bewohnern auch am Wochenende<br />

und nach Feierabend teilen, gibt es etliche, die mit<br />

Kleinbussen aus dem ganzen Stadtgebiet kommen und<br />

abends wieder nach Hause fahren. Nicht selten kommt<br />

eine Schar von Kindern aus der benachbarten Waldorfschule,<br />

um in Garten oder Landbau mitzuarbeiten. Dieser<br />

spielt eine wichtige Rolle: Er wendet sich der Beziehung<br />

und Pflege der Natur zu, bietet Arbeitsplätze und trägt zur<br />

Versorgung der in Roshni lebenden Menschen bei. Man<br />

wird dort neben zwei Kühen, die allerdings ganz anders<br />

aussehen als in Europa, auch einige Wasserbüffel finden.<br />

Sie werden morgens und abends von Hand gemolken.<br />

Das Futter wird mit dem Eselwagen aus der Umgebung<br />

geholt. Wasserbüffel sind in Pakistan sehr verbreitet und<br />

ihre Besitzer führen sie, wenn irgend möglich, einmal am<br />

Tag zum Wasser, wo sie wohlig baden.<br />

Pakistan<br />

When, sixteen years ago, Shahida and Hellmut Hannessen<br />

decided to carry the anthroposophical curative education<br />

and social therapy impulse to Pakistan they had no idea<br />

what far-reaching consequences their decision would<br />

have! Although they have returned to Germany again for<br />

personal reasons, they were instrumental in promoting<br />

and leading the project in Lahore for more than ten years.<br />

Life at Roshni<br />

Today around thirty adults with special needs live at<br />

Roshni, in two big houses which were purpose-built<br />

with help from Germany and which also include workshops<br />

and a small hall. They are located in a suburban<br />

part of Lahore that is still relatively rural but is gradually<br />

becoming built up. On each side of the wall that<br />

surrounds the premises – a common safety precaution<br />

in Pakistan – stands a mosque. At times, not only<br />

the call of the muezzin wakes us in the morning but<br />

also the roaring of the lion that is kept as a pet by one<br />

of the neighbours. Life within these walls has its own<br />

rhythms, uniting the Islamic Pakistani culture with the<br />

traditions of curative education and social therapy.<br />

A multifaceted place<br />

While the staff members and co-workers who live here<br />

also spend time with the residents during weekends<br />

and after working hours, there are many who come<br />

in small buses from all over the city and return home<br />

in the evening. Quite often a group of children comes<br />

over from the nearby Waldorf school to help in the<br />

garden or on the fields. Agriculture is an important<br />

aspect of the community: it involves caring for nature,<br />

provides jobs and supplies everyone at Roshni with<br />

food. Apart from two cows – they look very different<br />

from European cows – there are also a few water buffalos.<br />

They are milked by hand every morning and evening<br />

and their food is fetched by donkey-cart from the<br />

surrounding area. Water buffalos are quite common in<br />

Pakistan. Their owners lead them to the water once a<br />

day and let them indulge in a bath.<br />

The bakery is another important workplace. Germanstyle<br />

bread is being baked here and the products are<br />

also delivered to various organic health-food shops in<br />

Lahore – a courageous enterprise seeing that Pakistani<br />

people are used to eating ‹roti›, a flatbread which they<br />

use instead of cutlery.<br />

82


Eine weitere wichtige Werkstatt ist die Bäckerei, die<br />

Brote nach deutschem Rezept bäckt. Einige Bioläden<br />

in Lahore werden mit den Produkten beliefert. Dies ist<br />

ein mutiger Ansatz, da in der Regel in Pakistan Roti gegessen<br />

wird, ein Fladenbrot, das man gewöhnlich statt<br />

Besteck verwendet.<br />

Fortbildung und Beratung<br />

Im Namen der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

war ich in den vergangenen zwei Jahren vier<br />

Mal für gut eine Woche dort, um die Arbeit wahrzunehmen,<br />

zu beraten und zu impulsieren. Besonders interessant<br />

ist der Dialog zwischen den Ansätzen aus dem<br />

islamisch-pakistanischen Kulturkreis und den anthroposophisch<br />

inspirierten Konzepten. Unter der Überschrift<br />

«Grundelemente und Qualitäten» werden die<br />

Seminartage begonnen und beendet. Themen sind humanistische<br />

Fragen, wie beispielsweise der Stellenwert<br />

von Interesse, Mitgefühl und Mitleid oder Liebe. Zudem<br />

wird an der Aussagekraft und den Motiven der Behinderung<br />

im Rahmen des jeweiligen Menschenbilds gearbeitet.<br />

Daneben spielen Märchen und Erzählungen<br />

aus dem pakistanischen Umkreis eine wichtige Rolle,<br />

die teils durch Carolin Dackweiler mit Elementen des<br />

Theaters aufgegriffen, erlebbar gemacht und vertieft<br />

werden. So wird es demnächst ein kleines Theaterstück<br />

geben, das von den Mitarbeitenden aufgeführt wird.<br />

Weitere Entwicklung und Wachstum<br />

Die Arbeit in Roshni entwickelt sich und wächst stetig.<br />

Die Werkstätten suchen nach guten Absatzwegen<br />

für ihre Produkte und entwickeln diese weiter. Eventuell<br />

ist sogar an eine deutliche Vergrösserung gedacht.<br />

Auch ein weiteres Wohnhaus ist in Planung. Durch die<br />

intensive und regelmässige Arbeit mit dem Kollegium<br />

arbeiten wir daran, die äussere Entwicklung von innen<br />

zu unterbauen und zu impulsieren.<br />

So lebt, was nicht zuletzt auch mit Hilfe und Unterstützung<br />

der Zukunftsstiftung Entwicklung der GLS Gemeinschaftsbank<br />

und der Freunde der Erziehungskunst<br />

Rudolf Steiners begonnen wurde.<br />

Michael Dackweiler zu Besuch in Pakistan | Michael on a visit to Pakistan<br />

Further training and consulting<br />

I have visited Roshni four times in the last two years<br />

on behalf of the Curative Education and Social Therapy<br />

Council, staying about a week each time. My aim on<br />

these visits has been to gain an impression of the life<br />

here as well as acting as a consultant and bringing fresh<br />

impulses. What is particularly interesting is the dialogue<br />

between Pakistani Islamic culture and anthroposophically<br />

inspired concepts. We begin and end our seminars<br />

with a session entitled ‹Basic Elements and Qualities›.<br />

We work on humanistic questions such as the value<br />

of interest, compassion and love, and on the meaning<br />

and motifs of disability within the different views of the<br />

human being. Folk tales from Pakistan play an important<br />

part in our seminars. Carolin Dackweiler dramatizes<br />

them to provide a deepened experience and a small play<br />

will soon be performed by staff members.<br />

Development and growth<br />

The work at Roshni is progressing steadily. The workshops<br />

are trying to find a suitable market for their products<br />

and are even planning to expand. Plans are also<br />

underway for more housing. By working intensively and<br />

regularly with the staff we try to strengthen the outer<br />

development from within and bring new impulses.<br />

What was once started with the help of the GLS Bank’s<br />

‹Foundation for the Future› and the Friends of Rudolf<br />

Steiner Education has become a living organism.<br />

Michael Dackweiler, iona-werkstatt, Deckenpfronn<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

83


Berichte | Reports<br />

San Christoferus in Lima<br />

Peru<br />

Peru<br />

Peru liegt im Zentrum Südamerikas und grenzt im Westen<br />

an den pazifischen Ozean, sodass es drei gut definierte<br />

Regionen gibt: die wüstenartige Küste, die Gebirgskette<br />

der Anden und den tropischen Regenwald.<br />

In den letzten drei Jahren hat sich die ökonomische Situation<br />

im Land aufgrund der weltweiten Finanzkrise<br />

verschärft, da Perus Wirtschaft sehr exportabhängig ist.<br />

Insbesondere bei der Ausfuhr von Edelmetallen sind die<br />

Preise massiv gefallen.<br />

Dies hat zur Folge, dass der Staatshaushalt starke Einbussen<br />

verzeichnet, was wiederum deutliche Auswirkungen<br />

auf die Investitionen im Bildungsbereich zur Folge hat.<br />

In sozialer Hinsicht prallen extreme Unterschiede aufeinander.<br />

Vor allem in den Randzonen der Hauptstadt<br />

Lima, woher unsere Schüler kommen, herrscht eine<br />

grosse Armut.<br />

San Cristoferus ist eine von verschiedenen Institutionen<br />

in Lima, die auf Initiative von Wolfgang Spitteler<br />

gegründet wurden. Es ist das einzige «Sonderschulzentrum»<br />

in ganz Peru, das nach anthroposophischheilpädagogischen<br />

Richtlinien arbeitet. Da in Peru<br />

eine spezielle Ausbildung für Heilpädagogik erforderlich<br />

ist, sind an der Schule fünf heilpädagogisch<br />

ausgebildete Lehrer tätig. Alle Fachkräfte haben ihre<br />

anthroposophisch-heilpädagogische Qualifikation durch<br />

die Teilnahme an internationalen Kongressen im Aus-<br />

Peru lies in the centre of South America and has<br />

its west coast on the Pacific Ocean. The country is<br />

split into three well defined regions: The desert-like<br />

coast line, The Andes mountain range and the tropical<br />

rain forest.<br />

Peru’s economy is heavily dependent on export, and<br />

due to the global financial crisis, the economic situation<br />

has been deteriorating and the prices of precious<br />

metals have dropped drastically. The national budget<br />

has been adversely affected by this development and<br />

this has had a huge impact on investment in the education<br />

system.<br />

Socially speaking, we see massive differences in the<br />

quality of life around the country. The suburbs of Lima,<br />

where our children come from, are poverty-stricken.<br />

San Cristoferus is one of several centres in Lima that<br />

were founded by Wolfgang Spitteler, and it is the only<br />

anthroposophical special needs school in all of Peru.<br />

Because one needs specialist training to teach in special-needs<br />

schools in Peru, San Cristoferus employs<br />

five such qualified teachers. All specialist staff received<br />

their anthroposophical qualifications in curative<br />

education by attending international professional<br />

development congresses in Peru or in neighbouring<br />

countries such as Ecuador, Columbia or Argentina. We<br />

have many guests from other institutions and centres<br />

84


Berichte | Reports<br />

land absolviert (Ecuador, Kolumbien, Argentinien,<br />

Peru), nicht zuletzt sind die vielen Gespräche mit eingeladenen<br />

Gästen und Besuchern immer wieder aufschlussreich<br />

und ein bedeutender Lernfaktor.<br />

San Cristoferus praktiziert seit nunmehr dreissig Jahren<br />

Heilpädagogik auf der Grundlage einer privaten Körperschaft.<br />

Die Zahl der Schülerinnen und Schüler soll in den<br />

kommenden Jahren erhöht werden, da eine Kapazität<br />

von vierzig Plätzen besteht, zurzeit jedoch nur dreissig<br />

davon besetzt sind. Deswegen suchen wir nach Wegen,<br />

unseren Dozentinnen und Dozenten zur Erlangung einer<br />

Qualifikation die Teilnahme an Bildungsmassnahmen in<br />

Südamerika zu ermöglichen, was nicht einfach ist, da die<br />

wirtschaftliche Situation der pädagogischen Fachkräfte<br />

es in der Regel nicht erlaubt, zu Ausbildungszwecken<br />

eine längere Zeit ins Ausland zu reisen.<br />

Die Kinder und Jugendlichen von San Christoferus stammen<br />

aus verschiedenen Armenvierteln Limas. 95% unserer<br />

Schülerinnen und Schüler werden durch Voll- oder<br />

Teilstipendien unterstützt, da die Eltern sehr arm sind.<br />

Zusätzlich erhalten wir eine Förderung von einigen Paten<br />

aus Deutschland, der Schweiz und Italien. Insgesamt<br />

kann damit jedoch nicht das erforderliche Budget abgedeckt<br />

werden. Der Staat stellt uns angesichts unseres<br />

privaten Status keinerlei Subventionen zur Verfügung.<br />

Heilpädagogik basiert in Peru auf einer Sonder-Vereinbarung<br />

mit dem Ministerium für Bildung und kann<br />

offiziell als Projektversuch umgesetzt werden. Die letzten<br />

Regierungen haben an einer Bildungsreform gearbeitet,<br />

jedoch ohne Kontinuität, da jede Regierung<br />

während ihrer Amtszeit die Reform nach ihren eigenen<br />

Kriterien gestaltet hat. Aufgrund dieser Brüche und<br />

Erneuerungen war die Gestaltung eines nachhaltigen<br />

Curriculums nicht möglich.<br />

around the world who bring us new ideas and techniques<br />

and make sure we never stop learning.<br />

San Cristoferus has practised curative education on a<br />

private basis for over 30 years. Over the next year, we<br />

plan to increase the number of students at our centre.<br />

We have the resources and capacity for 40 students,<br />

but only have 30 at present. This being the case, we are<br />

currently searching for ways for our teachers to attend<br />

courses in South America, so they can get qualifications.<br />

This is not easy, as the teachers’ current financial<br />

situation does not allow them to attend more intensive,<br />

time consuming training courses in other countries.<br />

Our children and young people come from various deprived<br />

parts of Lima. Because all the parents are very<br />

poor, 95% of our students are financially supported<br />

by either full time or part time grants. In addition, we<br />

receive donations from sponsors in Germany, Switzerland<br />

and Italy. Unfortunately, this still does not cover<br />

all our costs, and, because of our private status, the<br />

state refuses us any subsidies.<br />

Curative education in Peru is based upon a special<br />

agreement with the ministry of education, and is allowed<br />

to be implemented as an educational experiment<br />

project. Because of their differing ideas and<br />

impulses, previous governments working on educational<br />

reform failed to achieve any noticeable continuity.<br />

This lack of progression and the constant<br />

changes have meant that it has been impossible for<br />

us to achieve a sustainable curriculum.<br />

Victor Cordova, Colegio San Christoferus, Lima<br />

Translawtion from German: Leonard Saar<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

85


Berichte | Reports<br />

Portugal<br />

Portugal<br />

Portugal ist das Land, das vor 500 Jahren im Vertrag<br />

von Tordesilhas mit päpstlicher Genehmigung die<br />

ganze Welt mit seinem Nachbarn Spanien teilte. Doch<br />

zur Zeit sieht diese ehemahlige Weltmacht wegen der<br />

vorerst aussichtslosen Wirtschaftskrise ihre jüngere<br />

Generation emigrieren.<br />

So leben im Land zehn Millionen Einwohner, vier Millionen<br />

Portugiesen sind seit den sechziger Jahren ausgewandert<br />

über die ganze Welt.<br />

Die Anthroposophische Gesellschaft zählt etwa fünfzig (!)<br />

Mitglieder, darunter etwa zwanzig aktive, meist verbunden<br />

mit heilpädagogischen oder Waldorf-Initiativen.<br />

Es gibt zwei Einrichtungen für Sozialtherapie, beide im<br />

gebirgigen Innenland, beide Mitglied der spanischportugiesischen<br />

Föderation für Heilpädagogik und Sozialtherapie:<br />

ASTA (Associação SocioTerapêutica de<br />

Almeida) und Casa de Santa Isabel. Zusammen mit Institutionen<br />

aus Spanien werden jährlich abwechselnd Mitarbeiter-<br />

und Bewohnerkongresse organisiert.<br />

Wir dürfen uns in Portugal über staatliche finanzielle<br />

Unterstützung freuen, doch wie überall ist die Kehrseite<br />

der Medaille eine zunehmende Kontrolle und<br />

Reglementierung.<br />

Bewegung<br />

Die ältere Institution, Casa de Santa Isabel (1981), rückte<br />

vor einigen Jahren in die öffentliche Aufmerksamkeit<br />

wegen des Brandes eines Wohnhauses. Dieses Ereignis<br />

hat viel Bewegung gebracht. Kamen bis dahin viele<br />

(freiwillige) Mitarbeiter aus Mitteleuropa, so erschienen<br />

jetzt Menschen aus dem Land selbst und wollten sich als<br />

Mitarbeiter engagieren. Zudem war jahrelang schon die<br />

Rede von der Etablierung einer Ausbildung. Die Pläne<br />

konnten nun verwirklicht werden.<br />

In dieser Zeit spitzte sich auch die Wirtschaftskrise zu.<br />

Wir haben den Eindruck, dass diese, neben Arbeitslosigkeit,<br />

auch Bewusstsein bringt zu Sinnfragen, die<br />

dann wiederum Türen öffnen können, die vorher nicht<br />

im Blickfeld waren.<br />

Die andere Institution, ASTA (2000), in einer immer dünner<br />

besiedelten ländlichen Gegend, hat eine sehr aktive<br />

Rolle übernommen in der sozio-kulturellen Wiederbelebung<br />

der Region. Das Gemeinschaftsleben mit den betreuten<br />

Menschen erweckt die kleinen Granithäuser<br />

eines sonst aussterbenden Dorfes zu neuem Leben.<br />

Portugal is the country which 500 years ago, in the<br />

Treaty of Tordesillas and with papal permission, divided<br />

up the whole world between itself and its neighbour,<br />

Spain. Now the former global power is seeing its<br />

younger generation emigrate as a result of a seemingly<br />

hopeless economic crisis.<br />

The country has ten million inhabitants. Since the sixties,<br />

four million Portuguese have emigrated, spreading<br />

out across the world.<br />

The Anthroposophical Society has around fifty (!)<br />

members, twenty of whom are active, mostly in connection<br />

with initiatives for the provision of curative<br />

or Waldorf education.<br />

There are two social therapy centres, both situated<br />

in the mountainous interior of the country and<br />

both members of the Spanish-Portuguese Federation<br />

for Curative Education and Social Therapy<br />

(ASTA – Associação SocioTerapêutica de Almeida)<br />

and Casa de Santa Isabel.<br />

Together with centres in Spain they take it in turns to<br />

organize congresses for staff and residents.<br />

We are lucky to receive state funding in Portugal but,<br />

as everywhere else, the downside is that we have to<br />

put up with ever more monitoring and regulation.<br />

Progress<br />

Casa de Santa Isabel, the older of the two centres<br />

(1981), was in the news some years ago when one of<br />

the residential houses was destroyed by fire. This event<br />

has stimulated some progress. While, up to that time,<br />

many volunteers came from Central Europe, people<br />

now arrive from Portugal, keen to give active support.<br />

There also had been talk for years of setting up a training<br />

and these plans could now be put into action.<br />

At that time the economic crisis was also escalating.<br />

We have the impression that this crisis, as well as the<br />

unemployment, make people more aware of the question<br />

of what is meaningful and this awareness can<br />

then open doors that had not been visible before.<br />

The other centre, ASTA (2000), which is situated in<br />

a less populated rural area, has assumed an active<br />

role in the socio-cultural reenlivening of the region.<br />

Living in a community with the people we care for<br />

brings new life to the small granite houses in a village<br />

that would otherwise be deserted.<br />

86


Berichte | Reports<br />

Inklusion<br />

Die Inklusionspolitik hat dazu geführt, dass wir keine<br />

Kinder mehr betreuen dürfen. Sie sollen alle in die «normalen»<br />

Schulen gehen. Als Siebzehnjährige stehen sie<br />

dann wieder hier an der Tür, um teilzunehmen an unserer<br />

speziellen Berufsausbildung für junge Erwachsene<br />

mit einem Entwicklungsproblem; leider ist dann vielfach<br />

zu dem ursprünglichen Problem noch ein Minderwertigkeitskomplex<br />

dazugekommen. Sie stellen, oft geprägt<br />

von Aussichtslosigkeit und unstrukturierten sozialen<br />

Hintergründen, mit ihren Smartphones und ihrer Tabakabhängigkeit<br />

wieder ganz neue Herausforderungen dar.<br />

Nächste Schritte<br />

Die heranwachsende Mitarbeitergeneration ist offen für<br />

die anthroposophische Praxis. Auch im Rahmen der erwähnten<br />

Ausbildung zeigen die jungen Mitarbeitenden<br />

Interesse an Hintergründen. Es ist überraschenderweise<br />

kein prinzipielles Problem für sie, Steinertexte zu<br />

studieren. Aber bekanntlich ist für junge Leute die Auseinandersetzung<br />

mit dem christlichen Hintergrund der<br />

Anthroposophie nicht einfach.<br />

Aus Sicht der Antroposophischen Bewegung als Ganzes<br />

sieht man die grosse Bedeutung der Waldorfpädagogik<br />

und der Heilpädagogik/Sozialtherapie im<br />

Lande. In die portugiesische Anthroposophische Gesellschaft<br />

treten jährlich vielleicht zwei neue Mitglieder<br />

ein, neue Ausbildungen können mit dreissig bis<br />

fünfzig Interessierten pro Jahr rechnen. Die Praxis,<br />

also die Tätigkeit, zu der die heilpädagogische und sozialtherapeutische<br />

Arbeit einlädt, bietet den Zugang<br />

zur spirituellen Vertiefung. Es ist vermutlich auch in<br />

diesem Sinne zu verstehen, dass Wolfgang Schad in<br />

seinem Buch «Der periphere Blick» vorschlägt: «Im<br />

Steinerschen Gesamtwerk ersetze man überall das<br />

Wort ‹Geist› durch ‹Tätigkeit›. Es passt immer.»<br />

Es ist an der Zeit, dass die Pioniergeneration und die<br />

jungen Mitarbeitenden den Generationswechsel jetzt<br />

in Tätigkeit und mit Geistesgegenwart gestalten.<br />

Mit einem Gruss aus der Peripherie Europas,<br />

Inclusion<br />

As a result of the inclusion policy we are no longer<br />

allowed to look after children, because they are all expected<br />

to attend ‹normal› schools. When they turn seventeen<br />

they come back to us and want to take part<br />

in our vocational training for young adults with developmental<br />

problems; unfortunately they have by then<br />

often acquired an inferiority complex in addition to<br />

their orgininal difficulties. Their sense of hopelessness<br />

and their unstructured social background, connected<br />

with a smart phone habit and tobacco addiction, now<br />

present entirely new challenges.<br />

The next steps<br />

The new generation of staff members is open to the<br />

anthroposophical approach. Even those who are still<br />

in training show an interest in its origins. Surprisingly<br />

they don’t have a problem in principle with reading<br />

texts by Rudolf Steiner. What they do find more difficult<br />

is the Christian foundation of anthroposophy.<br />

The anthroposophical movement in Portugal is aware<br />

of the great importance of Waldorf education and<br />

curative education/social therapy for this country.<br />

The Anthroposophical Society in Portugal gains<br />

about two new members per year, while the new<br />

training courses expect about thirty to fifty new students<br />

every year. The practical activity that curative<br />

education and social therapy invite us to take upon<br />

us paves the way for spiritual deepening. This is probably<br />

what Wolfgang Schad meant when he wrote,<br />

‹You can replace the word ‘spirit’ by ‘activity’ anywhere<br />

in Rudolf Steiner’s work. It will always make<br />

sense.› It is time that the pioneering generation and<br />

the young care workers start to shape the change of<br />

generations actively and consciously.<br />

With warm greetings from the European periphery,<br />

Bert ten Brinke, Casa de Santa Isabel, São Romão-<br />

Seia Translation from German: Margot Saar<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

87


Berichte | Reports<br />

Rumänien<br />

Romania<br />

Heilpädagogische Arbeit existiert seit 1991 in Rumänien<br />

und sie erfolgt in vier Zentren: Simeria Veche, Bukarest,<br />

Cluj-Napoca und Vulca, in denen insgesamt<br />

270 Leistungsberechtigte von über 130 Personen versorgt<br />

werden. Unglücklicherweise erweist sich die politische<br />

und wirtschaftliche Situation in Rumänien als<br />

ungünstig. Weit davon entfernt, Alternativen wie die<br />

heilpädagogische Erziehung zu unterstützen, werden<br />

diese von den rumänischen Behörden eher toleriert,<br />

so dass sie nur knapp überleben können.<br />

Nur das Zentrum in Simeria hat den Status einer unabhängigen,<br />

rechtmässig legitimierten Institution<br />

und damit die Freiheit, die gesetzlichen Vorschriften<br />

zu implementieren. Die Zentren in Bukarest, Cluj und<br />

Vulcan sind noch immer mit staatlichen Schulen verbunden<br />

und damit kaum in der Lage, die spezifischen<br />

heilpädagogischen Aktivitäten so durchzuführen, wie<br />

man dies sollte. Stattdessen muss mit dem System<br />

darum gekämpft werden, die Rechte der Menschen<br />

mit Beeinträchtigungen umzusetzen.<br />

Die Förderschulen kämpfen um ihre Existenz und<br />

«jagen» geradezu nach Schülern, um die Stellen der<br />

Mitarbeiterschaft zu erhalten. So hat beispielsweise<br />

vor einigen Jahren der damalige Leiter von Cluj sich<br />

selbst als Eurythmielehrer eingestellt, damit er etwas<br />

zusätzliches Geld verdienen konnte.<br />

Ein weiteres trauriges Phänomen besteht darin, dass<br />

der Staat versucht, die von ihren Eltern verlassenen<br />

Kindern in der Nähe ihrer Herkunftsfamilie zu platzieren.<br />

Dies führt zu häufigen Umzügen der Kinder von<br />

einer Institution in die andere – den oft armen Familien<br />

folgend – die das Kind aufgegeben haben, ohne an<br />

weiterem Kontakt interessiert zu sein.<br />

Auch wenn die Heilpädagogik die einzige alternative<br />

Erziehungsmethode mit staatlicher Anerkennung<br />

und Finanzierung darstellt, erklären die meisten Behörden<br />

–, inoffiziell, aber deutlich – dass Kinder mit<br />

schweren geistigen Behinderungen nicht in die Schule<br />

gehörten. Sie sind sich zwar der Forderungen der UN-<br />

Konvention bewusst, aber geben nur vor, diese umzusetzen<br />

und berauben auf diese Weise die Kinder und<br />

Erwachsenen mit Behinderungen ihrer Grundrechte.<br />

Leider besteht eine kommunistische Mentalität fort,<br />

es fehlen Verständnis und guter Wille.<br />

Curative Education has been undertaken in Romania<br />

since 1991 and today, it continues to exist in four<br />

centres: Simeria Veche, Bucharest, Cluj-Napoca and<br />

Vulcan, where a total of approximately 270 beneficiaries<br />

are being taken care of by over 130 people.<br />

Unfortunately, the political and economic situation<br />

is not very favourable in Romania. Far from actually<br />

supporting alternatives like Curative Education, the<br />

Romanian authorities are merely tolerating them, barely<br />

allowing them to survive.<br />

The centre in Simeria is the only one registered as an<br />

independent legal entity and hence has more freedom<br />

in implementing legal provisions ; by contrast,<br />

Bucharest, Cluj and Vulcan centres are still affiliated<br />

to state schools and barely managing to run the<br />

specific Curative Education activities the way they<br />

should be implemented. These centres instead find<br />

themselves fighting the system in order to uphold<br />

the rights of people with disabilities.<br />

With a decreasing number of special schools, there<br />

is a continuous ‹hunt› for beneficiaries so that these<br />

schools can enroll sufficient numbers of children to<br />

justify their existence and maintain staffing levels.<br />

In Cluj, for example, some years ago the principal at<br />

the time also hired himself as eurythmy teacher –<br />

without having had any Curative Education training<br />

whatsoever– to be able to earn some extra money.<br />

Another sad phenomenon results from the State<br />

formally trying to place the children who have been<br />

abandoned by their parents geographically closer<br />

to their biological family; the children often end up<br />

being moved from one institution to another, following<br />

the usually very poor families who have no<br />

interest in reconnecting with the children. In Cluj<br />

alone, we have lost five children this way over the<br />

past few years.<br />

Although Curative Education is the only alternative<br />

special education method officially recognized and<br />

financed by the state, most policy makers and authorities<br />

still (unofficially but clearly ) declare that<br />

severely mentally disabled children should not go<br />

to school. They are aware of the stipulations of the<br />

UN Convention but they only pretend to implement<br />

them, thus depriving children and adults with disabilities<br />

of their fundamental rights. Sadly, a communist<br />

88


Berichte | Reports<br />

In dieser Situation folgten wir unserem natürlichen Instinkt,<br />

uns unmittelbar an die Menschen zu wenden, in<br />

die Beziehungen mit der Gemeinde zu investieren und<br />

zu zeigen, dass Kinder mit Beeinträchtigungen nicht<br />

nur Unterstützung brauchen, sondern auch eine Ressource<br />

für ihre Umgebung darstellen können. Zwar hat<br />

sich die rumänische heilpädagogische Föderation gemeinsam<br />

mit anderen NGOs darum bemüht, einen Paradigmenwechsel<br />

im Hinblick auf Menschen mit einer<br />

Behinderung herbeizuführen, doch bisher stellt sich<br />

dies als ein nutzloser Kampf mit dem System heraus.<br />

Daher besteht unsere einzige Chance darin, Veränderungen<br />

auf der ‹Graswurzelebene› mit den Menschen<br />

in unserer Nachbarschaft anzuregen. Die Gemeinde<br />

reagierte auf erstaunliche Weise. Hier einige Beispiele:<br />

Gemeinsam mit Freiwilligen haben die Kinder von Cluj<br />

eine Mahlzeit für 120 obdachlose Menschen zubereitet.<br />

Mit unseren Freunden und Partnern zusammen organisierten<br />

wir fünf Wohltätigkeitskonzerte, eines von<br />

diesen erbrachte die Gelder, um einen Spielplatz für<br />

Roma-Kinder zu bauen, die in der Umgebung von Cluj<br />

leben. Die Kinder der Einrichtung stellten auch Spielzeuge<br />

für Kinder her, die an Krebs leiden.<br />

All diese Aktionen wurden zu einem Magnet für die Gemeinde,<br />

die danach dürstete, sich zu engagieren und<br />

etwas Sinnvolles zu tun. Die Medien wurden auf uns<br />

aufmerksam, sie zeigten und unterstützten unsere Aktionen.<br />

In Cluj werden wir regelmässig von den Medien<br />

aufgesucht, wenn sie Expertenmeinungen zu einem<br />

Thema in Verbindung mit Behinderung suchen. Dies gibt<br />

uns die Gelegenheit, die Werte der heilpädagogischen<br />

Erziehung herauszustellen und den Paradigmenwechsel<br />

zu unterstützen. Auf diese Weise wurde die Hans Spalinger<br />

Assoziation Cluj zu einem Partner einer nationalen<br />

Fernsehtalkshow des TVR Cluj, welche sich mit sozialen<br />

und pädagogischen Themen befasst, mit dem Thema<br />

Beeinträchtigung und mit NGOs. Diese Show trägt den<br />

Namen Fara Prejudacati (Ohne Vorurteil), die auch drei<br />

Reporter mit Down Syndrom beschäftigt.<br />

Das gegenwärtig drängendste Problem besteht darin,<br />

dass unsere Klienten 18 Jahre alt werden, was bedeutet,<br />

dass der Staat sie nicht weiter unterstützt. Daher<br />

konzentrieren wir uns darauf, eine kurzfristige gesetzliche<br />

Lösung zu finden, sodass der Staat weiterhin<br />

heilpädagogische und sozialtherapeutische Aktivitäten<br />

für unsere Betreuten finanziert. Langfristig haben<br />

wir den Plan, ein Zentrum in Cluj zu begründen. Für<br />

diesen Zweck ist es uns gelungen, ein erhebliches<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

mentality, lack of understanding and lack of good<br />

will are still very much present.<br />

In this situation, our natural instinct has been to turn<br />

to the people, to invest in the relationship with the<br />

community and show that disabled children are not<br />

just persons requiring assistance, but can also be constitute<br />

a resource for their community. Although the<br />

Romanian Curative Education Federation, together<br />

with other NGOs, is very much involved in trying to<br />

bring about a paradigm shift regarding perceptions of<br />

disability, so far this has turned out to be a pointless<br />

battle with the system. Thus our only chance is to stimulate<br />

change at the grassroots level, with the people<br />

around us. And the community has reacted amazingly.<br />

In dieser Situation folgten wir unserem natürlichen Instinkt,<br />

uns unmittelbar an die Menschen zu wenden, in<br />

die Beziehungen mit der Gemeinde zu investieren und<br />

zu zeigen, dass Kinder mit Beeinträchtigungen nicht<br />

nur Unterstützung brauchen, sondern auch eine Ressource<br />

für ihre Umgebung darstellen können. Zwar hat<br />

sich die Rumänische heilpädagogische Föderation, gemeinsam<br />

mit anderen<br />

Just to give a few examples, the children from Cluj,<br />

together with volunteers, have cooked meals for 120<br />

homeless people. Together with our friends and partners,<br />

we have also organized five charity concerts, one<br />

of them to successfully fundraise for the construction<br />

of a playground for Roma children living near Cluj.<br />

The children have also handcrafted toys for children<br />

suffering from cancer.<br />

All these activities worked like a magnet for the community<br />

which was very keen to get involved and do<br />

something meaningful. The media, too, showed an interest<br />

and presented and promoted our actions. In Cluj,<br />

we are now contacted by the media every time they<br />

need a specialist’s opinion on disability, which gives<br />

us the opportunity to promote the values of Curative<br />

Education and support the paradigm shift. This is how<br />

the Hans Spalinger Association Cluj got to be partner<br />

in a nation-wide TV talk show at TVR Cluj, which<br />

addresses social, educational, disability and NGO issues.<br />

The TV show is called Fara Prejudecati (Without Prejudice)<br />

and includes, amongst its staff, three reporters<br />

with Down syndrome.<br />

The most urgent problem right now is that most of<br />

our beneficiaries are turning 18 and the state will no<br />

longer support them after they have reached this age.<br />

Thus right now we are working on finding a shortterm<br />

legal solution so that the state can continue to<br />

89


Berichte | Reports<br />

Stück Land in Jucu, einem Dorf in der Nähe von Cluj,<br />

zu erwerben. Hier helfen uns ‚Habitat for Humanity‘<br />

und andere Sponsoren dabei, eine Gemeinschaft<br />

mit Familienhäusern, einer Schule, Werkstätten und<br />

einem Garten zu errichten.<br />

Gleichzeitig konzentrieren wir uns auf die Ausbildung<br />

unserer Mitarbeiter. Mehr und mehr Menschen, die<br />

enttäuscht von der üblichen Arbeit mit behinderten<br />

Menschen sind, interessieren sich für die heilpädagogischen<br />

Methoden und fragen nach Ausbildungskursen.<br />

Gleichzeitig brauchen und wollen Menschen, die schon<br />

lange im Bereich der Heilpädagogik arbeiten, Fortbildungen<br />

und Gelegenheiten, sich weiter zu entwickeln.<br />

Daher hat die Heilpädagogische Föderation in diesem<br />

Jahr eine dreijährige Ausbildung begonnen, die sich<br />

von den Camphill-Programmen inspirieren lässt.<br />

Auch wenn wir sehr darüber frustriert sind, wie der<br />

rumänische Staat die Rechte von Menschen mit besonderen<br />

Bedürfnissen weiterhin ignoriert, bleiben<br />

wir positiv und zuversichtlich, dass unser Kampf nicht<br />

vergebens ist, und dass wir es Schritt für Schritt und<br />

mit der Unterstützung der Gemeinde schaffen werden,<br />

den Bedürfnissen von Kindern mit Behinderungen<br />

mehr und mehr zu entsprechen.<br />

fund Curative Education and Social Therapy activities<br />

for our beneficiaries. Our long-term plan is to set up a<br />

centre with various services in Cluj. As a first step, we<br />

have managed to obtain a substantive piece of land in<br />

Jucu, a village near Cluj, where Habitat for Humanity<br />

and other sponsors will help us build a community<br />

with family houses, a school, workshops, and a garden.<br />

At the same time, we are focusing on training our staff.<br />

There are increasing numbers of people who, disappointed<br />

with traditional ways of working with disability,<br />

are interested in Curative Education methods and<br />

are asking for training courses. Meanwhile, those who<br />

have been working in Curative Education for a long<br />

time need and want further training and development.<br />

Therefore, this year the Curative Education Federation<br />

has launched a three-year training programme, taking<br />

inspiration from Camphill programmes.<br />

Even though we are very frustrated with the way the<br />

state of Romania continues to ignore the rights of<br />

people in need of special care, we remain positive and<br />

confident that our struggle is not in vain and that, step<br />

by step, and with the support of the community, we<br />

will manage to increasingly meet the needs of children<br />

with disabilities.<br />

Ovidiu Damian, Asociatia Hans Spalinger Filiala Cluj-<br />

Napoca, Rumänische Vereinigung für Heilpädagogik,<br />

Cluj-Napoca<br />

Translation from English: Bernhard Schmalenbach<br />

90


Liebelei | Flirt<br />

Russland<br />

Die Heilpädagogik und Sozialtherapie begann ihre Entwicklung<br />

in Russland zum Beginn der neunziger Jahre<br />

des vorigen Jahrhunderts. Die erste praktische Arbeit mit<br />

Kindern im Schulalter entstand in Irkutsk durch eine kleine<br />

Elterngruppe, die eine Alternative zu den geschlossenen<br />

Heimschulen suchte, die zu dieser Zeit für Kinder mit<br />

schweren Behinderungen üblich waren.<br />

Im Laufe der darauffolgenden Jahre änderte sich die<br />

Anzahl der Institutionen, die auf den Grundlagen der<br />

Heilpädagogik von Rudolf Steiner arbeiteten, erheblich.<br />

Heute beläuft sich diese Anzahl auf dreissig Organisationen,<br />

die ihre Arbeit mit Vorschul-, Schulkindern und mit<br />

Erwachsenen durchführen. Darunter sind zwei Sozialdörfer<br />

für Erwachsene (Irkutsk), zwei Camphill-Gemeinschaften<br />

für Erwachsene (Leningrader und Smolensker<br />

Gebiet), sieben Sozialzentren für Jugendliche und Erwachsene<br />

(Moskau, Werchneyvinsk, Rjasan, Irkutsk,<br />

Jekaterinburg, Rostov-am-Don), elf Schulen und Schulgruppen<br />

(Moskau, Sankt Petersburg, Jekaterinburg,<br />

Tscheboksary, Rostov-am-Don, Rjasan, Irkutsk, Keme-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Russia<br />

Curative education and social therapy were first introduced<br />

in Russia in the early 1990s. The work with<br />

children of school age started in Irkutsk, initiated by a<br />

small group of parents who were looking for an alternative<br />

to the closed institutions where children with<br />

severe disabilities used to live at that time.<br />

In the years that followed the number of institutions<br />

working on the basis of Rudolf Steiner’s curative education<br />

has changed considerably. Today we have thirty<br />

organizations working with children of pre-school<br />

and school age and with adults. These include two social<br />

therapy villages for adults (Irkutsk), two Camphill<br />

communities for adults (Leningrad and Smolensk regions),<br />

seven social centres for young people and adults<br />

(Moscow, Verkh-Neyvinsky, Ryazan, Irkutsk, Yekaterinburg,<br />

Rostov-on-Don), eleven schools and small classes<br />

(Moscow, St Petersburg, Yekaterinburg, Cheboksary,<br />

Rostov-on-Don, Ryazan, Irkutsk, Kemerovo, Samara),<br />

four pre-school groups (Moscow, Ryasan, Samara) and<br />

four training seminars (training centres and training<br />

91


Berichte | Reports<br />

rowo, Samara), vier Vorschulgruppen (Moskau, Rjasan,<br />

Samara) und vier Seminare (Ausbildungszentren, Lehrgänge)<br />

für Heilpädagogen und Sozialtherapeuten.<br />

Fast alle Organisationen sind privat, manche von ihnen<br />

arbeiten auch mit staatlichen Strukturen, einige geniessen<br />

eine staatliche Anerkennung.<br />

Zusammenarbeit und Netzwerkarbeit<br />

Nach der ersten russischen Konferenz für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie 1995 fanden inzwischen<br />

dreizehn Konferenzen dieser Art statt, eine weitere in<br />

diesem Juni. Im Jahr 2006 wurde an einer der Konferenzen<br />

eine «Gemeinschaft der Heilpädagogen und Sozialtherapeuten<br />

in Russland» gegründet. Seit dieser<br />

Zeit wird Russland als ein Mitglied in der Konferenz für<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie in Dornach vertreten<br />

sowie in der internationalen heilpädagogischen und<br />

sozialtherapeutischen Bewegung.<br />

Im Laufe dieser Jahre wurden von unseren Organisationen<br />

und Repräsentanten die Interessen und Rechte der<br />

Menschen mit Behinderungen auf verschiedenen Ebenen<br />

(regional und kommunal) in der Öffentlichkeit vertreten.<br />

Dies geschah durch die Arbeit in den kommunalen<br />

Verwaltungsorganen, die Teilnahme an der Erarbeitung<br />

und Zusammenfassung der methodischen Konzeptionen,<br />

durch Vorträge an Tagungen, Seminaren und Veröffentlichungen.<br />

Die Gemeinschaft der Heilpädagogen<br />

und Sozialtherapeuten initiierte in Russland den ersten<br />

Kongress «In der Begegnung leben» (Moskau 2010), welcher<br />

gerade vor der Ratifizierung der UN-Konvention über<br />

die Rechte der Menschen mit Behinderungen stattfand.<br />

Im Jahr 2012 wurde in Jekaterinburg ein weiterer Begegnungskongress<br />

in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium<br />

für soziale Entwicklung durchgeführt.<br />

Öffentliches Interesse<br />

Die Heilpädagogik und Sozialtherapie in Russland ist<br />

heute ein signifikantes kulturelles und professionelles<br />

Phänomen. Offiziell ist die Heilpädagogik nicht<br />

staatlich anerkannt, allerdings wird ihre praktische<br />

Tätigkeit begrüsst. Sie geniesst eine verdiente Achtung<br />

unter den Eltern der behinderten Menschen und<br />

unter Kollegen, die im Bereich der Sonderpädagogik<br />

und Rehabilitation tätig sind. Die Zusammenarbeit der<br />

heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Organisationen<br />

hat verschiedene Formen im sozialen Umfeld.<br />

Darunter sind auch gemeinsame Projekte in verschiedenen<br />

Richtungen zu verzeichnen.<br />

courses) for curative teachers and social therapists.<br />

Almost all of these organizations are private, some<br />

have implemented state structures and some are<br />

state-recognized.<br />

Cooperation and networking<br />

Since the first Russian Conference for Curative Education<br />

and Social Therapy in 1995, thirteen other conferences<br />

have taken place, most recently in June this<br />

year. During the 2006 conference the ‹Federation of<br />

Curative Teachers and Social Therapists in Russia› was<br />

founded and Russia has since then been represented in<br />

the Curative Education and Social Therapy Council in<br />

Dornach and become part of the international curative<br />

education and social therapy movement.<br />

In all these years our organizations and representatives<br />

have publically represented the interests and rights<br />

of people with disabilities at various levels (regionally<br />

and locally): by working with the local administrative<br />

bodies, taking part in developing and documenting<br />

methodologies, giving lectures at conferences and seminars<br />

and through publications. The Federation of<br />

Curative Teachers and Social Therapists initiated the<br />

first ‹Living in the Encounter› Congress in Russia (Moscow<br />

2010) – just before the UN Convention on the<br />

Rights of Persons with Disabilities was ratified. In 2012<br />

another ‹Encounter› congress was organized in Yekaterinburg<br />

in close cooperation with the Ministry for<br />

Social Development.<br />

Public interest<br />

Today, curative education and social therapy are an<br />

important cultural and professional phenomenon in<br />

Russia. While curative education is not state-recognized,<br />

the work being done in its centres is seen as positive:<br />

it is appreciated by the parents of those with<br />

special needs and by colleagues from the field of special-needs<br />

education and rehabilitation. The curative<br />

education and social therapy organizations work together<br />

in various forms within the social sphere, for<br />

instance by taking on joint projects.<br />

Cooperation between the training centres in Moscow<br />

and Verkh-Neyvinsky and their respective universities<br />

has turned out to be particularly successful. The students<br />

can gain practical work experience in the curative<br />

education and social therapy organizations and<br />

there are camps for volunteering students. Some of<br />

our experienced colleagues are offering short univer-<br />

92


Berichte | Reports<br />

Besonders erfolgreich entwickelt sich die Zusammenarbeit<br />

der zwei Ausbildungsstätten in Moskau und<br />

Werchneyvinsk mit den jeweiligen staatlichen Universitäten.<br />

Es findet eine praktische Arbeit für Studierende in<br />

heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Organisationen<br />

statt und es werden Camps für freiwillige Studenten<br />

durchgeführt. Einige unserer erfahrenen Kollegen<br />

bieten kleinere Kurse über die anthroposophische Heilpädagogik<br />

in den Universitäten an, welche die jungen<br />

Studierenden auf den Bereich der heilpädagogischen<br />

und sozialtherapeutischen Arbeit aufmerksam machen.<br />

In den letzten zehn Jahren hat sich die Heilpädagogik<br />

immer mehr in den inklusiven Schulen ausgebreitet. Heute<br />

gibt es in jeder Waldorfschule einen Heilpädagogen, der<br />

für die Kinder mit Lernschwierigkeiten Hilfe leisten kann.<br />

Wenn zu Beginn ihrer Entwicklung in Russland die Heilpädagogik<br />

auf die Arbeit mit schwerbehinderten Kindern<br />

gerichtet war, so ist sie unter heutigen Bedingungen der gesellschaftlichen<br />

Entwicklung immer mehr auch eine Methode<br />

für Kinder mit sozialen Problemen, Verhaltensstörungen<br />

und verschiedenen Formen des Autismusspektrums.<br />

Zukünftige Herausforderungen<br />

Wir müssen wachsam die sich ständig verändernde Welt<br />

betrachten, mit ihr einen Einklang suchen und dabei<br />

uns selbst treu bleiben. Wir suchen neue Formen für die<br />

Selbstverwirklichung, lernen die vorhandenen Erfahrungen<br />

mit den neuen Ideen der modernen Zeit zu verbinden.<br />

Diese Fragen bewegen uns heute, und deshalb<br />

stellen wir sie immer wieder zur Diskussion.<br />

Zu einem bedeutenden Ereignis der letzten drei Jahre<br />

wurde die Neuauflage des Heilpädagogischen Kurses mit<br />

der neuen Übersetzung auf Russisch. Das war das gemeinsame<br />

Projekt der drei Länder Georgien, Ukraine und Russland.<br />

Auch in dieser regionalen Zusammenarbeit sehen wir<br />

neue Chancen für die Entwicklung der Grundlagen anthroposophischer<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie.<br />

sity courses in anthroposophical curative education,<br />

raising awareness among the students of the way we<br />

work in curative education and social therapy.<br />

Curative education has become more important in the<br />

inclusive schools over the last ten years. Every Waldorf<br />

school now employs a curative teacher who can support<br />

children with learning difficulties.<br />

While, at the beginning of its development in Russia,<br />

curative education used to focus more on children<br />

with severe disabilities, it is now, in today’s society,<br />

increasingly applied in the work with children who<br />

present with social or behavioural problems or autism<br />

spectrum disorders.<br />

Future challenges<br />

We need to be awake to the constant changes in our<br />

world. It is important that we stay in tune with these<br />

changes while remaining faithful to ourselves at the<br />

same time. We are looking for new forms of self-realization<br />

and we are learning to bring our experiences<br />

together with the new ideas that are emerging.<br />

These are the questions with which we are concerned<br />

today and which we therefore keep bringing up<br />

for discussion.<br />

One of the important events in the last three years was<br />

that a new Russian translation of the Curative Education<br />

Course was published as a joint project of three<br />

countries: Georgia, Ukraine and Russia. Working together<br />

as regions is for us also a new way of consolidating<br />

the foundations of anthroposophical curative<br />

education and social therapy.<br />

Dr. Tamara Isaeva, St. Georg Schule, Moskau<br />

Translation from the German: Margot Saar<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

93


Berichte | Reports<br />

Schottland<br />

Schottland ist eines der vier Länder, die zusammen das<br />

Vereinigte Königreich bilden, die anderen sind England,<br />

Wales und Nordirland. Es ist ein schönes Land, das das<br />

nördliche Drittel von Grossbritannien ausmacht, mit<br />

einer zerklüfteten Küste, sandigen Stränden, atemberaubenden<br />

Bergen und vielen alten Burgen. Es gibt viel<br />

Granit, der auch die ganz besondere Qualität des Lichtes,<br />

die man in Schottland erfahren kann, beeinflusst.<br />

Da das Land nur eine Bevölkerung von 5,3 Millionen hat,<br />

sind viele Dörfer und kleine Städte für europäische Verhältnisse<br />

weit abgelegen.<br />

In Schottland arbeiten 15 Zentren im Rahmen der anthroposophischen<br />

Behindertenhilfe. Die meisten Einrichtungen<br />

bieten Wohnplätze, auch mit selbstständiger<br />

Lebensführung, Tagesstätten, Werkstätten und/oder<br />

Pädagogik und eine Reihe von Therapien an. Das kleinste<br />

Zentrum bietet Hilfen für zehn Menschen mit Hilfebedarf,<br />

das grösste betreut 120 Menschen. In den fünf<br />

Einrichtungen von Garvald Edinburgh in und in der Umgebung<br />

von Edinburgh finden erwachsene Menschen mit<br />

Behinderung Unterstützung. Die Camphill-Bewegung, in<br />

Schottland vor 75 Jahren gegründet, hat zehn Zentren,<br />

die sich hauptsächlich im Nordosten von Schottland<br />

und Mittelschottland befinden und ein Zentrum im Südwesten<br />

von Schottland. Zwei dieser Zentren bieten Pädagogik<br />

für junge Kinder und Kinder im Schulalter an, drei<br />

Plätze arbeiten mit jungen Erwachsenen, die anderen<br />

mit Erwachsenen.<br />

Die Regierungsvorschriften für die Behindertenhilfe sind<br />

in Schottland sehr streng. Obwohl dies den Eindruck erwecken<br />

könnte, dass dadurch die Arbeit eingeschränkt<br />

wird, haben alle Zentren konstruktiv mit diesen Vorschriften<br />

gearbeitet und anerkannt, dass sie auch einen<br />

Beitrag zur Verbesserung der Betreuungsqualität leisten<br />

können. Der anthroposophische Ansatz im Bereich der<br />

Behindertenhilfe kommt am deutlichsten durch das Feiern<br />

der Jahresfeste und die Pflege einer ästhetischen<br />

Umwelt zum Ausdruck. Da seit 2014 leider nicht mehr<br />

die Möglichkeit zum Bachelorabschluss in Heilpädagogik/Sozialpädagogik<br />

besteht, gibt es gegenwärtig keine<br />

schottlandweite Ausbildung, die ein ausführliches Studium<br />

des anthroposophischen Ansatzes und Menschenverständnisses<br />

anbietet. Die Grundkurse für die vielen<br />

Freiwilligen, die jedes Jahr in die Zentren kommen, befassen<br />

sich jedoch mit den Grundlagen.<br />

Nichts ist so beständig wie der Wandel | There is nothing permanent except change<br />

Scotland<br />

Scotland is one of the four countries that form the United<br />

Kingdom, the other countries being England, Wales<br />

and Northern Ireland. It is a beautiful country covering<br />

the northern third of Great Britain with rugged coast<br />

lines, sandy beaches, spectacular mountains and hills<br />

and plenty of old castles. There is much granite which<br />

contributes to the very special quality of light one can<br />

experience in Scotland. As the country has only a population<br />

of 5.3 million many villages and small towns are<br />

quite remote by European standards.<br />

Scotland has 15 centres working with anthroposophic<br />

social care. Most centres offer residential places including<br />

independent living, day placements, workshops and/or<br />

education and a range of therapies. The smallest centre<br />

offers support to 10 people with special needs while the<br />

largest centre provides support to 120 people with special<br />

needs. Garvald Edinburgh has 5 centres in and around<br />

Edinburgh. These centres provide support to adults with<br />

special needs. The Camphill movement, founded in Scotland<br />

over 75 years ago, has 10 centres mainly in North<br />

East and Central Scotland and one in the South West of<br />

Scotland. Two of these centres offer education to young<br />

children and school age children, three places work with<br />

young adults and the others work with adults.<br />

Government regulations for social care are very strict<br />

in Scotland. Although this can appear to be limiting for<br />

94


Berichte | Reports<br />

Die schottischen Einrichtungen haben, wie auch die anderen<br />

Zentren in Grossbritannien, Schwierigkeiten im<br />

Umgang mit der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />

Terminologie, die wörtlich aus dem Deutschen<br />

übersetzt ist. Es sind Begriffe, die wenig oder eine verwirrende<br />

Bedeutung in der englischen Sprache haben. Es ist<br />

vielfach versucht worden, andere Begriffe zu suchen und<br />

der neue Begriff, der gegenwärtig für die Beschreibung<br />

unserer Arbeit verwendet wird, lautet Sozialpädagogik.<br />

Es gibt Hoffnung, dass Schottland den sozialpädagogischen<br />

Ansatz in der Behindertenhilfe zukünftig allgemein<br />

übernehmen wird. Obwohl dieser Begriff noch nicht<br />

so allgemein bekannt ist, sind Garvald und Camphill hier<br />

als Markennamen bekannt, die hochwertige Betreuung,<br />

Pädagogik und Therapie für Kinder und Erwachsene mit<br />

Hilfebedarf anbieten.<br />

Zwei wichtige Impulse sind in Schottland angesiedelt:<br />

Camphill School Aberdeen beherbergt das ursprüngliche<br />

Karl-König-Archiv, in dem alle Originale von Königs<br />

vielen Vorträgen und Büchern, die einen Beitrag zum<br />

Verständnis der Anthroposophie leisten, seit Jahrzehnten<br />

untergebracht worden sind. Schottland veranstaltet<br />

auch die New-Lanark-Tagung, die im Dorf stattfindet, wo<br />

Robert Owen im 18. Jahrhudert mit seinen neuen sozialen<br />

Wohlfahrtsimpulsen arbeitete. Die New-Lanark-Tagung<br />

ist eine inklusive Tagung für Gemeinschaftsbildung<br />

und soziale Erneuerung. Seit 2002 wird diese zweijährlich<br />

stattfindende Tagung von Garvald, Camphill Schottland<br />

und der Camphill Familie und Freunde veranstaltet;<br />

Teilnehmer sind Menschen mit und ohne besonderem<br />

Hilfebedarf aus Grossbritannien, Irland und von weiter<br />

entfernt. Das diesjährige Thema lautet: Die Welt durch<br />

Selbstentfaltung bilden.<br />

Abschliessend sei gesagt, dass die Bewegung der anthroposophischen<br />

Behindertenhilfe in Schottland<br />

versucht, den gesellschaftlichen und staatlichen Bedürfnissen<br />

und Erfordernissen in einer sich ständig verändernden<br />

Welt besondere Aufmerksamkeit zu schenken.<br />

Wir versuchen, darauf in schöpferischer und flexibler<br />

Weise einzugehen, ohne unsere Werte und das, wofür<br />

wir eintreten, zu kompromittieren. Heraklit fasst gut zusammen,<br />

wie wir in Schottland, aber vielleicht auch wir<br />

alle, auf Änderungen reagieren sollten: «Nichts ist so beständig<br />

wie der Wechsel.»<br />

Angela Ralph, Camphill School Aberdeen, Aberdeen<br />

Übersetzung aus dem Deutschen: Christian von Arnim<br />

the work, all centres have worked positively with these<br />

regulations and recognised that they can contribute to<br />

the enhancement of the quality of care they provide. The<br />

anthroposophical approach to social care is most evident<br />

through the celebration of festivals and the care and<br />

beauty of the environment. As the BA in Curative Education/Social<br />

Pedagogy unfortunately ended in 2014 there<br />

is currently no Scotland wide training that offers in depth<br />

study of the anthroposophic approach and understanding<br />

of the human being. However the foundation courses for<br />

the many volunteers that come each year to the centres<br />

briefly touch on these anthroposophical concepts.<br />

Scotland, together with the other centres in the UK, has<br />

struggled with the terminology of curative education<br />

and social therapy which is literally translated from the<br />

German. These are words that appear to have little and<br />

confusing meaning in the English language. Many attempts<br />

have been made to look for othear words and<br />

the current new term to describe the work is Social Pedagogy.<br />

There is hope that Scotland will adopt the Social<br />

Pedagogy approach generally in Social care in the future.<br />

While this concept is not so widely known yet, Garvald<br />

and Camphill are known as brand names within social<br />

care that provide high quality care, education and therapy<br />

for children and adults with special needs.<br />

Two significant impulses are situated in Scotland: Camphill<br />

School Aberdeen houses the original Karl König archive<br />

where all the originals of König’s many lectures<br />

and books, contributing to the understanding of anthroposophy,<br />

have been kept for decades. Scotland is also<br />

hosting the New Lanark conference which takes place<br />

in the heritage village where Robert Owen worked with<br />

his new social welfare impulses in the 18th century.<br />

The New Lanark conference is an inclusive conference<br />

on community building and social renewal. Since 2002<br />

this biannual conference has been organised by Garvald,<br />

Camphill Scotland and the Camphill Family and friends;<br />

it is attended by people with and without special needs<br />

from the UK, Ireland and further afield. This year’s theme<br />

is: Shaping our world through Self Expression.<br />

In conclusion I would like to say that the anthroposophical<br />

social care movement in Scotland tries to stay alert to<br />

societal and governmental needs and requirements in this<br />

constantly changing world. We try to respond to this in<br />

creative and flexible ways without compromising our values<br />

and what we stand for. Heraclitus’ words summarise<br />

well what we in Scotland, and may be all of us, have to<br />

respond to: ‹There is nothing permanent except change›.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

95


Berichte | Reports<br />

Schweden<br />

Värna heisst unser Verband, der fast alle heilpädagogischen<br />

und sozialtherapeutischen Einrichtungen in<br />

Schweden umfasst. Värna besteht aus 36 Mitgliedsorganisationen,<br />

die gemeinsam Betreuung, Schulbildung,<br />

Arbeit und betreutes Wohnen für fast 1000 Menschen<br />

mit Behinderungen anbieten. Es gibt etwa 2000 Mitarbeitende<br />

und die Einrichtungen sind um Järna und im<br />

Gebiet von Stockholm konzentriert. Im restlichen Land<br />

sind sie weniger dicht vertreten.<br />

In den letzten drei Jahren hat Värna daran gearbeitet,<br />

sich mit Einzelpersonen und Organisationen zu vernetzen.<br />

2014 nahm Värna am grössten politischen Ereignis<br />

des Jahres teil, Almedalen, und veranstaltete eine<br />

Tagung zum Thema: «Ein Perspektivwechsel und neue<br />

adäquate Führungsmassnahmen verbessern die Lebensqualität<br />

im Fürsorgebereich». Die Tagung befasste<br />

sich mit der Frage, wie Weisheit, gutes Urteilsvermögen<br />

und praktisches Wissen einen Beitrag zur Erfahrung<br />

eines Qualitätswechsels in der täglichen Tätigkeit leisten<br />

können. Solche Gedanken sind fast unsichtbar in<br />

der öffentlichen Diskussion in Schweden. Davor sass<br />

Värna als Vergleichsgruppe im Schwedischen Nationalausschuss<br />

für Gesundheit und Sozialwesen und nahm<br />

Stellung zur Frage über «das erforderliche Wissen und<br />

die erforderlichen Fähigkeiten von Mitarbeitern, die<br />

Menschen mit Behinderungen Unterstützung, Dienstleistungen<br />

und Betreuung (laut Gesetz) anbieten»<br />

(SOSFS 2014:2). Kurz danach wurde das Schwedische<br />

Ausbildungszentrum für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

zugelassen. Es hatte die vom Schwedischen<br />

Nationalausschuss für Gesundheit und Sozialwesen<br />

verlangten Anforderungen erfüllt.<br />

2015 veröffentlichte Värna ein Buch von Christhild<br />

Ritter über den drei- und viergliedrigen Menschen,<br />

«Människan – inte bara en kropp» (Der Mensch –<br />

nicht nur ein Leib). Ein weiteres Buch über den Begriff<br />

des Geistes in der westlichen philosophischen Tradition<br />

wird 2017 veröffentlicht.<br />

Värna hat auch daran gearbeitet, seine sieben Leitgedanken,<br />

die vor einigen Jahren formuliert und verabschiedet<br />

wurden, zu realisieren. Diese Leitgedanken<br />

sind nicht nur grundlegendes Arbeitsmaterial für die<br />

Einrichtungen, sondern zielen darauf ab, die Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in einer umfassenden und<br />

verständlichen Weise der allgemeinen Öffentlichkeit in<br />

Schweden zugänglich zu machen.<br />

Sweden<br />

Värna is the name of our association that includes<br />

almost all of the Curative pedagogic and Social therapeutic<br />

institutions in Sweden. Värna consists of 36<br />

member organisations and together they offer care,<br />

schooling, work and sheltered living to almost 1000<br />

persons with disabilities. There are about 2000 coworkers<br />

and the institutions are situated in a cluster<br />

around Järna, in the Stockholm area, gradually thinning<br />

out into the rest of the country.<br />

Over the past three years Värna has been busy networking<br />

with individuals and organisations. In 2014, Värna<br />

participated in the major political event of the year,<br />

Almedalen, and held a conference on the theme: ‹A<br />

change of perspective and new adequate governance<br />

arrangements enhance the quality of life within the<br />

field of care.› The conference dealt with the question<br />

how wisdom, good judgement and practical knowledge<br />

can contribute to an experienced change of<br />

quality in daily activities. Such notions are practically<br />

invisible in the public debate in Sweden. Prior to this<br />

occasion Värna was included in the Swedish National<br />

Board of Health and Welfare as a reference group, giving<br />

its views on ‹the necessary knowledge and skills<br />

required of staff who give support, service and care<br />

(according to law) to persons with disabilities› (SOSFS<br />

2014: 2). Shortly afterwards, the Swedish Curative Pedagogic<br />

and Social Therapeutic training centre was<br />

approved as meeting the requirements that the Swedish<br />

National Board of Health and Welfare requested.<br />

In 2015 Värna published a book about the three- and<br />

four folded human being, by Christhild Ritter ‹Människan<br />

– inte bara en kropp› (The human being – not<br />

only a body). There is another book waiting to be published<br />

in 2017 about the concept of Spirit in Western<br />

philosophical tradition.<br />

Värna has also been working to implement its seven<br />

core values, which were formed and agreed upon several<br />

years ago. These core values, apart from being the<br />

basic working material for the institutions in Värna,<br />

are aimed to present curative pedagogy and social<br />

therapy in a comprehensive and understandable way<br />

to the general public in Sweden.<br />

To facilitate this process, Värna has arrived at the decision<br />

to certify its member organisations through PGS (Participatory<br />

Guarantee System). The process is now on its way<br />

and is approved by the members of Värna. The purpose<br />

96


Um diese Prozess voranzutreiben, entschloss sich<br />

Värna, seine Mitgliedsorganisationen durch die PGS<br />

(Partizipative Garantiesysteme) zu zertifizieren. Der<br />

Prozess ist jetzt im Gang und ist von den Värna-Mitgliedern<br />

genehmigt worden. Die Zertifizierung soll ein<br />

Qualitätssiegel bereitstellen, das nachweist, dass unsere<br />

Einrichtungen anthroposophische Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie anbieten. Dies ist notwendig, da<br />

kleine Non-Profit-Bewegungen wie die unsere durch<br />

das Hervortreten von Wagniskapitalgesellschaften<br />

im Gesundheits- und Fürsorgebereich herausgefordert<br />

werden. Diese oft transnationalen Gesellschaften<br />

profilieren sich nun im wachsenden privatisierten<br />

Markt in Schweden und besitzen Können, Ressourcen<br />

und Rechtskenntnisse, die auf unfaire Weise Non-Profit-<br />

und ideenbasierte Initiativen ausstechen können.<br />

Es ist äusserst wichtig, dass wir darstellen können,<br />

worum es uns geht und die Kernwerte zu vermitteln.<br />

Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

ist nun eine «Marke», die es zu schützen gilt und die<br />

wir entwickeln und pflegen müssen, wenn wir weiterhin<br />

einen gesellschaftlichen Beitrag leisten wollen.<br />

Am Anfang dieses Jahres hatte Värna 40 Mitgliedsorganisationen<br />

unter seinen Fittichen, aber eine Meinungsverschiedenheit<br />

über eine Stellungnahme des<br />

Värna-Vorstandes über die Methode der gestützten<br />

Kommunikation veranlasste vier Mitglieder, Värna zu<br />

verlassen. Die von Värna für die Medien herausgegebene<br />

Stellungnahme bezog sich auf eine kritische Rundfunksendung<br />

über die gestützte Kommunikation und<br />

die anthroposophischen Einrichtungen. Das Thema der<br />

gestützten Kommunikation wird in der schwedischen<br />

Bewegung schon lange kontrovers diskutiert. In dieser<br />

Stellungnahme empfahl der Verband seinen Mitgliedern,<br />

sich in der Arbeit mit dieser Methode an die<br />

Richtlinien des Schwedischen Nationalausschusses für<br />

Gesundheit und Sozialwesen zu halten. Värna stellte<br />

auch fest, dass die gestützte Kommunikation keine Methode<br />

ist, über die Rudolf Steiner gesprochen hat und<br />

dass sie nie in seinen Büchern erwähnt worden ist –<br />

daher ist sie keine traditionelle anthroposophische Methode,<br />

wie viele Menschen zu glauben scheinen.<br />

Paula Hämäläinen-Karlström and Anders Rosenberg,<br />

Värna, Järna<br />

Übersetzung aus dem Deutschen: Christian von Arnim<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Erster Spatenstich | Groundbreaking Ceremony<br />

of certification is to give a seal of quality, verifying that<br />

our institutions do supply anthroposophical curative pedagogy<br />

and social therapy. This is necessary since small<br />

non-profit movements like ours are being challenged by<br />

the emergence of venture capital business organisations<br />

in the field of health and care. These often transnational<br />

companies are now making their mark on the growing<br />

privatized market in Sweden and they do have skills,<br />

resources and legal knowledge that can unfairly outrival<br />

non-profit and idea-based initiatives. It is of utmost importance<br />

that we can present what we are about and the<br />

core values we embrace. We have a ‹trade mark› to protect<br />

and we need to develop and nurture it if we want to continue<br />

to make a contribution to our society.<br />

At the beginning of the year, Värna had 40 member organisations<br />

in its fold, but due to a disagreement over<br />

a statement issued by the board of Värna, relating to<br />

the method Facilitated Communication, four members<br />

decided to leave Värna. Three of them were already<br />

close to each other and were represented by one leading<br />

board member. The statement to the media issued<br />

by Värna related to a critical radio programme<br />

about FC and the anthroposophical institutions. FC has<br />

for a long time been a source of disagreement in the<br />

movement in Sweden causing strong reactions both in<br />

favour and against. The statement from Värna recommended<br />

to its members to adhere to the guidelines<br />

of the Swedish National Board of Health and Welfare<br />

when working with this method. Värna also declared<br />

that FC is not a method that Rudolf Steiner spoke<br />

about and that it has never been mentioned in his<br />

books – hence it is not a traditional anthroposophical<br />

method as many people seem to think it is.<br />

97


Berichte | Reports<br />

Schweiz<br />

In den Anfängen ihrer Entstehung pflegten die anthroposophischen<br />

Einrichtungen in der Schweiz nur spärlichen<br />

Kontakt untereinander, so wurde mit Blick auf Deutschland<br />

und Holland 1962 der Verband für anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie gegründet, um eine<br />

Plattform für den nationalen Austausch zu ermöglichen.<br />

Heute sind im Verband 40 Institutionen assoziiert, mit etwa<br />

240 Internats- und 500 Sonderschulplätzen. Zusätzlich bieten<br />

sozialtherapeutische Einrichtungen rund 1300 Wohnund<br />

Arbeitsplätze für erwachsene Menschen mit einer<br />

Behinderung an, davon sind 100 Wohn- und Arbeitsplätze<br />

für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung.<br />

An zwei eng mit dem Verband arbeitenden Höheren Fachschulen<br />

auf anthroposophischer Basis (HFHS Dornach und<br />

hfs-L/és-L Lausanne) kann die eidgenössisch anerkannte<br />

Ausbildung in Sozialpädagogik abgeschlossen werden.<br />

Wichtige Entwicklungen der letzten Jahre<br />

Seit vielen Jahren arbeitet der Verband an der Umsetzung<br />

der Leitziele Autonomie, Selbstbestimmung und<br />

Teilhabe von Menschen mit Unterstützungsbedarf. Die<br />

Suche nach geeigneten Formen lässt ihn seit 15 Jahren<br />

immer wieder Neues ausprobieren, wie inklusive Tagungen<br />

für Menschen mit Unterstützungsbedarf, Angehörige<br />

und Mitarbeitende sowie jährliche Treffen für BewohnerInnen<br />

aus den Institutionen mit aktuellen Themen, Tanz<br />

und Musik. In der Fachkommission Erwachsene des Verbandes<br />

sind Vertreter der BewohnerInnen ordentlich gewählte<br />

Kommissionsmitglieder.<br />

Seit die Schweiz das Übereinkommen über die Rechte<br />

von Menschen mit Behinderungen im Jahre 2014 ratifiziert<br />

hat, erlebt diese Entwicklung einen neuen Impuls.<br />

Ein Vorfall von Gewalt in einer anthroposophischen Institution,<br />

flankiert von grossem medialen Interesse, führte<br />

2002 im vahs zur Begründung einer Fachstelle für Gewaltprävention,<br />

in deren Folge sich die Mitgliedseinrichtungen<br />

verpflichteten, in den Institutionen Präventions- und<br />

Meldestellen im Umgang mit Gewalt und sexuellen<br />

Grenzverletzungen einzurichten. Die Prävention ist heute<br />

strukturell verankert, es ist jedoch eine kontinuierliche<br />

fortlaufende Arbeit in und mit den Institutionen wichtig.<br />

Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche<br />

Aspekte<br />

Anthroposophische Einrichtungen geniessen in der<br />

Schweizer Öffentlichkeit ein positives Ansehen und ste-<br />

Switzerland<br />

In their early years the anthroposophical special needs<br />

centres in Switzerland had little contact with each<br />

other which is why, in 1962, the Swiss association for<br />

anthroposophical curative education and social therapy<br />

was founded, inspired by the German and Dutch<br />

example, as a platform for national cooperation.<br />

The association has now 40 member organizations,<br />

which offer around 240 places in boarding schools<br />

and 500 in special schools. The social therapy centres<br />

provide around 1300 places to live and work for adults<br />

with special needs, with a hundred of these places<br />

being reserved for people with a psychiatric disorder.<br />

Two colleges which work closely with the association<br />

on an anthroposophical basis (HFHS Dornach and<br />

hfs-L Lausanne) offer students the possibility to gain a<br />

state-recognized qualification in social education.<br />

Important recent developments<br />

For some years it has been the association’s goal to<br />

promote autonomy, self-determination and participation<br />

for people with special needs. In its search for appropriate<br />

ways of achieving this, the association has<br />

been trying out ever new approaches in the last fifteen<br />

years, such as inclusive conferences for people with<br />

special needs, relatives and carers as well as annual<br />

meetings with topical themes, dancing and music for<br />

the residents at the various centres. The association’s<br />

specialist commission for adults also has elected members<br />

representing the residents.<br />

Since Switzerland’s ratification of the Convention on<br />

the Rights of Persons with Disabilities in 2014 this development<br />

has received new impulses.<br />

In 2002, a case of violence in an anthroposophical<br />

institution that drew great media interest led to<br />

the foundation of a ‹vahs› specialist commission for<br />

the prevention of violence. All member organizations<br />

have agreed to set up special prevention and reporting<br />

bureaus to deal with violence and sexual boundary<br />

violations. Prevention is now an integral part of all organizations,<br />

but it is important to continue working on<br />

this topic with the various centres.<br />

Social, political and economic aspects<br />

Anthroposophical institutions have a good name in<br />

Switzerland and have become a byword for high stan-<br />

98


Berichte | Reports<br />

Philomena Heinel, Humanushaus (Schweiz)<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

99


Berichte | Reports<br />

hen für qualitativ gute Arbeit. Sie sind wirtschaftlich den<br />

nichtanthroposophischen Institutionen gleichgestellt.<br />

Doch durch die Kantonalisierung nimmt der Spardruck<br />

auf soziale Einrichtungen zu, was bspw. zu Einbussen im<br />

Bereich der Therapien führt.<br />

Ebenso unterliegen die Vorgaben für die Qualitätsentwicklung-<br />

und Sicherung den Kantonen, was die Institutionen<br />

mit dem anthroposophischen Verfahren «Wege zur Qualität»<br />

vor grosse Herausforderungen stellt, da der damit verbundene<br />

finanzielle Aufwand nicht mehr refinanziert wird.<br />

Umso mehr ist die Vernetzung mit den Branchen- und<br />

Berufsverbänden sowie mit den anthroposophischen<br />

Ausbildungen wichtig.<br />

Obwohl die eidgenössische Anerkennung der zwei Ausbildungsgänge<br />

zur Sozialpädagogik für Nachwuchskräfte<br />

sorgt, ist es für die Einrichtungen nicht immer einfach,<br />

Mitarbeitende mit einer anthroposophisch fundierten<br />

Qualifikation zu finden.<br />

Kantonal sehr unterschiedlich sind die Auswirkungen<br />

der Integrationsbewegung von SonderschülerInnen in<br />

die Regelschule. In einigen Kantonen werden Sonderschulangebote<br />

weiter ausgebaut, in anderen werden<br />

Schulen geschlossen, wovon eine erste anthroposophische<br />

Sonderschule im Sommer <strong>2016</strong> betroffen ist.<br />

Erschwerend kommt hinzu, dass in der Schweiz die Lehrpersonen<br />

in Sonderschulen seit einigen Jahren einen<br />

Hochschulabschluss benötigen. Da keine entsprechende anthroposophische<br />

Ausbildung existiert, werden Fortbildungsangebote<br />

ausgeschrieben, wie bspw. der Einführungskurs<br />

in anthroposophischer Heilpädagogik, den der vahs zusammen<br />

mit der Ausbildungsstätte in Dornach anbietet.<br />

Die Dichte an kantonalen Regelungen für Institutionen<br />

nimmt allgemein zu und die neuen Systeme zur individuellen<br />

Bedarfs- und Leistungserfassung führen zu Einschränkungen<br />

in der Gestaltungsfreiheit der Einrichtungen.<br />

Aktuelle Fragestellungen in der Verbandstätigkeit<br />

Immer stärker in den Fokus rücken die Begleitung, Betreuung<br />

und Pflege von älteren Menschen mit einer<br />

Behinderung, wozu insbesondere die Zunahme an betreuten<br />

Menschen mit demenziellen Erkrankungen zählt.<br />

Die anthroposophische Sozialpsychiatrie als Teil der<br />

Sozialtherapie ist innerhalb der anthroposophischen<br />

Institutionen in der Schweiz ein Wachstumsbereich.<br />

Seit drei Jahren befasst sich eine Arbeitsgruppe mit<br />

Grundlagenarbeit und ermöglicht Weiterbildungen zu<br />

psychiatrischen Krankheitsbildern.<br />

dards. Economically they are on a par with non-anthroposophical<br />

institutions.<br />

Because the country is divided into cantons, there is growing<br />

pressure on social institutions to save money, leading<br />

to shortages when it comes to the provision of therapies.<br />

The fact that the standards of quality development and<br />

quality assurance are also determined by the cantons constitutes<br />

a great challenge for the institutions that work<br />

with the anthroposophical ‹Ways to Quality› procedure,<br />

because the costs this involves are no longer covered.<br />

It is therefore the more important to increase the networking<br />

with the professional associations and with<br />

the anthroposophical training providers.<br />

Although there is a steady influx of new care professionals<br />

thanks to the two state-recognized social education<br />

training courses, it is not always easy to find<br />

enough staff with anthroposophical qualifications.<br />

There are great cantonal differences when it comes to<br />

the integration of children with special needs into regular<br />

schools. Some cantons increase the number of<br />

special school places while others close down entire<br />

schools – as happened this summer with the first anthroposophical<br />

special school.<br />

What makes the situation more difficult is that teachers<br />

in special schools in Switzerland now need a university<br />

degree. Because there is no comparable anthroposophical<br />

training, further training courses are offered such<br />

as for instance the introductory course into anthroposophical<br />

curative education that is provided by vahs in<br />

collaboration with the Dornach training centre.<br />

Generally, canton-imposed regulations are on the increase<br />

and the new protocols for determining individual<br />

needs and services provided is limiting freedom of<br />

choice in our centres.<br />

Topical issues for the association<br />

Questions regarding the support and care for elderly<br />

people with disabilities – including people suffering<br />

from dementia – are becoming more pressing.<br />

Anthroposophical social psychiatry, as a part of social<br />

therapy, is a growing domain within the anthroposophical<br />

centres in Switzerland. In the last three years a specialist<br />

work group has begun to focus on fundamental work<br />

and is offering further training on psychiatric disorders.<br />

In order to bridge the gap created by the demands<br />

of the inclusion concept, cooperation between the<br />

fields of education and curative education is being<br />

continually developed.<br />

100


Berichte | Reports<br />

Um die von der Idee der Inklusion geforderte Aufteilung<br />

in Normalschule und Sonderschule zu überwinden,<br />

wird die Zusammenarbeit der Fachbereiche Heilpädagogik<br />

und Pädagogik permanent weiter entwickelt.<br />

Beitrag zur Entwicklung der anthroposophischen<br />

Bewegung<br />

Neben einer guten Vernetzung innerhalb der Berufsverbände<br />

und Behinderten-Organisationen ist uns die<br />

Zusammenarbeit mit der anthroposophischen Bewegung<br />

wichtig, zum einen über den Verband durch die<br />

Konferenz der anthroposophischen Arbeitsfelder der<br />

Schweiz, zum andern durch die Mitarbeit in der Konferenz<br />

für Heilpädagogik und Sozialtherapie. Weiterhin<br />

soll die Mitarbeit an einer Vielzahl von lokalen und<br />

regionalen Aktivitäten gewährleistet werden, die von<br />

den Institutionen und Schulen ausgehen.<br />

Contribution to the development of the anthroposophical<br />

movement<br />

Apart from the networking within the association and<br />

the special needs centres, much value is placed on<br />

cooperating with the anthroposophical movement.<br />

This happens, on the one hand, via the association<br />

through the Anthroposophical Fields of Work Council<br />

in Switzerland, on the other hand by working with<br />

the Curative Education and Social Therapy Council.<br />

Over and above that, we aim to join in with the local<br />

and regional activities of schools and institutions.<br />

Matthias Spalinger and Renata Fischer, vahs Schweiz<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Interview Lukas Hermanek<br />

Lukas Hermanek, 25, is completing his training as a social educator at HFHS in<br />

Dornach and at Buechehof Lostorf.<br />

Ich besuchte bis zur zwölften Klasse die Waldorfschule.<br />

Jetzt befasse ich mich im Rahmen meiner praxisintegrierten<br />

Ausbildung zum Sozialpädagogen<br />

an der HFHS mit Interesse aktiv mit der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie und<br />

ich erlebe ein grosses Feld, in das ich immer weiter<br />

vorstosse. Ich arbeite in einer Wohngruppe für seelenpflegebedürftige<br />

Menschen in einer anthroposophisch<br />

orientierten Institution.<br />

Seit meiner Schulzeit beschäftige ich mich mit der<br />

ganzheitlichen Sichtweise der Anthroposophie.<br />

Ich arbeitete über drei Jahre in der biologischdynamischen<br />

Landwirtschaft und studierte deren<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

I attended Waldorf school through the 12th grade.<br />

Now, within the framework of my practice-oriented<br />

training as a social educator at HFHS, I am<br />

actively interested in anthroposophic curative<br />

education and social therapy and experience it<br />

as a broad field in which I continue to advance.<br />

I work in a group residence for people with developmental<br />

disabilities in an anthroposophically<br />

oriented institution.<br />

I have studied the holistic perspective of anthroposophy<br />

since my school days. I worked<br />

in and studied the basics of biodynamic agriculture<br />

for over three years. When I decided to<br />

101


Interview<br />

Grundlagen. Bei der Entscheidung zum Wechsel in<br />

die soziale Arbeit war für mich klar, dass ich meine<br />

Ausbildung mit einem anthroposophischen Hintergrund<br />

machen will.<br />

Es ist wichtig, dass anthroposophische Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie offen für Neues bleiben und sich<br />

mit den Bedürfnissen der Menschen und dem Weltgeschehen<br />

entwickeln, um nicht an Aktualität zu<br />

verlieren. Heilpädagogik und Sozialtherapie haben<br />

auch einen Bildungsauftrag und können dadurch<br />

Einfluss nehmen.<br />

Das Wichtigste ist ein Umfeld, das sich mit der Anthroposophie<br />

befasst und Menschen, die weiter denken<br />

und zusammen etwas erreichen wollen. Aktuell<br />

finde ich genau das in meiner Ausbildung an der<br />

HFHS. Danach könnte ich mir vorstellen, dass mir<br />

Vorträge und Literatur eine gute Unterstützung<br />

sind, um mich weiter mit der Anthroposophie auseinanderzusetzen.<br />

Der Umgang mit dem aktuellen Geschehen, damit wir<br />

den Bezug zur Spiritualität nicht verlieren, als Gemeinschaft<br />

nicht auseinanderfallen und uns nicht im<br />

Übermass vom Materialismus verlieren, sind essentielle<br />

Themen.<br />

Die Anthroposophie gibt Erklärungen für viele Fragen,<br />

die Menschen in meinem Umfeld bewegen. Sie<br />

bietet die Chance zur Mitwirkung und ermöglicht<br />

es, ergänzende Sichtweisen zu gewinnen und somit<br />

eine allgemeine Entwicklung anzustossen.<br />

Ich höre immer wieder Ansichten, die auf der Grundlage<br />

der Anthroposophie formuliert werden, welche<br />

für mich zu wenig Freiraum lassen und nicht<br />

stimmig sind. Daher ist mir sehr wichtig, dass den<br />

Menschen, welche sich mit Anthroposophie beschäftigen<br />

und ihre Ansichten darauf aufbauen, ein<br />

individueller Freiraum zugestanden wird. Das erlaubt<br />

es, sich ohne Vorurteile und aus Eigenmotivation<br />

heraus mit einem Thema zu befassen und einen<br />

persönlichen Zugang zur Anthroposophie zu finden.<br />

switch to social work, it was clear that I would<br />

undertake a training based in anthroposophy.<br />

It is important that anthroposophic curative education<br />

and social therapy remain open to new<br />

ideas and develop along with people’s needs and<br />

world events, so as to remain relevant. Curative<br />

education and social therapy have the task of<br />

education, which enabled them to be an influence<br />

in this area.<br />

The most important thing is an environment<br />

that is engaged in anthroposophy and<br />

people who think further and want to achieve<br />

something together. I currently have precisely this<br />

in my training at HFHS. After I finish, I imagine<br />

that lectures and literature will be of help to me<br />

in continuing to work with anthroposophy.<br />

Dealing with current events so that we don’t lose<br />

our connection to spirituality, fall apart as a community,<br />

or lose ourselves in an excess of materialism<br />

is essential.<br />

Anthroposophy gives explanatory approaches<br />

for many questions that are relevant to people<br />

around me. It offers the opportunity to contribute<br />

and enables us to gain additional perspectives,<br />

thereby stimulating general development.<br />

I often hear opinions based on anthroposophy<br />

that are too narrow for me and don’t feel right.<br />

Therefore, it is important to me that people who<br />

are active in anthroposophy and build their opinions<br />

based on it are allowed individual freedom.<br />

This enables us to occupy ourselves with a topic<br />

without prejudice and of our own motivation, and<br />

to find a personal connection to anthroposophy.<br />

Translation from German: Tascha Babitsch<br />

102


Spanien<br />

Der Keim der anthroposophischen Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie in Spanien entstand vor 36 Jahren. Seitdem<br />

ist vieles passiert, aber innerhalb der knapp vier<br />

Jahrzehnte ist die Bewegung nicht sehr gewachsen.<br />

Heute gibt es insgesamt drei Einrichtungen in ganz Spanien,<br />

zwei im Landkreis Madrid und eine in Teneriffa:<br />

In der Asociación San Juan in Teneriffa arbeiten 40 Erwachsene<br />

in verschiedenen Werkstätten, in einem<br />

Wohnhaus leben acht zu betreuende Menschen.<br />

Die Asociación Tobias in Collado Villalba (Madrid) begleitet<br />

16 Erwachsene, die in zwei Wohnhäusern leben und<br />

in verschiedenen Werkstätten arbeiten.<br />

Einen inklusiven Ansatz verfolgt die Escuela Waldorf Artabán<br />

in Galapagar (Madrid) mit der Beschulung von seelenpflegebedürftigen<br />

Kindern in ihren Schulklassen.<br />

Seit einigen Jahren werden in Spanien Einrichtungen für<br />

erwachsene Menschen mit Behinderungen staatlich unterstützt.<br />

Das gibt den Initiativen eine finanzielle Grundlage,<br />

sodass sich der Fokus vermehrt der Arbeit auf<br />

inhaltliche Fragen richten kann. Doch diese Unterstützung<br />

ist lange nicht ausreichend, um alle Ausgaben zu<br />

bezahlen. Die Gehälter sind zu niedrig, das höchste Gehalt<br />

liegt bei ca. 1300 Euro, das niedrigste bei 670 Euro<br />

monatlich. Künstlerische Angebote, wie Eurythmie, Theater,<br />

Malerei, können aus diesen Budgets nicht bestritten<br />

werden und es muss nach alternativen Finanzierungsmöglichkeiten<br />

gesucht werden. Das grösste Problem<br />

für alle Einrichtungen jedoch ist es, Fachkräfte mit einer<br />

grundständigen anthroposophischen Ausbildung zu finden,<br />

die sich engagieren und einbringen wollen.<br />

Deswegen wurde 2010 eine Ausbildung in Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie auf Teneriffa implementiert<br />

und seit 2015 besteht die Möglichkeit, ein in Spanien<br />

anerkanntes Diplom zu erhalten. Die Ausbildung findet<br />

in den Räumlichkeiten der Asociación San Juán,<br />

Adeje statt. Organisation und Leitung obliegt Fidel Ortega<br />

Dueñas, Natividad Moreno Rivilla und Angelines<br />

Martínez Cuenca.<br />

Angelines Martínez Cuenca, Casas de Haro<br />

Übersetzung aus dem Deutschen: Margot Saar<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Fiesta | Celebration<br />

Spain<br />

The seed of anthroposophical curative education and<br />

social therapy was planted 36 years ago. Much has<br />

happened since then, but the movement has not<br />

grown so very much in those almost four decades. We<br />

have three centres in Spain today, two of them in the<br />

greater Madrid area and one on Tenerife:<br />

Forty adults are working in various workshops in the<br />

Asociación San Juan on Tenerife, with eight of them<br />

sharing a family home.<br />

The Asociación Tobias in Collado Villalba (Madrid) supports<br />

sixteen adults who live in two houses and work<br />

in various workshops.<br />

Artabán Waldorf School in Galapagar (Madrid) includes<br />

children with special needs in its regular school classes.<br />

In Spain, the centres for adults with disabilities have<br />

received state funding for some years now. While<br />

this gives them a financial basis which allows them<br />

to focus more on their key objectives, it is not nearly<br />

enough to cover all expenses. The salaries are too low,<br />

ranging from 670 to 1300 Euros per month at most. On<br />

this budget, it is not possible to offer artistic activities<br />

such as eurythmy, drama or painting, and other sources<br />

of funding need to be found. The biggest problem<br />

for all centres is to find qualified and committed staff<br />

with a profound knowledge of anthroposophy.<br />

This is the reason why, in 2010, a curative education<br />

and social therapy training was introduced on Tenerife<br />

and, since 2015, graduates receive a diploma that is<br />

state-recognized in Spain. The training, which uses the<br />

premises of the Asociación San Juán in Adeje, is organized<br />

and led by Fidel Ortega Dueñas, Natividad Moreno<br />

Rivilla and Angelines Martínez Cuenca.<br />

103


Berichte | Reports<br />

Thailand<br />

Thailand<br />

Ist es möglich, dass mein Kind in eine Waldorfschule<br />

integriert wird?<br />

Mit dieser Frage wurde der Samen der Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in Thailand gesät. Seit der Gründung<br />

der ersten Waldorfschule «Panyotai» vor 20 Jahren werden<br />

Kinder mit Hilfebedarf integriert in verschiedenen<br />

Schulgemeinschaften.<br />

Es gibt zwölf Initiativen, deren Arbeit von der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie inspiriert<br />

wird. Dazu zählen integrative Bildungsprojekte, heilpädagogische<br />

Schulen und Beratungsangebote für Eltern behinderter<br />

Kinder. Im Bereich der Sozialtherapie konnte<br />

sich das Saori Weaving Project in Nonthaburi mit seinen<br />

Webereiprodukten etablieren. In Saraburi und Bangkok<br />

wurden Lebensgemeinschaften für Jugendliche und Erwachsene<br />

gegründet. Auch auf dem Gebiet der Aus- und<br />

Weiterbildung gibt es inzwischen ein differenziertes Programm<br />

qualifizierter Seminare, Workshops, Kurs- und<br />

Beratungsangebote für alle im medizinisch-therapeutischen<br />

und heilpädagogischen Bereich Tätigen.<br />

Die zentrale Entwicklung der letzten drei Jahre<br />

Der Impuls der anthroposophischen Heilpädagogik ist<br />

inzwischen in vielen Regionen des Landes bekannt und<br />

regt die Verbreitung des Fachwissens in unterschiedlichen<br />

Gesellschaftsschichten an. Dabei hat das IPMT (International<br />

Postgraduate Medical Training) eine wichtige<br />

Rolle als Fortbildung für alle Berufsgruppen gespielt. Es<br />

ist ein zentraler Ort für vertiefendes Wissen, Treffen, Teilen<br />

und der gegenseitigen Inspiration. Auch der Erfolg<br />

der integrativen Programme in staatlichen Schulen für<br />

behinderte Menschen hat das Fachwissen allgemein<br />

zugänglich gemacht und ist ein Gewinn für die Familien,<br />

die in abgelegenen Gegenden oder in Armut leben.<br />

Hinzu kommt die neue Generation von im Ausland ausgebildeten<br />

Heilpädagogen oder Kunsttherapeuten, die<br />

frische Impulse mitbringen und ihre Kenntnisse weitergeben.<br />

Es gibt ein wachsendes Interesse für sozialtherapeutische<br />

Gemeinschaftskonzepte oder alternative<br />

Formen für Erwachsenenweiterbildung.<br />

Vor allem aber hat der «Congress for people with special<br />

needs» (In der Begegnung leben) vielen Eltern, Pflegern<br />

Is it possible for my child to be integrated<br />

into a Waldorf school?<br />

With this question, the seed of curative education and<br />

social therapy in Thailand was sown. Since the foundation<br />

of the first Waldorf school, ‹Panyotai›, 20 years<br />

ago, children in need of special care have been integrated<br />

in various school communities.<br />

There are twelve initiatives whose work is inspired by<br />

anthroposophic curative education and social therapy.<br />

They include integrative education projects, curative<br />

education schools, and a range of services for<br />

the parents of children with disabilities. In the field of<br />

social therapy, the Saori Weaving Project was able to<br />

establish itself in Nonthaburi. Lifesharing communities<br />

with youth and adults were founded in Saraburi<br />

and Bangkok. In terms of training and continuing education,<br />

there is currently also a varied programme of<br />

certified seminars, workshops, courses and services for<br />

anyone active in the medical, therapeutic and curative<br />

education fields.<br />

Central development in the last three years<br />

The impulse of anthroposophic curative education<br />

is now familiar in many regions of the country, stimulating<br />

the spread of knowledge of the subject in<br />

different social classes. The IPMT (International Postgraduate<br />

Medical Training) has played an important<br />

role in this as continuing training for all professional<br />

groups. It is a central location for deepening knowledge,<br />

for meeting, exchange, and mutual inspiration.<br />

The success of integrative programmes in public<br />

schools for people with disabilities has also brought<br />

knowledge of the subject to the general population<br />

and is of benefit to families living in remote areas or in<br />

poverty. In addition, there is a new generation of teachers<br />

trained outside the country as curative educators<br />

or art therapists, who are bringing fresh impulses and<br />

passing on their knowledge. There is growing interest<br />

in social therapeutic community concepts and alternative<br />

forms of adult education.<br />

Most importantly, the ‹Congress for people with special<br />

needs› (Living in the Encounter) has opened the<br />

104


Berichte | Reports<br />

und Freiwilligen die Augen geöffnet. Er ist gelebte Sozialtherapie<br />

in Aktion, in Alltagssituationen. Er hat uns dazu<br />

angeregt, uns zu treffen und zu kooperieren mit vielen<br />

nicht-anthroposophischen Organisationen für Erwachsene<br />

mit Hilfebedarf.<br />

Die wichtigsten Fragen sind derzeit: Wie können wir mehr<br />

Personal und interessierte professionelle Mitarbeitende<br />

finden? Wie könnte die Forschung unserer Arbeit effektiver<br />

werden? Drei Forschungsgruppen sollte es geben:<br />

Pflege zu Hause mit Eltern; integrierte Schulprogramme;<br />

Krankenhaus- und medizinische Pflege.<br />

Die Position der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in Thailand<br />

Mitten in der seit über zehn Jahren andauernden politischen<br />

Krise sind wir nach wie vor dabei, eine Lösung für<br />

den Konflikt zu finden und die grosse Wunde unter den<br />

Thais mit unterschiedlichen politischen Standpunkten<br />

zu heilen. Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

haben uns einen Sinn für Gemeinschaft zurückgegeben<br />

und die Möglichkeit zur Reflektion der Haltung<br />

zu einem Leben, das Verschiedenheit akzeptiert. So genannte<br />

«Probleme» wurden zu «Herausforderungen für<br />

innovatives Handeln».<br />

Die Haltung zu Behinderung als Krankheit hat sich geändert,<br />

nicht nur aufgrund des Gleichheitskonzepts des<br />

Menschen aus der politischen Perspektive, sondern<br />

auch durch den Impuls der Heilpädagogik, der uns dabei<br />

hilft, diese besonderen Konditionen als «Teil des Wesens<br />

eines Menschen» zu sehen. Er führt uns zurück zur primären<br />

Frage nach «Rhythmus im Leben». Es beinhaltet<br />

die Heilung aller Menschen, was auch einen gesundenden<br />

Effekt auf die Gesellschaft hat. In Thailand fragen<br />

nun viele Menschen in besseren Kreisen nach Veränderung.<br />

Die Bewegung, an der wir arbeiten, ist Teil dieser<br />

Veränderung des Bewusstseins, auch durch die Begegnung<br />

mit Menschen mit Behinderung.<br />

Die nächsten Schritte<br />

Neben einer Teilzeit-Ausbildung für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie in Kooperation mit der Medizinischen<br />

Sektion, Goetheanum, sind zukünftig jährliche Treffen<br />

mit allen Organisationen zur gegenseitigen Inspiration,<br />

Kooperation und Weiterentwicklung der ganzen<br />

Bewegung geplant.<br />

Nach 20 Jahren der Waldorferziehung in Thailand ist die<br />

junge Pflanze der Heilpädagogik (und später der Sozialeyes<br />

of many parents, caregivers and volunteers. It is<br />

lived social therapy in action, in daily life situations.<br />

It inspired us to meet and to cooperate with many<br />

non-anthroposophic organizations for adults with<br />

special needs.<br />

Currently, the most important questions are: How can<br />

we find more staff and interested professional co-workers?<br />

How can we more effectively research our work?<br />

There should be three research groups: Home care with<br />

parents, integrated school programmes, and hospital<br />

and medical care.<br />

The position of anthroposophic curative education<br />

and social therapy in Thailand<br />

In the midst of the already ten-year-long political<br />

crisis, we continue to look for solutions to the<br />

conflict and ways to heal the great wounds of Thai<br />

people with differing political views. Anthroposophic<br />

curative education and social therapy have given us<br />

back a sense of community, and the possibility to develop<br />

an attitude toward life that accepts differences.<br />

So-called ‹problems› become ‹challenges calling for<br />

innovative action›.<br />

The attitude toward disability as an illness has changed<br />

– not only because of the concept of human equality<br />

from a political perspective, but also through<br />

the impulse of curative education, which helps us to<br />

see these special conditions as ‹a part of a person’s<br />

being›. It leads us back to the prime question regarding<br />

‹rhythm in life›. It contains healing for all human<br />

beings, which also has a healing effect on society. In<br />

Thailand, many people in better circles are now asking<br />

for change. The movement we are working on is a part<br />

of this change in consciousness, in part due to the encounter<br />

with people with disabilities.<br />

The next steps<br />

In addition to part-time training courses in curative<br />

education and social therapy in cooperation with<br />

the Medical Section of the Goetheanum, future yearly<br />

meetings with all organizations are planned for mutual<br />

inspiration, cooperation and further development of<br />

the entire movement.<br />

After twenty years of Waldorf education in Thailand,<br />

the tender young plant of curative education (and<br />

later social therapy) has continued to grow. Initiatives<br />

are carried out and finished, while new ones are<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

105


Foto: Thomas Kraus<br />

Kongress «In der Begegnung Leben» | Congress ‹Living in the Encounter› 2014<br />

therapie) kontinuierlich gewachsen. Initiativen wurden<br />

durchgeführt und beendet, zur gleichen Zeit aber formierten<br />

sich neue. Die Gesellschaft hat sich aufgrund<br />

der Fortschritte in der Kommunikationstechnologie stark<br />

verändert, Menschen kommen einfacher und schneller<br />

an Informationen heran und damit weitet sich auch die<br />

Zahl der Kinder mit Hilfebedarf.<br />

Es gilt, Entwicklung zuzulassen und der Zeit zu erlauben,<br />

Wunden zu heilen und den Wachstumsprozess zu fördern.<br />

So, wie der junge autistische Mann, der den Begegnungskongress<br />

in Bangkok besuchte und in diesen drei<br />

Tagen kein Wort sprach, am letzten Tag aber zum Podium<br />

kam und zu allen Teilnehmenden sagte: «Ich kämpfe,<br />

aber ich verliere nie das Vertrauen in mich selbst.»<br />

being formed. Society has changed drastically due<br />

to progress in communication technology – people<br />

have much easier and quicker access to information,<br />

and the number of children in need of special care<br />

is also growing.<br />

It is important to allow development and the time for<br />

wounds to heal and to support the growth process.<br />

And like the young autistic man said, who attended<br />

the Encounter Conference in Bangkok and spoke not<br />

a word throughout the three days, but then came to<br />

the podium on the last day before all of the participants:<br />

‹I am fighting, but I never lose faith in myself.›<br />

Anchana Soontornpitag, Tonrak Foundation for Children<br />

with Special Needs, Bangkok<br />

Translation from English: Tascha Babitsch<br />

106


Berichte | Reports<br />

Tschechien<br />

Czech Republic<br />

In Tschechien wirkt seit 1992 der Verein für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie, der aktuell elf Mitglieder hat (Bereiche:<br />

Ausbildung in Heilpädagogik und Sozialtherapie,<br />

Waldorf-Sonderschule, sechs Tages-Werkstätten, drei<br />

Lebensgemeinschaften), weitere Initiativen sind im Entstehen.<br />

Der Verein ist seit Beginn Mitglied von ECCE. Die<br />

Vereinsmitglieder treffen sich regelmässig bei einem von<br />

den Mitgliedern, um die aktuellen Probleme zu besprechen,<br />

entweder zur gemeinsamen fachlichen Arbeit oder<br />

zur Zusammenarbeit an gemeinsamen Projekten.<br />

Die Gründerin des Vereins, Dr. Anezka Janatova, ist auch<br />

Gründerin der Ausbildung in anthroposophischer Heilpädagogik,<br />

Sozialkunst und -therapie, der «Akademie<br />

für Sozialkunst Tabor». Diese ist ein von der Konferenz<br />

für Heilpädagogik und Sozialtherapie in Dornach anerkanntes<br />

Studium. Die Ausbildungsstätte arbeitet bei verschiedenen<br />

Veranstaltungen eng mit der tschechischen<br />

Anthroposophischen Gesellschaft zusammen. Absolventen<br />

der Akademie gründeten ganz neue Initiativen auf<br />

der Grundlage anthroposophischer Heilpädagogik, Pädagogik,<br />

Kunst- und Sozialtherapie (acht davon sind Mitglieder<br />

des heilpädagogischen Vereins).<br />

Die Akademie für Sozialkunst Tabor beschränkt sich<br />

nicht nur auf die fachliche Aufgabe der Ausbildung, sondern<br />

arbeitet auf dem Gebiet der (anthroposophischen)<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie an verschiedenen<br />

Ausbildungs-Projekten mit – mit der Palacky Universität<br />

im Gebiet innovativer Ausbildung, mit der Assotiation<br />

tschechischer Waldorfschulen, mit dem Verein für biologisch-dynamische<br />

Landwirtschaft Přemysl oder an internationalen<br />

Projekten (z.B. CESTE-NET oder IPMT).<br />

Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

in Tschechien<br />

Da Heilpädagogik und auch Sozialtherapie in der tschechischen<br />

Sozialarbeit keine gängigen Begriffe sind (historisch<br />

ist hier «<strong>Spezial</strong>pädagogik» etabliert, die sich<br />

aber nicht mit therapeutischen Aspekten der Pädagogik<br />

beschäftigt), repräsentiert die Akademie für Sozialkunst<br />

Tabor mit ihrem Ausbildungs-Programm ein ganz neues<br />

Paradigma, welches vorläufig nur vereinzelt in Fachkrei-<br />

The Curative Education and Social Therapy Association<br />

in the Czech Republic has been active since 1992, and<br />

currently has 11 members (a training course in curative<br />

education and social therapy, a Steiner-Waldorf<br />

special needs school, six day-placement workshops<br />

and three residential communities); more initiatives<br />

are currently being developed. Since the beginning,<br />

the Association has been a member of the ECCE. The<br />

members meet regularly at one of the member organizations<br />

in order to discuss either topical issues in the<br />

field or their cooperation on shared projects.<br />

Dr Anezka Janatova, the founder of the association,<br />

also founded the Tabor Academy for Social Art, which<br />

provides training in anthroposophical curative education<br />

and social therapy and is recognized by the Curative<br />

Education and Social Therapy Council in Dornach. The<br />

Academy works closely with the Czech Anthroposophical<br />

Society. Academy graduates have established new<br />

initiatives based on anthroposophical curative education,<br />

education, art therapy and social therapy (eight of<br />

them are members of curative education association).<br />

The Tabor Academy for Social Art is not restricted to<br />

a regular curriculum but is involved with various training<br />

projects in the field of (anthroposophical) curative<br />

education and social therapy: for instance, by working<br />

with the Palacky University on innovative training,<br />

with the association of Czech Waldorf schools, the<br />

biodynamic farming association in Přemysl and international<br />

projects such as CESTE-NET or IPMT.<br />

Anthroposophical curative education and social<br />

therapy in the Czech Republic<br />

Since the terms ‹curative education› and ‹social therapy›<br />

are not widely known or used in the Czech Republic<br />

(historically, the term used is ‹special education› which<br />

leaves out the therapeutic aspects of education), the<br />

Tabor Academy for Social Art with its study courses<br />

represents a whole new paradigm that is at present<br />

only tentatively discussed among experts and hardly<br />

recognized by Czech society. Its aim over the coming<br />

years will be to strengthen these social and educatio-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

107


Berichte | Reports<br />

sen diskutiert wird, in der tschechischen Gesellschaft<br />

ist es jedoch fast unbekannt. Das Ziel dieser Bemühungen<br />

wird sein, diese Impulse in der Sozialarbeit und im<br />

Schulwesen in den folgenden Jahren zu verstärken, mehrere<br />

Initiativen zu gründen und zu entwickeln, um als<br />

letzten Schritt mit staatlichen Organen ins Gespräch zu<br />

kommen und die Anerkennung der Heilpädagogik als eigenständiges<br />

Gebiet zu gewinnen.<br />

Was die mit der Heilpädagogik zusammenhängenden<br />

Gebiete betrifft, so hat sich die anthroposophische medizinische<br />

Bewegung in den letzten Jahren verstärkt.<br />

2011 wurde der Verein für anthroposophische Medizin<br />

gegründet, der die Verantwortung für eine medizinische<br />

Ausbildung übernahm (International Postgraduate Medical<br />

Training der Medizinischen Sektion, IPMT) und seit<br />

2012/13 ein eigenes Wochenend-Fachstudium – die<br />

«MUDr. Brabinek Akademie» – organisiert. Nicht zuletzt<br />

ist auch die 2013 entstandene Ausbildung in biodynamischer<br />

Landwirtschaft – die «MUDr. Kampelik Agroakademie»<br />

– zu erwähnen. Die Agroakademie wurde von<br />

einem ehemaligen Student und Lektor der Akademie<br />

Tabor gegründet und auch das IPMT wird vor allem durch<br />

ehemalige Studenten der Akademie Tabor organisatorisch<br />

und auch künstlerisch begleitet.<br />

Da die Verbesserungen in der Sozialarbeit und der Zugang<br />

für Menschen mit Hilfebedarf nach dem Jahr 1990<br />

nur allmählich vorwärts kommen, werden die meisten<br />

Menschen bis heute vor allem in staatlichen Institutionen<br />

versorgt. Durch gesellschaftliche Unkenntnis der<br />

Problematik werden die nichtstaatlichen Einrichtungen<br />

auch finanziell nur begrenzt unterstützt. Erst seit<br />

2007 gilt in Tschechien ein Gesetz für Sozialdienste,<br />

das als Grundlage für grössere und mehr konzeptionelle<br />

Änderungen im Sozialgebiet dienen könnte. Dieses<br />

Gesetz regelt vor allem Standards in der Sozialen Arbeit,<br />

ihre verschiedenen Methoden, die Ausbildungsansprüche<br />

für Sozialarbeiter und Sonderpädagogen<br />

sowie die finanziellen Mittel für die Menschen mit Hilfebedarf.<br />

Trotz dieses Gesetzes sowie der UN-Konvention<br />

über die Rechte von Menschen mit Behinderung<br />

(in Tschechien gültig seit 2011) oder Bemühungen von<br />

nichtstaatlichen Organisationen, ist die Tendenz weiterhin<br />

wachsend, die Menschen mit Hilfebedarf in Institutionen<br />

unterzubringen. Die institutionelle Pflege<br />

betrifft hierbei nicht nur Erwachsene, sondern auch<br />

Das Christgeburtsspiel | Shepherd‘s Play<br />

nal impulses and to establish more initiatives, so that<br />

it will eventually be possible to enter into a dialogue<br />

with the government and gain recognition for curative<br />

education as an autonomous field.<br />

As far as other areas associated with curative education<br />

are concerned, the anthroposophical medical<br />

movement has gathered momentum in recent years.<br />

Founded in 2011, the Anthroposophical Medical Association<br />

has assumed responsibility for providing<br />

training courses (The Medical Section’s ‹International<br />

Postgraduate Medical Training” or IPMT). Since<br />

2012/2013 it has also been organizing its own weekend<br />

courses (MUDr. Brabinek Akademie). Last but not<br />

least, in 2013 the MUDr. Brabinek Agroakademie opened<br />

its training in biodynamic farming. The Agroakademie<br />

was founded by a teacher (and former student)<br />

of the Tabor Academy and much of the organisation<br />

and artistic work at the IPMT is also provided by former<br />

Tabor-Academy students.<br />

Because the quality of social care and its availability<br />

to people with special needs have only made slow<br />

progress since 1990, most people are still being looked<br />

after in state-run institutions. The lack of information<br />

and the general unawareness in society mean that independent<br />

social care centres only receive limited funding.<br />

It was not until 2007 that the Czech Republic<br />

introduced a Social Service Act that constituted the<br />

foundation for possible changes in the field of social<br />

108


Berichte | Reports<br />

kleine Kinder (Säuglinge). Dabei erleidet die Idee der<br />

Inklusion Angriffe nicht nur aus Politik und Gesellschaft,<br />

sondern auch aus fachlichen Kreisen.<br />

Zukünftige Aufgaben<br />

Die grössten allgemeinen Aufgaben für die Sozialarbeit<br />

in Tschechien sind somit:<br />

1. die Ausbildung von neuen Sozialarbeitern und Sonderpädagogen<br />

– sie werden nicht nur fachlich, sondern<br />

auch menschlich ausgebildet, und<br />

2. die gesellschaftliche und politische Aufklärung im<br />

Zusammenhang mit den Vorteilen und dem Sinn von<br />

individualisierter Sozial-Pflege und einem inklusiven<br />

Schulwesen.<br />

In diesem Sinne stimmen in Tschechien die Aufgaben<br />

der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

überein mit den Aufgaben der tschechischen Sozialarbeit<br />

im Allgemein – der Verein für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie repräsentiert den praktischen Teil der Arbeit,<br />

die Akademie für Sozialkunst Tabor setzt sich für die<br />

Ausbildung zur «Menschheit» ein und für die Unterstützung<br />

der Persönlichkeiten, die für diese gesellschaftlichen<br />

Änderungen etwas Kreatives machen wollen.<br />

Katerina Matošková, Academy for Social Art, Prag<br />

Übersetzung aus dem Deutschen: Leonard Saar<br />

care. First and foremost, the Social Service Act regulates<br />

the standards in social care, the methods used,<br />

the training requirements for social care workers and<br />

special needs teachers and the financial provision for<br />

people with special needs.<br />

Despite the Social Service Act, the UN Convention on<br />

the Rights of Persons with Disabilities (ratified by the<br />

Czech Republic in 2011) and the efforts of independent<br />

organizations, there is still a tendency to institutionalize<br />

people with special needs, including children<br />

and infants. The concept of inclusion is not only criticized<br />

by politicians and society in general but even<br />

among social care professionals.<br />

Tasks for the future<br />

The most important tasks in the field of social care in<br />

the Czech Republic are therefore:<br />

1. Training in social care and special needs education<br />

that does not only convey expert knowledge but also a<br />

more humane approach.<br />

2. Societal and political education regarding the advantages<br />

and meaning of individualized social care<br />

and inclusive schooling.<br />

One can say that, in the Czech Republic, the tasks of<br />

anthroposophical curative education and social therapy<br />

coincide with those of the social care sector in<br />

general. The Curative Education and Social Therapy<br />

Association represents the practical side of the work<br />

and the Tabor Academy for Social Art is committed<br />

to more ‹humanity› and to the support of individuals<br />

who are willing to contribute in creative ways to<br />

facilitate the necessary changes in society.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

109


Konzentration beim Malen | Concentration<br />

Ukraine<br />

Die Ukraine erlebt gerade schwierige Zeiten. Seit drei<br />

Jahren herrscht in den Teilen von Donetzk und Lugansk<br />

Krieg und über eine Millionen Menschen sind auf der<br />

Flucht. Sie sind auf der Suche nach einem ruhigen und<br />

sicheren Ort in der Ukraine. Auch ökonomisch geht es<br />

dem Land nicht gut, die Wirtschaft erlebt kein Wachstum,<br />

das heisst, dass die meisten Menschen an der Grenze<br />

der Armut leben. Zwar versucht die Regierung neue Reformen<br />

auf den Weg zu bringen, doch es ist noch nicht<br />

sichtbar, wo sie hinführen werden. Der Wunsch, das<br />

Land zu verändern, ist bei den Menschen gross und vor<br />

allem besteht der Wunsch, in einem Land ohne Korruption<br />

zu leben, in dem das Recht regiert und nicht die Gier.<br />

Seit zwanzig Jahren existiert und entwickelt sich in der<br />

Ukraine die Anthroposophische Heilpädagogik. In dieser<br />

Zeit wurden heilpädagogische Klassen in der Waldorfschule<br />

«Stupeni» (Odessa) eingerichtet, in Charkow arbeitet die<br />

Heilpädagogische Schule «Phönix» mit einem daran angeschlossenen<br />

Kindergarten und in Kiew wurde das Heilpädagogische<br />

Centrum «Sonyatschne podvirja» aufgebaut. Ein<br />

berufsbegleitender Bildungsgang bietet Studierenden seit<br />

Ukraine<br />

Ukraine is experiencing very difficult times. For three<br />

years there has been war in Donetsk and Luhansk and<br />

more than a million people are fleeing their homes in<br />

search of a more peaceful and safer part of the country.<br />

The economic situation is also dire: the lack of economic<br />

growth means that most people live very close to<br />

the poverty line. While the government is trying to introduce<br />

reforms it is impossible to gauge what will happen<br />

as a result. People are longing for change, wishing<br />

above all to live in a country where there is no corruption,<br />

and where lawfulness prevails rather than greed.<br />

Anthroposophical curative education has existed and<br />

been developed in Ukraine for twenty years now. During<br />

that time curative education classes have been<br />

introduced at the Stupeni Waldorf School in Odessa,<br />

a special needs school (Phoenix) with an integrated<br />

kindergarten was founded in Kharkiv, and a Curative<br />

Education Centre (Sonyatschne podvirja) was set up<br />

in Kiev. A curative teacher training seminar opened in<br />

2000, offering a three-year part-time course. Many of<br />

the graduates from this course now work in non-an-<br />

110


Berichte | Reports<br />

dem Jahr 2000 im Heilpädagogischen Seminar eine dreijährige<br />

fundierte berufsbegleitende Ausbildung. Viele Seminarabsolventen<br />

arbeiten in nicht-anthroposophischen<br />

Einrichtungen oder haben private Praxen. In diesem Jahr<br />

haben wir 25 Studierende am Seminar, alle haben bereits<br />

einen Hochschulabschluss und wollen sich intensiv mit<br />

der anthroposophischen Heilpädagogik auseinandersetzten<br />

und verbinden, damit sie den Kindern mit besonderen<br />

Bedürfnissen besser helfen können. Es sind Erzieher, Logopäden,<br />

Waldorflehrer und Psychologen.<br />

Anthroposophische Einrichtungen bekommen keine finanzielle<br />

Unterstützung vom Staat und können nur durch<br />

Elternbeiträge und durch die Unterstützung der Sponsoren<br />

im In- und Ausland bestehen. Diese Organisationen<br />

haben einen guten Ruf, sowohl bei den Eltern als auch<br />

bei den Mitarbeitenden und in Fachkreisen. Die Zeit und<br />

die Situation stellt die anthroposophische Heilpädagogik<br />

vor neue Herausforderungen. Dazu gehören:<br />

• Hilfe für Kinder mit Traumata<br />

• Ausbildung von Sozialtherapeuten und die Eröffnung<br />

von sozialtherapeutischen Einrichtungen<br />

• Arbeit mit herausfordernden Kindern<br />

• Die Frage der Inklusion und die Begleitung der Kinder<br />

mit besonderen Bedürfnissen in den Staatsschulen.<br />

Viele Früchte bringt die Arbeit mit den anthroposophischen<br />

Einrichtungen in Georgien, Kirgisistan, Russland,<br />

Ukraine, Moldawien, Armenien und Bulgarien.<br />

Valeriya Medvedeva, Schule ‹Phönix›, Charkow<br />

throposophical institutions or in private practice. This<br />

year the course has 25 students who all have previous<br />

academic qualifications. They wish to study anthroposophical<br />

curative education in order to be better able<br />

to help children with special needs. They are educators,<br />

speech therapists, Waldorf teachers and psychologists.<br />

Anthroposophical institutions are not state-funded<br />

and they therefore depend on contributions from<br />

parents and on the support of sponsors at home and<br />

abroad. They are known for the quality of what they<br />

provide and they are appreciated by parents, co-workers<br />

and professionals in the field. Our times and the<br />

situation today present new challenges for anthroposophical<br />

curative education. They include:<br />

• Supporting traumatized children,<br />

• The need for social therapy training courses and centres,<br />

• Working with challenging behaviours in children<br />

• The inclusion of and support for children with special<br />

needs in state schools.<br />

The cooperation with the anthroposophical centres in<br />

Georgia, Kyrgyzstan, Russia, Ukraine, Moldova, Armenia<br />

and Bulgaria is proving very fruitful indeed.<br />

Valeriya Medvedeva, Schule ‹Phönix›, Charkow<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Interview Yuliia Bieliaieva<br />

Yuliia Bieliaieva, 25, lives in Kiev, Ukraine, and is a special education teacher<br />

and speech pathologist. She is studying at the Curative Education<br />

Seminar and working at the ‹Sonyatschne Podvirya› (Sonnenhof) curative<br />

education centre.<br />

Anthroposophische Heilpädagogik gibt meiner<br />

Arbeit Bedeutung. Ich kann mir nicht vorstellen,<br />

wie man ohne diese Kenntnisse qualitativ mit<br />

behinderten Menschen arbeiten kann. Alles,<br />

was wir im Heilpädagogischen Seminar lernen,<br />

ist für mich einleuchtend, auch wenn manches<br />

nicht leicht zu verstehen ist.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Anthroposophic curative education gives my<br />

work meaning. I cannot imagine how anyone<br />

can work qualitatively with people with disabilities<br />

without this understanding. Everything<br />

we learn in the Curative Education Seminar<br />

makes sense to me, even if some of it is not<br />

easy to understand.<br />

111


Interview<br />

Mich interessierten immer Menschen mit Beeinträchtigungen.<br />

Ich hatte viele Fragen, wie: Hat meine<br />

logopädische Arbeit einen Sinn, wenn das Kind<br />

niemals sprechen wird? Ich hatte das Gefühl, dass<br />

ich das Richtige tue, aber ich wollte mehr von<br />

diesen Menschen erfahren, ihre Welt besser verstehen<br />

und wie ich sie individuell und zielgerichtet<br />

fördern könnte. Bereits im ersten Studienjahr<br />

begann ich die Arbeit mit behinderten Kindern<br />

und lernte später im heilpädagogischen Zentrum<br />

«Sonnenhof» die Arbeit mit schwerstbehinderten<br />

Kindern kennen. Ich war beeindruckt, wie glücklich<br />

sie sind, denn in dem staatlichen Internat, in dem<br />

ich vorher gearbeitet hatte, erlebte ich eine ganz<br />

andere Atmosphäre und ein anderes Verhältnis<br />

zu den Kindern erlebt. Das Lernen im Seminar ist<br />

eines der wichtigsten Ereignisse sowohl in meinem<br />

beruflichen als auch im Privatleben.<br />

Ich möchte, dass in der Ukraine anthroposophische<br />

heilpädagogische Einrichtungen nicht nur für Kinder,<br />

sondern auch für Jugendliche und ältere Leute<br />

entstehen. Das ist mein Traum und Ziel.<br />

Das Wichtigste ist bei der Arbeit mit beeinträchtigten<br />

Kindern die persönliche Entwicklung des/der<br />

PädagogIn. Je mehr ich mich entwickle, umso mehr<br />

verstehe ich, dass ich das Kind nur eine Etappe in<br />

seinem Leben begleiten kann. Es ist sehr wichtig,<br />

sich geistig und professionell weiter zu bilden.<br />

Die Gesellschaft soll die Menschen unabhängig von<br />

einer Behinderung akzeptieren. Nur so ist der<br />

Mensch seinen Namen als Mensch wert. Heilpädagogik<br />

und Anthroposophie können dabei<br />

helfen und ich habe den Wunsch, dass viel mehr<br />

Menschen sie kennen lernen. Je mehr sich ein<br />

Mensch in die Anthroposophie vertieft, umso<br />

mehr erkennt er die Welt, versteht und akzeptiert<br />

die Welt und die Menschen und seine Liebe zu<br />

allem und zu allen wächst.<br />

I have always been interested in people with<br />

disabilities. I had many questions, such as: Does<br />

my work as a speech pathologist have any<br />

meaning if the child will never learn to speak? I<br />

had the feeling that I was doing the right thing,<br />

but I wanted to understand more about these<br />

people and their world, and how I could support<br />

them individually and purposefully. In my<br />

first year of studies I immediately began work<br />

with children with disabilities, and later became<br />

familiar with working with children with severe<br />

disabilities at the curative education centre,<br />

‹Sonnenhof›. I was impressed with how happy<br />

they are, as I had experienced a very different<br />

atmosphere and relationship to the children in a<br />

government boarding school where I had worked<br />

previously.<br />

My studies at the Seminar are one of the most<br />

important events in my life, both professionally<br />

and personally.<br />

I would like for there to be anthroposophic curative<br />

education institutions in the Ukraine not only<br />

for children, but also for youth and older people.<br />

This is my dream and my goal.<br />

In working with children with disabilities, the<br />

most important thing is the teacher’s development.<br />

The more I develop, the more I understand<br />

that I can only accompany the children for a<br />

stage of their life. Continuing to grow both spiritually<br />

and professionally is extremely important.<br />

Society should accept people regardless of their<br />

ability or disability. Only then do we earn our title<br />

of human beings. Curative education and anthroposophy<br />

can help with this, and I hope that many<br />

more people will learn about it. The more we immerse<br />

ourselves in anthroposophy, the more we<br />

can recognize the world, the more we can understand<br />

and accept the world and human beings,<br />

and the more our love for all beings grows.<br />

Translation from German: Tascha Babitsch<br />

112


Vietnam<br />

Vietnam liegt angrenzend an Kambodscha, Laos und<br />

China in Südostasien und hat 91,7 Mio. Einwohner.<br />

Das Land war bis 1954 unter französischer Kolonialherrschaft<br />

und hat als erste Nation eine Kolonialmacht<br />

besiegt. Nachdem die Franzosen Vietnam verlassen hatten,<br />

begann der amerikanische Krieg, der sich bis 1975<br />

fortsetzte. In diesem Krieg wurden 75,7 Mio. Liter Agent<br />

Orange über das Land gesprüht. Heute ist Vietnam eine<br />

sozialistische Republik. Seit den frühen neunziger Jahren<br />

hat sich das Land sehr schnell und stabil entwickelt und<br />

ist durch seine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung<br />

einer der «Tiger» Südostasiens geworden.<br />

Der Eurasien Verband, der von Ha Vinh Tho, seiner Frau<br />

Lisi und anderen Mitgliedern hauptsächlich aus der<br />

Camphill-Bewegung gegründet wurde, begann mit seiner<br />

heilpädagogischen Arbeit Mitte der neunziger Jahre<br />

in Vietnam und wird seitdem von der 2007 gegründeten<br />

Eurasien Stiftung unterstützt und gestärkt. Die Stiftungsziele<br />

beinhalten die Förderung der Entwicklung und sozialen<br />

Integration von seelisch und körperlich behinderten<br />

Kindern und Erwachsenen, die in Vietnam und – soweit<br />

dies die Mittel der Stiftung erlauben – in Nachbarländern<br />

leben, und das Bestreben, ihre Würde und Rechte<br />

anzuerkennen und zu respektieren.<br />

Unsere Vision ist es, soziale und humanitäre Arbeit mit<br />

nachhaltiger Entwicklung und Ökologie zu verbinden und<br />

innovative soziale Gemeinschaften, die nach ethischen<br />

und geistigen Werten arbeiten, zu fördern.<br />

Obwohl die meisten Mitglieder in Eurasien aus der Camphill-Bewegung<br />

kommen und eine tiefe Verbindung mit<br />

der anthroposophischen und Waldorf-Bewegung besteht,<br />

ist es uns sehr bewusst, dass dieser Ansatz kontextualisiert<br />

werden muss, damit er relevant für die kulturelle,<br />

wirtschaftliche und politische Lage im Land ist.<br />

Als wir mit der Arbeit anfingen, war das Land noch sehr<br />

arm und versuchte sich politisch von den Folgen der langen<br />

Kriege zu erholen. Die Lage von mit Behinderung lebenden<br />

Menschen war so schrecklich prekär, dass wir<br />

erst das Bewusstsein für ihre Situation schaffen und Anerkennung,<br />

Respekt, Würde und Rechte für sie anstreben<br />

mussten. Selbst Grundbedürfnissen wie Nahrungsmittel<br />

und Unterkunft oder das Recht auf Bildung wurde nicht<br />

nachgekommen. Wir mussten uns immer wieder die Frage<br />

stellen: Was wird am meisten gebraucht? Was ist nützlich?<br />

Was ist in dieser besonderen Situation relevant?<br />

«Die friedvolle Bambusfamilie» | ‹The Peaceful Bamboo Family›<br />

Vietnam<br />

Vietnam is situated in South East Asia, bordering on<br />

Cambodia, Laos and China, with 91.7mio inhabitants.<br />

The country was under French colonization rule until<br />

1954 and was the first colonized nation to defeat a<br />

colonial power. After the French left Vietnam, the<br />

American War started and continued until 1975. During<br />

this war 75.7mio litres of Agent Orange were<br />

sprayed over the country. Today Vietnam is a socialist<br />

republic. Since the beginning of the 1990s the country<br />

has seen a very rapid and steady development and<br />

has become one of South East Asian ‹tigers›, in terms<br />

of accelerated economic development.<br />

Eurasia Association, which was founded by Ha Vinh<br />

Tho, his wife Lisi and other members mostly coming<br />

from the Camphill movement, started its work in special<br />

education in Vietnam in the mid-1990s and has<br />

since been supported and strengthened by the Eurasia<br />

Foundation, founded in 2007. The goals of the<br />

foundation are to foster the development and social<br />

integration of mentally and physically disabled children<br />

and adults living in Vietnam, and – within the<br />

resources of the Foundation in other neighbouring<br />

countries – and to strive for recognition of and respect<br />

for their dignity and rights.<br />

Our vision is to combine social and humanitarian work<br />

with sustainable development and ecology, and to<br />

promote innovative social communities working to<br />

ethical and spiritual values.<br />

Even though most of our members in Eurasia come<br />

from the Camphill movement and have a deep connection<br />

to the anthroposophical and Waldorf movement,<br />

we have been very much aware of the necessity to con-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

113


Berichte | Reports<br />

Im Laufe der Jahre richtete Eurasien in Hue fünf Förderklassen<br />

in Grundschulen der Stadt ein, gründete drei Förderschulen<br />

für Kinder mit schweren Behinderungen, eine<br />

grosse Anzahl Berufsbildungszentren und ein Altenheim.<br />

Von Anfang an veranstalteten wir auch Schulungsveranstaltungen<br />

und ein einjähriges Seminar für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie an der Universität Hue. Unsere<br />

Partner sind die Regierung, religiöse Organisationen und<br />

örtliche NGOs.<br />

Eurasien ist ein Pionier im Bereich der Heilpädagogik<br />

in der Provinz Thua Thien Hue und der Stadt Hue. Der<br />

Verband ist offiziell als NGO von den Kommunalbehörden<br />

anerkannt und viele Verträge und Absichtserklärungen<br />

sind mit örtlichen Partnern unterschrieben<br />

worden. Örtliche und überregionale Medien haben<br />

mehrfach über seine Errungenschaften berichtet und<br />

ausgezeichnete Arbeitsverhältnisse sind mit Familien,<br />

Fachkräften und den staatlichen Stellen geschaffen<br />

worden. In solchen Zusammenhängen musste der<br />

anthroposophische Ansatz in einer feinfühligen und<br />

pragmatischen Weise eingebracht werden, da wir eine<br />

echte Gesinnungsveränderung herbeiführen wollten,<br />

um das Leben für Menschen mit Behinderungen und<br />

ihre Familien zu verbessern – nicht einzig für einige<br />

Kinder –, und um das Bewusstsein zu schärfen und<br />

neue Lösungen vorzustellen, darunter auch allgemeingesellschaftliche<br />

ökologische Impulse.<br />

Dieser Ansatz hat uns fest in die örtliche Gesellschaft<br />

integriert und uns 2009 die Möglichkeit gegeben, eine<br />

erste unabhängige Lebens- und berufliche Ausbildungsgemeinschaft<br />

zu gründen, «Die friedvolle Bambusfamilie»<br />

(Tinh Truc Gia: TTG), die auf der Camphill-Idee<br />

aufbaut. 2012 sind wir der Camphill-Bewegung beigetreten.<br />

Die Gemeinschaft hat auch einen biologisch-dynamischen<br />

Garten und integrierten Waldorfkindergarten.<br />

Weiter haben wir das Eurasien-Bildungsinstitut für<br />

Glück und Wohlbefinden (ELI) gegründet. In den letzten<br />

20 Jahren sind alle Schlüsselfächer, die normalerweise<br />

in Camphill-Seminaren behandelt werden, dort angeboten<br />

worden. Viele Ausbilder von «Camphill International»<br />

haben uns unterstützt. Etwa 60 Studierende<br />

besuchen den Ausbildungskurs.<br />

Alle diese Projekte bauen auf dem Glauben auf, dass das<br />

menschliche Gut der Schlüssel zum Erfolg ist und dass<br />

der innere Wandel am Anfang eines jeglichen sozialen<br />

Wandels steht. Von Anfang an war die Entwicklung von<br />

kompetenten lokalen Mitarbeitern durch solide Schulung<br />

und fundiertes Coaching und Mentoring eine Priorität. In<br />

textualize this approach and make it relevant for the<br />

cultural, economic and political situation in the country.<br />

When we started our work, the country was still very<br />

poor and politically, trying to recover from the aftermath<br />

of the long wars. The situation for people living<br />

with disabilities was so terribly precarious that we first<br />

had to raise awareness for their situation and strive for<br />

their recognition, respect, dignity and rights. Even the<br />

basic needs, like food and shelter or the right to education,<br />

were not met. We constantly had to ask ourselves<br />

the questions: What is most needed? What is useful?<br />

What is relevant in this particular situation and time?<br />

Over the years Eurasia in Hue set up five primary<br />

schools in city special classes, three special schools<br />

for children with severe disabilities, a great number<br />

of vocational training centres and one home for the<br />

elderly. From the start we have also held 2-3 training<br />

events annually and a one-year course at Hue University<br />

on special education and social therapy. Our<br />

partners are the government, religious organizations<br />

and local NGOs.<br />

Eurasia has been a pioneer in the field of special education<br />

in the Thua Thien Hue Province, as well as in<br />

Hue City. The association has been granted official<br />

NGO status by the local authorities, and many agreements<br />

and memoranda of understanding have been<br />

signed with a number of local partners. Local and national<br />

media have reported on many occasions on its<br />

achievements, and excellent work relationships have<br />

been created with families, professionals and government<br />

agencies. In these contexts the anthroposophical<br />

approach had to be introduced in a subtle and pragmatic<br />

way as we wanted to bring about a true change<br />

of attitude and improve the lives for people with disabilities<br />

and their families, not only to a few children,<br />

but to raise awareness and introduce new solutions,<br />

including ecological impulses to society at large.<br />

This approach has given us a solid integration into the<br />

local society and enabled us in 2009 to create a first<br />

independent living and vocational training community,<br />

‹The Peaceful Bamboo Family› (Tinh Truc Gia: TTG),<br />

built on the Camphill model. We joined the Camphill<br />

movement in 2012. The also has a bio-dynamic garden<br />

and an integrated Waldorf kindergarten.<br />

Furthermore we have created the Eurasia Learning<br />

Institute for Happiness and Wellbeing (ELI). All the<br />

key subjects usually covered in Camphill seminars<br />

have been offered there over the past 20 years. Many<br />

114


Berichte | Reports<br />

unserer Schulung bringen wir das Beste aus beiden Welten<br />

zusammen: Westlich effiziente Führung und Technik,<br />

anthroposophisch fundierte Kenntnisse und Erfahrung<br />

kombiniert mit östlicher kontemplativer innerer Arbeit.<br />

Da Dr. Ha Vinh Tho im Bruttonationalglück-Zentrum<br />

(GNH) in Bhutan arbeitet, bringen wir auch das GNH in<br />

unsere verschiedene Aktivitäten und Projekte ein. Eurasien<br />

hat eine starke Kerngruppe höchst kompetenter<br />

vietnamesischer Mitarbeiter, von denen mehrere in Camphill-Einrichtungen<br />

in der Schweiz, Frankreich oder den<br />

USA studiert oder dort ein Praktikum absolviert haben.<br />

Einige haben eine volle Camphill-Ausbildung hinter sich<br />

und können deshalb ELI-Ausbilder sein.<br />

Wir sind jedoch noch in grossem Ausmass Pioniere und<br />

brauchen solide Unterstützung, auf finanzieller Ebene<br />

ebenso wie durch ein starkes Netzwerk in Vietnam und<br />

im Ausland. Die TTG wird nicht von der Regierung gefördert<br />

und muss soziales Unternehmertum entwickeln,<br />

und die Eurasien-Stiftung muss Spenden für ihre Betriebskosten<br />

sammeln.<br />

Eine Waldorfkindergarten-Bewegung ist in den Anfängen<br />

in Saigon und Hanoi und das Interesse an der biologischdynamischen<br />

Landwirtschaft wächst auch. Eine neue Generation<br />

von jungen Vietnamesen ist auf der Suche nach<br />

Alternativen in der Pädagogik, Ökologie und Wirtschaft.<br />

Wir würden uns sehr über eine Zusammenarbeit freuen<br />

und bieten die TTG als ein perfektes Zentrum für die<br />

praktische Ausbildung in der Entwicklung der biologischdynamischen<br />

Landwirtschaft, des Waldorfkindergartens,<br />

der Heilpädagogik, der Sozialtherapie und des sozialen<br />

Unternehmertums in Vietnam an.<br />

Der nächsten Schritt ist die Weiterentwicklung von ELI,<br />

dem Eurasien-Bildungsinstitut. Der Aufbau von Netzwerken<br />

mit lokalen ähnlich gesinnten NGOs, aber auch<br />

mit ähnlichen Initiativen in der Region, Thailand, Malaysia<br />

und den Philippinen ist für TTG und ELI unerlässlich.<br />

Wir suchen Hilfe, damit wir alle diese Initiativen<br />

weiterentwickeln können.<br />

Lisi Ha Vinh, Eurasia Foundation and Association,<br />

Palézieux-Gare (CH)<br />

Übersetzung aus dem Deutschen: Christian von Arnim<br />

trainers from ‹Camphill International› have come to<br />

support our work. About 60 students are attending<br />

each training course.<br />

All these projects are based on the belief that human<br />

resources are the key to success, and that inner transformation<br />

is the beginning of any social transformation.<br />

Since the very beginning, developing competent<br />

local staff through adequate training, coaching and<br />

mentoring has been a priority. In our training, we<br />

combine the best of both worlds: Western managerial<br />

and technical efficiency, knowledge and experience<br />

through Anthroposophy combined with Eastern<br />

contemplative inner work. As Dr Ha Vinh tho works<br />

in Bhutan at the Gross National Happiness Center we<br />

also introduce GNH in our various activities and projects.<br />

Eurasia has a strong core group of highly competent<br />

Vietnamese co-workers, who have proven their<br />

capabilities over the years. Several of them have studied,<br />

or did internships, in Camphills in Switzerland,<br />

France or the US. Some have completed a full Camphill<br />

training and are therefore able to be ELI trainers.<br />

But as we are still very much pioneers in this field in<br />

Vietnam, we need solid support, as much financially as<br />

through a strong network in Vietnam and abroad. TTG<br />

receives no support from the government and needs<br />

to develop social entrepreneurship, and Eurasia Foundation<br />

needs to fundraise for its running costs.<br />

There is a Waldorfkindergarten movement starting in<br />

Saigon and Hanoi, and interest in biodynamics is also<br />

constantly growing. A new generation of young Vietnamese<br />

is looking for alternatives in education, ecology<br />

and business. We are very happy to collaborate and<br />

offer TTG as a perfect practical training centre for the<br />

development of biodynamic agriculture, Waldorfkindergarten,<br />

special education, social therapy and social<br />

entrepreneurship in Vietnam.<br />

Our next steps are clearly the further development of<br />

ELI, the Eurasia Learning Institute. Building up networks<br />

with local like-minded NGOs, but also with similar initiatives<br />

in the region, Thailand, Malaysia, Philippines is<br />

essential for TTG and ELI. We are looking for support in<br />

order to further develop all these initiatives.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

115


Berichte | Reports<br />

«In der Begegnung leben»<br />

Europäische Kongresse für Menschen mit Behinderungen<br />

Von Thomas Kraus<br />

Ich möchte allen danken, die diesen Impuls unterstützt haben. Ich<br />

werde darauf verzichten, Namen zu nennen, weil ich niemanden<br />

unerwähnt lassen oder gar vergessen möchte. Jede Persönlichkeit<br />

fühle sich angesprochen, die aktiv zum Gelingen beigetragen hat,<br />

auch diejenigen, die nicht mehr unter uns weilen!<br />

Vor zwanzig Jahren begannen in Berlin die Vorbereitungen<br />

zu einem ersten Kongress für Menschen mit Behinderungen.<br />

Das war kein leichtes Unternehmen. Es<br />

liessen sich kaum behindertengerechte Unterkünfte finden,<br />

selbst die Kongresszentren waren misstrauisch: Behinderte<br />

in solch grosser Anzahl würden doch bestimmt<br />

Schäden verursachen. Überhaupt, warum sollte man<br />

ausgerechnet für diesen Personenkreis einen Kongress<br />

durchführen, denn die meisten würden doch sowieso<br />

davon nichts mitbekommen. Dies in Frage zu stellen war<br />

ein Motiv, es dennoch zu wagen. Menschen mit Behinderungen<br />

Fachveranstaltungen zu ermöglichen, bei denen<br />

nicht über sie debattiert wird, sondern sie selbst die<br />

massgeblichen Sprecher sind, das war und ist bis heute<br />

ein Novum. Die angestrebten 300 Teilnehmenden konnten<br />

zum vorgesehenen Anmeldeschluss nicht erreicht<br />

werden. Lediglich 10% hatten sich bis dahin registriert.<br />

Die Nachfrage in den Lebensgemeinschaften und Einrichtungen<br />

auch über Deutschland hinaus ergab, dass man<br />

es für ziemlich gewagt hielt, seine «Betreuten» in eine<br />

Grossstadt reisen und an einem Kongress teilnehmen zu<br />

lassen. Die Sorge vor negativen Einflüssen war gross.<br />

Trotzdem wurde die Idee nicht aufgegeben und es gelang,<br />

1998 den ersten Europäischen Kongress mit 500<br />

Menschen in Berlin durchzuführen. Das war die Wende.<br />

Beispielsweise durch einen erkenntnistheoretischen Vortrag,<br />

der den Teilnehmenden zu mehr Selbstbewusstsein<br />

verhalf. Oder abends beim Buffet, als die ersten Besucher<br />

ihre gefüllten Teller denjenigen reichten, die dazu nicht<br />

selbständig in der Lage waren. Leute, die bisher nur Wiesen<br />

und Schafe gesehen hatten, staunten nicht schlecht<br />

über die Flugzeuge bei einer Exkursion zum Berliner Flughafen.<br />

Die Eindrücke dieses Begegnungsfestes waren so<br />

stark und die Forderung der Mitwirkenden so eindeutig,<br />

dass der Kongressimpuls fortgesetzt werden musste!<br />

Fast wäre dies jedoch gescheitert, da sich niemand fand,<br />

‹Living in the Encounter›<br />

European Congresses for People with Special<br />

Needs<br />

By Thomas Kraus<br />

I would like to thank everyone who has supported this impulse.<br />

So as to be certain that I am not forgetting anyone, I<br />

will avoid naming names. I direct these words personally to<br />

all who have taken an active part in this success, whether<br />

living or no longer with us!<br />

Twenty years ago, preparations began in Berlin for<br />

the first congress for people with disabilities. It was<br />

not an easy undertaking. It was almost impossible to<br />

find accessible lodgings, and even the conference centres<br />

were wary: Large numbers of people with disabilities<br />

were sure to cause damage. And why would<br />

we even want to hold a congress for this particular<br />

group of people, when most of them wouldn’t even<br />

get anything out of it? One of our motivations for<br />

daring to do so was to challenge this question. Enabling<br />

people with disabilities to attend congresses at<br />

which they are not the subject of debate but are rather<br />

the speakers themselves – this was, and still is, a novelty.<br />

The goal of 300 participants was not reached by the<br />

chosen registration deadline: only 10% had registered<br />

by that time. Inquiries in the lifesharing communities<br />

and institutions in Germany revealed that sending<br />

their ‹villagers› to a large city to take part in a conference<br />

was seen as rather risky. There was great fear of<br />

negative influences.<br />

Nevertheless, we did not give up, and in 1998 we were<br />

able to successfully hold the first European Congress<br />

in Berlin with 500 participants. This was the turning<br />

point. Perhaps it was the cognitive science lecture,<br />

which helped participants achieve more self-confidence.<br />

Or the evening buffet, where the first visitors<br />

handed their full plates to those who were not able to<br />

serve themselves. People who had never seen anything<br />

but fields and sheep were amazed at the airplanes on<br />

an excursion to the Berlin airport. The impressions<br />

from this festival of encounters were so strong and the<br />

demand from participants so clear that the congress<br />

impulse simply had to continue!<br />

However, this was very nearly a failure when we were<br />

unable to find anyone to take up the task after the first<br />

congress. So I took on the responsibility for the impul-<br />

116


Kongress in Russland 2012<br />

der diese Aufgabe nach dem ersten Kongress übernehmen<br />

wollte. Daraufhin habe ich die Verantwortung für den<br />

Impuls übernommen und alle nachfolgenden Kongresse<br />

in meiner Freizeit initiiert und mit organisiert. Der Prozess<br />

war in den zwanzig Jahren immer derselbe: Ich versuche<br />

einen Menschen zu finden, der sich von der Kongressidee<br />

begeistern lässt und das Risiko und den Arbeitsaufwand<br />

nicht scheut. Erst danach stellt sich die Aufgabe, ein Organisationsteam<br />

zu bilden und einen Rechtsträger zu finden.<br />

Dies ist bis heute ein organischer Prozess geblieben.<br />

Denn nach jedem Kongress löst sich die betreffende Gruppe<br />

auf und der Impuls findet neue Unterstützer.<br />

Welcher Ort wäre geeigneter für einen zweiten Europäischen<br />

Kongress als Dornach? Dort nahmen alle zwei Jahre<br />

die Mitarbeiter an grossen Tagungen teil, die «Bewohner»<br />

hingegen blieben zuhause. Es war ein grandioser «Brückenbau»<br />

2001mit 600 Teilnehmenden. Nie zuvor und nie<br />

mehr danach waren so viele von ihnen im Grossen Saal<br />

versammelt. Die Aufführung von Goethes Märchen, aufgeteilt<br />

in mehrere Teile und Länder, war ein genialer Zusammenklang.<br />

Dieser führte zum ersten Kongressableger in<br />

Skandinavien, das «Nordische Allkunstwerk».<br />

2005 konnte dann in Prag bereits der dritte Kongress<br />

durchgeführt werden, in einer der schönsten Städte<br />

Mitteleuropas, wohin jedes Jahr Millionen Menschen<br />

unterwegs sind. Ganz Prag war erleuchtet durch die<br />

600 orangenen Mützen. Die Atmosphäre war sehr<br />

herzlich und die Teilnehmer kamen jetzt sogar schon<br />

aus den USA und aus Indien.<br />

In Den Haag fand dann 2008 mit 700 Mitwirkenden der<br />

grösste Kongress statt. Die Nachfrage war noch höher,<br />

aber eine grössere Anzahl war damals nicht zu bewältigen.<br />

Dort sollte der «Gezeitenwechsel» im Sozialen<br />

eingeläutet werden. Gewaltig war die Bewegung, als<br />

beim dritten Akkord einer E-Gitarre fast der ganze Saal<br />

aufstand und zur Bühne stürmte. Alle tanzten, natürlich<br />

auch die Rollstuhlfahrer, und oben auf der Bühne<br />

so viele, wie diese eben fassen konnte. Selbst dabei<br />

ist nichts passiert, übrigens auch ein Merkmal dieser<br />

Kongresse! Zum Schluss wurde eine Resolution verfasst<br />

und eine Überraschung verkündet: Der nächste Austragungsort<br />

stand bereits fest.<br />

Durch die Erfahrungen und den grossen Andrang beschloss<br />

ich zu dieser Zeit, neben den «Europäischen<br />

Kongressen» auch dafür zu sorgen, dass der Impuls<br />

überall in der Welt zur Erscheinung kommen kann. Seit<br />

2009 geschieht dies in der oben beschriebenen Weise<br />

und mit der Besonderheit, dass sich diese fast ausse<br />

and have initiatied and co-organized all of the congresses<br />

since in my free time. Throughout the twenty<br />

years, the process has been the same: I attempt to find<br />

people who are excited by the idea of the congress and<br />

who are not afraid of the risk or the amount of work<br />

involved. Then, we build an organization team and find<br />

a legal entity. This remains an organic process today,<br />

as the group in question is dissolved after each conference<br />

and the impulse finds new supporters.<br />

What could be a more suitable place for a second European<br />

Congress than Dornach? Every second year,<br />

co-workers attended a large conference there; the ‹villagers›,<br />

on the other hand, stayed home. So we held a grandiose<br />

‹bridge building› in 2001, with 600 participants.<br />

There had never been so many of them gathered in the<br />

Great Hall and have never been since. The performance of<br />

Goethe’s fairytale, divided into multiple parts and countries,<br />

created a brilliant harmony. This led to the first conference<br />

in Scandinavia, the ‹Nordisk Allkunstverk ›.<br />

The third congress was held in 2005 in Prague, one of<br />

the most beautiful cities in Central Europe, visited by<br />

millions of people each year. All of Prague was brightened<br />

by the 600 orange caps. The atmosphere was very<br />

warmhearted, and this time some participants came<br />

all the way from the USA and India.<br />

The largest congress yet, with 700 participants, took<br />

place in The Hague in 2008. The demand was even<br />

greater, but we were unable to cope with a larger<br />

number of attendees. There, the ‹the tide is turning of›<br />

was heralded in the social realm: The movement was<br />

tremendous as, by the third chord of the electric guitar,<br />

almost the entire hall stood up and stormed the<br />

Foto: Thomas Kraus<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

117


Berichte | Reports<br />

schliesslich in sogenannten Schwellenländern, zumindest<br />

was die Versorgungssituation von Menschen mit<br />

Behinderung anbelangt, verwirklichen lassen.<br />

2011 wurde der fünfte Europäische Kongress in Wien<br />

dem 150. Geburtstag Rudolf Steiners gewidmet. War<br />

das ein Augenschmaus im kaiserlichen Saal, als sich<br />

650 festlich gekleidete Damen und Herren aus aller<br />

Welt wienerwalzernd übers Parkett bewegten. Oder die<br />

Gesprächskultur bei der Podiumsdiskussion mit kurz<br />

zuvor ausgesuchten Teilnehmenden aus Deutschland,<br />

Israel und Brasilien.<br />

Vier Jahre später reisten wir nach Brüssel und bereicherten<br />

den «Palast der Schönen Künste» mit einem<br />

neuen Kunstwerk, der Sozialkunst. Nebenbei hatte<br />

sich auf Teneriffa noch ein spanisch-portugiesischer<br />

Kongressableger gebildet. 2018 soll dann der siebte<br />

Brückenpfeiler errichtet und das 20-jährige Jubiläum<br />

«In der Begegnung leben» gefeiert werden. Die nächste<br />

Herausforderung wird jedoch vorher die Weiterentwicklung<br />

des Impulses im nächsten Jahr sein. Nach<br />

fünf Jahren Vorarbeit wird der erste Weltkongress in<br />

Russland stattfinden, zu dem 1000 Menschen aus der<br />

ganzen Welt erwartet werden.<br />

Der Kongressimpuls ist kontinuierlich gewachsen,<br />

gewandert und mittlerweile zu einer Bewegung geworden.<br />

Gleich geblieben ist hingegen, dass es<br />

sich um einen Impuls handelt, der unbezahlt und<br />

in keine Rechtsform gegossen ist und von der freien<br />

Initiativkraft des einzelnen lebt. Diese Kongresse<br />

kräftigen nicht nur die Mitwirkenden, sondern auch<br />

deren Begleiter, die Organisationen und die globale<br />

sozialtherapeutische Gemeinschaft. Davon kann das<br />

goldene Kongressbuch erzählen und manch einer<br />

persönlich. Hier wird Behinderung zur Befähigung<br />

gewandelt, um das Zwischenmenschliche in der<br />

Welt zu verbessern. Hoffentlich finden sich weiterhin<br />

Menschen, die sich davon begeistern lassen «in<br />

der Begegnung zu leben» und die dann einen neuen<br />

Kongress realisieren. Ich helfe Ihnen gerne dabei!<br />

Thomas Kraus | www.socialartist.events<br />

Übersetzung aus dem Deutschen: Tascha Babitsch<br />

stage. Everyone danced, including, of course, those in<br />

wheelchairs, with as many on stage as could fit. Even<br />

then, there were no damages or injuries, which is characteristic<br />

of these congresses es! At the end, a resolution<br />

was composed and a surprise was revealed: The<br />

next conference venue was already booked.<br />

Based on these experiences and the great demand, I decided<br />

at this time to ensure that, in addition to the ‹European<br />

Congresses›, this impulse will be able to bear fruit<br />

all over the world. New congresses have now been taking<br />

place since 2009 as described above, and it is particularly<br />

interesting to note that they have been realized almost<br />

exclusively in so called developing countries, given the<br />

lack of support there for people with disabilities.<br />

In 2011, the fifth European Congress took place in Vienna,<br />

dedicated to the 150th birthday of Rudolf Steiner.<br />

What a feast for the eyes, when 650 festively dressed<br />

ladies and gentlemen from all over the world took to the<br />

ballroom floor for a Viennese waltz! And the art of conversation<br />

in the podium discussion with spontaneously<br />

chosen participants from Germany, Israel and Brazil.<br />

Four years later, we travelled to Brussels and enriched<br />

the ‹Centre For Fine Arts (Bozar)› with a new work of<br />

art: social art. Meanwhile a Spanish and Portuguesespeaking<br />

Congress took place on Teneriffe. The seventh<br />

pillar of this particular bridge will be built somewhere<br />

in 2018, and there we will celebrate the 20-year anniversary<br />

of ‹Living in the Encounter›. But the next challenge<br />

comes earlier: the next step of this impulse in the<br />

coming year. After five years of preparation, the first<br />

World Congress will take place in Russia, and 1000 participants<br />

from all over the world are expected to attend.<br />

The congress impulse has grown continuously, spread,<br />

and become a movement. What has remained the<br />

same is that this is an impulse that is unpaid and not<br />

tied to any legal form, which stays alive thanks to the<br />

power of individual free initiative. These congresses<br />

strengthen not only the participants, but also those<br />

who accompany them, the organizations, and the global<br />

social therapeutic community. This is attested to<br />

by the ‹Golden Congress Book›, as well as by individuals.<br />

Here, disability is transformed into empowerment,<br />

in order to improve human relationships in the world.<br />

We hope that there will continue to be people who are<br />

excited about ‹Living in the Encounter›, who will realize<br />

a new congress. I will be happy to support them!<br />

118


Berichte | Reports<br />

Matthias Pleger in Den Haag<br />

«In der Begegnung leben»<br />

Ein Rückblick von Matthias Pleger<br />

‹Living in the Encounter›<br />

A review from Matthias Pleger<br />

Ich wohne in einer Einrichtung in Hauteroda, das liegt<br />

zwischen Erfurt und Weimar im Bundesland Thüringen.<br />

Dort hat mich jemand angesprochen, ob ich Lust darauf<br />

hätte, mit nach Berlin zum ersten Kongress «In der<br />

Begegnung leben» zu fahren, was ich nach langer Überlegung<br />

gemacht habe. Mit voller Begeisterung kam ich<br />

zurück und kümmerte mich nach diesem Kongress auch<br />

teilweise für die anderen Bewohner der Einrichtung<br />

darum weiterzumachen. Zum nächsten Kongress habe<br />

ich dann eine Bewohnergruppe begleitet. Später wurde<br />

ich sogar von der Initiativgruppe eingeladen, den Kongress<br />

mitzugestalten. Für Den Haag habe ich mit Hilfe<br />

einen Vortrag vorbereitet und in Wien selber einen Workshop<br />

geleitet. Durch die Vorbereitung und Gestaltung<br />

der Kongresse in den europäischen Ländern habe ich<br />

gelernt und gesehen, wie die Menschen in Europa kommunizieren.<br />

Es war gar nicht immer einfach. Nicht wegen<br />

der Sprache, sondern dass jedes Land eine andere Art<br />

hatte, wie es den Kongress machen wollte. Aber für mich<br />

war das Ergebnis wichtig und was dadurch entstanden<br />

ist. Und wenn ich so zurückblicke auf meine zehn Jahre<br />

Kongressarbeit, was ich nächstes Jahr haben werde, war<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

I live in an institution in Hauteroda, which lies in the<br />

province of Thüringen between Erfurt and Weimar.<br />

There, I was asked if I would like to travel to Berlin for<br />

the first ‹Living in the Encounter› congress, and after<br />

much consideration, I decided to go. I returned full of<br />

enthusiasm after this congress and set about continuing<br />

this with others in the community. I accompanied<br />

a group from the community to the next congress,<br />

and was later even invited by the initiative group to<br />

help organize the congress. I prepared for The Hague<br />

with the help of a presentation, and led a workshop<br />

in Vienna. Through preparing and organizing the congresses<br />

in the different European countries, I learned<br />

and saw how people in Europe communicate. It was<br />

not always easy. Not because of the language, but because<br />

each country had its own ideas about how the<br />

congress should be. But for me, what was important<br />

was the result, and what was created because of it.<br />

And when I look back on my years of work on these<br />

congresses – it will be ten next year – each congress<br />

was something special. And also unique. Not only the<br />

people who made it happen, but the venues also had<br />

119


Berichte | Reports<br />

jeder Kongress etwas Besonderes. Und auch einzigartig.<br />

Nicht nur die Menschen, die es gemacht haben, sondern<br />

auch die Veranstaltungsorte hatten ihren Reiz (z.B. die<br />

Sehenswürdigkeit etc.). Ich denke mit Dankbarkeit an<br />

die Zeit zurück. An das, was hinter mir liegt und hoffe,<br />

dass es weiter geht.<br />

Warum der Kongress für mich wichtig ist<br />

Der Kongress ist wichtig für mich, da sich Menschen in<br />

besonderen Lebenslagen dort treffen können und zwar<br />

in ganz Europa und in der Welt und somit Grenzen überwunden<br />

werden. Ich finde es auch wichtig für mich, dass<br />

ich mit anderen zusammenkomme, deswegen ist dieser<br />

Kongress sehr wichtig und notwendig für mich. Wichtig<br />

ist auch, dass diese Veranstaltungen für MENSCHEN mit<br />

besonderen Bedürfnissen am Leben bleiben. Da kann<br />

ich mein Schicksal mit anderen Menschen teilen, die<br />

auch so ein Schicksal haben. Es ist wichtig, dass es diesen<br />

Kongress für BewohnerInnen sowie BegleiterInnen<br />

gibt. Ich muss aber dabei sagen, er ist für die BewohnerInnen<br />

wichtiger als für Begleitende, da es ein Kongress<br />

ist für Menschen, die ein Handicap haben. Das wird leider<br />

manchmal falsch gesehen und ich möchte nochmal<br />

darum bitten. Es ist ein Kongress für Menschen in besonderen<br />

Lebenslagen nicht für irgendwelche BegleiterInnen.<br />

Und dass es ein Kongress ist, der eine Besonderheit<br />

ist. Nämlich kein «normaler Kongress, sondern auf diese<br />

Menschen ausgerichtet ist» und für diese Personen bestimmt<br />

ist. Nicht für Mitarbeitende, Ärzte, Krankenpfleger,<br />

Lehrer etc. Und dass wir dort unsere alten und<br />

neuen Freunde wieder sehen können. Würde es diesen<br />

Kongress nicht geben, würden wir in unseren Einrichtungen<br />

vereinsamen bildlich gesehen. Und es würden keine<br />

Begegnungen mehr stattfinden, was in der heutigen Zeit<br />

wichtig ist, da viele Menschen in grossen Städten vereinsamen<br />

und krank werden. Ich habe mich sehr verändert<br />

und ein starkes Selbstbewusstsein bekommen in der Arbeit<br />

und bei dem, was ich so mache. Ich halte von der<br />

Initiative sehr viel und hoffe, dass sie weiter am Leben<br />

bleibt. Bis dann in der «Begegnung leben».<br />

Zwei Briefe geschrieben im Mai <strong>2016</strong> von einem, der alle Europäischen<br />

Kongresse mitgemacht hat und dem diese sehr viel für<br />

sein Leben bedeuten.<br />

Mit lieben Grüssen von der Mecklenburgischen Seenplatte und<br />

aus Wildkuhl<br />

Euer Matthias Pleger<br />

their attractions (the sights, etc.). I look back on this<br />

time with gratitude, at what lies behind me, and I hope<br />

that it continues.<br />

Why the congress is important to me<br />

The congress is important for me because people in<br />

unique circumstances can meet there, all over Europe<br />

and the world, and can transcend boundaries. It is also<br />

important to me to come together with others – that<br />

is why this congress is very important and necessary<br />

for me. It is also important that these events continue<br />

for HUMAN BEINGS with special needs. There, I<br />

can share my story with other people who have similar<br />

destinies. This congress is important for villagers<br />

and the co-workers who accompany them. But I have<br />

to say that it is more important for the villagers than<br />

those who accompany them, because it is a congress<br />

for people who have a disability. Unfortunately, it is<br />

not always seen that way, and I want to repeat this. It<br />

is a congress for people in unique life circumstances,<br />

not for the people who accompany them. And that it<br />

is a congress that is unique. It is not a ‹normal congress,<br />

but is geared toward these people› and meant<br />

for these people. Not for co-workers, physicians, nurses,<br />

teachers, etc. And it’s for us to see our old and new<br />

friends again. If this congress didn’t exist, we would<br />

metaphorically grow lonely in our institutions. And<br />

there would be no more meetings, which are important<br />

these days, as many people in large cities become<br />

lonely and sick. I have changed a lot and gained selfconfidence<br />

in my work and everything that I do. I think<br />

the initiative is very important and hope it continues.<br />

Until then, ‹live in the encounter›.<br />

Two letters written in May, <strong>2016</strong> by someone who participated<br />

in all of the European congresses and to whom they hold<br />

great meaning for his life.<br />

With warm greetings from the Mecklenburg Lake District and<br />

from Wildkuhl<br />

Matthias Pleger<br />

Translation from German: Tascha Babitsch<br />

120


Berichte | Reports<br />

Weltweite Kongresse<br />

«In der Begegnung leben»<br />

Von Thomas Kraus<br />

Europa<br />

2009: Erster Balkankongress in Belgrad/Serbien<br />

«Ich bin biologisches Material,<br />

Ein Nichts auf Beinen,<br />

Ein weisses Blatt Papier,<br />

Auf dem Ihr schreibt.<br />

Ich bin von Gott gebracht,<br />

Aber nicht vollendet,<br />

Ihr müsst mich vollenden wie Gott»<br />

Ein Teilnehmer aus Mazedonien liest sein Gedicht vor<br />

und blickt erwartungsvoll in die Zuhörerschaft. Auf dem<br />

Podium sitzen fünf Persönlichkeiten mit Behinderungen<br />

und berichten von ihren Lebenserfahrungen aus einer<br />

Region, die noch immer als Krisenherd bezeichnet wird.<br />

Ein denkwürdiger Augenblick zu Beginn des ersten Kongresses<br />

dieser Art auf dem Balkan. Der Stellvertreter des<br />

Belgrader Bürgermeisters begrüsst die 160 Teilnehmenden<br />

aus zehn Ländern in einem repräsentativen Parlamentsgebäude.<br />

Mehrere Fernsehstationen übertragen<br />

die Eröffnungsfeier. In 25 Medien wird über den Kongress<br />

berichtet. Das ist bedeutsam für ein Land, in dem<br />

es noch Grosseinrichtungen gibt, in denen Menschen<br />

aufgrund ihrer Behinderung mitunter fixiert vor sich hin<br />

vegetieren müssen.<br />

Zehn Jahre nach der jüngsten Bombardierung Serbiens<br />

kommt die grösste Teilnehmergruppe aus Albanien.<br />

Als Nation durch den Kosovo verfeindet, hier individuell<br />

befreundet, das ist konkrete Friedensarbeit. Im Plenum<br />

wird erklärt, dass es zukünftig keine Veranstaltung<br />

zum Thema Behinderung mehr ohne die Beteiligung<br />

der Betreffenden geben darf! Es gibt einen Ausflug zur<br />

Grabstätte Titos, eine Bootsfahrt auf der Donau und ein<br />

opulentes Abendessen. Alles unentgeltlich mithilfe des<br />

Organisationstalents des Vaters einer schwerstbehinderten<br />

Tochter organisiert, der in Belgrad ein innovatives<br />

Tageszentrum aufgebaut hat. Er erzählt, dass er mit der<br />

Kongressidee überall auf offene Herzen gestossen ist.<br />

Der Abschluss findet in einem renommierten Theater in<br />

Belgrad statt. Ausschliesslich von Teilnehmenden wird<br />

in höchst professioneller Weise «Die fünfstöckige Torte»<br />

aufgeführt. Danach gibt es sie dann zum Reinbeissen<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Kongress in Serbien 2009<br />

Worldwide Congresses<br />

‹Living in the Encounter›<br />

By Thomas Kraus<br />

Europe<br />

2009: First Balkan Congress, in Belgrade, Serbia<br />

I am biological material,<br />

a nothing on legs,<br />

a white sheet of paper,<br />

on which you write.<br />

I was brought by God,<br />

but not finished;<br />

You must finish me, like God.<br />

A participant from Macedonia reads his poem and<br />

looks expectantly at his audience. Five individuals with<br />

disabilities sit on the podium and describe their life<br />

experiences in a region that is still identified as a crisis<br />

point. A memorable moment at the beginning of the<br />

first congress of this kind in the Balkans. A representative<br />

of the mayor of Belgrade greets the 160 participants<br />

from ten countries in a prestigious parliament<br />

building. Multiple television stations are broadcasting<br />

the opening ceremony. The congress is reported in 25<br />

media outlets. This is significant for a country where<br />

there are still mass institutions in which people are<br />

forced to simply vegetate because of their disabilities.<br />

Ten years after the most recent bombing of Serbia, the<br />

largest group of participants comes from Albania. Na-<br />

121


Berichte | Reports<br />

im Foyer. Ein Konditormeister hat sie gespendet. Manch<br />

schmerzhafter Abschied wird auf diese Weise versüsst.<br />

Nicht nur die Berufsgruppe der «Defektologen» zeigt sich<br />

vom Erleben tief bewegt. Der Kongressimpuls hat auf<br />

dem Balkan eine neue Blüte bekommen.<br />

2010: Erster Russischer Kongress in Moskau<br />

Trotz der zwei Jahre Vorbereitung ist der erste Kongress<br />

ungewiss: «Russland brennt» – so die täglichen Schlagzeilen.<br />

Moskau liegt seit Wochen unter dunklem Rauch<br />

begraben, Vögel fallen tot vom Himmel! Zur Kongresseröffnung<br />

strahlt die Sonne und 200 Teilnehmende kommen<br />

aus dem ganzen Land, aus Weissrussland, Serbien,<br />

Deutschland und Holland. Es gibt wundervolle russische<br />

Musik, Ansprachen von Universitätsprofessoren und UN-<br />

Vertretern, von Sozialministern und natürlich von den Teilnehmenden<br />

selbst. Sie unternehmen einen Ausflug zum<br />

roten Platz und in den Kreml, während im Kongresszentrum<br />

ein runder Tisch mit 50 «Fachleuten» durchgeführt<br />

wird. Er dient der Ratifizierung der UN-Konvention über<br />

die Rechte der Menschen mit Behinderungen. Das Sozialministerium<br />

hatte die Organisatoren um eine Stellungnahme<br />

gebeten. Die denkwürdigsten Beiträge kommen<br />

selbstverständlich von den Betroffenen selbst. Haben<br />

sie möglicherweise zur Unterzeichnung beigetragen, die<br />

kurz danach erfolgte? Hoffnungsgestärkt für den oft sehr<br />

schwierigen Lebensalltag gehen die Teilnehmenden auseinander.<br />

Die russische Seele kam hier zum Vorschein.<br />

2012: Zweiter Russischer Kongress in Jekaterinburg<br />

Zwei Jahre später geht es in den mittleren Ural nach Jekaterinburg,<br />

an die Grenze zwischen Europa und Asien<br />

in die viertgrösste Stadt des riesigen Landes. Die Einladung<br />

läuft als Fernsehspot zur besten Sendezeit und ist<br />

auf den elektrischen Werbeflächen in der ganzen Stadt<br />

sichtbar. Aus 25 Städten kommen 370 Teilnehmende,<br />

manche von ihnen sind aus dem östlichsten Landesteil<br />

mehrere Tage mit der transsibirischen Eisenbahn unterwegs<br />

gewesen, um ein Balalaikakonzert zu geben. Die<br />

Schirmherrschaft übernimmt der «Petersburger Dialog»,<br />

ein auf Regierungsebene angesiedeltes deutsch-russisches<br />

Forum zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Es zeigt<br />

sich eine unerwartet hohe Unterstützungsbereitschaft<br />

der Ministerien, Kirchen, Universitäten, Organisationen<br />

der Zivilgesellschaft, Firmen und zahlreicher Privatpersonen.<br />

Etwa 100 Studenten und 50 junge Soldaten werden<br />

zur Unterstützung der Teilnehmer eingesetzt. Das städtische<br />

Kulturzentrum wird zum Tagungsort und parallel<br />

Kongress in Russland 2012<br />

tional enemies due to Kosovo, becoming friends here<br />

on an individual level; this is peace work in practice. In<br />

the plenum, it is stated that in the future, events on<br />

the topic of disability will no longer be allowed without<br />

the participation of those with disabilities! There<br />

is an excursion to the gravesite of Tito, a boat ride on<br />

the Danube, and an opulent dinner. All free of charge<br />

thanks to the organizational talent of the father of a<br />

severely disabled daughter, a man who runs an innovative<br />

day centre in Belgrade. He tells us that the idea<br />

of the congress was met everywhere with open hearts.<br />

The closing takes place in a famous theatre in Belgrade.<br />

‹The Five-Tiered Cake› is performed exclusively and<br />

professionally by participants, followed by five-layer<br />

cake for all in the foyer, donated by a master baker.<br />

This sweetens a painful farewell. Not only the group of<br />

professional ‹defectologists› shows that they are deeply<br />

moved. The congress impulse has blossomed anew<br />

in the Balkans.<br />

2010: First Russian congress, in Moscow<br />

Despite two years of preparation, the first congress is<br />

uncertain: ‹Russia is burning› say the daily headlines.<br />

Moscow has lain buried under dark clouds of smoke<br />

for weeks; dead birds are falling from the sky! But the<br />

sun shines for the congress opening, and 200 participants<br />

attend from all over the country, as well as<br />

Belarus, Serbia, Germany and the Netherlands. There is<br />

wonderful Russian music, speeches by university professors<br />

and UN representatives, by Ministers of Social<br />

Affairs, and of course by the participants themselves.<br />

They undertake an excursion to Red Square and to the<br />

122


Berichte | Reports<br />

sogar eine Fachmesse veranstaltet. Der Programmablauf<br />

besteht aus nicht enden wollenden Darbietungen<br />

in Form von Vorträgen, Musik, Akrobatik und Tanz. Jeder<br />

will für die Teilnehmenden etwas zum Gelingen des Gesamten<br />

beitragen. Für sie ist der Kongress ein ausserordentliches<br />

Erlebnis, denn ihr Lebensalltag ist voll von<br />

Schwierigkeiten und Hindernissen. Es wird berichtet,<br />

dass sich die Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen<br />

nach dem Ereignis wesentlich verbessert hat. Deshalb<br />

gibt es für die Zukunft grosse Pläne: Im September<br />

2017 wird dort der erste Weltkongress stattfinden.<br />

Asien<br />

2011: Erster Kaukasuskongress in Tiflis/Georgien<br />

Exakt neun Monate benötigte der Kongressimpuls in Tiflis<br />

bis zu seiner praktischen Umsetzung. In einer Region, in<br />

der die Lebensbedingung für einen Grossteil der Bevölkerung<br />

insbesondere aber für Menschen mit Behinderungen<br />

ziemlich hart ist. 160 Menschen aus Georgien,<br />

Armenien, Aserbaidschan, Ukraine und aus Deutschland<br />

nehmen teil. Neben Parlamentsmitgliedern, dem UN-Vertreter<br />

für Menschenrechtsangelegenheiten im Kaukasus<br />

ist auch die Gattin des Staatspräsidenten mit ihren vier<br />

Leibwächtern zur Eröffnung gekommen. Viele Fernsehkanäle<br />

berichten deshalb mit Sondersendungen. Eine<br />

finanzielle Unterstützung bleibt hingegen aus. Die wäre<br />

sehr hilfreich gewesen, denn nur Stunden zuvor steigt<br />

der einzige Sponsor aus. Zudem geht ein Schreiben des<br />

Kongresszentrums ein, um die Veranstaltung abzusagen.<br />

Die Nachforschung ergibt, dass es sich um eine Fälschung<br />

handelt! Davon bekommen die anreisenden Teilnehmer<br />

nichts mit und der Kongress kann reibungslos durchgeführt<br />

werden. Neben Theaterstücken, Musikaufführungen<br />

und Workshops bleibt vor allem der gemeinsame Busausflug<br />

zur Klosteranlage «Mzcheta» in Erinnerung, eine der<br />

bedeutendsten Kulturstätten Georgiens. Der runde Tisch<br />

mit Teilnehmenden, Eltern und Mitarbeitenden aus 27<br />

Nichtregierungsorganisationen soll zu einer Verstärkung<br />

der Zusammenarbeit führen. Vier Jahre später gibt es<br />

dann ein Wiedersehen im Nachbarland.<br />

2015: Zweiter Kaukasuskongress in Jerewan/Armenien<br />

Lange war es ungewiss ob es weitergehen würde. Der<br />

Kongressimpuls stösst in Armenien zunächst auf breite<br />

Ablehnung. Bis heute werden Menschen mit Behinderungen,<br />

vor allem, wenn es sich nicht um physische Beeinträchtigungen<br />

handelt, ausgegrenzt. Und dies, obwohl<br />

die Erdbebenkatastrophe 1988 eine deutliche Zunahme<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Kongress in Georgien 2011<br />

Kremlin, while a round table with 50 ‹experts› is conducted<br />

in the congress centre. It serves to ratify the UN<br />

Convention on the Rights of People with Disabilities.<br />

The Ministry of Social Affairs had asked the organizers<br />

for a statement. The most memorable contributions, of<br />

course, come from those with disabilities themselves.<br />

Did they possibly contribute to the signing that shortly<br />

followed? Strengthened with hope for their often very<br />

difficult daily life, the participants part. The Russian<br />

soul has made an appearance here.<br />

2012: Second Russian congress, in Yekaterinburg<br />

Two years later, we go to Yekaterinburg in the central<br />

Urals, on the border between Europe and Asia, the<br />

fourth-largest city in this enormous country. The invitation<br />

has a prime time television spot and can be seen<br />

on electric advertising panels all over the city. 370 participants<br />

come from 25 cities; some of them have travelled<br />

for several days on the Trans-Siberian Railway<br />

from eastern Russia to give a balalaika concert. The<br />

congress takes place under the patronage of the ‹Petersburg<br />

Dialogue›, a governmental German-Russian<br />

forum for strengthening civil society. There is an unexpectedly<br />

high level of support from Government Ministries,<br />

churches, universities, civil society organizations,<br />

corporations, and many private individuals. Around<br />

100 students and 50 young soldiers are deployed to<br />

support the participants. The city’s cultural centre becomes<br />

the congress venue, and even organizes a parallel<br />

fair dedicated to disability. The programme consists<br />

of an almost-never-ending series of offerings in the<br />

form of presentations, music, acrobatics and dance.<br />

123


Berichte | Reports<br />

Thailand 2012<br />

von Behinderungen nach sich zog. Nach intensiver Überzeugungsarbeit<br />

sind dann die wichtigsten Organisationen<br />

des Landes beteiligt. Mit 120 Teilnehmenden aus<br />

der Gegend, aus Georgien, Russland, Deutschland, Holland,<br />

Norwegen und Frankreich, nehmen Menschen mit<br />

unterschiedlichen Behinderungen teil. Die Begegnung<br />

ermöglicht, dass auch zwischen ihnen die Barrieren abgebaut<br />

werden. Die von den Teilnehmenden dargebotene<br />

Volksmusik ist sehr eindrücklich. Vor allem während<br />

des Ausflugs zum berühmten Felsenkloster «Geghard».<br />

Die sakrale Atmosphäre der Steinkirchen aus dem 12.<br />

Jahrhundert und die christlichen Gesänge bleiben unvergesslich.<br />

Ebenso die durch die Erdbeben zerrissene<br />

Landschaft. Hoffentlich halten die Vertreter des Erziehungs-<br />

und Sozialministeriums ihr beim Kongress geäussertes<br />

Versprechen, in Zukunft mehr für Menschen mit<br />

Behinderungen in Armenien tun zu wollen!<br />

2012: Erster Kongress in Bangkok/Thailand<br />

Nordöstlich von Bangkok von Hügeln und Tropenwäldern<br />

umgeben, findet der erste Kongress mit 111 Teilnehmenden<br />

statt. Zwei Monate zuvor wurde ein Grossteil dieser<br />

Gegend überflutet. Für die meisten Eltern ist es nicht<br />

leicht, ihre Kinder alleine loszuschicken, weshalb einige<br />

von ihnen lieber gleich mitfahren. Der Kongress wird<br />

feierlich nach buddhistischer Tradition mit einer «Willkommensfeier<br />

für die Seele» eröffnet. Jeder bekommt<br />

einen mit guten Wünschen verbunden Blumenkranz und<br />

weisse Glücksfäden umgehängt. Eine asiatische Kniegeige,<br />

Zither und Holzxylophon untermalen diese Zere-<br />

Everyone wants to contribute something to the success<br />

of the whole for the participants. For them, the<br />

congress is an extraordinary experience – their daily<br />

life is full of difficulties and obstacles. It has been reported<br />

that cooperation with government posts has<br />

improved significantly since the event. Consequently,<br />

there are major plans for the future: The First World<br />

Congress will take place there in September, 2017.<br />

Asia<br />

2011: First Caucasus congress, in Tbilisi, Georgia<br />

In a region in which living conditions are hard for the<br />

majority of the population, but especially for people<br />

with disabilities, the congress impulse in Tbilisi required<br />

exactly nine months to be realized. 160 people<br />

from Georgia, Armenia, Azerbaijan, the Ukraine and<br />

Germany participate. In addition to members of parliament<br />

and the UN representative for Human Rights<br />

Issues in the Caucasus, the wife of the President and<br />

her four bodyguards are present at the opening. For<br />

this reason, many television channels broadcast special<br />

programmes on the congress. Financial support,<br />

on the other hand, is missing. It would have been<br />

very helpful, as the sole sponsor drops out only hours<br />

before the congress. In addition, we receive a letter<br />

from the congress centre cancelling the event.<br />

This is shown, upon further inquiry, to be a forgery!<br />

But the arriving participants don’t notice any of<br />

this, and the congress runs smoothly. In addition<br />

124


Berichte | Reports<br />

monie. Des Nachts verharren die Temperaturen deutlich<br />

über der 25 Gradmarke und lassen kaum Schlaf finden.<br />

Die Moskitos tun ihr übriges. Trotzdem weckt uns ziemlich<br />

früh, die Sonne ist kaum aufgegangen, zarter Flötenklang<br />

zum gemeinsamen Yoga auf der Wiese. Am<br />

Nachmittag kann man dann seine Beweglichkeit in den<br />

Workshops diesbezüglich noch steigern oder aber Thaiboxen<br />

erlernen. Zur Abkühlung stürzen sich ganz Mutige<br />

beim Ausflug in die seichten Fluten eines Wildbaches.<br />

Trotz der Temperatur von über 35 Grad wollen die Kleider<br />

bei dieser Luftfeuchtigkeit einfach nicht trocknen. Der<br />

kulturelle Abend ist sicher einer der Höhepunkte dieses<br />

Kongresses. Die Teilnehmenden, ganz in Thaiseide gehüllt,<br />

singen nach Herzenslust, tanzen beschwingt und<br />

zeigen ihre Eurythmie. Die anwesenden Eltern sind ausser<br />

Rand und Band. So hatten sie ihre erwachsenen Kinder<br />

noch nie erlebt. Die observierenden Studierenden<br />

werten ihre Forschungsergebnisse aus und beschliessen,<br />

ihr bisher erlerntes pädagogisches Konzept zu verwerfen.<br />

Der Kongress endet mit dem Versprechen, sich<br />

alle zwei Jahre irgendwo anders zu treffen. Nun gedeiht<br />

der Impuls auch im «Land des Lächelns».<br />

2014: Zweiter Kongress in Rayong/Thailand<br />

Das Versprechen wird eingelöst und von einem wachsenden<br />

Netzwerk unterstützt. Nun kommen schon mehr als<br />

160 Teilnehmende aus dem ganzen Land. Vermehrt auch<br />

wieder Eltern, weshalb für sie eine Parallelveranstaltung<br />

organisiert wird. Der Kongress findet in einer Anlage überwiegend<br />

unter freiem Himmel statt. Während des von Teilnehmenden<br />

dargebotenen Eurythmiemärchens hört man<br />

als Untermalung das Meer rauschen. Inhaltlich geht es<br />

dabei um die Situation eines Menschen, dem die langsame<br />

Befreiung aus dem eigenen Käfig gelingt. Diejenigen,<br />

die schon zum wiederholten Male dabei sind, äussern<br />

sich mutiger und teilen im Abschlussplenum mit (Zitate):<br />

• Wichtig waren mir die Erfahrungen mit der Natur, dem<br />

Meer und dem Himmel.<br />

• Bei den meisten anderen Veranstaltungen, die ich kenne,<br />

tragen die Menschen Masken. Hier sind sie sie selbst.<br />

• Ich sehe die Eltern jetzt neu. Ich habe die Liebe zwischen<br />

ihnen und den Kindern früher niemals so gesehen.<br />

• Ich wollte anfangs nicht dazu gehören und jetzt habe ich<br />

so viele Freunde gefunden.<br />

• Ihr müsst aktiv werden, wer weiss wie lange ihr noch lebt!<br />

• Ich wünsche es mir, für andere Menschen zur Freude<br />

Musik zu machen und in einem Tempel spielen zu können.<br />

Auch die Eltern äussern sich:<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Armenien 2015<br />

to plays, musical performances and workshops, the<br />

group bus excursion to the ‹Mzcheta› cloister, one of<br />

the most important cultural sites in Georgia, stands<br />

out in my memory. The round table with participants,<br />

parents, and co-workers from 27 NGOs is intended to<br />

strengthen cooperation. Four years later, we will see<br />

each other again in a neighbouring country.<br />

2015: Second Caucasus congress, Yerevan, Armenia<br />

For a long time, it was unclear whether it would continue.<br />

The congress impulse in Armenia was initially<br />

met with rejection. People with disabilities there continue<br />

to be ostracized, particularly when the disabilities<br />

are not physical, despite the fact that the<br />

earthquake catastrophe in 1988 caused a significant<br />

increase in disabilities. Finally, after intensive persuasion,<br />

the most important organizations in the country<br />

are on board. 120 people with various disabilities from<br />

the region and from Georgia, Russia, Germany, the<br />

Netherlands, Norway and France participate. The encounter<br />

allows them to break down barriers between<br />

them, especially during the excursion to the famous<br />

cliff monastery, ‹Geghard›. The sacred atmosphere of<br />

the 12th century stone church and the Christian singing<br />

is unforgettable, as is the landscape, broken by<br />

the earthquake. Hopefully, the representatives from<br />

the Education and Human Affairs Ministry will fulfil<br />

their promises made at the congress to do more for<br />

people with disabilities in Armenia!<br />

125


Berichte | Reports<br />

• Ich habe mein Kind noch nie so selbstbewusst, hoffnungsvoll<br />

und aufgeschlossen erlebt.<br />

• Mein Kind ist in vier Tagen erwachsen geworden.<br />

• Ich habe erkannt, wie viel Potenzial die Kinder haben.<br />

• Dieser Kongress ist ein Seelen- und Geisterwecker.<br />

Und zum Schluss die professionellen Begleiter:<br />

• Nie habe ich so viel Entwicklung in so kurzer Zeit gesehen.<br />

• Ich muss meine ganze berufliche Sichtweise und meine<br />

Handlungen ändern.<br />

• Ich werde alle Urteile gegenüber Menschen mit Behinderungen<br />

ablegen.<br />

• Ich habe noch nie eine solche Menschlichkeit erlebt.<br />

Der Kongress ist auf besondere Weise ein Friedensdienst,<br />

denn nur 15 Stunden nach dem Ende wird in<br />

Thailand das Kriegsrecht ausgerufen. Panzer stehen in<br />

den Strassen und Soldaten schwitzen in voller Kampfmontur<br />

bei 40 Grad im Schatten. Der dritte Kongress<br />

findet im Juli <strong>2016</strong> in Khon Kaen, der grössten Universitätsstadt<br />

im Nordosten des Landes statt.<br />

Südamerika<br />

2009: Erster Kongress in Rio de Janeiro/Brasilien<br />

Im Gegensatz zu Nordamerika, der einzigen Region, in<br />

der es bisher trotz mehrfacher Versuche nicht gelang<br />

einen Kongress zu veranstalten, gedeiht der Impuls im<br />

Süden prächtig. Begonnen hatte er dadurch, dass eine<br />

Gruppe aus Brasilien sich zu spät für «In der Begegnung<br />

leben» in Den Haag anmeldete und wegen Überfüllung<br />

nicht teilnehmen konnte. Kurzerhand richtet sich der<br />

Kongressimpuls nach Brasilien und zwar nach Rio de Janeiro.<br />

Dort nehmen 150 Menschen aus 14 verschiedenen<br />

Einrichtungen teil. Viele von ihnen sind noch nie alleine<br />

unterwegs gewesen. Manche kommen aus den riesigen<br />

Favelas von Sao Paulo, die überwiegende Mehrheit lebt<br />

unter sehr schwierigen Bedingungen. Der gemeinsame<br />

Ausflug in den Regenwald ist hier einer der Höhepunkte.<br />

Kaum vorstellbar, dass einige der Teilnehmenden dorthin<br />

zum ersten Mal gelangen, obwohl sie nur fünf Kilometer<br />

entfernt wohnen. Die Rast gestaltet sich inmitten<br />

von kleptomanischen und vor allem flinken Affen sehr<br />

unterhaltsam. Die Stimmung ist stets ausgelassen und<br />

der Programmablauf sehr abwechslungsreich. Ein Jahr<br />

später gibt es bereits ein Wiedersehen.<br />

2012: First congress, in Bangkok, Thailand<br />

The first congress takes place to the northeast of Bangkok,<br />

surrounded by hills and tropical forests, with 111<br />

participants. Only two months before, a large part of this<br />

land was flooded. It is not easy for most of the parents to<br />

send their children off alone, so many of them prefer to<br />

come with them. The congress opens festively according<br />

to the Buddhist tradition with a ‹welcoming celebration<br />

for the soul›. Everyone receives a wreath of flowers<br />

bound with good wishes and is draped with white luck<br />

threads. The ceremony is accompanied by an Asian viola,<br />

a zither, and a xylophone. Night temperatures hover<br />

around 25°C [82°F] and make sleep almost impossible.<br />

The mosquitoes do the rest. Still, we are awakened quite<br />

early, just at sunrise, by the sound of a flute, for communal<br />

yoga in the field. We can continue to increase<br />

our flexibility in the afternoon workshop, or learn Thai<br />

boxing. To cool off, the brave ones jump into the shallow<br />

waters of a raging creek. Despite temperatures of over<br />

35°C [95°F], our clothes never quite dry in this humidity.<br />

The cultural evening is definitely one of the high<br />

points of the congress. The participants, draped in Thai<br />

silk, sing from their hearts, dance with exhilaration, and<br />

show their eurythmy. The parents present go wild. They<br />

had never experienced their adult children like this. The<br />

observing students evaluate their research findings and<br />

decide to throw out the pedagogical concepts they had<br />

learned previously. The congress ends with the promise<br />

to meet every two years in a different venue. The impulse<br />

is now thriving in the ‹land of smiles›.<br />

2014: Second congress, in Rayong, Thailand<br />

The promise is kept and supported by a growing network.<br />

This time, more than 160 participants attend<br />

from all over the country, and even more parents,<br />

which leads to the organization of a parallel event for<br />

them. The congress takes place in a compound and<br />

primarily outdoors. The participants’ performance of<br />

a fairytale in eurythmy is accompanied by the sound<br />

of the ocean. The story tells of a human being who is<br />

slowly able to become free of a cage. Those who have<br />

been here before are braver in expressing themselves<br />

and speaking up in the plenum (quotations):<br />

• The experiences of nature, the ocean and the sky<br />

were important to me.<br />

• In most other events that I know of, people wear<br />

masks. Here, they are themselves.<br />

126


Berichte | Reports<br />

Brasilien 2009<br />

2010: Zweiter Kongress in Sao Paulo/Brasilien<br />

Ein Bewohner einer Lebensgemeinschaft in Deutschland<br />

hatte von dem Kongress in Brasilien gehört und daraufhin<br />

seine Familie so lange drangsaliert, bis er das Flugticket<br />

dorthin in der Tasche hatte. Er bewies dabei ein<br />

gehöriges Potential an Raffinesse und an «emotionaler<br />

Intelligenz». Zuvor hatte er noch nie ein Flugzeug von<br />

innen gesehen, begann sich aber zunehmend für das<br />

ferne Land, für dessen Frauen und den Fussball zu interessieren.<br />

Nun steht er im feinen Sand, lässt sich das<br />

warme Atlantikwasser um die Füsse spülen und schüttelt<br />

weise den Kopf: «Verrückt ist es hier, verrückt, total verrückt<br />

– verrückt schön!» Gerade ist er dem deutschen Novemberwetter<br />

entflohen. Während es zuhause schneit,<br />

hat er hier bereits Kokosmilch getrunken, eine Kobra<br />

gestreichelt und erfahren, wie behinderte Menschen in<br />

einer 20 Millionenstadt leben. Irgendwie hat er sich auch<br />

schon ein bisschen verliebt. Natürlich in eine hübsche<br />

Brasilianerin, die bei Special Olympics Medaillen gewonnen<br />

hat. Glücklicherweise kann er gut tanzen, das ist vor<br />

Ort wichtig für eine gediegene Beziehung. Da ist dann<br />

auch diese komische Fremdsprache kein Problem mehr,<br />

denn man versteht sich ja sowieso!<br />

Von den 100 Kongressteilnehmenden ist etwa ein<br />

Drittel bereits beim ersten Kongress dabei gewesen.<br />

Das Thema und das Programm haben sie selbst vorbereitet.<br />

Man versammelt sich im Stadtzentrum von<br />

Sao Paulo und fährt dann mit dem grossen Bus einige<br />

Stunden durch den atlantischen Regenwald an die<br />

• see parents in a new way now. I never saw the love<br />

between them and their children in this way.<br />

• I didn’t want to be a part of this at first, and now I<br />

have found so many friends!<br />

• You have to become active – who knows how long<br />

you’ll still be alive!<br />

• I wish that I might be able to make music for the joy<br />

of others and to play in a temple.<br />

The parents express themselves as well:<br />

• have never experienced my child so self-confident,<br />

hopeful and outgoing.<br />

• My child grew up in four days.<br />

• I realized how much potential our children still have.<br />

• This congress is an awakener of soul and spirit.<br />

And finally the professional caregivers:<br />

• I have never seen so much development in such a<br />

short time.<br />

• I have to change my entire professional perspective<br />

and activity.<br />

• I am going to discard all of my prejudices about people<br />

with disabilities.<br />

• I have never experienced such humanity.<br />

In a special way, the congress is a peace service, for<br />

only 15 hours after it ends, martial law is declared in<br />

Thailand. The streets are full of tanks, and soldiers in<br />

full combat gear sweat at 40°C [104°F] in the shade.<br />

The third congress will take place in July, <strong>2016</strong>, in Khon<br />

Kaen, the largest university town in the northeast of<br />

the country.<br />

South America<br />

2009: First congress, in Rio de Janeiro, Brazil<br />

In contrast to North America, the only continent where<br />

multiple attempts to organize a congress have failed,<br />

the impulse thrives wonderfully in the south. It began<br />

when a group from Brazil registered too late for ‹Living<br />

in the Encounter› in The Hague and was unable to attend<br />

because it was already full. Without further ado,<br />

the congress impulse is directed toward Brazil, specifically<br />

Rio de Janeiro. There, 150 people from 14 different<br />

institutions participate. Many of them have never<br />

travelled alone before. Some come from the enormous<br />

favelas in Sao Paolo and the vast majority live under<br />

very difficult conditions. The group excursion to the<br />

rain forest is one of the high points. It is almost im-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

127


Berichte | Reports<br />

Brasilien 2012<br />

Küste. Der Veranstaltungsort bietet alle Annehmlichkeiten,<br />

Swimmingpool, Bücherei, frei zugängliches Internet<br />

und diverse Sportmöglichkeiten. Unter der Obhut<br />

eines Sicherheitsdienstes kann man im Meer baden,<br />

am Strand spazieren oder einfach nur im Sand spielen.<br />

Es gibt Kurse zur Meeresbiologie und über die Rechte<br />

von Menschen mit Behinderungen. Die Fröhlichkeit und<br />

Leichtigkeit dieses Kongresses werden natürlich vom<br />

brasilianischen Klima und der Mentalität begünstigt.<br />

Das Interview vor der Fernsehkamera absolviert der Gast<br />

aus dem fernen Deutschland souverän. Ihm scheint es<br />

vorrangig wichtig zu sein, den Daheimgebliebenen via<br />

Bildschirm zu übermitteln, dass er doch die Absicht<br />

hegt, wohlbehalten zurückzukehren! Die heimische Kultur<br />

verteidigt er ebenso bravourös. Die Brasilianer zeigen<br />

sich jedenfalls mächtig beeindruckt. Beethovens<br />

«Ode an die Freude» als Blockflötensolo war schlechthin<br />

der Renner des Abschlussabends.<br />

Das Wechselbad seiner Gefühle hingegen bekommt er<br />

nicht immer alleine in den Griff.<br />

2012: Dritter Kongress in Sao Paulo/Brasilien<br />

Was in europäischen Gemeinschaften kaum vorstellbar<br />

ist, gelingt in Sao Paulo mit Leichtigkeit. Seit dem ersten<br />

possible to imagine that some of the participants are<br />

visiting it for the first time, when they live only five<br />

kilometres away. The break takes place surrounded by<br />

very nimble kleptomaniac monkeys and is very entertaining.<br />

The mood is always jolly, and the programme<br />

very diverse. Only one year later, there is already another<br />

meeting.<br />

2010: Second congress, in Sao Paolo, Brazil<br />

One villager from a lifesharing community in Germany<br />

had heard of the congress in Brazil and immediately<br />

began pressuring his family until he had a plane ticket<br />

to Brazil in his pocket. In the process, he showed<br />

a true potential for subtlety and emotional intelligence.<br />

He had never seen the inside of an airplane before,<br />

but increasingly began to develop interest in the<br />

distant country, its women, and its football [soccer].<br />

Now he stands in the fine sand, lets the warm water<br />

of the Atlantic wash around his feet, and shakes his<br />

head wisely: ‹It is crazy here, crazy, totally crazy – crazy<br />

beautiful!› He has just escaped the German November<br />

weather. While it snows at home, he has already<br />

drunk coconut water, caressed a cobra and experienced<br />

how people with disabilities live in a city of 20 mil-<br />

128


Berichte | Reports<br />

Kongress, also mittlerweile seit sieben Jahren, finden regelmässige<br />

monatliche Treffen mit bis zu 70 Menschen<br />

mit Behinderungen in dieser Megacity statt, um den<br />

Kongressimpuls weiterzuentwickeln. Sie entwerfen ihr<br />

Programm, suchen sich die Themen aus und überlegen,<br />

wie sie die nötigen Finanzmittel für ihren nächsten Kongress<br />

auftreiben können. Deshalb kann bereits der dritte<br />

Kongress mit 120 Teilnehmenden stattfinden. Sogar<br />

eine Gruppe aus Argentinien hat sich dorthin auf den<br />

Weg gemacht. Zur Eröffnung wird «umgekehrte Inklusion»<br />

praktiziert. Der Kongress inkludiert mehrere hundert<br />

Feriengäste, die sich von der Stimmung des Geschehens<br />

sichtlich gerührt zeigen. Für die Tanzgruppe der Rollstuhlfahrer<br />

gibt es stehende Ovationen, dasselbe auch<br />

für die Models bei der Modenschau. Die Argentinier sind<br />

enthusiasmiert und tragen den Impuls nach Hause.<br />

2014: Vierter Kongress in Buenos Aires/Argentinien<br />

Im Abschlussplenum des vierten südamerikanischen<br />

Kongresses fassen Teilnehmende ihre Eindrücke der vergangenen<br />

Tage zusammen:<br />

«Schönheit, Harmonie, Brüderlichkeit, Zusammenarbeit,<br />

Frieden, Überwindung und Glück». Inmitten der<br />

Natur am Rande von Buenos Aires begegnen sich 70<br />

Teilnehmende aus Brasilien, Kolumbien, Argentinien<br />

und Deutschland zum Thema Freundschaft. Per Videokonferenz<br />

wird ein zeitgleiches Treffen in Sao Paulo dazu<br />

geschaltet. Der Jubel ist enorm, als die Daheimgebliebenen<br />

im projizierten Grossbild erscheinen. Die Stimmung<br />

mit simplen Worten zu beschreiben wäre vermessen,<br />

man muss sie einfach erleben. Die Begegnungen haben<br />

eine Tiefe und Reife, wie man sie sonst so oft vermisst.<br />

Auch wenn es vereinzelt viel Anstrengung erfordert, sind<br />

alle bei den Aktivitäten dabei. Es gibt Naturbetrachtungen,<br />

Rundgespräche, Leder-, Filz- und Malwerkstätten,<br />

Eurythmie und Bewegungsspiele und natürlich Musik<br />

und Tanz. Morgens im Plenum erzählt mancher zum ersten<br />

Mal seine leidvolle Biografie. Es herrscht eine therapeutisch<br />

wirkende Atmosphäre. Hier begegnen sich<br />

Menschen «mit besonderen Qualitäten», wie es eine<br />

Teilnehmerin formuliert. Am abendlichen Lagerfeuer,<br />

unter einem wundervollen argentinischen Sternenhimmel,<br />

wird so manche Begegnung vertieft. Dieses Leuchtfeuer<br />

gilt es weiter zu tragen!<br />

<strong>2016</strong>: Fünfter Kongress in Cali/Kolumbien<br />

Ebenso viele Menschen aus denselben Ländern wie in<br />

Argentinien sind nun auf 1000 Meter Meereshöhe in<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

lion. And somehow, he has fallen a little in love. With a<br />

pretty Brazilian, of course, who has won medals at the<br />

Special Olympics. Luckily, he is a good dancer – this is<br />

crucial to a solid relationship here. Then, this strange<br />

foreign language is no longer a problem – they understand<br />

each other anyhow!<br />

Of the 100 congress participants, about one-third already<br />

attended the first congress. They prepared the<br />

theme and the programme themselves. We gather in<br />

the city centre of Sao Paolo and drive several hours<br />

through the Atlantic rainforest to the coast in a large<br />

bus. The event venue offers every amenity – swimming<br />

pool, library, free internet and a variety of sports.<br />

Under the custody of the security service, we can swim<br />

in the sea, wander along the beach or simply play in<br />

the sand. There are marine biology courses and courses<br />

on rights for people with disabilities. The merriment<br />

and lightness of this congress are naturally aided by<br />

the Brazilian climate and mentality. The guest from distant<br />

Germany completes a television interview with<br />

aplomb. It appears of primary importance to him to<br />

assure those left at home that he is still planning to<br />

return safe and sound! He defends his own culture just<br />

as bravely. The Brazilians seem powerfully impressed,<br />

in any case. The highlight of the closing evening was<br />

certainly Beethoven’s Ode to Joy as a recorder solo.<br />

However, he isn’t always able to manage the emotional<br />

roller coaster alone.<br />

2012: Third congress, in Sao Paolo, Brazil<br />

What is barely imaginable in European communities<br />

finds easy success in Sao Paolo. Since the first congress—now<br />

seven years ago—regular monthly meetings<br />

of up to 70 people with disabilities take place in<br />

this megacity in order to further develop the congress<br />

impulse. They design a programme, search for themes,<br />

and consider where they might find the necessary<br />

financing for the next congress. Because of this,<br />

the third congress, with 120 participants, is already<br />

able to take place. A group from Argentina has even<br />

made its way here. At the opening, ‹reverse inclusion›<br />

is practiced: the congress includes several hundred vacationers,<br />

who are visibly moved by the mood of the<br />

event. There are standing ovations for the wheelchair<br />

dance group, as well as for the fashion show models.<br />

The Argentineans are enthusiastic and carry the impulse<br />

home with them.<br />

129


Berichte | Reports<br />

Kolumbien <strong>2016</strong><br />

die Anden gereist. Das Feriendomizil rühmt die Teilnehmenden<br />

bei der Abreise als beste Besuchergruppe. Was<br />

haben sich da für Persönlichkeiten versammelt? Gleich<br />

zu Beginn erklärt ein junger Mann mit Down-Syndrom<br />

den Anwesenden nicht ohne Stolz: «Ich bin behindert»!<br />

Ist das der oft beschworene Paradigmenwechsel? Viele<br />

wollen über ihr Leben erzählen. Man gewinnt den Eindruck,<br />

hier haben sie endlich Zuhörer gefunden. Selbst<br />

die Vorstellung der Institutionen wird schnell persönlich.<br />

Statt über die Einrichtung zu sprechen, erzählt man lieber<br />

etwas über sich selbst, frei nach dem Motto: Ich bin<br />

das Projekt! Das Kongressthema lautet Kommunikation.<br />

Welch ein Happening, als sich die Leute, mit Joghurtbechern<br />

und Paketschnüren bewaffnet, Telefone basteln<br />

und sie dann ausprobieren. Alle kommunizieren miteinander,<br />

selbst die Tauben und die Stummen. Nicht nur<br />

miteinander, sondern auch mit der Natur und dem Himmel.<br />

Sie erläutern, wie sie mit Bäumen und Tieren kommunizieren<br />

– und mit Gott. Im Gesprächskreis berichten<br />

von acht Teilnehmern drei über ihre spirituellen Konversationen<br />

mit Verstorbenen und Engeln. «Man stellt<br />

ihnen Fragen und wartet auf die Antworten, die sich in<br />

Gedanken mitteilen», so einer, dessen Vater nur einige<br />

Wochen zuvor verstorben war. «Die Toten wollen kommu-<br />

2014: Fourth congress, in Buenos Aires, Argentina<br />

At the closing plenum of the fourth South American<br />

congress, participants summarize their impressions<br />

from the last few days:<br />

‹Beauty, harmony, brotherhood/sisterhood, collaboration,<br />

peace, overcoming difficulty, and happiness.›<br />

Surrounded by nature at the outskirts of Buenos Aires,<br />

70 participants from Brazil, Colombia, Argentina and<br />

Germany meet under the banner of friendship. A simultaneous<br />

meeting in Sao Paolo is conducted via videoconference.<br />

There is much rejoicing as those left<br />

at home appear on the big screen. It would be presumptuous<br />

to try to describe the atmosphere in simple<br />

words – you’d just have to experience it. The encounters<br />

have a depth and maturity that is otherwise so<br />

often missing. Even when it is very difficult for some<br />

individuals, everyone takes part in all of the activities.<br />

There are nature studies; round table discussions; leather,<br />

felt and painting workshops; eurythmy and movement<br />

games; and of course music and dancing. In<br />

the morning plenum, some tell their painful stories<br />

for the first time. The atmosphere is therapeutic. Here,<br />

human beings with ‹special qualities›, as one participant<br />

put it, are meeting each other. At the evening<br />

campfire, under a wondrous Argentinean starry sky,<br />

some of these encounters deepen. This fire is worth<br />

carrying into the future!<br />

<strong>2016</strong>: Fifth congress, in Cali, Colombia<br />

Just as many people from the same countries as in Argentina<br />

have now travelled to the Andes at 1,000 metres<br />

above sea level. At departure, the holiday ressort<br />

praises the participants as their best group of visitors.<br />

What kind of individuals gathered there? Right at the<br />

start a young man with Down syndrome declares, not<br />

without pride, ‹I’m disabled!› Is this the summoned<br />

paradigm shift? Many want to talk about their lives. I<br />

have the impression that they have finally found their<br />

audience here. Even the idea of the institutions quickly<br />

becomes personal. Instead of speaking about their<br />

communities, they prefer to speak about themselves,<br />

as if to say, ‹I am the project!› The congress theme is<br />

‹Communication›. What a happening, as the people,<br />

armed with yoghurt cups and packing twine, craft telephones<br />

and then try them out. They all communicate<br />

with each other, even the deaf and dumb. Not<br />

only with each other, but with nature and the hea-<br />

130


Berichte | Reports<br />

Kolumbien <strong>2016</strong><br />

nizieren und sich mit uns verbinden. Wir müssen ihnen<br />

helfen, ihre Situation zu verstehen». Ein anderer bemängelt,<br />

dass in den Familien immer weniger kommuniziert<br />

würde. «Liebe per Computer geht nicht, wir müssen mehr<br />

Wertschätzung und gegenseitige Hilfe erreichen». «Wertschätzung<br />

für alle Menschen», fügt eine junge Frau im<br />

Rollstuhl hinzu. Da sie nicht sprechen kann, tippt sie in<br />

ihr Smartphone: «Wir sind Lehrer der Liebe!» So schreibt<br />

sie auch, wie wichtig sie es findet, dass Menschen mit<br />

unterschiedlichen Behinderungen teilnehmen. Sie ist<br />

auf der Suche nach einer Universität in Cali, an der sie<br />

Jura studieren kann, um anderen Behinderten zu helfen.<br />

Trotz ihrer schweren Behinderung ist sie überall<br />

mit dabei. Im Schwimmbecken und im Rollstuhl tanzend<br />

beim abendlichen Rumba. Beim Ausflug auf den<br />

Aussichtsturm wird sie auf Händen getragen. Eine Brasilianerin,<br />

die bereits bei Kongressen in Wien und Brüssel<br />

und natürlich zuhause teilgenommen hat, verkündet<br />

«die Kongresse sind wichtig für die Kontinente – ja für die<br />

ganze Welt». Niemals hätte sie erwartet «dass Kolumbien<br />

so viel Herz hat». Damit ist auch schon mit einem Wort<br />

beschrieben, um was es hier geht. Selten war dies so erlebbar.<br />

Vielleicht auch deshalb, weil noch kein Kongress<br />

dem Himmel räumlich so nahe war? Die Sonne scheint<br />

die ganzen Tage, Schmetterlinge und Papageien fliegen<br />

um uns herum. Kommunikation geschieht vielfältig<br />

und ergibt sich ganz von alleine. Bewegt hören wir die<br />

vens. They describe how they communicate with trees<br />

and animals, and with God. In the conversation circle,<br />

three of eight participants describe their spiritual conversations<br />

with those who have died and with angels.<br />

‹You ask them questions and then wait for the answers<br />

that come in thoughts›, says one, whose father<br />

had died only a few weeks before. ‹The dead want to<br />

communicate and connect with us. We have to help<br />

them understand their situation.› Another criticizes<br />

the fact that families communicate less and less. ‹Love<br />

can’t be sent via computer; we need more appreciation<br />

and mutual help.› ‹Appreciation for all human beings›<br />

adds a young woman in a wheelchair. Because she<br />

can’t speak, she types into her smart phone: ‹We are<br />

teachers of love!› And she writes how important she<br />

believes it to be that people with different disabilities<br />

participate. She is looking for a university in Cali at<br />

which she can study law, in order to help other people<br />

with disabilities. Despite her severe disability, she joins<br />

in all of the activities, whether in the swimming pool<br />

or dancing in her wheelchair at the evening rumba. At<br />

the excursion to the lookout tower, she is carried in<br />

others’ arms. One Brazilian who had already attended<br />

congresscongresses in Vienna and Brussels as well as<br />

in Brazil, announces, ‹The congresscongresses are important<br />

for the continents – and for the whole world!›<br />

She never would have expected that ‹Colombia has so<br />

much heart.› And in so few words, she has described<br />

what this is all about. This has rarely been so easy to<br />

experience. Perhaps also because no congress was ever<br />

held so close in space to the heavens? The sun shines<br />

every day, butterflies and parrots fly around us.<br />

Communication takes place in many ways and happens<br />

naturally. Moved, we listen to one participant’s<br />

description of how she had been the only survivor of<br />

a major traffic accident which had killed her entire<br />

family, and how she had had to undergo 21 operations.<br />

Now she was married and lived independently<br />

with her husband, although he is also in need of care.<br />

She describes how she was able to attend the congress<br />

through inner work. ‹God hears us – He brought us<br />

goodness and receives goodness through us.› At the<br />

closing plenum, an older participant calls out to the<br />

others, ‹You are happier than all of those who work<br />

all the time, who have many things and many problems<br />

and spend all day planning. I am happy to be<br />

united with you.› The reply comes quickly, ‹I am happy<br />

to go back to the crazy world now.› The congress ends<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

131


Berichte | Reports<br />

Schilderungen einer Teilnehmerin, die als Kind einen<br />

schweren Verkehrsunfall als einzige ihrer Familie überlebt<br />

hat und danach 21 Operationen über sich ergehen<br />

lassen musste. Mittlerweile hat sie geheiratet und lebt<br />

mit ihrem Ehemann selbständig zusammen, obwohl dieser<br />

selbst auf Begleitung angewiesen ist. Sie schildert,<br />

wie sie es durch innere Arbeit schaffte, am Kongress teilzunehmen.<br />

«Gott hört uns, er hat Gutes gebracht und<br />

empfängt durch uns Gutes». Im Abschlussplenum ruft<br />

ein Älterer den anderen zu: «Ihr seid fröhlicher als die,<br />

die ständig arbeiten, die viele Dinge haben und viele<br />

Probleme und den ganzen Tag lang planen. Ich fühle<br />

mich mit euch glücklich vereint». Die Erwiderung lässt<br />

nicht lange auf sich warten: «Ich gehe jetzt gerne wieder<br />

zurück in die verrückte Welt». Der Kongress klingt mit<br />

einem Abschlussfest in einem Park in Cali mit über 150<br />

Anwesenden aus. Darunter auch die wartenden Eltern.<br />

Lassen wir einige von ihnen noch zu Wort kommen. Eine<br />

Mutter, deren Sohn zum ersten Mal alleine unterwegs<br />

war, sagt: «Es waren die besten Tage seines und meines<br />

Lebens. Er hat sich nicht als ausgeschlossener Behinderter<br />

gefühlt, sondern als Teil einer Gemeinschaft.<br />

Glücklicher, offener, zentrierter und reifer und plötzlich<br />

irgendwie erwachsen». Eine andere Mutter berichtet,<br />

dass ihr Sohn nach der Rückkehr zum ersten Mal mit ihr<br />

mithilfe gestützter Kommunikation schreiben will. Was<br />

sie am meisten berührt, ist, dass «er stolz darauf sei, so<br />

zu sein, wie er ist». Vergleichbares hatte sie von ihm niemals<br />

zuvor gehört. Jemand bemerkt das «andere Augenlicht»<br />

seines schwerstbehinderten Kindes. Ein anderes<br />

beginnt nach langer Zeit wieder zu sprechen. «Die Menschen<br />

mit Behinderungen sind wie eine Brüderschaft»<br />

so ein Elternpaar, welches sich vor dem Kongress noch<br />

sehr skeptisch äusserte. Der sechste südamerikanische<br />

Kongress kündigt sich bereits an.<br />

with a closing celebration at a park in Cali, with over<br />

150 people present, including the waiting parents. Let<br />

us allow some of them to speak. One mother, whose<br />

son was travelling alone for the first time, says: ‹These<br />

were the best days of his life, and of my life. He didn’t<br />

feel like an excluded disabled person, he felt like a<br />

part of a community. Happier, more open, more centred,<br />

more mature, and somehow suddenly grown up.›<br />

Another mother reports that after returning home,<br />

her son wants to communicate via the computer for<br />

the first time with her help. What moves her most is<br />

that ‹he is proud to be the way he is›. She had never<br />

heard anything like this from him before. Someone remarked<br />

on the ‹different light in the eyes› of his severely<br />

disabled child. And another is finally beginning to<br />

speak again. ‹People with disabilities are like a brotherhood›,<br />

said one pair of parents who had expressed<br />

great scepticism before the congress. The sixth South<br />

American congress is already in the works.<br />

Thomas Kraus is the initiator and organizer of congresses for<br />

people with disabilities worldwide. He worked for 16 years in<br />

a residential group and as Director at the ‹Stadtgemeinschaft<br />

Berlin› [‹Berlin City Community›]. He is the secretary of the<br />

‹European Co-operation in Anthroposophical Curative Education<br />

and Social Therapy› (ECCE) and works for ‹The Friends<br />

of Waldorf Education› in the field of curative education and<br />

social therapy since 2012.<br />

Information at www.socialartist.events<br />

All Fotos: Thomas Kraus<br />

Translation from German:<br />

Tascha Babitsch<br />

Thomas Kraus ist Initiator und Organisator<br />

der weltweiten Kongresse für Menschen<br />

mit Behinderungen. Er hat 16<br />

Jahre in der «Stadtgemeinschaft Berlin»<br />

in einer Wohngruppe und als Heimleiter<br />

gearbeitet, er ist Sekretär der «European<br />

Co-operation in Anthroposophical<br />

Curative Education and Social Therapy»<br />

(ECCE) und seit 2012 bei den «Freunden<br />

der Erziehungskunst Rudolf Steiners» für<br />

den Bereich Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

tätig.<br />

Neuigkeiten unter www.socialartist.events<br />

Alle Fotos: Thomas Kraus<br />

132


Der Traum vom Schreiben<br />

Die mittelpunkt-Schreibwerkstätten der Anthropoi<br />

Selbsthilfe<br />

Von Ingeborg Woitsch<br />

Immer wen ich eine geschichte schreibe füle ich mich<br />

als ob ich mitklid in der geschichte wäre. Als ich die Geschichte<br />

mit dem Baum schib fülte ich mich als ob ich<br />

selber der Baum were oder als ob ich mit dem Herzen<br />

des Baumes sehn und fülen kann. Dabei fühle ich mich<br />

verwurzelt mit der Erde und das gibt mir Halt und hilft mir<br />

im Alltag zurecht zu kommen.<br />

Yannic Junge, 20 Jahre<br />

Das schreiben bringt mich Immer auf gute Idee und es<br />

lösst mich sehr, weil Ich nicht Jedes mal so Traurig bin<br />

und das schreiben Ist für mich wie einen gedanken zum<br />

aus Truk was Ich nicht ausdrücken kann. Was Ich nicht<br />

so sprechen kann und Es Ist für mich das wichtigste was<br />

es giebt auf der ganzen Welt. Und ich bin froh das Ich<br />

schreiben kann und da fühle Ich mich auch sicher damit.<br />

Christina Kohl, 27 Jahre 1<br />

Der Stift, das Papier — die Welt und das Ich<br />

«Der Stift und das Papier» sind Titel und Inbegriff von<br />

Hanns-Josef Ortheils Roman über seine Kindheit. Darin<br />

erzählt der Autor und Poetik-Professor, wie ein nicht<br />

sprechender achtjähriger Junge – er selbst – mit Unterstützung<br />

seines Vaters und mittels vieler kreativer Ideen<br />

in die Sprache findet und dabei das Glück des Schreibens<br />

entdeckt. Dieses «Glück» hat etwas mit dem Sich-<br />

Einlassen-Können zu tun. Sprache, und verstärkt das<br />

Schreiben, wecken ein genaueres Hinspüren, Hinhören<br />

und Hinschauen auf die äussere, aber eben auch auf die<br />

innere Welt. Es ist beglückend zu schreiben. Es entsteht<br />

Verbundenheit: Mit sich selbst und mit der Welt. Im beseelten<br />

Schwingen durch Buchstaben, Worte und Sätze<br />

können wir uns spüren. Das Eigene und Unverwechselbare<br />

zeichnet sich ab. Wichtig ist tatsächlich das Handwerkszeug:<br />

Stift und Papier. Einen Stift führen. – Den<br />

inneren Raum einer Seite betreten. – Es ist so einfach,<br />

aber ebenso philosophisch oder magisch. Das Schreiben<br />

transportiert den inneren Kosmos eines Menschen nach<br />

aussen, macht ihn lesbar und eröffnet ihn uns, auch<br />

überhaupt uns selbst.<br />

The dream of writing<br />

The centre point writing workshops at Anthropoi<br />

Self Help<br />

By Ingeborg Woitsch<br />

Wenever I write a Story I fele like a parrt of History.<br />

When I wote the story with the tree I fellt as if I wer<br />

the tree or as if I can see and fele with the heart of the<br />

tree. Then I fele rooted with the earth and that gives<br />

me something to hold onto and helps me to manage<br />

my daily life.<br />

Yannic Junge, 20 years old<br />

Writing always gives me good ideas and really gives<br />

me releese, because I am not so Sad every time and<br />

writing is like a Thought for me to ekspress what I can’t<br />

express. What I can’t just say and It is the most important<br />

thing for me in the whole world.<br />

And I am happy that I can write and I feel safe doing it.<br />

Christina Kohl, 27 years old 1<br />

The pen, the paper – the world and the I<br />

‹The pen and the paper› is the title and the centre point<br />

of Hanns-Josef Ortheil’s novel about his childhood. In<br />

it, the author and poetry professor recounts how a<br />

non-speaking eight-year-old boy (himself) found an<br />

entrance into language with his father’s support and,<br />

using many creative ideas, discovered the joy of writing<br />

in the process. This ‹joy› has to do with the ability<br />

to become involved. Language and, to an even greater<br />

extent, writing awaken us to more precisely sense, listen<br />

to and look at both the external and the internal<br />

world. Writing is exhilarating. It creates a connection<br />

with oneself and with the world. We can sense ourselves<br />

in the ensouled movement of letters, words and<br />

sentences. That which is unique and distinctive emerges.<br />

And the physical tools, pen and paper, are important.<br />

To direct a pen – to enter the internal space of a<br />

page – is so simple, and so philosophical or magical.<br />

Writing transports a person’s inner cosmos outwards,<br />

makes it readable and discloses it to us – ourselves<br />

most of all.<br />

Writing puts the individual’s soul-spiritual space at the<br />

centre. Disability and limitations pale. The centre point<br />

writing workshops are a space in which the ‹joy of wri-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

133


Beiträge | Contributions<br />

Foto: Ingeborg Woitsch<br />

Schreibwerkstatt <strong>2016</strong> | Writing workshop <strong>2016</strong><br />

Schreiben rückt den seelisch-geistigen Raum des Individuums<br />

in den Mittelpunkt. Behinderung und Einschränkungen<br />

verblassen. Die mittelpunkt-Schreibwerkstätten<br />

sind ein Raum, in dem das «Glück des Schreibens» entdeckt<br />

werden kann und nunmehr seit gut sieben Jahren<br />

von vielen Menschen mit Assistenzbedarf entdeckt wird.<br />

Das Projekt der Anthropoi Selbsthilfe unter Leitung von<br />

Ingeborg Woitsch versteht sich als Bildungsinitiative,<br />

die durch kreatives sowie biografisches Schreiben Menschen<br />

mit kognitiven Einschränkungen in ihrer Identitätsbildungs-<br />

und Selbstfindungskraft unterstützt. Hier<br />

suchen Menschen mit einer Begeisterung fürs Schreiben<br />

einen kreativen Weg ins Selbstschreiben, Aufschreiben<br />

und Abschreiben. Die einfachen Handwerkszeuge, bunte<br />

Stifte und schönes Papier, laden ein in ein Neuland und<br />

befördern die Schreib-EntdeckerInnen-Lust. In manchen<br />

Momenten erinnert die konzentrierte Stille, das Liegen<br />

über dem Blatt, der Kraftaufwand des zu führenden Stiftes<br />

an die Arbeit in klösterlichen Skriptorien.<br />

Inzwischen ist bundesweit ein Netzwerk an kontinuierlich<br />

arbeitenden Schreibgruppen in den anthroposophischen<br />

Lebensgemeinschaften entstanden. Ihre Beiträge sind<br />

auf den mittelpunkt-Seiten der Zeitschrift Punkt und Kreis<br />

zu lesen. In den vergangenen sieben Jahren gewann das<br />

Projekt etwa 500 interessierte Frauen und Männer für die<br />

ting› can be discovered, and in these last seven years<br />

they have been discovered by many people in need<br />

of assistance. The Anthropoi Self Help Project, under<br />

the direction of Ingeborg Woitsch, is an educational<br />

initiative that supports people with cognitive limitations<br />

in identity-building and self-discovery through<br />

creative and biographical writing. Here, people with an<br />

enthusiasm for writing look for a creative path into<br />

writing about themselves, making notes and copying.<br />

The simple hand tools – colourful pens and beautiful<br />

paper – are an invitation to an undiscovered land and<br />

promote joy in the discovery of writing. There are moments<br />

when the concentrated silence, the backs bent<br />

over the paper, the effort of directing the pen are reminiscent<br />

of work in the scriptoria of monasteries.<br />

We now have a national network of regular writing<br />

groups in the anthroposophic lifesharing communities.<br />

Their contributions can be read in the centre point section<br />

of the magazine Punkt und Kreis [Point and Circle].<br />

In the last seven years, the Project has gathered<br />

around 500 interested women and men for the writing<br />

workshops, as well as many writing group instructors.<br />

At writing festivals in 2010 and 2015, writers from<br />

many different communities were able to meet each<br />

other. Annual writing instructor conferences connect<br />

134


Beiträge | Contributions<br />

Schreibwerkstätten wie auch viele Schreibgruppen-AnleiterInnen.<br />

Auf zwei Schreibfestivals, 2010 und 2015,<br />

konnten sich die Schreibenden einrichtungsübergreifend<br />

kennenlernen. Jährliche Schreibanleiter-Tagungen<br />

vernetzen und schulen die ProjektpartnerInnen, die die<br />

Schreibgruppen vor Ort leiten. Das Projekt verdankt sein<br />

Bestehen der Förderung durch die Stiftung Lauenstein. 2<br />

Schreiben leicht gemacht!<br />

Schreiben ist weit mehr als eine schulische Erfahrung<br />

mit dem Ziel, einen orthografisch korrekten Text zu verfertigen.<br />

Schreiben ist Selbst-Erfahrung. Schreiben fördert<br />

die gesellschaftliche Inklusion durch die wichtige<br />

Kulturtechnik des Schreibens und Lesens. Schreibbefähigung<br />

stellt einen Initiationsakt ins Erwachsenenleben<br />

dar. Schreiben sollte jedem Menschen zugängig gemacht<br />

werden. Einer der bekanntesten Vertreter dieser<br />

Meinung ist Prof. Lutz von Werder. 3 Er ist eine der führenden<br />

Persönlichkeiten der kreativen Schreibbewegung<br />

in Deutschland und zählt zu den Gründern der kreativen<br />

wie auch selbsttherapeutischen Schreibwerkstätten.<br />

Die mittelpunkt-Schreibwerkstätten nutzen modifizierte<br />

Formen des Kreativen Schreibens. Dabei kommt die<br />

Methodenvielfalt dieses Schreibansatzes den unterschiedlichen<br />

Voraussetzungen der Teilnehmenden entgegen.<br />

Kreatives Schreiben erreicht auch Menschen,<br />

die auf Unterstützung beim Schreiben angewiesen sind<br />

oder die Anstösse benötigen, um ihren Text entwickeln<br />

zu können. Das Schreiben unterstützt Menschen, deren<br />

Lebenssituation aufgrund einer Behinderung stark von<br />

Abhängigkeiten geprägt und oftmals mit einem Leben in<br />

Gruppen verbunden ist, darin, die eigene Persönlichkeit<br />

zu entfalten. Das Projekt will Menschen mit Defiziterfahrungen<br />

motivieren, eine neue Kraftquelle und mögliche<br />

Ressource in sich zu entdecken. 4 Ein Zutrauen ins eigene<br />

Wort ermutigt, sich zu Wort zu melden, im Tagebuch, im<br />

eigenen Lebensumfeld, in der Zeitschrift, auf Tagungen,<br />

in politischen Mitwirkungsgremien.<br />

Kreativität, Identität und Inklusion<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Noch in den 1970er-Jahren wurde Menschen mit einer<br />

sog. geistigen Behinderung die Fähigkeit zur Kreativität<br />

nicht zugetraut. Erst in den letzten Jahren geschah angesichts<br />

der Entdeckung und Förderung der Kunst von<br />

Menschen mit Behinderung ein Durchbruch. 5 Menschen<br />

mit einer Behinderungserfahrung besitzen kreative Kompetenzen,<br />

die sie anderen Menschen voraushaben. In<br />

Bezug auf den Umgang mit Hindernissen müssen Menand<br />

train project partners who direct local writing<br />

groups. The Project is able to exist thanks to the support<br />

of the Lauenstein Foundation. 2<br />

Writing made easy!<br />

Writing is much more than a school-like experience<br />

with the goal of fabricating a correctly spelled and<br />

written text. Writing is a journey of self-awareness.<br />

Writing supports social inclusion via the important<br />

cultural techniques of writing and reading. The ability<br />

to write represents an initiation into adult life. Writing<br />

should be made accessible to every human being. One<br />

of the most well-known proponents of this opinion is<br />

Prof. Lutz von Werder. 3 He is one of the leaders of the<br />

creative writing movement in Germany, as well as one<br />

of the founders of the creative and therapeutic writing<br />

workshop.<br />

The centre point writing workshops use a modified<br />

form of creative writing, such that the wide variety<br />

of methods in this approach to writing can be adapted<br />

to the needs of the participants. Creative writing<br />

also reaches people who rely on support in order to<br />

write or who need some form of stimulus in order to<br />

develop their text. For people whose life situation is<br />

strongly affected by dependence because of a disability,<br />

and whose life is often bound to a group, writing<br />

helps to develop individual personalities. The Project<br />

is intended to motivate people who experience deficiency<br />

to discover a new source of strength and potential<br />

resources within themselves. 4 Confidence in their<br />

own words encourages them to speak up, whether in<br />

their personal journal, in their living environment, in a<br />

magazine, at conferences, or in political action groups.<br />

Creativity, identity and inclusion<br />

As recently as the 1970s, people with so-called developmental<br />

disabilities were not seen as capable of<br />

creativity. It was only recently that the discovery and<br />

support of art by people with developmental disabilities<br />

led to a breakthrough. 5 People with disabilities<br />

actually have the advantage over other people in their<br />

creative abilities. Because they are constantly forced<br />

to deal with obstacles, people with disabilities have to<br />

muster a high level of ‹day-to-day creativity› that is<br />

barely perceived by outsiders.<br />

Biographical centre point writing workshops offer the<br />

opportunity to confront one’s own life story. In the<br />

process of developing identity, creativity leads to com-<br />

135


Beiträge | Contributions<br />

schen mit Behinderung ein hohes Mass an «Alltags-<br />

Kreativität» aufbringen, die von Aussenstehenden in der<br />

Regel kaum wahrgenommen wird.<br />

Biografische mittelpunkt-Schreibwerkstätten bieten die<br />

Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der eigenen<br />

Lebensgeschichte. Im Prozess der Identitätsentwicklung<br />

führt Kreativität auch zur Kompensation erlebter<br />

Verletzungen und schafft neue Perspektiven. Das gilt<br />

insbesondere für Menschen mit einer sog. geistigen Behinderung,<br />

die oftmals starke Ausgrenzungserlebnisse<br />

erfahren oder erfahren haben. Das mittelpunkt-Projekt<br />

veranstaltete in den letzten Jahren in diesen Fragen<br />

Schreibepochen für Oberstufen-SchülerInnen heilpädagogischer<br />

Schulen zur Identitätsfindung.<br />

Politische Rechte können von Menschen mit kognitiven<br />

Einschränkungen nur wahrgenommen werden, wenn<br />

ihnen die Gesellschaft die sozialen und auch wirtschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt. Nur so<br />

werden diese MitbürgerInnen befähigt, sich die Kompetenzen<br />

und Ressourcen anzueignen, die ihnen eine<br />

Partizipation an der Gesellschaft ermöglichen. Ein wesentliches<br />

Element der Teilhabe an der Gesellschaft ist<br />

Bildung. Das mittelpunkt-Projekt sieht sich als Bildungsinitiative,<br />

die Menschen hilft, ihre eigene Schreib-und<br />

Lesefähigkeit, soweit sie vorhanden ist oder aufgebaut<br />

werden kann, zu stärken, um sich in unserer Gesellschaft<br />

zu Wort zu melden, mitzugestalten und in Zukunft hoffentlich<br />

in einer inklusiven Gesellschaft leben zu können.<br />

Ingeborg Woitsch, Konzeption und Projektleitung der mittelpunkt-Schreibwerkstätten<br />

ist Redakteurin von Anthropoi Selbsthilfe<br />

für die Zeitschrift PUNKTUNDKREIS. Schreibwerkstatt in<br />

Berlin für Poesietherapie und Biografiearbeit.<br />

www.mittelpunktseite.<br />

pensation for experienced injuries and creates new<br />

perspectives. This is especially true for people with<br />

so-called developmental disabilities, who have often<br />

had and have severe experiences of marginalization.<br />

In recent years, the centre point Project has organized<br />

writing blocks for high school students in curative<br />

education schools to help in identity-seeking.<br />

People with cognitive limitations can only take advantage<br />

of their political rights when society makes<br />

the social and economic framework available to them.<br />

Only in this way will these fellow citizens be able to<br />

acquire the competencies and resources that allow<br />

them to participate in society. Education is crucial to<br />

participating in society. The centre point Project sees<br />

itself as an educational initiative that helps people to<br />

strengthen their ability to write and read, insofar as<br />

it exists or can be developed, so that they can have a<br />

voice in our society, help to shape it, and hopefully, in<br />

the future, live in an inclusive society.<br />

Ingeborg Woitsch, Designer and Project<br />

Director of the centre point writing workshops,<br />

is the editor of Anthropoi Self Help<br />

for the magazine Punkt und Kreis. Writing<br />

workshop in Berlin for poetry therapy and<br />

biography work | www.mittelpunktseite<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Anmerkungen<br />

1) Beiträge der Schreibgruppe Haus Sonne, Walsheim auf den<br />

mittelpunkt-Seiten der Zeitschrift Punkt und Kreis, Nr: 27, Ostern<br />

2012: «Schreiben gibt Kraft! – Was fühle ich beim Schreiben?»<br />

2) www.stiftung-lauenstein.de<br />

3) Werder, Lutz von (2007): Lehrbuch des Kreativen Schreibens.<br />

Marixverlag, Wiesbaden.<br />

4) Heimes, Silke (2008): Kreatives und therapeutisches Schreiben.<br />

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.<br />

5) EUCREA, Verband für Kunst und Behinderung e.V. ist seit über<br />

20 Jahren das Netzwerk für Künstler mit Beeinträchtigungen<br />

im deutschsprachigen Raum. Eucrea veranstaltet international<br />

ausgerichtete Kulturfestivals für Musik, Tanz und Theater, mit<br />

Ausstellungen, Lesungen, Publikationen und Wettbewerben. |<br />

www.eucrea.de<br />

Notes<br />

1) Contributions by the Haus Sonne writing group, in Walsheim,<br />

which appeared in the centre point section of the magazine<br />

PUNKTUNDKREIS, No: 27, Easter 2012: ‹Writing empowers me!<br />

What do I feel when I write?› [‹Schreiben gibt Kraft! – Was fühle<br />

ich beim Schreiben?›]<br />

2) www.stiftung-lauenstein.de<br />

3) Werder, Lutz von (2007): Lehrbuch des Kreativen Schreibens.<br />

Marixverlag, Wiesbaden.<br />

4) Heimes, Silke (2008): Kreatives und therapeutisches Schreiben.<br />

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.<br />

5) EUCREA, the Association for Art and Disabilities has been the<br />

network for artists with disabilities in German-speaking countries<br />

for over 20 years. Eucrea organizes international cultural<br />

festivals for music, dance, and theatre, with exhibits, readings,<br />

publications and competitions. www.eucrea.de<br />

136


Goetheanum-Vorhang<br />

Bilder von Tor Janicki und eine Skizze von Rudolf Steiner<br />

Von Hannes Weigert<br />

Du kommst mir entgegen, du bist ein anderer<br />

Aber manchmal scheint es mir,<br />

Du seist –<br />

Ich selbst. 1<br />

Im vergangenen Sommer waren die Maler aus Vidaråsen 2<br />

zu Gast am Goetheanum, wo sie für zwei Wochen in der<br />

alten Schreinerei ihre Werkstatt aufschlagen durften, um<br />

Rudolf Steiners Bilder und Skulpturen zu studieren und<br />

das Goetheanum in seiner Landschaft zu malen. 3 Nach<br />

Norwegen zurückgekehrt, begann einer der Maler, Tor Janicki,<br />

sich mit Steiners Entwurf zu einem Bühnenvorhang<br />

für die Mysteriendramen zu beschäftigen. 4<br />

Was ist auf Steiners Bild zu sehen? – Ein Mann. Ein Boot.<br />

Ein Gewässer. Ein Kreuz. Zwei Berge. Das Goetheanum,<br />

ein Haus. – Und was geschieht dort? – Ein Mann trifft<br />

einen anderen Mann. Mit einem Boot. Er steht da und<br />

wartet. Er ist einen langen Weg gegangen. Er soll mit dem<br />

Boot hinüber. Zu dem Haus auf dem Berg. Mit dem Kreuz.<br />

Und den schönen Rosen. Sieben Rosen. 5<br />

Hundert Jahre vor Tor Janicki, im Herbst 1914, malte<br />

Maximilian Woloschin das Vorhang-Motiv. 6 Ihm musste<br />

sich die Frage stellen, wie das Motiv der Selbstbegegnung<br />

malerisch umzusetzen sei. Aus einem Gespräch<br />

mit Rudolf Steiner, das in diese Zeit fiel, notierte er sich<br />

die Worte: «Sie müssen versuchen, ihr inneres Sehen zu<br />

vertiefen, um vom ätherischen Plan her zu malen, einen<br />

Weg zu finden von den Formen zur Bewegung.» 7<br />

Inneres Sehen. Gibt es eine Mystik des Sehens? Kann<br />

man das Sehen innerlich – von innen her – vertiefen?<br />

Kann man im Sehen unter die Oberfläche des Sichtbaren<br />

untertauchen? Erfordert dies eine innere Bewegung, die<br />

zugleich ein In-Bewegung-setzen des Sichtbaren ist? Ist<br />

die Farbe das Medium dieser (Ich-)Tätigkeit?<br />

Im Betrachten von Steiners Vorhang-Skizze 8<br />

Eine Berglandschaft, merkwürdig flach in der Art der Darstellung,<br />

ohne jede Tiefe des Raumes, ohne Vordergrund.<br />

Ich habe zuerst den Eindruck, als schaute ich von oben<br />

her auf die Landschaft. Aber sobald sich mein Blick auf<br />

die kleine Gestalt am Ufer des Sees oder Flusses richtet,<br />

finde ich mich dieser ganz nah. Da ist also doch Raum.<br />

Da ist Ferne und Nähe.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Merkwürdig, wie der Weg, den der Wanderer zurückgelegt<br />

hat, im Bild nicht hinten erscheint, sondern von<br />

rechts und dennoch «von weit her» ins Bild führt. Er<br />

kommt hinter dem Berg hervor, als wäre da ein verdeckter<br />

Raum hinter dem Berg, den man nicht sieht, sondern<br />

vorstellen muss. Aber es gibt diesen Raum nicht. Denn<br />

an jeder Stelle des Bildes, die durch sich in eine dreidimensionale<br />

Gestalt übergehen möchte – es gibt mehrere<br />

solcher Umschlagstellen – entsteht sogleich eine<br />

Art Gegenbewegung, welche die Flächigkeit des Bildes<br />

bewahrt. Eine Flächigkeit, die aber trotzdem eine ungewohnte<br />

Räumlichkeit in sich birgt. Das gewöhnliche<br />

Schauen wird verwirrt, sobald man auf diese aufmerksam<br />

geworden ist. Aber es ist keine Täuschung.<br />

Der Weg ist an einer Stelle unterbrochen. Er führt hinter<br />

den Berg, um dann an anderer Stelle wieder auf die hiesige<br />

Seite zurückzukehren. Eine Hell-dunkel-Kante ist an<br />

dieser Stelle bemerkbar, die den Eindruck hervorruft,<br />

dass die dunklere Fläche sich im nächsten Augenblick<br />

vor die hellere schieben wird. Der Berg ist in Bewegung<br />

versetzt, scheint sich in den offenen Raum hineinschieben<br />

und das Licht des Grundes überlagern zu wollen.<br />

Gleichzeitig senkt sich in seinem Rücken Bräunlich-<br />

Grünes wie von oben herab, überzieht den Berg wie mit<br />

Nebelschwaden und löscht seine Kontur aus. Nicht nur<br />

der Berg bewegt sich, jede Stelle des Bildes, die ich eindringlich<br />

betrachte, beginnt sich zu rühren. Überall entsteht<br />

aber auch sogleich Gegenbewegung, die das Bild<br />

in der Ruhe hält.<br />

Das Kreuz mit den Rosen neigt sich dem Wanderer zu. Es<br />

strahlt etwas von dort oben her in die Mitte des Bildes,<br />

wo es offen, weit, gross, hell und tief ist, wo man sich<br />

aufhalten, wo man sich schwebend – und eigentlich ortlos<br />

– halten kann: mal mit dem Lichte selber scheinend,<br />

mal Licht empfangend. Schaue ich von dort auf das Gelb-<br />

Rot oben, kommt es mir so vor, als würden die Farben<br />

sich mir zuwenden, als blickten sie mich an und strahlten<br />

mir ihre Kraft und Helligkeit entgegen. Lasse ich dann<br />

137


Beiträge | Contributions<br />

meinen Blick nach rechts schweifen, indem ich mich von<br />

dem Angestrahltsein ab- und ins Blaue hinein wende,<br />

so kommt mir dies wie ein Eintauchen in eine sich wölbende<br />

Himmelsschale vor. Die Fläche weicht dort vor mir<br />

zurück, kehrt aber nach der rechten Seite wieder zu mir<br />

zurück. In diese Weite strahlt das Licht von oben hinein,<br />

mit meinem Blick in die Ferne leuchtend. Der Raum des<br />

Bildes krümmt sich, und der Eindruck ensteht von einem<br />

Raum, der mich sphärenhaft umgibt, in dessen Umkreis<br />

ich mich jedoch zugleich umherbewegen kann. Ein<br />

Raum, durchzogen von Kräften, die ich anschauend miterleben<br />

oder wenigstens momentweise erhaschen kann.<br />

Doch dieser Raum löst sich sofort auf, sobald ich ihn im<br />

Blick festhalten möchte. Dann nämlich kehrt Ruhe ein.<br />

Und ich finde mich tastend auf der Oberfläche des kleinen<br />

Bildes wieder, auf dem jeder Farbfleck eben bloss<br />

ein Farbfleck ist.<br />

Ich bemerke, dass sich die Farben noch als andres<br />

geben: In dem, was ich sehe, werde ich noch anderes gewahr.<br />

Dabei verlasse ich nie das, was ich vor Auge habe –<br />

ich sehe immer Farben. Doch eben durch diese sehe ich<br />

nicht noch anderes, sondern ich sehe anders: Ich sehe.<br />

Ich beginne ichhaft zu sehen. Dieses Ichhafte suche ich,<br />

wenn ich schaue, wenn ich male. Mir scheint, ich komme<br />

ihm dann näher, wenn es mir gelingt, die Farben auf der<br />

Fläche so zu behandeln – malend oder betrachtend –,<br />

dass sie sich regen, beweglich werden, sich auf mich zu<br />

oder von mir weg bewegen. Dann nehme ich etwas wahr,<br />

bei dessen Zustandekommen für meine Wahrnehmung<br />

ich selbst beteiligt bin, und was ich nur so lange wahrnehmen<br />

kann, als ich es hervorbringen und im Bewusstein<br />

halten kann.<br />

Der Schritt in das Bild hinein ist ein Schritt nicht nur in<br />

das Sehen, sondern in das Fühlen im Sehen hinein. Man<br />

gebraucht einen fühlenden Sinn beim Sehen. Das Ich<br />

streckt sich fühlend in das Sehen hinein. Steiner nennt<br />

es «Untertauchen» in die «flutende Farbenwelt». 9<br />

Links schliesst das Bild mit einer schrägen Kante – nicht<br />

mit dem Papierformat – ab. Dadurch ensteht der Eindruck,<br />

dass sich die Farben in der oberen Ecke stauen,<br />

verdichten und überlagern, und die Bewegungsrichtung<br />

– wie die Brandung am Felsen – in die Gegenrichtung<br />

umschlagen muss. So erhält das Kreuz die Kraft, um von<br />

dort oben in die Bildmitte hinein zu wirken. Das kann<br />

dann so erscheinen: Das Kreuz senkt sich von hinten her,<br />

fast verdeckt von dem blauen Kuppelbau, tritt neben diesen<br />

hervor und schwebt vor dem Bau.<br />

Die scheinbare Ruhe des Bildes. Alles darin birgt Bewegung<br />

in sich, der Möglichkeit nach. Alles muss in Bewegung<br />

versetzt werden durch mich. Die Bewegung<br />

überwindet die Fläche, nimmt mich in sich auf und kommt<br />

dann wieder zum Stillstand. Ich spüre bei jedem Versuch<br />

mich in das Bild hineinzubegeben: die Gegenkraft, die<br />

den Raum in der Fläche hält und bewirkt, dass das Bild<br />

überhaupt sichtbar wird. Diese Gegenkraft ist gewollt.<br />

Das Bild wird in Bewegung erlebt – Die Bewegung schafft<br />

Raum – Im Sehen ist das Ich anwesend – Das Ich schafft<br />

sich im Sehen ein fühlendes Wahrnehmungsorgan – Dieses<br />

ist wahrnehmend und hervorbringend zugleich.<br />

Anmerkungen<br />

1) Maximilian Woloschin, an Rudolf Steiner (9. August 1914),<br />

in: Sergeij O. Prokofieff, Maximilian Woloschin, Mensch, Dichter,<br />

Anthroposoph.<br />

2) Die Malerverksted in Vidaråsen, Norwegen, wurde 2009 begründet.<br />

Mitarbeiter: Arnkjell Ruud, Reidun Larsen und Tor Janicki.<br />

Leitung: Hannes Weigert.<br />

3) Malerverksted am Goetheanum in Zusammenarbeit mit Johannes<br />

Nilo und der Goetheanum Dokumentation im Rahmen<br />

der Tagung «Norden im Goetheanum - Goetheanum im Norden»<br />

(2015). Dazu: Torsten Steen, Steinerstudien, Das Goetheanum<br />

36/2015. Hannes Weigert, Gefühle werden anschaulich, Das<br />

Goetheanum 37/2015<br />

4) Rudolf Steiner, Entwurf für einen Bühnenvorhang im ersten<br />

Goetheanum für die Mysteriendramen (1914), in: Rudolf Steiner,<br />

Das malerische Werk.<br />

5) Tor Janicki im Gespräch mit Hannes Weigert, Malerverksted<br />

14. Oktober 2015<br />

6) Maximilian Woloschin (1877-1932) arbeitete 1914 zusammen<br />

mit Camilla Wandrey (1859-1941) mit Steiners Vorhang-<br />

Motiv, doch erst 1937 schuf William Scott Pyle (1889-1938)<br />

einen Bühnenvorhang (für das zweite Goetheanum). Auch die<br />

norwegische Malerin Agnes Steineger (1863-1965) und Gerard<br />

Wagner (1906-1999) griffen das Motiv auf.<br />

7) S. Anmerkung 1.<br />

8) Malerverksted 26.-30. Dezember 2014.<br />

9) Rudolf Steiner, Vortrag Dornach 26. Juli 1914, in: Rudolf Steiner,<br />

Wege zu einem neuen Baustil.<br />

Die Autoren<br />

Tor Janicki, geboren 1957 in Bergen, lebt seit 1989 in Vidaråsen<br />

und arbeitet seit 2009 in der Malerverksted.<br />

Hannes Weigert, geboren 1964 in Stuttgart, Studium der Malerei<br />

am Goetheanum in Dornach, lebt seit 2006 in Vidaråsen und<br />

arbeitet seit 2009 in der Malerverksted.<br />

138


Abbildung 1: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang IV, Malerverksted 12. Oktober 2015<br />

Abbildung 2: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang VII, Malerverksted 14. Oktober 2015<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

139


Abbildung 3: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang XI, Malerverksted 26. Oktober 2015<br />

Abbildung 4: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang XVI, Malerverksted 3. November 2015<br />

140


Abbildung 5: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang XVII, Malerverksted 3. November 2015<br />

Abbildung 6: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang IXX, Malerverksted 11. November 2015<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

141


Abbildung 7: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang XXII, Malerverksted 25. November 2015<br />

Abbildung 8: Rudolf Steiner, Entwurf für einen Bühnenvorhang im ersten Goetheanum, Dornach 1914 (Kunstsammlung am Goetheanum)<br />

142


Goetheanum curtain<br />

Paintings by Tor Janicki and a sketch by<br />

Rudolf Steiner<br />

By Hannes Weigert<br />

You come toward me, you are another<br />

But it sometimes seems to me<br />

You are<br />

Me. 1<br />

Last summer, the painters from Vidaråsen 2 were guests<br />

at the Goetheanum, where they were invited to set up<br />

their studio in the old joinery for two weeks in order to<br />

study Rudolf Steiner’s paintings and sculptures and to<br />

paint the Goetheanum in its landscape. 3 After returning<br />

to Norway, one of the painters, Tor Janicki, began<br />

to work with Steiner’s design for a stage curtain for<br />

the Mystery Dramas. 4<br />

What do we see in Steiner’s sketch? A man, a boat, a<br />

body of water, a cross, two mountains, the Goetheanum,<br />

a house. And what is happening in it? A man<br />

meets another man, with a boat. He stands there and<br />

waits. He has been travelling for a long time. He wants<br />

to cross in the boat, to the house on the mountain<br />

with the cross and the beautiful roses. Seven roses. 5<br />

A hundred years before Tor Janicki, in the autumn of<br />

1914, Maximilian Voloshin painted the curtain motif. 6<br />

He was forced to face the question of how the motif of<br />

encountering oneself could be portrayed in painting.<br />

After a conversation with Rudolf Steiner during this<br />

period, he wrote the words: ‹You must try to deepen<br />

your inner Seeing in order to paint from the perspective<br />

of the etheric plane – to find a path from form to<br />

movement.› 7<br />

Inner Seeing. Is there a mysticism of Seeing? Can one<br />

inwardly – from the inside – deepen Seeing? In Seeing,<br />

can one submerge oneself under the surface of the visible?<br />

Does this require inner movement that is simultaneously<br />

a setting-in-motion of the visible? Is colour<br />

the medium of this (I)-activity?<br />

Observing Steiner’s curtain sketches 8<br />

A mountainous landscape, strangely flat in its portrayal,<br />

without any spatial depth, without foreground. My<br />

first impression is that I am looking at the landscape<br />

from above. But as soon as my gaze fastens upon the<br />

small figure on the bank of the lake or river, I feel very<br />

near to it. So there is space after all. There is distance<br />

and proximity.<br />

Strange, how the path that the wanderer has travelled<br />

does not appear at the back of the picture, but rather<br />

from the right, and yet somehow still leads ‹from far<br />

away› into the picture. It comes out from behind the<br />

mountain, as if there were a hidden space behind the<br />

mountain that one cannot see but must imagine. But<br />

this space does not exist. For wherever a three-dimensional<br />

form wants to appear in the picture – and there<br />

are several of these places – there is simultaneously a<br />

sort of countermovement, which preserves the twodimensionality<br />

of the picture. A two-dimensionality<br />

that still somehow contains an unusual spatiality.<br />

One’s usual way of seeing becomes confused as soon<br />

as one becomes aware of this. But it is not an illusion.<br />

The path is interrupted in one place. It leads behind<br />

the mountain, only to reappear in another place on<br />

the same side. There is an edge of light and darkness in<br />

this area that gives the impression that the darker surface<br />

will push itself in front of the lighter surface. The<br />

mountain is set in motion, seems to want to push into<br />

the open space and superimpose itself on the light of<br />

the ground. At the same time, brownish-green sinks<br />

into its back as if from above, covers the mountain as<br />

if in wreaths of mist and obliterates its contour. Not<br />

only the mountain moves, but every spot on the picture<br />

that I look at attentively begins to stir. And yet there<br />

is the constant countermovement, which maintains<br />

the picture’s stillness.<br />

The cross with the roses leans toward the traveller.<br />

It radiates something from above into the centre of<br />

the picture, which is open, wide, large, light and deep;<br />

where one can sojourn, where one can remain floating<br />

and somehow without location, sometimes shining<br />

with the light itself, sometimes receiving light. If I look<br />

from there to the yellow-red above, it seems to me as<br />

if the colours are leaning toward me – as if they were<br />

looking at me and radiating their strength and holiness<br />

toward me. If I let my gaze wander to the right,<br />

by turning away from the radiance and turning toward<br />

the blue, it feels to me like diving into a curving bowl<br />

of heaven. There, the surface retreats from me, but returns<br />

to me on the right side. The light from above<br />

radiates into this vastness, lighting the distance with<br />

my gaze. The space of the picture bends, and gives the<br />

impression of a space that surrounds me like a sphere<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

143


Beiträge | Contributions<br />

and yet one in which I can move around. A space, permeated<br />

with forces I can experience while looking at<br />

them or at least catch momentary glimpses of. Yet this<br />

space dissolves as soon as I try to hold it fast with my<br />

gaze. Then, stillness returns. And I find myself feeling<br />

along the surface of the small picture, on which each<br />

spot is only a spot of colour.<br />

I notice that the colours also give off something else: I<br />

become aware of something else in what I see. I do not<br />

depart from what is in front of my eyes – I always see<br />

the colours. Yet at the same time, I see through them<br />

– not to something else, but rather, I see differently: I<br />

See. I begin to see with my I. I seek this I-ness when<br />

I look, when I paint. It seems to me that I come ever<br />

closer to it when I succeed in using the colours on the<br />

surface in such a way – whether painting or observing<br />

– that they move, become flexible, move toward<br />

or away from me. Then, I become aware of something<br />

in whose perception I am a participant and which I can<br />

only remain aware of as long as I call it forth and hold<br />

it in my consciousness.<br />

Stepping into the picture is not only a step into Seeing,<br />

but also a step into feeling what one Sees. One needs<br />

a feeling sense when Seeing. The I stretches feelingly<br />

into Seeing. Steiner calls this ‹diving› into the ‹flooding<br />

world of colour›. 9<br />

On the left, the picture ends with a slanted angle, instead<br />

of following the edge of the paper. This gives<br />

the impression that the colours in the upper corner are<br />

getting stuck, condensing and overlapping, so that the<br />

direction of movement has to flip, like waves hitting<br />

a cliff. This gives the cross the power to work into the<br />

middle of the picture from above. It can then appear<br />

in this way: The cross descends from the back, almost<br />

covered by the blue curve of the sky, emerges next to<br />

it and floats in front of the building.<br />

The apparent stillness of the picture. Everything in it<br />

contains movement, to the extent that it is possible.<br />

Everything must be set in motion by me. The movement<br />

overcomes the surface, takes me in, and then<br />

comes again to stillness. Each time I try to enter into<br />

the picture, I feel this: the counterforce that holds the<br />

space in two dimensions and allows the picture to be<br />

visible at all. This counterforce is intended.<br />

The picture is experienced in movement; the movement<br />

creates space; the I is present in Seeing; the I<br />

creates a feeling organ of perception in Seeing; this is<br />

simultaneously perceiving and creating.<br />

Tor Janicki, born 1957 in Bergen, lives since 1989 in Vidaråsen<br />

and works since 2009 in the Malerverksted.<br />

Hannes Weigert, born 1964 in Stuttgart, studied arts at the<br />

Goetheanum in Dornach, lives since 2006 in Vidaråsen and<br />

works since 2009 in the Malerverksted<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Notes<br />

1) Maximilian Voloshin, To Rudolf Steiner (9. August 1914), in:<br />

Sergeij O. Prokofieff, Maximilian Woloschin, Mensch, Dichter,<br />

Anthroposoph.<br />

2) The Malerverksted in Vidaråsen, Norway, was founded in<br />

2009. Co-workers: Arnkjell Ruud, Reidun Larsen and Tor Janicki.<br />

Director: Hannes Weigert.<br />

3) Malerverksted am Goetheanum in collaboration with Johannes<br />

Nilo and the Goetheanum Documentation within the<br />

framework of ‹The North at the Goetheanum – Goetheanum<br />

in the North› (2015). See: Torsten Steen, Steinerstudien, Das<br />

Goetheanum 36/2015. Hannes Weigert, Gefühle werden anschaulich,<br />

Das Goetheanum 37/2015<br />

4) Rudolf Steiner, Entwurf für einen Bühnenvorhang im ersten<br />

Goetheanum für die Mysteriendramen (1914), in: Rudolf<br />

Steiner, Das malerische Werk.<br />

5) Tor Janicki in conversation with Hannes Weigert, Malerverksted,<br />

14 October, 2015<br />

6) Maximilian Voloshin (1877-1932) worked with Camilla<br />

Wandrey (1859-1941) in 1914 on Steiner’s curtain motif, yet<br />

it was not until 1937 that William Scott Pyle (1889-1938)<br />

created a stage curtain (for the second Goetheanum). The Norwegian<br />

painter Agnes Steineger (1863-1965) und Gerard Wagner<br />

(1906-1999) also worked on this motif.<br />

7) See note 1.<br />

8) Malerverksted 26-30 December, 2014.<br />

9) Rudolf Steiner, lecture in Dornach, 26 July, 1914, in: Rudolf<br />

Steiner, Wege zu einem neuen Baustil.<br />

144


Ausbildung in Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

Von Andreas Fischer<br />

Die Entwicklung der Ausbildungsstätten für anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie spiegelt auch<br />

die Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie selbst wieder, die ihrer Entstehung,<br />

Ausbreitung und gesellschaftlichen Akzeptanz. Darum<br />

wird im folgenden Beitrag zuerst kurz auf die Geschichte<br />

eingegangen, in einem zweiten Teil auf die internationale<br />

Zusammenarbeit der Ausbildungsstätten und im dritten<br />

und letzten Teil auf die aktuellen Herausforderungen<br />

für Ausbildungsstätten.<br />

Geschichte<br />

Im Blick auf die Begründung der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

kann man drei Felder der Wirksamkeit erkennen:<br />

• Der Lauenstein in Jena, der einen sehr stark sozialen Bezug<br />

hatte und wo das Zusammenleben im Vordergrund stand.<br />

• Vor der Begründung in Jena waren schon Kinder mit Unterstützungsbedarf<br />

an der heutigen Klinik Arlesheim betreut<br />

worden – hier war das Medizinische die hauptsächliche<br />

Grundlage des Wirkens.<br />

• An der ersten Waldorfschule in Stuttgart wurde aus dem<br />

Impuls der Pädagogik eine Hilfsklasse geführt für die<br />

Kinder, die mit dem regulären Unterricht überfordert<br />

waren oder die für das Erlernen der Kulturtechniken<br />

mehr Zeit oder auch andere Methoden brauchten.<br />

Schon früh stellten sich die Initiativträger die Frage nach<br />

einer Fortbildung für die Mitarbeitenden. Bereits in den<br />

zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden im<br />

Sonnenhof in Arlesheim Einführungen für Mitarbeitende<br />

angeboten, in den dreissiger Jahren waren es schon<br />

Kurse, die sich über zehn Monate hinzogen.<br />

Hier ist anzumerken, dass der Beruf der Heilpädagogin<br />

oder des Heilpädagogen in der damaligen Zeit noch völlig<br />

unbekannt war. Das erste Heilpädagogische Seminar<br />

wurde 1924 in Zürich begründet, also im gleichen Jahr,<br />

in dem Rudolf Steiner den Heilpädagogischen Kurs hielt.<br />

Es sollte aber noch Jahrzehnte dauern, bis die Begleitung<br />

und Betreuung von Kindern mit Unterstützungsbedarf<br />

sich aus der karitativen Arbeit herauslösen und zu<br />

einem eigenständigen Berufsfeld entwickeln sollte.<br />

Die Ausbildungsbemühungen wurden durch den zweiten<br />

Weltkrieg unterbrochen, nach Kriegsende wurden sie an<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

zwei weit auseinander liegenden Orten wieder aufgegriffen:<br />

in Arlesheim am Sonnenhof und in der Camphill Gemeinschaft<br />

in Aberdeen. Ostern 1948 begann der erste<br />

Kurs mit zwölf Auszubildenden am Sonnenhof – dieser<br />

Beginn darf als Geburtsstunde des Ausbildungsimpulses<br />

auf anthroposophischer Grundlage betrachtet werden<br />

–, nur ein Jahr später waren es zwanzig Menschen,<br />

die in Aberdeen dank der Impuls- und Initiativkraft von<br />

Karl König trotz schwierigster äusserer Umstände die<br />

Ausbildung beginnen konnten.<br />

Aus heutiger Sicht ist zu bedenken, dass in dieser Zeit<br />

fast alle Teilnehmenden des Ausbildungsganges am<br />

Sonnenhof durch die Geschehnisse des Krieges traumatisiert<br />

und gesundheitlich angegriffen waren. Darum<br />

diente das künstlerisch-therapeutische Angebot in der<br />

Ausbildung primär der körperlichen und seelischen Regeneration<br />

der Teilnehmenden. Jeden Tag bekamen sie<br />

Heileurythmie-Unterricht und alle wurden auch medizinisch<br />

betreut. Die Ausbildung war in die tägliche Arbeit<br />

integriert, morgens zwischen sechs und sieben<br />

Uhr stand das Studium von Grundlagenwerken auf dem<br />

Stundenplan, weitere Kurse wurden in der Mittagszeit<br />

und abends angeboten. Die Entlohnung war kärglich,<br />

man wohnte zu zweit in einem Zimmer und der Beruf<br />

liess kein Privatleben zu.<br />

Mit den Jahren wurde die Ausbildung inhaltlich ausgeweitet<br />

und stärker strukturiert. Bereits in den sechziger Jahren<br />

wurde unterschieden zwischen einer Grundausbildung in<br />

einer Institution und einem Vertiefungsjahr im mittlerweile<br />

begründeten Seminar in Eckwälden, später kam noch das<br />

Heilpädagogische Seminar in Dornach dazu.<br />

Die anthroposophisch-heilpädagogische Bewegung breitete<br />

sich vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des<br />

letzten Jahrhunderts sehr stark aus, dies führte zu einer<br />

Vielzahl an Neugründungen von Institutionen und später<br />

Ausbildungsstätten in den verschiedensten Ländern.<br />

Dabei wurde deutlich, dass die Bedingungen für Ausbildungsstätten<br />

auf anthroposophischer Grundlage in<br />

den verschiedenen Ländern nicht unterschiedlicher sein<br />

könnten. In vielen Ländern sind die Ausbildungsstätten<br />

heute Teil der Bildungslandschaft und die Abschlüsse<br />

dadurch offiziell anerkannt. Diese offizielle Anerkennung<br />

ist zwar verbunden mit Regelungen z.B. in Bezug<br />

145


Beiträge | Contributions<br />

auf Aufnahmebedingungen, Prüfungen, Abschlüsse und<br />

auch Inhalte, doch es zeigt sich, dass die anthroposophischen<br />

Grundlagen trotzdem den ihnen angemessenen<br />

Raum einnehmen können. In andern Ländern ohne heilpädagogische<br />

Tradition leisten Institutionen und Ausbildungsstätten<br />

oft Pionierarbeit und werden im Gegensatz<br />

zu den in der Bildungssystematik des Landes integrierten<br />

Initiativen nicht finanziell unterstützt.<br />

Im Rahmen der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

waren stets alle Ausbildungsstätten vertreten<br />

und es fand ein Austausch statt. Doch es zeigte sich<br />

immer deutlicher, dass in vielen Fragen wie Curriculum,<br />

Methodik und Didaktik, Rolle der Kunst und der Anerkennung<br />

durch die Medizinische Sektion eine verbindlichere<br />

Form der Zusammenarbeit notwendig wäre.<br />

Internationale Zusammenarbeit<br />

Nach guter Vorbereitung und vielen gemeinsamen Treffen<br />

in Kassel (DE) konnte im Jahre 2002 der internationale<br />

Ausbildungskreis der Konferenz für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in der Medizinischen Sektion als verbindlicher<br />

Zusammenschluss aller Ausbildungsstätten in<br />

Kassel begründet werden.<br />

In einem Grundlagenpapier wurden für den Ausbildungskreis<br />

folgende Aufgaben festgehalten:<br />

• Gemeinsame Bearbeitung von Fragestellungen,<br />

• Erforschung von Ausbildungsgrundlagen,<br />

• Anregung zur Förderung von Forschung,<br />

• Entwicklung eines Instrumentes zur Vergleichbarkeit und<br />

Anerkennung von Ausbildungsgängen,<br />

• Qualitätsentwicklung und Zusammenarbeit mit Fachwissenschaften.<br />

Seit gut zwanzig Jahren treffen sich jedes Jahr fünfzig bis<br />

sechzig Persönlichkeiten in Kassel, um sich auszutauschen<br />

und Fragestellungen zu bearbeiten. In Vorträgen,<br />

Arbeitsgruppen und künstlerischen Einheiten erfolgte im<br />

Laufe der letzten zwanzig Jahre jeweils die Auseinandersetzung<br />

mit einem für die Ausbildung relevanten Thema.<br />

Vorbereitet wird das Treffen vom Ausbildungsrat, einer<br />

kleinen, vom Ausbildungskreis für jeweils vier Jahre gewählten<br />

Gruppe. Die Mitgliedschaft im Ausbildungskreis<br />

kann durch eine Ausbildungsstätte mittels einer schriftlichen<br />

Erklärung an das Sekretariat in Dornach beantragt<br />

werden, von den Mitgliedern wird eine regelmässige Teilnahme<br />

an den Treffen in Kassel erwartet.<br />

Faszinierend für die Zusammenarbeit ist die grosse Unterschiedlichkeit<br />

in der Verwirklichung des Ausbildungsimpulses<br />

in den verschiedenen Ländern. Von dieser<br />

Wahrnehmung können auch Mitarbeitende und Verantwortliche<br />

von etablierten Ausbildungsstätten profitieren,<br />

denn es geht nicht darum, den noch nicht etablierten<br />

Ausbildungen zu zeigen, was Ausbildung heisst. Die Mitglieder<br />

des Ausbildungskreises sind ausserordentlich<br />

beeindruckt und nehmen mit grossem Respekt wahr, wie<br />

Ausbildung sich auch unter schwierigsten ökonomischen<br />

und gesellschaftlichen Bedingungen verwirklichen lässt<br />

und mit welchem Enthusiasmus die Verantwortlichen<br />

diese Aufgabe realisieren und durchtragen. Ein äusseres<br />

Bild für die Unterschiedlichkeit und Internationalität des<br />

Ausbildungskreises ist der morgendliche Arbeitsauftakt<br />

während der Treffen, wenn da jeweils ein kurzer Satz aus<br />

dem Heilpädagogischen Kurs oder ein Spruch in fünfzehn<br />

verschiedenen Sprachen ertönt – unmittelbar ist<br />

da eine innerliche Weitung beobachtbar.<br />

Drei grössere Projekte wurden im Rahmen des Ausbildungskreises<br />

in den letzten Jahren realisiert:<br />

Ausbildung für Ausbildner<br />

Dies von der EU unterstütze Projekt ermöglichte durch<br />

aktives Mitwirken von Praxisbegleitenden, Ausbildern<br />

und Künstlerinnen und Künstlern die Erforschung des so<br />

genannten trialen Ansatzes, nämlich der gleichberechtigten<br />

Gewichtung von Praxis, Kunst und Theorie im Rahmen<br />

der Ausbildung. Später konnte auf der erarbeiteten<br />

Grundlage ein Kurs für die Qualifizierung von Ausbildenden<br />

in den Ländern Kirgistan, Russland, Ukraine und Georgien<br />

realisiert werden.<br />

Handbuch für Ausbildungsstätten<br />

Im Jahre 2001 konnte die umfangreiche Arbeit an einem<br />

gemeinsamen Handbuch für Ausbildungsstätten abgeschlossen<br />

werden. Dieses wurde dann auch zum<br />

verbindlichen Referenzpunkt der Zusammenarbeit im<br />

Ausbildungskreis. Das Handbuch als umfassende Darstellung<br />

der Grundlagen und Methodik der anthroposophischen<br />

Ausbildungsstätten konnte ebenfalls im<br />

Rahmen eines EU-Projektes realisiert werden, die Trägerschaft<br />

bildete die Europäische Kooperation für anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie (ECCE).<br />

Im Laufe der Jahre wurde das Handbuch in verschiedene<br />

Sprachen übersetzt, aber es wurde auch deutlich,<br />

dass ein Handbuch in der heutigen, schnelllebigen Zeit<br />

relativ rasch an Aktualität einbüsst. So entstand in den<br />

letzten drei Jahren als Frucht der Arbeit des Ausbildungskreises<br />

ein neues Dokument, das in kurzer Form und<br />

verständlicher Sprache die grundlegenden Anliegen an-<br />

146


Beiträge | Contributions<br />

throposophischer Ausbildung deutlich macht. Die Charta<br />

«Berufliche Bildung» dient sowohl der Orientierung nach<br />

Innen – den Ausbildungsstätten – wie auch nach Aussen<br />

zur Transparenz zu Behörden, zu Studierenden und anderen<br />

Ausbildungen. An der letzten Sitzung in Kassel hat<br />

der Ausbildungskreis die Charta «Berufliche Bildung»<br />

einstimmig genehmigt und für fünf Jahre in Kraft gesetzt.<br />

Die Charta soll auch in viele Sprachen übersetzt werden.<br />

Anerkennung im Rahmen des Ausbildungskreises<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Im Rahmen der Anerkennung der Ausbildungsstätten hat<br />

der Ausbildungskreis neue Wege beschritten. Die Anerkennung<br />

einer Ausbildungsstätte sollte nicht mehr wie<br />

früher von einem Zentrum ausgehen, sondern das Ergebnis<br />

einer Peer-Evaluation sein. So wurde ein Verfahren<br />

entwickelt, das die Schritte, die zu einer Anerkennung<br />

als anthroposophische Ausbildungsstätte für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie führen, genau definiert und<br />

im Papier «Anerkennung im Netzwerk der Ausbildungen»<br />

schriftlich fixiert. Die Verantwortung für die Umsetzung<br />

des Verfahrens delegierte der Ausbildungskreis an<br />

eine Anerkennungsgruppe, die vom Kreis für vier Jahre<br />

gewählt wird. Die Ausbildungsstätte, die eine interne Anerkennung<br />

anstrebt, muss zuerst alle relevanten Papiere<br />

einreichen und die in einem Fragebogen aufgeführten<br />

Fragen schriftlich beantworten. Ein Kriterium zur Anerkennung<br />

ist die regelmässige Teilnahme an den Treffen<br />

in Kassel und die Orientierung am Handbuch, jetzt neu<br />

an der Charta «Berufliche Bildung». Erfüllt sie die Voraussetzungen<br />

zur Anerkennung, erfolgt ein Besuch vor<br />

Ort durch eine Kollegin oder einen Kollegen aus einer anderen<br />

Ausbildungsstätte. Bei diesem Besuch werden Dokumente<br />

geprüft und Gespräche mit Verantwortlichen,<br />

Praxisbegleitenden und Studierenden geführt. Aufgrund<br />

dieses Eindruckes wird im positiven Fall ein Bericht mit<br />

einer Empfehlung zur Anerkennung an die Anerkennungsgruppe<br />

übermittelt, die dann ihrerseits die Unterzeichnung<br />

des offiziellen Zertifikates im Rahmen der<br />

Konferenz in die Wege leitet. Es kann der Fall eintreten,<br />

dass eine Ausbildungsstätte noch Nachbesserungen machen<br />

muss und erst dann die Anerkennung erhält. Die<br />

Anerkennung ist fünf Jahre gültig, nachher findet eine Rezertifizierung<br />

aufgrund der neu eingereichten Unterlagen<br />

und einem Gespräch in Kassel statt.<br />

Das Verfahren wird seit zehn Jahren erprobt und hat sich<br />

mit leichten Anpassungen auch bestens bewährt, weil es<br />

auf die verschiedenen Bedürfnisse der Länder eingehen<br />

und auch den Umfang einer Ausbildung als Grundbildung,<br />

Fortbildung, Einführungskurs oder einmalig durchgeführter<br />

Ausbildungsgang mit berücksichtigen kann.<br />

Einige Ausbildungsstätten haben sich im Laufe der letzten<br />

zehn Jahre verändert, haben sich mit anderen Initiativen<br />

zusammengeschlossen oder ihre Tätigkeit eingestellt.<br />

Stand Herbst 2015: 35 Ausbildungsstätten aus 18<br />

Ländern (USA, Deutschland, Schweden, Dänemark,<br />

Tschechien, Russland, Schottland, Georgien, Belgien,<br />

Holland, Brasilien. Kirgistan, Italien, Libanon, Ukraine,<br />

Österreich, Argentinien und Schweiz) haben das Verfahren<br />

durchlaufen und wurden anerkannt. Zwei einmalig<br />

durchgeführte Ausbildungsgänge in Kolumbien und Teneriffa<br />

wurden separat anerkannt, 16 Ausbildungsstätten<br />

haben bereits die Rezertifizierung durchlaufen.<br />

Aktuelle Herausforderungen<br />

Im klassischen Sinne wurde früher unter anthroposophischer<br />

Heilpädagogik vorwiegend die Begleitung, Förderung<br />

und Unterstützung von Menschen mit kognitiven<br />

Beeinträchtigungen verstanden. Heute ist das Spektrum<br />

der Aufgabenstellungen viel breiter, auch sind wir in der<br />

Praxis mit neuen Herausforderungen durch die Komplexität<br />

der Erscheinungsbilder von Behinderungen der Menschen<br />

mit Unterstützungsbedarf konfrontiert. Zudem<br />

entstehen neue Aufgabenfelder durch gesellschaftliche<br />

Herausforderungen und politische Wirren, denen sich<br />

die anthroposophische Heilpädagogik stellen muss.<br />

Die zentralen Leitideen der Arbeit haben sich verändert,<br />

heute sind die Paradigmen von Selbstbestimmung, Teilhabe<br />

und Inklusion für die Begleitungsarbeit massgebend.<br />

Der Miteinbezug der Angehörigen ist zur Selbstverständlichkeit<br />

geworden, das Normalisierungsprinzip hat in<br />

Bezug auf das Zusammenleben in den Institutionen seine<br />

Auswirkungen gezeigt, auch der Begriff der Gemeinschaft<br />

hat nicht mehr die gleiche Strahlkraft wie früher.<br />

Das Umgehen mit Macht und Gewalt im heilpädagogischen<br />

und sozialtherapeutischen Alltag ist eine weitere<br />

Herausforderung, mit der die Menschen in der Praxis<br />

konfrontiert werden. In vielen Ländern wurde in den letzten<br />

Jahrzehnten die Begleitungs- und Betreuungsarbeit<br />

stärker reglementiert und staatliche Anforderungen in<br />

Bezug auf Berufsabschlüsse wurden festgelegt. Als weitere<br />

Stichworte wären zu nennen: Formalisierungsdruck,<br />

Qualitätssicherung, Kompetenzorientierung, Dokumentation<br />

und Darstellung der anthroposophischen Grundlagen.<br />

Alle diese Veränderungen führten und führen in der<br />

Praxis immer wieder zu Verunsicherungen. Ausbildungsstätten<br />

sind herausgefordert, ihre Studierenden so zu<br />

147


Beiträge | Contributions<br />

begleiten, dass sie mit den durch die neuen Leitmotive<br />

entstehenden Spannungsfeldern, den sich verändernden<br />

Bedingungen und der zunehmenden Komplexität<br />

der Aufgabenstellungen konstruktiv umgehen können.<br />

So kann es heute nicht mehr darum gehen, dass in einer<br />

Ausbildung nur Inhalte des anthroposophischen Menschenverständnisses<br />

vermittelt werden. Die Studierenden<br />

sollen für den Fachdiskurs mit nicht-anthroposophischen<br />

Kolleginnen und Kollegen vorbereitet werden, gleichzeitig<br />

müssen sie aber auch die zentralen Motive der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie kennen<br />

und fruchtbar umsetzen und realisieren können.<br />

Gefordert ist eine Öffnung und Verbreiterung, die aber<br />

nicht zu einem Verlust der zentralen Werte führen darf<br />

– eine spannende und nicht immer ganz einfache Herausforderung.<br />

Etwas anders gestaltet sich die Situation<br />

in Ländern, wo Heilpädagogik und Sozialtherapie noch<br />

nicht auf eine Tradition zurückblicken können: Hier sind<br />

es oft schon qualifizierte Berufsleute, die in einer Ausbildungsstätte<br />

gezielt die Erweiterung ihres beruflichen<br />

Selbstverständnisses durch das anthroposophische<br />

Menschenverständnis suchen, die das allgemein aktuelle<br />

Fachwissen schon mitbringen.<br />

Ausbildung ist für die Zukunft der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie ausgesprochen wichtig.<br />

Denn es kann und darf heute nicht mehr darum<br />

gehen, alte Formen, Gebräuche und Methoden zu bewahren<br />

und zu tradieren, sondern auf aktuelle gesellschaftliche<br />

Herausforderungen im Bereich Bildung und<br />

Erziehung neue und adäquate – aus den anthroposophischen<br />

Grundlagen heraus entwickelte – Antworten zu<br />

geben. Dieser Aufgabe fühlen sich die Ausbildungsstätten<br />

verpflichtet und möchten sie im Dialog mit den von<br />

Behinderung betroffenen Menschen und ihren Angehörigen,<br />

der Praxis und der Fachwelt auch wahrnehmen und<br />

so einen Beitrag zur Entwicklung in die Zukunft leisten.<br />

Dr. Andreas Fischer ist klinischer Heilpädagoge,<br />

langjähriger Mitarbeiter und<br />

Leiter heilpädagogischer Einrichtungen,<br />

seit 2008 Leiter der Höheren Fachschule<br />

für Heilpädagogik in Dornach.<br />

Professional training in Curative Education and<br />

Social Therapy<br />

By Andreas Fischer<br />

The development of training centres for anthroposophic<br />

curative education and social therapy reflects the history<br />

of anthroposophic curative education and social therapy<br />

itself – the history of its genesis, its spread, and its<br />

social acceptance. Therefore, we will first look briefly at<br />

its history, then, in the second section, at the international<br />

collaboration of training centres, and at the current<br />

challenges for training centres in the third section.<br />

History<br />

Anthroposophic curative education began in three areas:<br />

• The Lauenstein in Jena, which was strongly involved<br />

with social issues, and in which community living<br />

was emphasized.<br />

• Before the Lauenstein was established in Jena, children<br />

in need of special care were already being taken<br />

care of at what is now the Arlesheim Clinic – here,<br />

medical care was the main focus of activity.<br />

• In the first Waldorf school in Stuttgart, pedagogical<br />

initiative led to a special class for children who were<br />

struggling with the regular classes or who needed<br />

more time or alternative methods for learning basic<br />

academic skills.<br />

Quite early on, the question of training for co-workers<br />

presented itself to the those carrying the initiative. As<br />

early as the 1920s, introductions were offered for coworkers<br />

at the Sonnenhof in Arlesheim, and by the<br />

1930s there were already courses lasting ten months.<br />

It is important to note here that Curative Education<br />

as a profession was still completely unknown at this<br />

time. The first curative education seminar was founded<br />

in Zürich in 1924 by Rudolf Steiner – the same<br />

year in which he held the Curative Education Course.<br />

But it was decades before the accompaniment and<br />

care of children with special needs became separate<br />

from charitable work and developed into a distinct<br />

professional field.<br />

Efforts to develop a training were interrupted by<br />

World War II; after the war, they were taken up again<br />

in two places: At the Sonnenhof in Arlesheim and in<br />

the Camphill Community in Aberdeen. The first course<br />

at the Sonnenhof began at Easter of 1948 with twelve<br />

students – this can be seen as the birth of the training<br />

148


Medizinische Sektion<br />

der Freien Hochschule<br />

für Geisteswissenschaft<br />

am Goetheanum<br />

Konferenz<br />

für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

Internationaler<br />

Ausbildungskreis<br />

Charta<br />

Berufliche Bildung<br />

Präambel<br />

Die anthroposophisch orientierte Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie ist eine weltweit verbreitete Bewegung.<br />

Ihre beruflichen Bildungszentren sind eingebettet in ihre<br />

jeweiligen kulturellen, sozialen und bildungspolitischen<br />

Bezüge. Da sich die lokalen Arbeitsfelder fortwährend<br />

verändern und immer wieder neue Tätigkeitsbereiche<br />

entstehen, unterscheiden sich gleichfalls die daraus<br />

resultierenden Anforderungen an die jeweiligen Formen<br />

der beruflichen Bildung.<br />

Berufliche Bildungsgänge für anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie befähigen Studierende<br />

dazu, vor dem Hintergrund des von Rudolf Steiner<br />

entwickelten Menschenverständnisses in komplexen<br />

Lebenssituationen professionelle Hilfe und Unterstützung<br />

anzubieten. Dabei wird der geistige Wesenskern<br />

jedes Menschen als intakt und unverletzlich erachtet.<br />

Entwicklungsstörungen und Behinderungen können<br />

auftreten, wenn seelische, körperliche oder soziale Widerstände<br />

der eigenen individuellen biographischen<br />

Verwirklichung entgegenstehen. Bildungsgänge der<br />

anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

befähigen Studierende, Menschen mit Beeinträchtigungen<br />

bei ihrer Selbstverwirklichung zu unterstützen. Was<br />

sie weltweit eint, ist ihre Orientierung am anthroposophischen<br />

Menschenverständnis und die international<br />

vernetzte Zusammenarbeit an den Grundlagen des Bildungsgeschehens.<br />

Hierzu zählen:<br />

1. das Verständnis jedes Menschen als Akteur seiner<br />

Biographie und die Befähigung, Menschen mit Beeinträchtigungen<br />

bei der Gestaltung eines Lebensraumes zu<br />

unterstützen, der ihre Selbstverwirklichung bestmöglich<br />

fördert<br />

2. das Studium geschichtlicher, gesellschaftlicher und<br />

fachwissenschaftlicher Dimensionen von Behinderung<br />

sowie die Erarbeitung und Vertiefung des von Rudolf<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Steiner begründeten Verständnisses der menschlichen<br />

Entwicklung<br />

3. ein Qualifikationsprofil, das die Lernenden dahin<br />

führen soll, Situationen in ihrer Einmaligkeit wahrzunehmen<br />

und zu verstehen, um vor dem Hintergrund ihrer<br />

fachlich-methodischen Fähigkeiten in der individuellen<br />

Begegnung intuitiv handeln und das Geschehene reflektieren<br />

zu können<br />

4. Lernwege, die über eine künstlerische Durchdringung<br />

von theoretischem Studium einerseits und praktischem<br />

Erfahrungslernen andererseits zum Erwerb dialogischgestalterischer<br />

Fähigkeiten führen<br />

5. die Entwicklung einer Kultur der beruflichen Bildung,<br />

in der durch kollegiale Zusammenarbeit unter Einbeziehung<br />

der Studierenden sowie durch lokal und international<br />

vernetzte Kooperation die Grundlage einer an<br />

gemeinsamen Leitbildern orientierten Arbeit gelegt wird<br />

6. die fortwährende fachliche Weiterentwicklung der Bildungsgänge<br />

durch Selbstevaluation, intensiven Dialog<br />

mit anderen konzeptionellen Ansätzen und eine eigenständige<br />

Forschungskultur. ...<br />

Diese Bildungswege sind Ausgangspunkt für eine<br />

nachhaltige professionelle Tätigkeit und für eine Berufsbiografie,<br />

die die Studierenden dazu qualifiziert,<br />

individuelle, an der unverletzlichen Würde des einzelnen<br />

Menschen orientierte Impulse immer wieder neu<br />

zu verwirklichen. In kollegialen und gemeinschaftlichen<br />

Zusammenhängen wirken sie so an der Gestaltung einer<br />

humanen Zukunft mit. Auf Basis der anthroposophischen<br />

Geisteswissenschaft befinden sich die beruflichen<br />

Bildungsgänge dieses Netzwerkes innerhalb des allgemeinen<br />

gesellschaftlichen Diskurses, der aktuellen Entwicklungen<br />

in diesem Berufsfeld und der für dieses Feld<br />

relevanten Wissenschaften.<br />

Vollständiger Text auf: khsdornach.org/Ausbildung<br />

149


Medical Section<br />

School of Spiritual<br />

Science<br />

Goetheanum<br />

Charter<br />

on Professional Education<br />

Curative Education and<br />

Social Therapy Council<br />

International<br />

Training Group<br />

Preamble<br />

Anthroposophical Curative Education and Social Therapyw<br />

are a global movement. Each of its professional<br />

education centers is embedded in a particular cultural,<br />

social and political landscape. New fields of work<br />

continue to develop and the tasks and challenges vary<br />

across local contexts. This is also reflected in the diversity<br />

of requirements for professional education<br />

programs.<br />

Professional education in Anthroposophical Curative<br />

Education and Social Therapy enables students to<br />

offer qualified help and support to persons in complex<br />

life situations, based on the understanding of the<br />

human being developed by Rudolf Steiner. According<br />

to this view each person has a spiritual essence thawt<br />

is unimpaired and inviolable. Developmental disorders<br />

and disabilities can occur when psychological, physical<br />

or social challenges stand in the way of an individual’s<br />

self-actualization. Professional education programs in<br />

Anthroposophical Curative Education and Social Therapy<br />

enable students to support people with disabilities<br />

in their self-actualization. What unites them across<br />

the world is their underlying view of the human being,<br />

which arises from anthroposophy, and the international<br />

network that endeavors to establish shared principles<br />

for professional preparation.<br />

These shared principles include:<br />

1. The view of individuals as agents of their own biography<br />

and the need to support people with disabilities<br />

in shaping their life spaces in ways that best<br />

support their self-actualization<br />

2. The study of the view of disability in history, society<br />

and academic discourse and the pursuit of a deepened<br />

understanding of human development out of the perspective<br />

introduced by Rudolf Steiner<br />

3. A profile of educational goals that supports the<br />

students’ understanding of the uniqueness of each situation,<br />

their ability to intuitively shape their response<br />

to each case with the help of appropriate professional<br />

tools and methods, and their capacity to reflect on<br />

what has taken place<br />

4. Ways of learning that enable students to acquire<br />

dialogical and creative skills on the basis of an artistic<br />

approach to theory and practical experience<br />

5. An educational culture in which collegial cooperation<br />

that includes the students, as well as local and<br />

international networking, form the foundation for<br />

working, in accordance with a shared vision<br />

6. Ongoing professional development through selfevaluation,<br />

intensive dialogue with other approaches<br />

and the development of a culture of research and<br />

inquiry.<br />

...<br />

Professional preparation programs are intended to<br />

form the starting point for a viable professional biography<br />

that enables the individual practitioner to find<br />

ever-new ways of bringing impulses to life that are<br />

guided by respect for the inviolable dignity of each<br />

individual. Embedded within collegial communities of<br />

practice, practitioners will play a part in the shaping<br />

of a future society. While the professional education<br />

programs included in this international network are<br />

rooted in anthroposophical spiritual science, they also<br />

take active part in the general discourse on current developments<br />

in society, in their professional fields and<br />

in the relevant academic disciplines.<br />

Full text at: www.en.khsdornach.org/training<br />

150


Beiträge | Contributions<br />

initiative based on anthroposophy. A year later, twenty<br />

people were able to begin their training in Aberdeen,<br />

despite the most difficult external circumstances and<br />

thanks to the strength and initiative of Karl König.<br />

Looking back, we must keep in mind that almost all<br />

of the training course participants at Sonnenhof were<br />

emotionally and physically traumatized by the events<br />

of the war. For this reason, the artistic therapy section<br />

of the training was primarily geared toward participants’<br />

physical and emotional regeneration. They<br />

had daily curative eurythmy lessons, and all of them<br />

were in the care of a physician. The training was integrated<br />

into daily work: foundational works were<br />

studied in the morning between 6am and 7am, and<br />

further courses were offered at lunch time and in the<br />

evenings. Compensation was meagre, trainees lived in<br />

shared rooms, and the profession did not allow for<br />

any private life.<br />

Over the years, the training content expanded and became<br />

more structured; by the 1960s there was a distinction<br />

between foundational training in an institution and<br />

a year of in-depth studies at the Eckwälden Seminar,<br />

which had been established in the meantime. Later, the<br />

Curative Education Seminar in Dornach was added.<br />

The anthroposophic curative education movement expanded<br />

most quickly in the 1970s and ‘80s, leading<br />

to the establishment of multiple new institutions and<br />

later training centres in various countries.<br />

In the process, it became clear that the conditions for<br />

anthroposophically-based training centres in different<br />

countries could not be more varied. In many countries,<br />

the training centres are now an accepted part<br />

of the world of higher education and the diplomas<br />

are officially recognized. This official recognition is of<br />

course tied to regulations regarding conditions for acceptance,<br />

exams, certifications, and even content, but<br />

the anthroposophic foundations have shown themselves<br />

capable of finding enough space within these<br />

constraints. In those countries without a curative education<br />

tradition, institutions are often doing pioneer<br />

work and, in contrast to the initiatives integrated into<br />

the educational system, are not financially supported.<br />

Within the framework of the Council for Curative Education<br />

and Social Therapy, all training centres have always<br />

been represented and there has always been a<br />

lively exchange. However, it has become increasingly<br />

clear that a more mandatory form of collaboration is<br />

necessary regarding questions of curriculum, methodology<br />

and pedagogy, the role of art, and recognition<br />

by the Medical Section.<br />

International collaboration<br />

After much preparation and many meetings in Kassel<br />

[Germany], the International Training Circle of the<br />

Council for Curative Education and Social Therapy in<br />

the Medical Section was founded in Kassel in 2002 as<br />

a mandatory consortium of all training centres.<br />

The following Training Circle tasks were laid out in a<br />

mission statement:<br />

• Cooperative processing of issues,<br />

• Investigation of the foundations of training,<br />

• Active support of research,<br />

• Development of an instrument for comparison and<br />

accreditation of training courses,<br />

• Quality development and collaboration with specific<br />

sciences.<br />

Fifty to sixty individuals have been meeting every year<br />

in Kassel for over twenty years, to communicate and<br />

to process questions. Each year, a relevant topic is explored<br />

in lectures, work groups and artistic workshops.<br />

The meeting is prepared by the Training Council, a<br />

small group chosen by the Training Circle every four<br />

years. Membership in the Training Circle can be applied<br />

for by a training centre via a written statement to the<br />

Secretariat in Dornach; members are expected to participate<br />

regularly in the meeting in Kassel.<br />

The variation in the realization of the training impulse<br />

in different countries is a fascinating aspect of this collaboration.<br />

Co-workers and directors in established training<br />

centres can also benefit from this perspective, as<br />

the goal of the meetings is not for established training<br />

courses to show the others what training is. The members<br />

of the Training Circle are extremely impressed with<br />

how training courses are able to be realized even under<br />

the most difficult economic and social conditions and<br />

with the enthusiasm with which those responsible carry<br />

out this task. During the meeting, the beginning of each<br />

day represents an external manifestation of the variety<br />

and internationality of the Training Circle, when a short<br />

passage from the Curative Education Course or a verse<br />

is read in fifteen different languages – this creates an<br />

immediately observable inner expansion.<br />

In recent years, three larger projects were realized by<br />

the Training Circle:<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

151


Beiträge | Contributions<br />

Training for educators<br />

This project, which was supported by the EU and the<br />

active participation of practical workers, educators and<br />

artists, made possible what is called the triad approach<br />

– the equal status of practical work, art and theory<br />

within the framework of the training. We were also<br />

able to realize a certification course for educators in<br />

Kyrgyzstan, Russia, the Ukraine and Georgia based on<br />

this foundation.<br />

Handbook for training centres<br />

In 2001, extensive work on a common handbook<br />

for training centres was finalized. It was then made<br />

a mandatory reference for the collaboration in the<br />

Training Circle. Part of an EU project funded by the<br />

European Cooperation for anthroposophic Curative<br />

Education and Social Therapy (ECCE), the handbook<br />

gives a comprehensive description of the foundations<br />

and methodology for anthroposophic training centres.<br />

Over the years, the handbook has been translated<br />

into various languages, but it has become clear that a<br />

handbook becomes outdated relatively quickly in our<br />

current, fast-paced life. Therefore, the Training Circle<br />

has created a new document in the last three years,<br />

which clearly and concisely outlines basic information<br />

on anthroposophic training courses. This ‹Professional<br />

Training› charter serves both as an internal orientation<br />

point for the training centres and for external transparency<br />

in our dealings with public agencies, students<br />

and other training courses. At the last meeting in Kassel,<br />

the Training Circle unanimously approved the ‹Professional<br />

Training› charter for a five-year period. The<br />

charter is also intended to be translated into many<br />

languages.<br />

Accreditation within the framework of the Training<br />

Circle<br />

The Training Circle has forged new paths regarding<br />

official recognition of training centres. In the future,<br />

recognition will no longer be issued from a central<br />

institution, but will be the result of peer evaluation.<br />

The Circle developed a process which precisely defines<br />

the steps leading to recognition as an anthroposophic<br />

training centre for curative education and social therapy,<br />

as delineated in the paper ‹Recognition within<br />

the network of trainings› [‹Anerkennung im Netzwerk<br />

der Ausbildungen›]. The Training Circle delegated responsibility<br />

for putting the process into practice to the<br />

Recognition Group, which is chosen every four years<br />

by the Circle. Training centres seeking internal recognition<br />

are required to submit all relevant documents<br />

and to compose written responses to all questions in<br />

a questionnaire. Criteria for recognition include regular<br />

participation in the Kassel meetings and following<br />

the guidelines in the handbook, now the ‹Professional<br />

Training› charter. Once these prerequisites for recognition<br />

are fulfilled, the centre will receive a visit from a<br />

colleague from another training centre. This colleague<br />

will examine documents and conduct interviews with<br />

those in charge, with those involved in the practical<br />

work, and with students. If the impressions from this<br />

visit are favourable, the colleague will submit a report<br />

with a recommendation for recognition to the Recognition<br />

Group, which then begins the official certification<br />

process within the Council. Sometimes, the<br />

training centre may need to make improvements before<br />

receiving recognition. Official recognition is valid<br />

for five years, after which there will be a recertification<br />

process based on submission of new documents and<br />

an interview in Kassel.<br />

This process, with some minor improvements, has been<br />

followed for ten years with good results, as it can take<br />

into account the various needs of the countries as well<br />

as the scope of the training (foundational training,<br />

continuing training, introductory course, or non-recurring<br />

training). Some training centres have changed<br />

over the course of ten years, have been combined with<br />

other initiatives, or have discontinued training.<br />

As of the autumn of 2015, 35 training centres in 18<br />

countries (USA, Germany, Sweden, Denmark, the<br />

Czech Republic, Russia, Scotland, Georgia, Belgium,<br />

the Netherlands, Brazil, Kyrgyzstan, Italy, Lebanon,<br />

the Ukraine, Austria, Argentina and Switzerland) have<br />

completed the certification process and are now officially<br />

recognized. Two non-recurring training courses<br />

in Columbia and Tenerife were recognized separately,<br />

and 16 training centres have already completed the<br />

recertification process.<br />

Current challenges<br />

Traditionally, anthroposophic curative education was<br />

understood as the accompaniment, promotion and<br />

support of people with cognitive disabilities. Today, the<br />

spectrum of tasks is much broader, and we are confronted,<br />

in practice, with new challenges due to the<br />

152


Beiträge | Contributions<br />

complex manifestations of disabilities in people who<br />

need support. In addition, new tasks are generated by<br />

societal challenges and political troubles and need to<br />

be addressed by anthroposophic curative education.<br />

The central ideas of the work have changed; today, the<br />

paradigms of self-determination, participation and inclusion<br />

are standard in support work. Including family<br />

members is now a matter of course, the normalization<br />

principle has shown its effects as regards lifesharing<br />

in the institutions, and the concept of community no<br />

longer has the charisma it once had.<br />

Dealing with power and authority in curative education<br />

and social therapeutic daily life is a further challenge<br />

which confronts us in practice. In many countries,<br />

support and care work has been severely regulated in<br />

recent decades, and new, fixed requirements related<br />

to professional training have taken effect. Other notable<br />

challenges are the pressure to formalize, quality<br />

assurance, the emphasis on competence, documentation,<br />

and the representation of anthroposophic basic<br />

principles. All of these changes lead and have led to<br />

uncertainties in practical life. Training centres are challenged<br />

to educate their students in such a way that<br />

they are able to successfully handle the areas of conflict,<br />

the changing circumstances, and the increasing<br />

complexity of the work caused by these new issues.<br />

It is no longer sufficient for a training course to merely<br />

convey the foundations of the anthroposophic<br />

understanding of the human being. Students must be<br />

prepared for professional discussion with non-anthroposophic<br />

colleagues, while also developing knowledge<br />

of the central aspects of anthroposophic curative education<br />

and social therapy and the ability to creatively<br />

put them into practice.<br />

What is required is an opening and broadening, while<br />

not losing sight of the central values – an exciting<br />

and not-always-simple challenge. Things look somewhat<br />

different in countries without a tradition of curative<br />

education and social therapy: here it is often<br />

qualified professionals who are specifically seeking<br />

to expand their professional self-concept through an<br />

anthroposophic understanding of the human being,<br />

and who already have general professional knowledge<br />

in the field.<br />

Training is extremely important for the future of anthroposophic<br />

curative education and social therapy. It<br />

is no longer sufficient or even possible to simply attempt<br />

to preserve and pass on old forms, customs and<br />

traditions; rather, we must strive to find new and appropriate<br />

responses – developed out of anthroposophy<br />

– ›‹to current societal challenges in learning and<br />

education. Training centres are committed to this task,<br />

and need to continue to learn from people with disabilities<br />

and their families, from practical life and from<br />

the wider professional field in order to contribute to<br />

future development.<br />

Dr. Andreas Fischer is a clinical curative<br />

educator, long-time co-worker and director<br />

of curative educational institutions,<br />

and has been the Director oft the<br />

Höhere Fachschule für Heilpädagogik in<br />

Dornach since 2008.<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

153


Favelaarbeit<br />

Von Ute Craemer<br />

Sieh was es gibt: Gefängnis und Folterung,<br />

Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt, den körperlosen<br />

Schmerz und die<br />

Angst, die das Leben meint.<br />

Die Seufzer aus vielen Mündern sammelt die Erde<br />

Und in den Augen der Menschen, die du liebst, wohnt die<br />

Bestürzung.<br />

Alles, was geschieht, geht dich an.<br />

Guenter Gleich<br />

Einleitung<br />

Monte Azul ist ein Sozialwerk, das seit etwa vierzig Jahren<br />

in verschiedenen brasilianischen Slums arbeitet und<br />

Programme für Erziehung, Gesundheit, Ausbildung, Kultur,<br />

Umweltschutz, Heilpädagogik und Sozialtherapie,<br />

biologisch-dynamischen Anbau sowie Geburtsvorsorge<br />

und -hilfe entwickelt hat. Mit den Angeboten der Waldorfschule,<br />

den Kindertagesstätten, der Musikschule,<br />

dem Geburtshaus, den Werkstätten und den heilpädagogischen<br />

und sozialtherapeutischen Tageszentren erreicht<br />

Monte Azul inzwischen zirka 15.000 Menschen,<br />

daneben umfasst es ein Gesundheitsfamilienprogramm<br />

für annähernd 300.000 Menschen. Die Grundlage dieser<br />

Arbeit sind die Quellen der Anthroposophie und das<br />

Zusammenleben und -arbeiten der Menschen aus den<br />

Randgebieten São Paulos.<br />

Ich – Wir – Favelas: Brasilien<br />

Wie gestalten sich diese Beziehungen untereinander –<br />

das möchte ich anhand meiner Erfahrungen in diesem<br />

Geflecht der Favelaarbeit in der zwanzig Millionen umfassenden<br />

Megalopolis São Paulo schildern, in einem noch<br />

nicht lange von europäischem Kolonialismus und Sklaverei<br />

befreiten Land.<br />

Hierzu ein Bild: São Paulo, das ist ein Moloch von Zement,<br />

Glas und Plastik, hypermodernen Bürogebäuden<br />

und nie endendem Verkehr. Motorräder rasen im Slalomlauf<br />

auf den Strassen, Ströme von Arbeitern sitzen<br />

in überfüllten Bussen, Villen reihen sich an Favelas, daneben<br />

stehen Wolkenkratzer mit Swimmingpools und<br />

Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach, Wohnungslose<br />

campieren in Unterführungen; und über all dem die<br />

Dunstglocke aus Staub, Russ und Abgasen …<br />

Nur das? Nein, da leben Menschen, deren Hauptziel es<br />

ist zu leben, zu singen, zu sein. Nur das? Nein, Jugendliche,<br />

die angesichts ihrer Drogenschulden aus Angst rauben,<br />

es gibt viel Angst auf allen Seiten, Paniksyndrom,<br />

Depressionen … Kein Ausweg? DOCH: die «cultural creatives»,<br />

die Sozialinitiativen, die Musik-, Theater- und<br />

Graffitigruppen und vieles mehr.<br />

Anthroposophische Initiativen und Lebensfelder breiten<br />

sich aus<br />

Inmitten dieser cultural creatives, des sogenannten<br />

Dritten Sektors, wachsen die Lebensfelder der Anthroposophie<br />

und werden getragen und gestaltet von<br />

Heilpädagogen, Waldorflehrern, Ärzten, Therapeuten,<br />

Beratern, biologisch-dynamischen Landwirten, Studiengruppen<br />

und der anthroposophische Gesellschaft.<br />

Bereits zu Lebzeiten Rudolf Steiners gab es eine Studiengruppe<br />

in Brasilien, doch ausschlaggebend für die<br />

erstaunliche Verbreitung der anthroposophischen Initiativen<br />

war wohl die Gründung der ersten Waldorfschule<br />

in São Paulo im Jahr 1956. Damit wurde ein Tor geöffnet,<br />

durch das die Waldorfpädagogik in Brasilien seinen<br />

Eingang fand. Ein Jahrzehnt später wurden die ersten<br />

Samen der Heilpädagogik gesät.<br />

Ein zweites Tor konnte sich angesichts der Verbreitung<br />

der Waldorfpädagogik und anthroposophisch erweiterten<br />

Medizin für am Rande der Gesellschaft stehende<br />

Menschen öffnen (1979).<br />

Schon seit Anfang dieser Arbeit konnten in den Kinderkrippen<br />

auch schwer behinderte Kinder aufgenommen<br />

werden, die rührend von den «Krippenmüttern»<br />

gepflegt und versorgt wurden. Mit zunehmenden Alter<br />

154


Beiträge | Contributions<br />

war es allerdings nicht mehr ohne weiteres möglich,<br />

die Kinder gebührend in ihrer Entwicklung zu fördern.<br />

Nach den Kämpfen politisch aktiver Bürgerinitiativen in<br />

den neunziger Jahren gab es auch in Monte Azul für Jugendliche<br />

und Erwachsene die Möglichkeit, einen Platz<br />

in der Gesellschaft zu finden. Heute werden in Monte<br />

Azul zirka 80 Menschen mit Behinderungen in Werkstätten<br />

beschäftigt. Ausserdem sind etwa 40 Menschen mit<br />

leichter Behinderung als Mitarbietende angestellt und<br />

können somit ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten.<br />

In den meisten Fällen waren diese Menschen früher in<br />

ihren Elendshütten eingesperrt oder gingen betteln. Für<br />

Brasilien ist es ein grosser Fortschritt, dass das Sozialministerium<br />

diese Menschen jetzt als Bürger anerkennt.<br />

Im Folgenden möchte ich nun eingehen auf einige Aspekte<br />

der Wirkensweise der Favelaarbeit der Associação Comunitaria<br />

Monte Azul.<br />

Monte Azul als Beispiel für die Arbeit anthroposophisch<br />

inspirierter Sozialwerke<br />

«Tem alguma coisa para dar» («Gibt es etwas, was du<br />

mir geben kannst») war die entscheidende Frage, die mir<br />

Kinder 1975, Brasilien stand zu dieser Zeit unter Militärdiktatur,<br />

stellten. Kinder mit einem Plastikbeutel in der<br />

Hand, aus dem einige Tüten mit Lebensmitteln herausschauten.<br />

«Lebensmittel» ist aber viel mehr als nur Reis<br />

und Bohnen und so erkundigte ich mich, wo sie leben,<br />

warum sie betteln müssten, wie alt sie seien. Und typisch<br />

brasilianisch antworteten sie: «Komm uns besuchen<br />

in der Favela», was ich dann auch tat, da ich ja<br />

schon lange Zeit den drängenden Wunsch hatte, meine<br />

Waldorfschüler aktiv mit Kindern in Kontakt zu bringen,<br />

die in Armut aufwachsen. So wie der brasilianische Dichter<br />

Vidal in seinem Gedicht schreibt: «Ich öffnete die Tür<br />

und hunderte von Menschen strömten hinein, und sie<br />

schloss sich nie wieder …».<br />

Türen öffnen ist ein Grundmotiv<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Rückblickend kann ich sagen, dass das Türen öffnen eines<br />

der grundlegenden Motive der sozialen Arbeit in Monte<br />

Azul ist: Offen sein, immer erst ja sagen und erst als zweites<br />

sehen, ob es zu verwirklichen ist. Offen sein für den<br />

Augenblick, in dem eine Frage gestellt wird und diese<br />

Frage verinnerlichen, damit sie wirken kann. Die Begegnung<br />

schätzen, auch dann, wenn sie nicht angenehm ist.<br />

Trotzdem ist es eine Begegnung, und sie kann vielleicht<br />

entscheidend sein. In meinem Fall waren diese und viele<br />

weitere Begegnungen (mit suchenden Jugendlichen, sozial<br />

beunruhigten Menschen, ja auch kriminell gewordenen<br />

Jungen) der Anstoss für immer neue Überlegungen und<br />

daraus entstehende Taten ein Ausgangspunkt – bis heute<br />

– für einen Lebenssinn. Und meist nicht nur für mich, auch<br />

nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern auch für viele<br />

junge Menschen aus 30 verschiedenen Ländern, die hier<br />

freiwillig arbeiten und sich selbst erfahren. Ja, sogar für<br />

die Anthroposophie, die sich erfüllt, wenn sie sich mit der<br />

materiellen und seelischen Not verbindet, mit der Not von<br />

Individuen, die beispielsweise aus den Trockenzonen dieses<br />

Landes flüchten. Besonders jetzt, im 21. Jahrhundert,<br />

scheint es mir die essentielle Aufgabe der Anthroposophie<br />

zu sein, sich diesen Strom des materiellen und seelischen<br />

Elends zu Herzen zu nehmen, «damit gut werde, was wir<br />

aus Herzen gründen, was wir aus Häuptern zielvoll führen<br />

wollen». Die Tore wurden aufgerissen in der ganzen Welt,<br />

zumindest äusserlich zeigt der Flüchtlingsstrom (auch<br />

in Brasilien insbesondere aus Haiti und Afrika), dass die<br />

Welt ein Schicksal hat. Die inneren Mauern der Vorurteile,<br />

die Angst vor Verschiedenartigkeiten, Zweifel am menschlichen<br />

Kern, Zynismus und vieles mehr aufzulösen ist<br />

schwierig und wird vielleicht Generationen dauern.<br />

Anthroposophie kann heilend wirken für jedweden<br />

Menschen, so, wie die Sonne für jeden individuellen<br />

Menschen scheint. Es ist die Grunderkenntnis jeder<br />

nachhaltigen sozialen Arbeit, diese Öffnung nach aussen<br />

zu verbinden mit einem geistigen Fundament. In Monte<br />

Azul wurde uns immer klarer, dass eine äussere Tat<br />

durch inneres Bemühen der Selbstfindung im Gleichgewicht<br />

sein muss: Die eigenen Gedanken klar formulieren,<br />

seinen Willen stärken, seine Gefühle harmonisieren und<br />

in all dem Chaos einen Lichtfunken sehen und ihn stärken,<br />

auf ihn bauen und so für Neues offen sein. Das ist<br />

ein langer Weg: Je mehr nach aussen, umso mehr nach<br />

innen, in die Tiefe.<br />

Die Kunst der Begegnung<br />

Türen öffnen ist das eine Motiv, Begegnungen schaffen<br />

und kultivieren das zweite. Begegnungen zwischen Menschen,<br />

die sich wenig berühren, und wenn, oft nur als<br />

«Arbeitsinstrument», wie beispielsweise in geschäftlichen<br />

Feldern oder im Tourismus, aber nicht von Mensch<br />

zu Mensch. Was meine ich damit?<br />

In Brasilien besteht, wie in vielen anderen Ländern<br />

auch, eine sozioökonomische Mauer, die die Menschen<br />

voneinander trennt, etwa Menschen, die in «Gated Communities»<br />

leben, in privaten Schulen und guten Universitäten<br />

studieren und andere, die Mehrheit, die in<br />

155


Beiträge | Contributions<br />

Favelas leben, auf schlechten Regelschulen lernen und<br />

dadurch schwer aus dem Armutsteufelskreis herauskommen.<br />

Sobald man sich aber in einer wahren Begegnung<br />

gewahr wird, dass nicht nur diese Äusserlichkeiten<br />

existieren, sondern dass etwas rein Menschliches in<br />

jedem Menschen lebt, ungeachtet ob er in einem Elendsviertel<br />

wohnt oder in einer Villa, kann sich etwas in der<br />

Welt bewegen. Vor einer Woche waren z.B. Schüler der<br />

elften Klasse der hiesigen Waldorfschule in der Favela;<br />

eine Woche lebten und arbeiteten sie zusammen mit den<br />

Favelamitarbeitern, schälten Kartoffeln für 400 Mittagessen,<br />

hackten Unkraut mit dem Gärtner, spielten mit den<br />

Kindern der Kindertagestätte – doch das Wichtigste war,<br />

Menschen zu begegnen, von ihrem Leben zu erfahren,<br />

Menschen, die sie in ihrem täglichen Leben allenfalls<br />

als Dienstmädchen oder Chauffeur erleben.«Es war eine<br />

Lebensschule für uns, so viel habe ich lange nicht mehr<br />

gelernt, das werde ich nie vergessen», war das Resümee<br />

eines Schülers. Und eine japanische Freiwillige stellte<br />

nach einem sechsmonatigen Praktikum in der Favela<br />

fest: «Ich habe gemerkt, wie privilegiert ich bin, die Welt<br />

kennenlernen zu dürfen und Erfahrungen zu sammeln<br />

in einem Alter, in dem die meisten Menschen arbeiten<br />

müssen, in einer Fabrik oder als Gelegenheitsarbeiter.»<br />

Für mich persönlich war es wichtig zu bemerken, wie<br />

sich beispielsweise Vorurteile hinsichtlich nicht akademischer<br />

Berufe allmählich auflösten infolge des Zusammenlebens<br />

und -arbeitens mit Menschen aus den<br />

Favelas. Dank der Begegnung und des Hineinblickens<br />

in tiefere Seelenschichten einer Frau etwa, die mehrere<br />

Nahtoderlebnisse hatte oder einer anderen, die missbraucht<br />

wurde und gerade deswegen anderen hilft,<br />

diese Traumata zu überwinden. Man fühlt sich klein gegenüber<br />

dem Grossmut solcher Menschen.<br />

Diese Begegnungen zu pflegen ist eine Kunst, damit sie<br />

nicht nur zum flüchtigen Erlebnis werden, sondern ein<br />

Feuer entfachen.<br />

Die Bedeutung der Gemeinschaft<br />

Schliesslich kommt man zu dem dritten Motiv: eine Gemeinschaft<br />

bilden, d.h. den Versuch zu unternehmen, die<br />

Begegnungen zu pflegen. Monte Azul ist nicht nur eine Arbeitsstätte,<br />

sondern eine Begegnungsstätte, besonders in<br />

der täglichen Zusammenarbeit und im Voneinanderlernen.<br />

Einer unserer Versuche dies zu gestalten ist der sogenannte<br />

Integrationstag. Die 250 Mitarbeitenden kommen<br />

an diesem Tag zusammen – Erzieher, Köche, Verwaltungspersonal,<br />

Therapeuten, Ärzte, Maurer, Gärtner, Putzkräfte,<br />

Computerfachleute und viele mehr. Sie kommen, um<br />

sich gegenseitig wahrzunehmen als eine Gemeinschaft,<br />

die ein gemeinsames Ziel hat: den Menschen, besonders<br />

den unterprivilegierten, einen Lebenssinn zu geben. Jeder<br />

dieser Tage steht unter einem Thema, in diesem Jahr lautet<br />

er: «Himmel und Erde, Wie sieht diese Beziehung konkret<br />

aus?» Ein schwieriges Thema, das nur deswegen in<br />

allen Herzen ein Echo finden kann, weil es anschaulich<br />

und künstlerisch gestaltet wird.<br />

Diese Gemeinschaft zu pflegen ist essenziell, um Gegenkräfte<br />

in Schach zu halten!<br />

Gegenkräfte – das sind politischer und ökonomischer<br />

Zwang, die Drogenmafia, finanzielle Knappheit, seelisches<br />

Gefängnis durch die Medien, Angstphobie und vieles<br />

mehr. Es ist somit lebenswichtig, Gruppen und Gemeinschaften<br />

zu bilden, um sich gegenseitig zu tragen und um<br />

Schwächen und Stärken im Gleichgewicht zu halten.<br />

Die Aufgabe Brasiliens<br />

Brasilien hat wie jedes Land seine spezifische Volksseele,<br />

die viele Menschen mit Worten wie Toleranz, Multikulturalität<br />

und Lebensfreude charakterisieren. Wie bei jeder<br />

Seele gibt es aber auch hier Schattenseiten, man könnte<br />

sagen, ein «Volkskarma». In aller Kürze könnte man es als<br />

die noch zu bewältigende Aufarbeitung der einstigen Sklaverei<br />

und des Indiovölkermordes zusammenfassen. Dazu<br />

kommen die vielversprechenden Potentiale der Völkerund<br />

Kulturvermischung und die damit verbundene Tendenz<br />

zum Spirituellen in seinen verschiedensten Formen.<br />

Laut dem anthroposophischen Arzt Dr. Wesely Aragão<br />

Moraes ist das grösste Geschenk, das Brasilien der Welt<br />

geben kann «wie sich das Verschiedenartigste vermischen<br />

und harmonisieren kann» (W. A. de Moraes 2014). Chancen<br />

der Erneuerung durch Anthroposophie<br />

Dieses schwere historische Erbe hat seine konkreten<br />

Auswirkungen hauptsächlich in den Favelas und auf<br />

dem Land: Armut, Diskriminierung und Ausgrenzung<br />

sind hierzu Schlüsselworte. Konkret wirkt sich das im<br />

individuellen Leben aus: verdorrende Talente, hohe Kinder-<br />

und Müttersterblichkeit, Unterernährung, Flucht aus<br />

dem politisch vernachlässigten Land in die überfüllten<br />

Städte, die daraus entstandene Entwurzelung und vieles<br />

mehr. Betrachten wir dies vom anthroposophischen Gesichtspunkt,<br />

drängt sich die Frage der Aufgabe der Anthroposophie<br />

in diesem Zusammenhang auf. Aus meiner<br />

Erfahrung kann ich sagen, dass darin, trotz des Elends<br />

auch eine Chance besteht: Die Entwurzelung schafft die<br />

Möglichkeit, Neues hinzuzufügen zu der brasilianischen<br />

Kultur, die sich gebildet hat in fünf Jahrhunderten aus<br />

156


indio-, afrikanischen und europäischen Elementen (und<br />

neuerdings auch aus der orientalischen Kultur). Aber<br />

diese Entwicklung muss gefördert werden.<br />

Anthroposophie kann diesen Prozess der Neuschaffung unterstützen<br />

und die natürliche Kreativität und Offenheit nicht<br />

verflachen lassen. Sie kann ein Bewusstsein dafür schaffen,<br />

dem inflationären Gebrauch von Fernsehen und Medien<br />

etwas Schöpferisches entgegenzusetzen und eine Balance<br />

zu den massiven westlichen Einflüssen herzustellen:<br />

Eurythmieaufführungen in öffentlichen Schulen, anthroposophisch<br />

erweiterte Medizin im öffentlichen Gesundheitssystem,<br />

heilpädagogische Ansätze in Tageskliniken,<br />

Waldorfpädagogik und Heilpädagogik für Favelakinder,<br />

Lehrerseminare für Erzieher aus öffentlichen Kindertagesstätten,<br />

biologische Ernährung als Schulspeise in<br />

Regelschulen, Studiengruppen über Lebensfragen für<br />

Menschen mit wenig Schulbildung und vieles mehr. Ein<br />

schöner Anfang besteht schon!<br />

Abschliessen möchte ich mit einem Bild aus einer Legende<br />

der Guaraniindios, dem Bild der vier Rassen, die sich im<br />

Laufe der Weltschöpfung herausgebildet haben und die sich<br />

laut Prophezeiung in das fünfte Volk verwandeln werden:<br />

«Ihr alle seid Samen eines gleichen Waldes, der seine<br />

Wurzeln im gleichen Boden hat und vom gleichen Hauch<br />

und demselben Himmelslicht ernährt wird. Ihr habt euch<br />

nicht getroffen um zu streiten, sondern um euch zu lieben,<br />

um eure Erfahrungen auszutauschen, eure Lebenswege<br />

und eure Weisheit. Und wenn ihr die Weisheit der<br />

roten Samen, der gelben Samen, der schwarzen Samen<br />

und der weissen Samen ausgetauscht habt, wird ein<br />

neues Volk geboren werden: das goldene Volk. Dieses<br />

Volk wird aus der Verbindung der vier Samenarten erwachsen.<br />

Pflanzen wir diesen Traum in die Erde, damit<br />

er aufblühe». (siehe www.pindorama.art.br)<br />

Dass dieser Traum Wirklichkeit werde, dazu kann die Anthroposophie<br />

viel beitragen.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Ute Craemer lebt seit vierzig Jahren in<br />

Brasilien. Sie ist die Begründerin der<br />

weltweit bekannten Sozialarbeit in der<br />

Favela Monte Azul in São Paolo und Initiatorin<br />

der Aliança pela Infanciã (Alliance<br />

for Childhood), einem internationalen<br />

Netzwerk zur Verbesserung der Lebensbedingungen<br />

von Kindern und Jugendlichen.<br />

Literatur<br />

W. A. de Moraes (2014): Alma Brasileira: Alma Sul Americana.<br />

Antropogeografia oculta. Barany Novo Seculo, São Paulo.<br />

Work in the Favelas<br />

by Ute Craemer<br />

Consider what we have: prison and torture,<br />

Blindness and paralysis, death in many forms,<br />

the bodiless pain and the<br />

Fear that is life.<br />

The earth collects the sighs from many mouths<br />

And consternation inhabits the eyes of those you love.<br />

Everything that happens, concerns you.<br />

Guenter Gleich<br />

Introduction<br />

Monte Azul is a social organization that has provided<br />

care in various Brazilian favelas for the last forty years,<br />

developing programmes covering education, healthcare,<br />

training, culture, environment protection, curative<br />

education, social therapy and biodynamic farming, as<br />

well as prenatal care and midwifery. With its Waldorf<br />

schools, day-care centres, music school, birthing centre,<br />

workshops and day-centres for curative education<br />

and social therapy Monte Azul now reaches around<br />

15,000 people, its family health programme serving almost<br />

300,000. Monte Azul finds its inspiration in anthroposophy<br />

and offers communal living and working<br />

to people from the fringes of São Paulo.<br />

Brazil: I – We – the favelas<br />

How do these centres relate to one another? This is a<br />

question I would like to address based on my experience<br />

with the favela network in São Paulo, a twentymillion<br />

megalopolis in a country that has only quite<br />

recently left behind the shackles of European colonialism<br />

and slavery.<br />

Let me draw a picture for you: São Paulo is a juggernaut<br />

of concrete, glass and plastic, of hyper-modern<br />

office blocks and unceasing traffic. Motorbikes slalomrace<br />

through the roads, masses of workers sit on overfilled<br />

buses, mansion districts spread out next to the<br />

favelas, adjacent to sky scrapers that have their own<br />

swimming pools and helipads on the roof, homeless<br />

people live in subways, and the whole lot is covered by<br />

a pall of dust, soot and exhaust fumes ...<br />

157


Beiträge | Contributions<br />

Is that all there is to it? No! People live here! People<br />

whose main goal it is to live, to sing, to BE. Is that all?<br />

No! There are young people who become thieves because<br />

they are frightened that they can’t pay off their<br />

drug debts. There is fear everywhere, and panic syndrome<br />

and depression …<br />

Is there no way out? Yes there is: the ‹cultural creatives›,<br />

the social initiatives, the musicians, actors, graffiti<br />

artists and many more.<br />

Initiatives and practice fields arising from anthroposophyIn<br />

the midst of these cultural creatives, or ‹third<br />

sector›, the fields where anthroposophy is practised<br />

keep growing, supported and shaped by curative teachers,<br />

Waldorf teachers, physicians, therapists, consultants,<br />

biodynamic farmers, anthroposophical study<br />

groups and the Anthroposophical Society.<br />

Even in Rudolf Steiner’s lifetime there was a study<br />

group in Brazil. What started the amazing dissemination<br />

of anthroposophical initiatives, however, was the<br />

first Waldorf School in São Paulo which was founded<br />

in 1956. It opened a door for Waldorf Education to<br />

enter Brazil. A decade later the first seeds of curative<br />

education were planted. A second door was opened in<br />

1979 when Waldorf education and anthroposophically<br />

extended medicine began to spread to the people who<br />

live on the fringes of society.<br />

From the very beginning, the day-care centres also<br />

accepted children with severe disabilities, who were<br />

cared for lovingly by the ‹day-mothers›. As these children<br />

grew older it became more difficult to support<br />

them adequately. Following the campaigns of political<br />

action groups in the 1990s, Monte Azul was able to<br />

offer youngsters and adults a place in society. Today<br />

Monte Azul provides workshop places to around 80<br />

people with disabilities, and employs 40 people with<br />

minor disabilities, giving them the opportunity to earn<br />

a living for themselves. Most of these people used to<br />

be kept locked up in their poor huts or they had to beg.<br />

For Brazil it is a big step forward that the Ministry for<br />

Social Affairs now recognizes these people as citizens.<br />

I would now like to look at the effect that the work of<br />

Monte Azul has had in the favelas.<br />

Monte Azul as an example of anthroposophically<br />

inspired social work<br />

‹Tem alguma coisa para dar› (Have you got something<br />

for me?) was the crucial question: it was put to me by<br />

some children in 1975, when Brazil was still a military<br />

dictatorship. These children were clutching plastic<br />

bags that had some food in them. But ‹food› means<br />

more than rice and beans and so I asked them where<br />

they lived, why they were begging and how old they<br />

were. Being true Brazilians they said, ‹Come and visit<br />

us in the favela.› This I did, because it had long been<br />

a burning wish for me to establish a contact between<br />

my Waldorf pupils and the children who were growing<br />

up in poverty. As the Brazilian poet Vidal wrote in a<br />

poem, ‹I opened the door and hundreds came flooding<br />

in; the door never closed again….›<br />

Opening doors as an underlying theme<br />

Looking back I can say that the opening of doors is an<br />

underlying theme in the work of Monte Azul: being<br />

open, always saying ‹yes› first and then finding out<br />

whether it is possible; being open for the moment<br />

when a question is asked, and contemplating this question<br />

so that it can take effect; valuing the encounter,<br />

even if it is not pleasant. It is an encounter nevertheless<br />

and might well be significant. In my case, this and<br />

many other encounters (with seeking youngsters, the<br />

socially restless, even with boys who had turned to<br />

crime) inspired me to think again and again and take<br />

action, and they have – to this day – given meaning to<br />

my life. And often not only to my life or to the lives of<br />

those who directly benefited from these actions, but to<br />

the lives of the many young people from 30 different<br />

countries who come here as volunteers, learning lessons<br />

for life; and even to anthroposophy which finds<br />

its fulfilment when it connects with people’s material<br />

and psychological needs, with the needs, for instance,<br />

of people who are fleeing the arid zones of Brazil.<br />

It seems to me to be an essential task of anthroposophy,<br />

particularly now in the twenty-first century, to<br />

take this stream of material and psychological suffering<br />

to heart, ‹That good may become what we would<br />

found from our hearts, what we would direct from our<br />

heads, with purpose.› The doors have been torn open<br />

all over the world – the stream of refugees (in Brazil,<br />

too, particularly from Haiti and Africa) shows that<br />

the world has one destiny. It is difficult to overcome<br />

the walls of prejudice, the fear of diversity, the cynicism<br />

and the doubts about the essential goodness of<br />

human beings, and it might take several generations<br />

before this is achieved.<br />

Anthroposophy can have a healing effect on each person,<br />

just like the sun that shines down on each of us. It<br />

158


Beiträge | Contributions<br />

Favelakinder | Favela children<br />

is a fundamental lesson one can learn from any sustainable<br />

social effort that such an opening gesture needs<br />

a spiritual foundation. At Monte Azul we realize increasingly<br />

that outer actions need the balance of inner<br />

self-development: I need to learn to put my thoughts<br />

into clear words, to strengthen my will, to bring harmony<br />

to my feelings; to see a spark of light in all this<br />

chaos and make this spark grow brighter; to build on it<br />

I can be open for new things. It is a long road: the more<br />

we do on the outside, the more inner work is needed.<br />

The art of the encounter<br />

Opening doors is the first theme, creating and fostering<br />

encounters is the second. I think of encounters<br />

between people who hardly meet, and if they do then<br />

only as means to an end, in business or tourism, for instance,<br />

but not from person to person. What am I trying<br />

to say? In Brazil, like in many other countries, there is<br />

a socio-economic wall that separates people from one<br />

another: some live in gated communities, go to private<br />

schools and study at good universities, while others,<br />

the majority in fact, live in favelas, attend bad mainstream<br />

schools and have little chance of ever being able<br />

to break away from the vicious circle of poverty. But as<br />

soon as one has real encounters and becomes aware<br />

that life is about more than these external things, that<br />

something purely human dwells in each of us, whether<br />

we live in a hut or a mansion, then something can happen<br />

in the world. A week ago, for instance, the class<br />

eleven students from our Waldorf school went to the<br />

favela; they stayed for a week working with the favela<br />

helpers, peeling potatoes for 400 lunches, weeding<br />

with the gardener, playing with the children at the daycare<br />

centre. The most important experience for them<br />

was meeting people and hearing about their lives –<br />

people whom they would normally only meet as their<br />

servants or chauffeurs. ‹It was a school of life for us. I<br />

haven’t learned so much in a long time. I’ll never forget<br />

this›, one student said later. And a volunteer from<br />

Japan said after a six-month work experience in the<br />

favela, ‹I realized how privileged I am to be able to get<br />

to see and learn about the world at my age, when most<br />

people have to work in a factory or take on casual jobs.<br />

For me personally it was important to see how preconceptions<br />

regarding non-academic jobs gradually dissolved<br />

as a result of sharing the lives of, and working with,<br />

people from the favelas: of meeting and getting to<br />

know a woman who had had several near-death experiences,<br />

or another woman who had been abused and is<br />

therefore helping others to work through similar traumas.<br />

One feels small when faced with such generosity.<br />

Fostering these encounters is an art – if they are to be<br />

more than fleeting experiences, if they are to kindle a fire.<br />

The meaning of community<br />

This brings us to the third motif: the building of community<br />

or fostering of encounters.<br />

Monte Azul is more than a workplace; it is a meeting<br />

place, particularly because we work together here on a<br />

daily basis and learn from each other.<br />

One of the ways we try to foster encounters is by organizing<br />

an ‹integration day”, when the 250 staff<br />

members – educators, cooks, admin staff, therapists,<br />

physicians, builders, gardeners, cleaners, computer experts<br />

and many more – come together so we can feel<br />

that we are a community and that we share the same<br />

goal, which is to give meaning to the lives of people, especially<br />

to those who are less privileged. Each of these<br />

days has a particular theme. This year’s theme is, ‹Heaven<br />

and earth – what does this relationship look like?›<br />

– A difficult topic that can only speak to people’s hearts<br />

when it is presented in an accessible and artistic way.<br />

Fostering this community is an essential way of keeping<br />

adversarial powers at bay!<br />

The opposing powers are political and economic constraints,<br />

the drug mafia, financial straits, imprisonment<br />

of the soul by the media, fears and phobias, and much<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

159


Beiträge | Contributions<br />

more. Forming groups and communities is important<br />

for mutual support and the balancing out of weaknesses<br />

and strengths.<br />

Brazil’s task<br />

Like any other country, Brazil has its own folk soul,<br />

which is often described by referring to qualities such<br />

as tolerance, multiculturalism and a joy of life. But<br />

there are also darker sides – the folk karma, as it were.<br />

To put it briefly one could say this still has to do with<br />

coming to terms with the past: with slavery and the<br />

murder of the native Indians. On the other hand there<br />

is the promising potential of the mix of multiple ethnicities<br />

and cultures and the ensuing openness to spirituality<br />

in its diverse manifestations. According to the<br />

anthroposophic physician Dr Wesely Aragão Moraes<br />

‹the way diversity can intermingle and create harmony›<br />

is the greatest gift Brazil has to offer to the world.<br />

(W. A. de Moraes 2014)<br />

The chances of renewal through anthroposophy<br />

This difficult historic heritage makes itself felt, most<br />

pronouncedly in the favelas and the rural areas: poverty,<br />

discrimination and exclusion are the key factors.<br />

They affect each individual life: talents that cannot unfold,<br />

the high infant and maternal mortality rates, malnutrition,<br />

people fleeing from the politically neglected<br />

rural areas to the crowded cities, the ensuing deracination<br />

etc. What is the task of anthroposophy here? From<br />

my experience I can say that all this misery and suffering<br />

also holds out opportunities: deracination makes it<br />

possible for something new to grow within the Brazilian<br />

culture – a culture that has evolved over five centuries<br />

from Indian, African, European and, most recently,<br />

also oriental influences. But we need to support this<br />

development.<br />

Anthroposophy can support this process of new creation<br />

and it can make sure that the natural creativity<br />

and openness do not lead to too much superficiality.<br />

Anthroposophy can make people aware that the ever<br />

increasing use of TV and media can be counteracted<br />

with creativity and that a balance can be provided to<br />

the overpowering western influences:<br />

Eurythmy performances in public schools, anthroposophically<br />

extended medicine in the public healthcare<br />

system, curative education in day-clinics, Waldorf<br />

education and curative education for favela children,<br />

teacher training for the educators at public day-care<br />

centres, organic food in mainstream schools, study<br />

groups on life questions for people with limited education,<br />

and much more. A wonderful beginning has already<br />

been made!<br />

I would like to end with an image from a legend of the<br />

Guarani people: the image of the four races that have<br />

emerged in the course of world creation and that will,<br />

according to prophesy, become the fifth people:<br />

‹You are all seeds from the same trees, which are rooted<br />

in the same soil and nurtured by the same breath<br />

and the same heavenly light. You have not met in<br />

order to fight, but so you can love each other, so you<br />

can share your experiences, your lives’ paths and your<br />

wisdom. And once you have shared the wisdom of the<br />

red, yellow, black and white seeds, a new people can be<br />

born: the golden people. The golden people will arise<br />

from the union of the four kinds of seed. Let us plant<br />

this dream into the earth so that it may blossom.› (Cf.<br />

www.pindorama.art.br)<br />

Anthroposophy can do much for this dream to become<br />

true.<br />

Work in the favelas in Brazil.<br />

Ute Craemer is the founder oft he worldrenowned<br />

social work in The Monte Azul<br />

favela in São Paolo and the founder oft<br />

he Aliança pela Infanciã (Alliance for<br />

Childhood), an international network for<br />

improving the quality of life of children<br />

and youth.<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Bibliography<br />

W. A. de Moraes (2014): Alma Brasileira: Alma Sul Americana.<br />

Antropogeografia oculta. Barany Novo Seculo, São Paulo.<br />

160


Eine Pädagogik der Gegenwart<br />

Von Florian Osswald<br />

Kommendem zugekehrt<br />

War dir das Nichts wie eine Wunde<br />

Jetzt heilt sie leise unter uns<br />

Augenblicke<br />

In der Erziehung gehe es um die Zukunft der Gesellschaft,<br />

sagen die einen und meinen zu wissen, wo es<br />

hingeht. Das sieht Woody Allen anders: «Wenn du Gott<br />

zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen.»<br />

«Ich mache mir nie Sorgen um die Zukunft. Sie<br />

kommt früh genug», sagt Albert Einstein. Und Rudolf<br />

Steiner bemerkt dazu: «Nicht gefragt soll werden: was<br />

braucht der Mensch zu wissen und zu können für die<br />

soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen<br />

veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden?<br />

Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer<br />

neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen.»<br />

(Steiner 1982, S. 37)<br />

Eines scheint klar, die Gestaltung der Zukunft kann uns<br />

nicht gleichgültig sein, hängt doch das, was sein wird,<br />

wesentlich von dem ab, was wir jetzt tun. Was aber tun<br />

wir jetzt? Gerade die Gegenwart birgt viele Rätsel in sich.<br />

In ihr treffen sich Vergangenes und Zukünftiges und<br />

schaffen dadurch den Augenblick. In diesem präsent zu<br />

sein ist eine Kunst, die aufgreift, was werden will und angemessene<br />

Mittel zu dessen Förderung findet. Dazu ist<br />

es notwendig, in den Zeitstrom einzutauchen. In einem<br />

pädagogischen Kontext hiesse das, die biografische Dimension<br />

des Menschen wahrzunehmen. Es ist die Entwicklung<br />

des Kindes und Jugendlichen, die den Anlass<br />

gibt, eine Erziehungskunst zu betreiben. Die unmittelbare<br />

Begegnung mit dem Kind oder Jugendlichen ist der<br />

Leitstern für pädagogisches Handeln, nicht vorgegebene<br />

Lehrpläne oder Lernziele wie die Matura oder das Abitur.<br />

Individualität und Geistesgegenwart<br />

Wir stellen fest, dass die Gruppen in den Schulzimmern<br />

immer heterogener werden. Nicht nur, dass immer differenziertere<br />

Diagnosen eine individuelle Förderung<br />

verlangen, es entspricht auch dem Zeitgeist, dass Individuelles<br />

mehr betont wird. Die Aufgabe der Lehrpersonen,<br />

die Steiner in der Allgemeinen Menschenkunde<br />

über viele Vorträge hin konturiert, ist es, von der Idee in<br />

ein Gefühl, eine Stimmung überzugehen, die im Unterricht<br />

anwesend ist. «Das wird unserem Erziehungs- und<br />

Unterrichtswesen allein die richtige Stimmung geben,<br />

wenn wir uns bewusst werden: Hier in diesem Menschenwesen<br />

hast du mit deinem Tun eine Fortsetzung zu<br />

leisten für dasjenige, was höhere Wesen vor der Geburt<br />

getan haben.» (Steiner 1992, S. 19)<br />

Steiner nennt die Erzieherinnen und Erzieher auch «Geburtshelfer»<br />

des Kindes. Mit der Geburt beginnt das<br />

Wesen des Menschen ein Verhältnis zur irdischen Welt.<br />

Ein individueller Impuls tritt ins Leben ein und verfolgt<br />

einen Auftrag. Die Individualität des Menschen ist eine<br />

geistige Realität und ist nicht etwas, das sich im Laufe<br />

des Lebens durch Erziehung und Umwelt bildet. Der<br />

Mensch ist von Anfang an eine Individualität. Im Inkarnationsprozess<br />

umgibt er sich mit sogenannten «Hüllen»,<br />

seinem Leib und der Umwelt. In diesen begegnet<br />

er dem, was krankmachend und behindernd auf seine<br />

Entwicklung wirkt. So beginnt die Individualität, sich mit<br />

den schicksalshaften Hüllen auseinanderzusetzen. Für<br />

die erzieherisch Tätigen ist es wichtig, das Kind seinem<br />

Wesen gemäss zu begleiten. Die erzieherischen Massnahmen<br />

können nur auf diese Hüllen wirken, denn die Individualität<br />

kann weder erkranken noch behindert sein.<br />

Auch therapeutische Anregungen behandeln die Hüllen<br />

und ermöglichen dem Menschen, sich besser mit ihnen<br />

auseinanderzusetzen und Einsicht in die Zusammenhänge<br />

der Welt zu gewinnen. Damit wächst die innere Orientierung<br />

und die Möglichkeit einer Sinnfindung im Leben.<br />

Erzieherinnen und Erzieher sind also aufgefordert, das<br />

einzelne Kind in seiner geistigen Individualität zu erkennen,<br />

auf seinen individuellen Impuls hinzuhören<br />

und mit seinen Hüllen so zu arbeiten, dass das Kind<br />

aus eigenen Kräften diese selbständig ergreifen und<br />

gestalten kann.<br />

Eine Pädagogik, die auf diesem Ansatz beruht, hat eine<br />

heilende Wirkung. Sie vereinigt, was aus dem Vorgeburtlichen<br />

werden will mit dem Gestalten eines Zukünftigen,<br />

das sich im Nachtodlichen entfalten kann. Der Vergangenheits-<br />

und Zukunftsimpuls sind in ihr aufgehoben<br />

und schaffen den kostbaren Augenblick, aus dem sich<br />

das Gültige für die Handlung ergibt.<br />

Entscheidend ist also, was für die Handelnden im Moment<br />

alles anwesend sein kann, wie umfassend ihr Bewusst-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

161


Beiträge | Contributions<br />

sein ist. Der Begriff Geistesgegenwart weist in treffender<br />

Weise auf den erforderlichen Zustand hin. Es soll Geistiges<br />

realisiert werden. Auf diesem scheinbaren Nichts,<br />

dem Augenblick, baut sich die ganze Pädagogik auf.<br />

Steiner drückt es in diesen Worten aus: «Aber wenn man<br />

zum Wirken aus dem Geistigen kommt, muss man sich<br />

täglich, stündlich vor Entscheidungen gestellt fühlen, bei<br />

jeder Tat sich vor die Möglichkeit gestellt fühlen, sie tun<br />

zu können oder unterlassen zu können, oder sich völlig<br />

neutral verhalten zu können. Und zu diesen Entscheidungen<br />

gehört eben Mut, innerer Mut. […] Und der erwacht<br />

nur, wenn man sich die Grösse der Dinge immer vor<br />

Augen stellt: du tust etwas, was die Götter sonst tun im<br />

Leben zwischen Tod und nächster Geburt. Das zu wissen,<br />

ist von gar grosser Bedeutung. Nehmen Sie das meditierend<br />

auf.» (Steiner 1975, S. 41)<br />

Uns mit dem Ganzen verbinden<br />

Das kleine Kind wagt die ersten Schritte in die Welt aus der<br />

Sicherheit der Bindung, die es zu einem Menschen erfahren<br />

durfte. Die innere Sicherheit schafft die Voraussetzung,<br />

die Welt zu entdecken und die Entdeckungen ihrerseits<br />

stärken das Selbstvertrauen des Kindes. Beziehungen zu<br />

andern Menschen machen uns für andere sichtbar und wir<br />

werden gleichzeitig auch für uns selbst sichtbar.<br />

Beziehungen brauchen eine vielseitige Unterstützung. Sie<br />

sind störungsanfällig und wollen gepflegt sein.<br />

Die alltäglichen Erlebnisse müssen verarbeitet werden.<br />

Erleben wir Dinge, die wir als Misserfolge einstufen, neigen<br />

wir dazu, uns von der Welt zu trennen und ziehen<br />

uns zurück in sichere Räume. Schnell kann sich die Beziehung<br />

mit Angst und Verurteilungen füllen. Wollen wir<br />

dieser Tendenz entgegenwirken, brauchen wir sichere<br />

Räume, in denen die Maske sich nicht verhärtet, sondern<br />

abgelegt werden kann.<br />

Es ist die Aufgabe der Erziehung, den Kindern eine unvoreingenommene<br />

Beziehung zur Welt zu ermöglichen, sie<br />

im Spannungsfeld von Ich und Welt, mikrokosmischem<br />

Mittelpunkt und Makrokosmos zu begleiten. «Denken<br />

Sie sich, lebendig das gefühlt, was das bedeutet! Wie da<br />

die Idee vom Weltenall und seinem Zusammenhang mit<br />

dem Menschen übergeht in ein Gefühl, welches durchheiligt<br />

alle einzelnen Vornahmen des Unterrichts. Ohne<br />

dass wir solche Gefühle vom Menschen und dem Weltenall<br />

haben, kommen wir nicht dazu, ernsthaft und richtig<br />

zu unterrichten», mahnt Steiner. (Steiner 1992, S. 156)<br />

Auch Martin Buber beschreibt dieses Spannungsfeld:<br />

«Heilen wie erziehen kann nur der gegenüber Lebende<br />

und doch Entrückte.» (Buber 1995)<br />

Beide Zitate weisen auf die grundlegende Bedeutung des<br />

Menschen für den Entwicklungsprozess des Kindes hin.<br />

Angesichts der fortschreitenden Umweltzerstörung und<br />

der Kriege in vielen Ländern kann man sich aber durchaus<br />

fragen: Braucht es den Menschen wirklich? Viele junge<br />

Menschen vertreten die Ansicht, dass es den Menschen<br />

in dieser Welt nicht brauche; er sei ein Störfaktor, der die<br />

Natur und damit seine eigene Lebensgrundlage und die<br />

anderer Lebewesen zerstöre. Prüfen Sie sich selbst und<br />

fragen Sie sich, ob Sie felsenfest davon überzeugt sind,<br />

dass es den Menschen braucht.<br />

Das Ja zum Menschen bildet die Grundlage eines echten<br />

Vertrauens in unsere Existenz. Allen voran stellt die<br />

Bibel das Ja ins Zentrum: Liebe deinen Nächsten wie dich<br />

selbst. Das Finden des Menschen in uns selbst gibt unserem<br />

Dasein den Sinn.<br />

Sein Inneres, das eigentlich Menschliche zu zeigen, ist<br />

jedoch ein Risiko. Wir verfallen schnell in ein Rollenspiel<br />

und tragen eine Maske, die das Innere verhüllt. Nelson<br />

Mandela weist in seiner Antrittsrede darauf hin, indem er<br />

aus dem Buch «A Return to Love» von Marianne Williamson<br />

(1992) zitiert:<br />

Unsere tiefste Angst ist nicht,<br />

dass wir unzulänglich sind.<br />

Unsere tiefste Angst ist,<br />

dass wir unermesslich machtvoll sind.<br />

Es ist unser Licht, das wir fürchten,<br />

nicht unsere Dunkelheit.<br />

Für das Verständnis des Menschen ist das Zusammenspiel<br />

des kleinen irdischen und grossen kosmischen<br />

Menschen, von Punkt und Umkreis, notwendig. So erst<br />

entsteht ein ganzheitliches, dynamisches Menschenbild,<br />

das immer wieder neu erschaffen werden kann.<br />

Aus der Sicht des Ganzen erscheint das Einzelne stets<br />

in einem Zusammenhang, in dem nichts nur um seiner<br />

selbst willen existiert, sondern um des Ganzen willen.<br />

Wie auch der Mensch beschaffen ist, mit vielen Talenten<br />

oder wenigen, er ist einmalig und nicht auswechselbar.<br />

Er hat seinen Platz in der Weltordnung.<br />

Sinn finden<br />

Die Aufgabenstellung für die Erziehenden ergibt sich aus<br />

den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder. Dabei geht es<br />

nicht um Zielvorgaben, sondern um Sinnfindung. Die Individualität<br />

ist bestrebt, ihren Sinn zu finden und alles<br />

was ihr dabei helfen kann, ist eine Bereicherung. Sie<br />

steht nicht in Konkurrenz zu andern Individualitäten.<br />

Wenn wir für den Sinn leben, gibt es keine Konkurrenz.<br />

Das gilt auch für die Institution Schule oder Kinder-<br />

162


Beiträge | Contributions<br />

garten. Ihr Sinn besteht kurz gesagt darin, Kinder und<br />

Jugendliche freiheitsfähig zu machen, dem Ich gute Bedingungen<br />

für die Inkarnation zu geben. Alle, die helfen,<br />

diesen Sinn zu unterstützen, ihn besser realisieren zu<br />

können, sind Freunde und keine Konkurrenten. Die eigene<br />

«Methode» ist nicht etwas, was geschützt und patentiert<br />

werden muss. Im Gegenteil, sie soll weiterentwickelt<br />

und aufgrund der gewonnenen Anwendungserfahrungen<br />

korrigiert und verbessert werden. Es ergibt Sinn, alles<br />

mit denen zu teilen, die auch daran arbeiten wollen,<br />

damit die Aufgabe noch besser erfüllt werden kann. Die<br />

Kinder sind das Wichtigste. Es geht um ihre Sinnfindung<br />

und um ihre gesunde Entwicklung.<br />

Viktor Frankl meinte, Erfolg und Glück könne man nicht verfolgen,<br />

man müsse ihnen folgen. Sie stellen sich nur ein als<br />

ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der eigenen, persönlichen<br />

Hingabe an einen Sinn, der grösser ist als man selbst.<br />

Sinn lässt sich nicht nur mit «Bedeutung» übersetzten,<br />

sondern im weiteren Sinne auch mit Aufgabe. Was wir<br />

tief in uns finden und als «richtig» erachten, was uns<br />

nicht von anderen aufgetragen wurde und vielleicht niemand<br />

anderem aufgetragen ist, ist sinnstiftend.<br />

Wo stehen wir heute?<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Anthroposophische Pädagogik und Heilpädagogik haben<br />

eine gemeinsame Quelle, die von der Unverletzbarkeit des<br />

Wesenskerns eines jeden Menschen ausgeht. Die menschliche<br />

Individualität kann in ihren Ausdrucks- und Entfaltungsmöglichkeiten<br />

behindert oder eingeschränkt sein,<br />

nicht aber in ihrem innersten Wesen. An diesen unverletzbaren<br />

Persönlichkeitskern richten sich die pädagogischen,<br />

heilpädagogischen und therapeutischen Handlungen, die<br />

die Umgebung, die Hüllen der Kinder und Jugendlichen<br />

stärken wollen, damit sich die eigenen individuellen Lernund<br />

Ausdrucksmöglichkeiten entfalten können.<br />

Viele Schulen haben ein Angebot aufgebaut, das eine<br />

individuelle Förderung ermöglicht. Die Vielfalt der Lernwege<br />

stellt, ob sie aus kulturellen oder individuellen<br />

Gegebenheiten entsteht, Fragen an die Unterrichtsmethoden<br />

und Unterrichtsinhalte. Die Hinweise Steiners<br />

zur Unterrichtsgestaltung schaffen ein Meer von Lichtblicken.<br />

Sei es die Lernstimmung, die Sinnfindung oder<br />

das Einbinden in das Ganze, seine Anregungen unterstützen<br />

die Selbsterziehung der Erziehenden, aus der<br />

heraus sachgemässe Handlungen entstehen können.<br />

«Nun, es gibt ein Lebensbegreifen, eine Lebensanschauung,<br />

die wir uns dadurch erwerben, dass wir überall<br />

mit unserem Verstande in die Dinge hineinreichen wollen.<br />

Diese Verstandeskultur bringt in Wahrheit unsere<br />

Entwickelung nicht weiter, hat also keinen selbsterzieherischen<br />

Wert. Dasjenige Element muss bei der Selbsterziehung<br />

des Menschen die grösste Rolle spielen, was<br />

man nennen kann: das über die Intellektualität, den<br />

Verstand Hinausreichende in dem Aneignen der Lebensreife.<br />

Gerade wie das Kind dadurch am besten am Spiel<br />

erzogen wird, dass es nicht durch den Verstand erzogen<br />

wird, sondern probiert, so wird sich der Mensch in bezug<br />

auf seinen Willen an denjenigen Erfahrungen des Lebens<br />

am besten erziehen, die er nicht mit seinem Verstande<br />

begreift, sondern zu denen er sich mit seiner Sympathie,<br />

mit Liebe stellt, mit seinem Gefühl, dass die Dinge erhaben<br />

sind oder den Humor berühren. Das bringt uns weiter.<br />

Hier liegt die Selbsterziehung des Willens. Verstand,<br />

intellektualistische Kultur können gewöhnlich auf den<br />

Willen gar nicht wirken." (Steiner 1983, S. 434)<br />

Erziehen ist ein ununterbrochener Versuch, geistesgegenwärtig<br />

auf die Lernsituation des Kindes und der Jugendlichen<br />

einzugehen. Es braucht Mut, sich auf den<br />

Augenblick einzulassen. Er fordert die Entscheidung, eine<br />

Tat auszuführen, sie zu lassen oder in Gelassenheit den<br />

Lebensmoment zu begleiten.<br />

Florian Osswald, geboren in Basel, Schweiz,<br />

studierte Verfahrensingenieur. Nach einer<br />

Ausbildung zum Heilpädagogen in Camphill,<br />

Schottland, besuchte er das Lehrerseminar in<br />

Dornach. Während 24 Jahren unterrichtete er<br />

Mathematik und Physik an der Rudolf Steiner<br />

Schule Bern und Ittigen und war in verschiedenen<br />

Ländern als kollegialer Berater tätig. Seit<br />

2011 leitet er zusammen mit Claus Peter Röh<br />

die Pädagogische Sektion am Goetheanum.<br />

Literatur<br />

Buber, Martin (1995): Ich und Du. Reclam Verlag, Stuttgart.<br />

Steiner, Rudolf (1975): Heilpädagogischer Kurs (GA 317), 5. Aufl. Rudolf<br />

Steiner Verlag, Dornach.<br />

Steiner, Rudolf (1982): Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus<br />

und zur Zeitlage 1915-1921. Freie Schule und Dreigliederung<br />

(GA 24). Dornach: Rudolf Steiner Verlag.<br />

Steiner, Rudolf (1983): Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung.<br />

Die Selbsterziehung des Menschen im Lichte der Geisteswissenschaft<br />

(GA 61), 2. Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

Steiner, Rudolf (1992): Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der<br />

Pädagogik (GA 293), 9. Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

Williamson, Marianne (1992): A Return to Love: Reflections on the Principles<br />

of A Course in Miracles. Harper Collins, New York.<br />

163


Education for the present time<br />

By Florian Osswald<br />

Turned toward what is to come<br />

The nothing was like a wound in you<br />

Now it heals quietly between us<br />

Moments<br />

Education is about the future of society, say some, believing<br />

they know the direction we are moving in. Woody<br />

Allen sees it differently: ‹If you want to make God laugh,<br />

tell him about your plans.› ‹I never worry about the future.<br />

It will be here soon enough›, said Albert Einstein.<br />

And Rudolf Steiner remarked, ‹The question to ask is<br />

not ‹What does the human being need to know and to<br />

be able to do for the current social order?› – but rather<br />

‹What seeds of possibility lie within the human being,<br />

and what can be developed within us?› Then it will be<br />

possible to always add new strengths to the social order<br />

from the new generation.› (Steiner, 1982, p. 37)<br />

One thing is clear: We cannot be indifferent about<br />

building the future, as what will be is fundamentally<br />

dependent on what we do now. But what are we<br />

doing now? The present, especially, holds many riddles.<br />

Things past and things future meet within it, creating<br />

the present moment. It is an art to be in this present<br />

– an art to take hold of what wants to become and to<br />

find appropriate means of supporting it. In order to do<br />

so, it is necessary to submerge ourselves in the stream<br />

of time. In a pedagogical context, this means recognizing<br />

the biographical dimension of human beings. It<br />

is the development of children and youth that give us<br />

reason to pursue the art of education. The immediate<br />

encounter with the child or youth is the guiding star<br />

for pedagogical action, not predetermined teaching<br />

plans or teaching goals like the Matura or the Abitur<br />

[Swiss and German equivalents, respectively, of the A-<br />

levels (UK) or high school diploma (US)].<br />

Individuality and presence of mind<br />

We notice that the groups in the schoolrooms are becoming<br />

continually more heterogeneous. Not only<br />

that the increasingly differentiated diagnoses require<br />

individual support; it corresponds to the Zeitgeist that<br />

the individual is increasingly emphasized. The task of<br />

teachers, which Steiner outlines through many lectures<br />

in The Study of the Human Being [Allgemeine<br />

Menschenkunde], is to transition from the idea to<br />

a feeling, a mood that is present in class. ‹Only this<br />

will give our education and teaching the right mood:<br />

When we are conscious that here, in this human being,<br />

we are tasked to continue the work that higher beings<br />

began before birth.› (Steiner 1992, p. 19)<br />

Steiner also calls educators ‹midwives› of the child. At<br />

birth, the human being begins a relationship to the<br />

earthly world. An individual impulse begins life and<br />

pursues a purpose. The individuality of the human<br />

being is a spiritual reality and is not something that<br />

is built throughout life by education and environment.<br />

The human being is an individual from the start. In<br />

the process of incarnating, we human beings surround<br />

ourselves with so-called ‹sheathes›, our body and environment.<br />

Within these, we encounter things which<br />

make us ill and hinder our development. In this way,<br />

individuals begin to contend with the karmic sheathes.<br />

For those involved in education, it is important<br />

to accompany the children in accordance with their<br />

being. Educational measures can only affect these<br />

sheathes, because the individual can become neither<br />

ill nor disabled. Therapeutic impulses can also treat the<br />

sheaths and enable human beings to better cope with<br />

them and to gain insight into world relationships. In<br />

this way, their inner orientation grows, as does their<br />

ability to find purpose in life.<br />

Therefore, educators are challenged to recognize individual<br />

children in their spiritual individuality, to listen<br />

to their individual impulses, and to work with their<br />

sheaths in such a way that the children can take hold<br />

of and form these themselves.<br />

Education based on this approach has a healing effect.<br />

It unites what wants to become from the time<br />

before birth with the creation of something futurebearing,<br />

which can unfold after death. The impulses of<br />

the past and the future are held within it, and create<br />

the precious present moment out of which what is<br />

worthy of doing arises.<br />

Therefore, the most important thing is how much the<br />

educators are aware of in the present moment, and<br />

how comprehensive their consciousness is. The term<br />

164


Beiträge | Contributions<br />

‹presence of mind/spirit› [Geistesgegenwart] accurately<br />

points to the requisite state. Something spiritual needs<br />

to be realized. The entire approach to education is based<br />

on this apparent nothing, the present moment.<br />

Steiner expresses it in these words: ‹But when we actively<br />

work from the spirit, we must feel that we are<br />

faced daily, hourly with decisions – that we face the<br />

possibility with each deed to either do it or not to do<br />

it, or to behave completely neutrally. And courage,<br />

inner courage, is a part of these decisions. [….] And<br />

that courage only awakes when you recognize the importance<br />

of things: You are doing something that the<br />

gods otherwise do in the life between death and a new<br />

birth. To know this is incredibly important. Take this up<br />

in your meditation.› (Steiner, 1975, p. 41)<br />

Connecting ourselves with the whole<br />

Young children dare to take their first steps in the world<br />

due to the security of the bond that they were able<br />

to experience with another person. This inner security<br />

creates the prerequisite for discovering the world and<br />

the discoveries, on their part, strengthen the children’s<br />

self-confidence. Relationships with other people make<br />

us visible to others and we simultaneously become visible<br />

to ourselves.<br />

Relationships require support from many sides. They<br />

are prone to dysfunction and need to be cared for.<br />

Daily experiences need to be processed. If we experience<br />

things that we categorize as failures, we tend to<br />

separate ourselves from the world and withdraw into<br />

secure spaces. A relationship can quickly become full<br />

of fear and judgments. If we want to work against<br />

this tendency, we need secure spaces in which the<br />

mask doesn’t harden, but can rather be set aside.<br />

It is the task of education to enable children to build<br />

an unbiased relationship to the world, to accompany<br />

them in the interplay between I and world, between<br />

the microcosmic centre and the macrocosmos. ‹Consider<br />

– what is felt in a living way, what that means!<br />

How the idea of the cosmos and its connection with<br />

human beings turns into a feeling that makes holy<br />

every single undertaking in the lesson. If we don’t<br />

have such feelings about human beings and the cosmos,<br />

we cannot teach seriously and in the right way›,<br />

warns Steiner. (Steiner, 1992, p. 156)<br />

Martin Buber also described this interplay: ‹Healing<br />

and educating can only be achieved by one who is<br />

alive and present and yet lost in reverie.› (Buber, 1995)<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Both quotations point to the fundamental significance<br />

of human beings for the developmental process of the<br />

child. In the face of increasing environmental destruction<br />

and the wars in many countries, we can certainly ask<br />

ourselves: Do we really need human beings? Many young<br />

people argue that we don’t need human beings in this<br />

world: We are the source of disturbance that is destroying<br />

nature, and therefore our own basis for life and that<br />

of other living beings. Test yourself: ask yourself if you are<br />

absolutely convinced that we need human beings.<br />

Saying ‹yes› to human beings builds the foundation<br />

of a true trust in our existence. Notably, the Bible<br />

places this ‹yes› at the centre: ‹Love your neighbour as<br />

yourself.› Finding the human being in our self gives our<br />

existence meaning.<br />

However, showing what is inside us, showing the truly<br />

human in us, is a risk. We quickly fall into role-playing<br />

and wear a mask that hides what is inside us. In his acceptance<br />

speech, Nelson Mandela points to this when<br />

he quotes from the book ‹A Return to Love› by Marianne<br />

Williamson (1992):<br />

Our deepest fear is not that we are inadequate.<br />

Our deepest fear is that we are powerful beyond measure.<br />

It is our light, not our darkness, that most frightens us.<br />

To understand human beings, the interplay of the<br />

small, earthly and the great, cosmic human being – of<br />

point and periphery – is necessary. Only then can a holistic,<br />

dynamic image of the human being arise, which<br />

can always be created anew. From the perspective of<br />

the whole, each one always appears in a context in<br />

which nothing exists solely for itself, but for the whole.<br />

However human beings are created, with many talents<br />

or few, we are each unique and irreplaceable. We each<br />

have our place in the world order.<br />

Finding meaning and purpose<br />

The scope of educators’ work arises from the children’s<br />

developmental needs. It is not goal setting that is important,<br />

but finding meaning and purpose. The individual<br />

strives to find meaning and purpose, and everything<br />

that can help with this is an enrichment. The individual<br />

is not in competition with other individuals. When we<br />

live for meaning and purpose, there is no competition.<br />

This goes for institutions, schools or kindergartens. Their<br />

purpose, in brief, lies in helping children and youth become<br />

capable of freedom – in providing the I with the<br />

165


Beiträge | Contributions<br />

right conditions for incarnating. All who help to support<br />

this purpose, to better realize it, are friends and<br />

not competitors. Our ‹methods› are not something that<br />

should be protected and patented. On the contrary, they<br />

should continue to develop and to be corrected and improved<br />

based on experience in applying them. It makes<br />

sense to share everything with anyone who wants to<br />

work on it, so that the task can be better completed. The<br />

children are the most important thing. Their ability to<br />

find meaning and purpose and their healthy development<br />

are paramount.<br />

Viktor Frankl said that we cannot chase success and<br />

happiness, we must follow them. They are only unintended<br />

side effects of our own personal devotion to a<br />

meaning or purpose that is greater than us.<br />

Meaning or purpose [Sinn] can be translated not only<br />

as ‹meaning/definition› [Bedeutung], but, in a larger<br />

sense, also as task/purpose [Aufgabe]. That which we<br />

find deep within us and deem to be ‹right›, which was<br />

not laid upon us by others and with which perhaps no<br />

one else is tasked, creates meaning and purpose.<br />

Where do we stand today?<br />

Anthroposophic pedagogy and curative education have<br />

a common source that springs from the incorruptibility<br />

of each human being’s essence. Human individuals<br />

can be hindered or limited in their ability to express<br />

themselves or develop, but not in their innermost<br />

being. Pedagogical, curative educational and therapeutic<br />

measures that wish to strengthen the children’s and<br />

youths’ environment, their sheaths, address this incorruptible<br />

individual essence so that the individual capacities<br />

for learning and expression can unfold.<br />

Many schools have built a curriculum that enables individual<br />

advancement. The variety of learning styles, whether<br />

they stem from cultural or individual factors, brings<br />

up questions regarding teaching methods and content.<br />

Steiner’s indications for lesson design create innumerable<br />

rays of hope. Whether it is the atmosphere of learning,<br />

finding meaning and purpose, or connection with the<br />

whole, his suggestions support educators in their own<br />

learning, out of which appropriate actions can arise.<br />

Now, there is a way to understand life, a view of life<br />

that we acquire when want to reach inside everything<br />

with our intellect. In truth, this culture of the intellect<br />

does not further our development and therefore has<br />

no self-educational value. The element that must play<br />

the greatest role in human self-education is what we<br />

can call that which reaches beyond intellectuality and<br />

reason into acquiring maturity in life. Just as children<br />

are educated best through play – so that they are<br />

not educated through the intellect but through trying<br />

things out – in the same way, we human beings can<br />

best educate ourselves in terms of our will through<br />

life experiences that we don’t grasp with our intellect,<br />

but rather that we meet with our sympathy, with love,<br />

with our feeling that the things are sublime or that<br />

they touch our sense of humour. This helps us to develop.<br />

Herein lies the self-education of the will. Reason,<br />

intellectual culture usually cannot affect the will<br />

at all.› (Steiner 1983, p. 434)<br />

Education is an uninterrupted attempt to meet the<br />

learning situation of the child or youth with presence<br />

of mind. It requires courage to engage in the present<br />

moment. It requires the decision to carry out an action,<br />

to leave it undone, or to accompany the moment<br />

of life with composure.<br />

Florian Osswald, born in Basel, Switzerland,<br />

studied process engineering.<br />

After the training for curative education<br />

at Camphill, Scotland, he attended<br />

the teacher tutorial in Dornach,<br />

was teaching for 24 years at the Rudolf<br />

Steiner schools in Bern and Ittigen<br />

and served as a consultant in<br />

various countries. Since 2011 he is together<br />

with Claus Peter Röh in charge<br />

of the educational section at the<br />

Goetheanum.<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

References<br />

Buber, Martin (1995): Ich und Du. Reclam Verlag, Stuttgart.<br />

Steiner, Rudolf (1975): Heilpädagogischer Kurs (GA 317), 5.<br />

Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

Steiner, Rudolf (1982): Aufsätze über die Dreigliederung des<br />

sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-<br />

1921. Freie Schule und Dreigliederung (GA 24). Dornach: Rudolf<br />

Steiner Verlag.<br />

Steiner, Rudolf (1983): Menschengeschichte im Lichte der<br />

Geistesforschung. Die Selbsterziehung des<br />

Menschen im Lichte der Geisteswissenschaft (GA 61), 2. Aufl.<br />

Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

Steiner, Rudolf (1992): Allgemeine Menschenkunde als<br />

Grundlage der Pädagogik (GA 293), 9. Aufl. Rudolf<br />

Steiner Verlag, Dornach.<br />

Williamson, Marianne (1992): A Return to Love: Reflections on<br />

the Principles of A Course in Miracles. Harper Collins, New York.<br />

166


Kindheit und Vulnerabilität als Aufgaben im 21. Jahrhundert<br />

Von Jan Christopher Göschel<br />

Die Analyse der UNICEF zur Lage der Kinder weltweit<br />

(UNICEF Report on the State of the World’s Children<br />

<strong>2016</strong> 1 ), die dieses Jahr das siebzigjährige Bestehen<br />

der Organisation markiert, zeichnet ein Bild mit vielen<br />

Herausforderungen. Im Jahr 2014 waren 159 Millionen<br />

Kinder unter fünf Jahren (eine Zahl, die etwa der Gesamtsumme<br />

der Bevölkerungen von Italien, dem Vereinigten<br />

Königreich, Portugal, Ungarn, Griechenland, Kroatien<br />

und Bosnien und Herzegovina entspricht) von Unterentwicklung<br />

und Entwicklungsstörungen betroffen, die auf<br />

soziale, wirtschaftliche und ökologische Bedingungen<br />

zurückzuführen sind. Aus den aktuellen Daten wird geschätzt,<br />

dass ohne Veränderungen des Systems in den<br />

nächsten 14 Jahren 69 Millionen Kinder dieser Altersgruppe<br />

(etwa entsprechend der Gesamtbevölkerung<br />

von Frankreich) sterben werden. Gleichzeitig werden im<br />

Jahr 2030 etwa 167 Millionen Kinder (entsprechend der<br />

Gesamtsumme der Bevölkerungen von Deutschland,<br />

Österreich, Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen,<br />

Finnland, der Slowakei, der Tschechischen Republik, den<br />

Niederlanden und der Schweiz) in extremer Armut leben<br />

und 60 Millionen Kinder im Grundschulalter (etwa entsprechend<br />

der Gesamtsumme der Bevölkerungen von<br />

Polen, Estland, Lettland, Litauen, Irland, Mazedonien,<br />

Slowenien und Serbien) keine Schule besuchen können.<br />

Die Kindheit: Ein gefährdetes Lebensalter<br />

Die Ursache dieser Umstände ist laut der UNESCO-Analyse<br />

ein «bösartiger intergenerationeller Kreislauf, der<br />

Kindern den Zugang zu Entwicklungsmöglichkeiten abschneidet,<br />

soziale Ungleichheiten vertieft und eine Gefahr<br />

für Gesellschaften überall auf der Welt darstellt.» 2<br />

Die Grundrechte auf Sicherheit, Gesundheit, Spiel und<br />

Bildung von Kindern, die «aufgrund ihres Geburtsortes,<br />

ihrer Abstammung, ihrer Ethnizität oder ihres Geschlechtes,<br />

oder wegen einer Behinderung oder durch Armut»<br />

in dem Strudel dieses Kreislaufes gefangen werden,<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

werden verletzt. Damit werden ihnen die Grundlagen für<br />

eine gesunde Entwicklung vorenthalten. Dieser intergenerationelle<br />

Kreislauf, der bestehende Ungleichheiten<br />

nicht nur erhält, sondern mit jeder Generation verstärkt,<br />

wird heute durch die «immer mehr in die Länge gezogenen<br />

bewaffneten Konflikte, [...] Klimakatastrophen und<br />

chronischen Krisen» intensiviert, zu denen auch die Umstände<br />

zählen, die zur Langzeitheimatlosigkeit grosser<br />

Zahlen von Menschen weltweit führen. Eine Konsequenz<br />

ist, dass, obwohl sich generell der Zugang zu Bildung in<br />

vielen Teilen der Welt verbessert hat, die Gesamtzahl der<br />

Kinder im Schulalter, die keinen Zugang zu formaler Bildung<br />

haben, seit 2011 angestiegen ist.<br />

Gleichzeitig steht die Kindheit auch in wirtschaftlich privilegierten<br />

Situationen unter Druck, wenngleich aus anderen<br />

Gründen. Es wurde an anderen Stellen schon viel<br />

über die Auswirkungen von Stress geschrieben, der durch<br />

ein auf eng definierte Erfolgsmassstäbe ausgerichtetes<br />

Bildungswesen entsteht, sowie über die allgegenwärtige<br />

Präsenz von Medien, Informations- und Unterhaltungstechnologien,<br />

die immer tiefer in das kindliche<br />

Lebensfeld eindringen. Schon allein durch diese beiden<br />

Faktoren ist eine drastische Verminderung entwicklungsgemäss<br />

angemessenen Spielverhaltens feststellbar. Die<br />

Sinneserfahrungen und motorischen und sozialen Erlebnisse,<br />

die für eine gesunde neurologische und psychosoziale<br />

Reifung unabdingbar sind, werden immer mehr<br />

eingeschränkt. Dieser Rückgang wurde inzwischen mit<br />

einem Anstieg in kindlichen Angststörungen, Stress, Depressionen<br />

und Problemen der Aufmerksamkeit, Selbstregulierung<br />

und Narzissmus in Verbindung gebracht,<br />

deren immer weitere Verbreitung mit dem allmählichen<br />

Verschwinden des Spielens zusammenfällt. 3<br />

Die ‹Autismus-Spektrum-Störung› als Zeitphänomen<br />

Ein weiteres Phänomen, das vielleicht noch etwas<br />

schwerer interpretierbar ist, ist der Anstieg der Zahl der<br />

167


Beiträge | Contributions<br />

Personen mit einer diagnostizierten Autismus-Spektrum<br />

Störung. Im Jahr 2012 erfüllte zum Beispiel in den USA<br />

eines von 68 achtjährigen Kindern die Kriterien für eine<br />

Autismusstörung. Von diesen wurde bei 32% auch eine<br />

geistige Behinderung festgestellt, während weitere 25%<br />

in den Grenzbereich der geistigen Behinderung fielen.<br />

Zehn Jahre zuvor, im Jahr 2002, zählte man noch eines<br />

von 150 Kindern. Diese Zahlen verzeichneten also im<br />

Lauf der zehn vorhergehenden Jahre einen sehr starken<br />

Zuwachs und folgten damit weiter einem Trend, der<br />

schon mehrere Jahrzehnte anhält und sich jedenfalls in<br />

den anderen relativ wohlhabenden industrialisierten<br />

Ländern, in denen diese Zahlen zur Verfügung stehen,<br />

ähnlich gestaltet. 4<br />

Während im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass<br />

zumindest ein Teil dieses Anstiegs das Ergebnis veränderter<br />

diagnostischer Praktiken ist, ziehen inzwischen<br />

sogar sonst eher konservative Behörden wie die US Centers<br />

for Disease Control and Prevention (CDC) die Möglichkeit<br />

in Betracht, dass es tatsächlich auch eine Zunahme<br />

der Prävalenz autistischer Erscheinungen geben könnte.<br />

Andere Quellen sprechen mit drastischeren Worten<br />

von einer ‹Autismus-Epidemie›. Wie dem auch sei – es<br />

ist kaum bestreitbar, dass Autismus als ein Thema des<br />

21. Jahrhunderts in Gesundheit, Bildung und Sozialwesen<br />

im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist. (Nach<br />

einer Schätzung aus dem Jahr 2011 kostet der kindliche<br />

Autismus die USA jährlich bis zu 60,9 Milliarden US Dollar<br />

– ein Betrag, der etwa der Hälfte des gesamten Bildungshaushaltes<br />

auf Bundesebene entspricht.)<br />

Eine unsichtbare Eugenik steht gegenüber der Entwicklung<br />

inklusiver Kulturen<br />

Andererseits wurde durch Entwicklungen in der pränatalen<br />

Diagnostik die Zahl der Kinder, die mit bestimmten<br />

anderen Behinderungssyndromen geboren werden,<br />

schon drastisch reduziert. Das trifft vor allem auch auf<br />

das Down Syndrom zu. 5 Mit der fortschreitenden Ausweitung<br />

der Untersuchungsmethoden, die ein immer<br />

breiteres Spektrum chromosomenbedingter und genetischer<br />

Behinderungssyndrome erfassen, ist zu erwarten,<br />

dass sich auch dieser Trend der rückläufigen Geburtszahlen<br />

ausweitet. Im Fall des Down Syndroms führt diese<br />

fast unsichtbare neue Eugenik zu einer ungewöhnlichen<br />

und paradoxen Situation: Obwohl es inzwischen gut belegt<br />

ist, dass die Geburt eines Kindes mit Down Syndrom<br />

sich positiv auf die Lebensqualität der gesamten Familie<br />

(einschliesslich Eltern und Geschwister) auswirkt, löst<br />

die pränatale Diagnose Angst und Stress aus, wird als<br />

negatives Ereignis wahrgenommen und führt in den meisten<br />

Fällen zu einer Entscheidung, die Schwangerschaft<br />

zu beenden. 6<br />

Der sogenannte ‹Down Syndrom Vorteil› (Down syndrome<br />

advantage), der positive Effekt, den ein Familienmitglied<br />

mit Down Syndrom auf den Rest der Familie hat (und der<br />

sich unter anderem in subjektiven Indikatoren des Wohlbefindens,<br />

niedrigeren Scheidungsraten und besserer<br />

psychosozialer Entwicklung der Geschwister feststellen<br />

lässt), wurde bisher insbesondere für dieses Syndrom<br />

festgestellt. Aber die neue Eugenik steht auch im Kontrast<br />

zu dem allgemeinen Kulturphänomen einer grösseren gesellschaftlichen<br />

Offenheit und Anerkennung für Kinder<br />

(und Erwachsene) mit Behinderungen. Diese Wandlung<br />

gesellschaftlicher Haltungen, die sich phasenweise im 20.<br />

Jahrhundert entwickelte, spiegelt sich in der UN-Behindertenrechtskonvention<br />

und anderen Instrumenten wieder,<br />

die der Bewegung zu mehr gesellschaftlicher Inklusionsfähigkeit<br />

Form und Rechtskraft geben.<br />

Inklusion und ihre Nebenwirkungen<br />

Die Entwicklung zu mehr Vielfalt und Inklusivität, die so<br />

in transnationalen Vereinbarungen verankert wird, führt<br />

auch zu einer Neugestaltung öffentlicher Bildungssysteme<br />

– und zwar nicht nur in wohlhabenden Ländern, sondern<br />

auch in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen.<br />

Dabei haben aber die rechtlichen Vorgaben, welche<br />

die Vielfalt und Inklusion fördern sollten, manchmal unbeabsichtigte<br />

Nebeneffekte, die sich gerade auf die am<br />

meisten schutzbedürftigen Menschen negativ auswirken<br />

können. Eine starke politische Präferenz für Bildungssituationen,<br />

die als inklusiv gelten, kann – vor allem, wenn<br />

sie sich auch auf die Verteilung finanzieller Mittel auswirkt<br />

– dazu führen, dass Vielfalt und Auswahlmöglichkeiten<br />

eingeschränkt werden, indem die Optionen aus dem Spektrum<br />

von Bildungsangeboten entfernt werden, die gerade<br />

die komplexen Bedürfnisse derjenigen ansprechen, denen<br />

eine Standardlösung nicht gerecht wird. Wenn politische<br />

Fürsprache ideologisch fixiert und dann auch noch zur Kostensenkung<br />

instrumentalisiert wird, verlieren Systeme<br />

die Flexibilität, die sie benötigen, um undogmatische Lösungen<br />

zu schaffen, die auf einem unverzerrten Verständnis<br />

der jeweiligen Einzelsituation basieren.<br />

Think global, act local<br />

Diese sozialen, kulturellen und politischen Trends stellen<br />

einige der Kraftlinien dar, die sich im Feld der Pädagogik<br />

für Kinder in komplexen Lebenssituation überschnei-<br />

168


Beiträge | Contributions<br />

den und dieses formen. Als professionell Handelnde<br />

in diesem Feld stehen wir jeweils in einem bestimmten<br />

Moment an einer ihrer lokalen Schnittstellen. Es ist<br />

manchmal nicht einfach, den Blick von der konkreten Situation,<br />

dem einzelnen Kind und seinen Bedürfnissen<br />

zu lösen und auf die grössere Perspektive dieses Kräftespiels<br />

zu verlagern, um die individuelle Situation als<br />

einen Ort zu erkennen, an welchem global wirkende Kräfte<br />

ganz konkret ineinanderfliessen und eine individuelle<br />

Biografie mitformen.<br />

Als anthroposophische Berufspraktiker sind wir aufgefordert,<br />

nach dem bekannten Motto zu handeln: ‹Think<br />

global, act local.› Wenn wir uns die globalen sozialen<br />

und kulturellen Prozesse in einem dynamischen inneren<br />

Bild vergegenwärtigen können – den intergenerationellen<br />

Kreislauf, der die Armen ärmer und die Reichen<br />

reicher macht; die ökologischen Krisen und politischen<br />

Konflikte, die zu Migrationen und Heimatlosigkeit in<br />

einem noch nie dagewesenen Ausmass führen; die fortschreitende<br />

Abschaffung des Spielens durch Schule und<br />

Technologie; das Phänomen der Kinder, die nicht spielen<br />

lernen, selbst wenn die Möglichkeit dazu gegeben ist;<br />

die fast unbemerkte Rückkehr der Eugenik, zur gleichen<br />

Zeit, als auch die Werte der Vielfalt und sozialen Inklusion<br />

immer mehr in das Gegenwartsbewusstsein aufgenommen<br />

werden; die ideologische Instrumentalisierung<br />

dieser fortschrittlichen Werte zugunsten einer Sparsamkeitsagenda,<br />

welche die Verwundbarsten noch weiter<br />

marginalisiert –, wenn wir dieses Bild als eine Phänomenologie,<br />

eine Symptomatologie unserer Zeit erfassen<br />

können, dann finden wir vielleicht die vielen kleinen und<br />

bescheidenen Wege, auf denen wir die Dynamik eines<br />

destruktiven Kreislaufs genau dort unterbrechen können,<br />

wo ein einzelnes Leben oder eine kleine Gemeinschaft<br />

betroffen ist.<br />

In einem lebenden System geht Wandel nicht von einer<br />

Kommandozentrale aus, die den Gesamtorganismus kontrolliert.<br />

Systemischer Wandel kann an jedem Ort des Systems<br />

beginnen. Wenn eine Veränderung einmal an einer<br />

Stelle aufgetreten ist, hat sie die Tendenz, sich auch an<br />

anderen Stellen zu zeigen, selbst wenn keine offensichtliche<br />

Verbindung besteht und zunächst kaum eine Auswirkung<br />

auf das Gesamtsystem wahrnehmbar ist. Aber<br />

irgendwann, wenn die kleinen lokalen Wandlungsmomente<br />

kritische Masse erreichen und miteinander in Verbindung<br />

stehen, kann ihr Einfluss anfangen, sich durch<br />

das ganze System auszubreiten und dieses als Ganzes in<br />

einen neuen Funktionsmodus zu versetzen. Dieses nichtlineare<br />

Prinzip gilt nicht nur für pathologische Prozesse,<br />

sondern auch für Heilungs- und Entwicklungsprozesse.<br />

Vulnerabilität als Massstab für sozialen Wandel<br />

Der UNICEF-Bericht endet mit einem Handlungsaufruf,<br />

der einen weiteren Aspekt dieser nichtlinearen Dynamik<br />

systemischen Wandels unterstreicht. In Bezug auf positive<br />

Entwicklungen in der Situation von Kindern weltweit<br />

stellt er fest, dass diejenigen Bemühungen systemisch<br />

effektiv sind und die Situation einer ganzen Gesellschaft<br />

verbessern, die sich auf die verwundbarsten und<br />

am meisten marginalisierten Glieder einer Gesellschaft<br />

konzentrieren, die am wenigsten für ihre eigenen Interessen<br />

eintreten können. Wenn der Ansatzpunkt nicht<br />

‹ganz unten› ist, können sich zwar Verbesserungen für<br />

bestimmte Teile der Bevölkerung ergeben, aber diese<br />

setzen sich nicht ohne weiteres zu den verwundbarsten<br />

Gruppen fort. Es kann sogar sein, dass sich deren<br />

Lage als Konsequenz noch weiter verschlechtert. Positiver<br />

sozialer Wandel tropft also nicht nach unten (wie<br />

es die neoliberale Idee der sogenannten ‹trickle-down<br />

economics› behauptet), sondern läuft von unten nach<br />

oben. Das bedeutet, dass die hauptsächliche strategische<br />

Richtung für globalen Wandel mit kreativen Lösungen<br />

für komplexe systemische Probleme auf der lokalen<br />

Ebene ansetzen und sich auf die schwächsten, am meisten<br />

ausgegrenzten und dadurch verwundbarsten Kinder<br />

konzentrieren muss. Und je stärker diese lokalen<br />

Bemühungen über die Sektoren Gesundheit, Bildung<br />

und Sozialwesen miteinander vernetzt sind, je effektiver<br />

Ressourcen zwischen öffentlichen und privaten gemeinnützigen<br />

Initiativen und Netzwerken geteilt werden,<br />

je stärker kurzfristige Notfallinterventionen und langfristige<br />

Entwicklungsprojekte integriert werden und sich<br />

die Arbeit in inklusiven, auf Teilhabe und Kollaboration<br />

ausgelegten und in der Basis verankerten Prozessen abspielt,<br />

umso mehr werden die Bemühungen eine globale<br />

Wirkung entfalten.<br />

Beitrag der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

Ein solcher globaler sozialer und kultureller Wandel<br />

durch lokales Handeln im Dienst der verwundbarsten<br />

Mitglieder einer Gesellschaft war das ausdrückliche Ziel<br />

der Heilpädagogik, seit jene im Jahr 1861 zum ersten<br />

Mal systematisch dargestellt wurde. 7 Er muss auch weiterhin<br />

als Ziel der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

angesehen werden. Daraus ergeben sich einige spezi-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

169


Beiträge | Contributions<br />

fische Konsequenzen mit Blick auf das 100-jährige Jubiläum<br />

des Heilpädagogischen Kurses Rudolf Steiners:<br />

• Unser Augenmerk muss sich auf die Bedürfnisse<br />

der am meisten ausgegrenzten und verletzlichsten Kinder<br />

richten, während wir die Fortschritte in Bezug auf<br />

die Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung<br />

weiter pflegen. Die Antwort auf die Frage, wer am verwundbarsten<br />

ist, wird in jedem Kontext etwas anders<br />

ausfallen. Sie wird aber auf jeden Fall auch diejenigen<br />

Kinder mit einbeziehen, die von Heimatlosigkeit und<br />

Trauma betroffen sind, ebenso wie Kinder mit komplexen<br />

Behinderungen.<br />

• Wir müssen ebenso aufmerksam auf die jüngsten<br />

Kinder und die Herausforderungen sein, die sich für<br />

die sensorische und neurologische Entwicklung stellen<br />

– auch, und vielleicht gerade in wohlhabenden Industrieländern.<br />

Das bedeutet auch, sich für entwicklungsgemässe<br />

pädagogische Ansätze in den verschiedenen<br />

allgemeinen Bildungssystemen einzusetzen, in denen<br />

wir arbeiten.<br />

• Wir müssen auch weiterhin zu einer Kulturentwick -<br />

lung beitragen, in der menschliche Vielfalt und damit<br />

auch die volle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen<br />

wertgeschätzt wird. Damit wird der neuen Eugenik<br />

entgegengesteuert, die das Spektrum der menschlichen<br />

Inkarnationsmöglichkeiten immer weiter verengt.<br />

• Wir müssen unsere gegenseitigen Beziehungen als<br />

globale Bewegung vertiefen – unsere Fähigkeit, miteinander<br />

zu arbeiten, voneinander zu lernen und einander<br />

praktisch zu unterstützen, sowie Netzwerke, Partnerschaften<br />

und Austausch mit anderen in unserem Arbeitsfeld<br />

zu pflegen.<br />

Die geisteswissenschaftliche Grundlage unserer Arbeit<br />

kann uns helfen, das dynamische Verhältnis zwischen<br />

der Mikroperspektive unserer Alltagsarbeit mit einzelnen<br />

Kindern mit Unterstützungsbedarf und dem globalen<br />

Kontext zu erfassen, dessen Kräfte sich in dem<br />

Moment der Begegnung von Ich zu Ich überschneiden,<br />

und in die wir dadurch eingreifen können, indem wir<br />

diese Begegnung bewusst gestalten. Die zentrale Meditation,<br />

die Steiner denjenigen empfahl, die in jenem<br />

Feld tätig sind, ist ein Mittel, um diese innere Geste zu<br />

üben: die ganze globale Situation als gegenwärtig in der<br />

Begegnung zweier Menschen zu sehen, und gleichzeitig<br />

die Bedeutung zu erkennen, die die einzelne Begegnung<br />

für die gesamte Menschheit hat. Der Punkt ist Kreis; der<br />

Kreis ist Punkt. Durch die Situationen der Kinder im 21.<br />

Jahrhundert stehen wir den existentiellen Fragen der<br />

Menschheit gegenüber. Wenn wir innerlich die weiteste<br />

Perspektive auf die globale Entwicklung mit dem individuellen<br />

Entwicklungsprozess, der unmittelbar vor uns<br />

liegt, zusammen sehen können, dann eröffnet sich daraus<br />

der Ausblick auf die gegenwärtigen und zukünftigen<br />

Aufgaben für unsere gemeinsame Arbeit.<br />

Dr. Jan Christopher Göschel wurde an<br />

der Humanwissenschaftlichen Fakultät<br />

der Universität zu Köln im Fach<br />

Heilpädagogik und Rehabilitationswissenschaften<br />

promoviert. Er ist<br />

Mitglied des Leitungskollegiums der<br />

Schulgemeinschaft Camphill Special<br />

School in der Nähe von Philadelphia<br />

(Pennsylvania) und Leiter des Ausbildungsnetzwerkes<br />

der Camphill Gemeinschaften<br />

in Nordamerika.<br />

Notes<br />

1) United Nations Children’s Fund (<strong>2016</strong>): The State of the<br />

World’s Children <strong>2016</strong>: A fair chance for every child. New York,<br />

NY: UNICEF.<br />

2) Alle Zitate sind der Zusammenfassung des UNICEF Berichtes<br />

auf http://www.unicef.org/sowc<strong>2016</strong>/ entnommen (Übersetzung<br />

JG).<br />

3) Siehe zum Beispiel Gray, P. (2011). The Decline of Play and<br />

the Rise of Psychopathology in Children and Adolescents.<br />

American Journal of Play, 3(4); abgerufen auf http://www.jour-<br />

nalofplay.org/sites/www.journalofplay.org/files/pdf-articles/3-<br />

4-article-gray-decline-of-play.pdf<br />

4) Alle Zahlen von den Centers for Disease Control and Prevention<br />

(CDC). Abgerufen auf http://www.cdc.gov/ncbddd/autism/<br />

data.html<br />

5) Siehe Skotko, B.G. (2009). With new prenatal testing, will babies<br />

with Down syndrome slowly disappear? Archives of Disease<br />

in Childhood, 94(11), 823-6.<br />

6) Siehe Acharya, K. (2011): Prenatal testing for intellectual<br />

disability: Misperceptions and reality with lessons from Down<br />

syndrome. Developmental Disabilities Research Review, 17(1),<br />

27-31.<br />

7) Georgens, J.D. & Deinhardt, H.M. (1861): Die Heilpädagogik<br />

– Mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten.<br />

Fleischer, Leipzig. Available at http://150-jahre-heilpaedagogik.univie.ac.at/literatur/<br />

170


Childhood and Vulnerability: Tasks for the 21st Century<br />

By Jan Christopher Göschel<br />

The <strong>2016</strong> UNICEF report on ‹The State of the World’s<br />

Children› 1 , published this year on the 70th anniversary<br />

of the organization, presents a challenging picture<br />

of the wellbeing of children across the globe. In 2014,<br />

159 million children under age five (the equivalent of<br />

the combined population of Italy, the United Kingdom,<br />

Portugal, Hungary, Greece, Croatia and Bosnia and<br />

Herzegovina) were impacted by stunted development,<br />

suffering permanent developmental impairment as<br />

a consequence of social, economic and environmental<br />

conditions. Based on current data, the report projects<br />

that without systemic change, 69 million children<br />

(equivalent to the total population of France) under<br />

age 5 will die in the next 14 years. By 2030, 167 million<br />

children (equivalent to the combined population of<br />

Germany, Netherlands, Switzerland, Austria, Belgium,<br />

Denmark, Sweden, Norway, Finland, Czech Republic<br />

and Slovakia) will be living in extreme poverty, and 60<br />

million children of primary school age (equivalent to<br />

the combined population of Poland, Estonia, Latvia,<br />

Lithuania, Ireland, Macedonia, Slovenia and Serbia)<br />

will be out of school.<br />

Childhood: An Endangered Period of Life<br />

The root cause identified in the report is a ‹vicious intergenerational<br />

cycle that curtails children’s opportunities,<br />

deepens inequalities and threatens societies<br />

everywhere.› 2 Children who get caught in its vortex<br />

‹because of their place of birth; because of their race,<br />

ethnicity or gender; or because they have a disability<br />

or live in poverty› are denied the basic rights to safety,<br />

health, play and education ‹and deprived of what they<br />

need to grow up healthy and strong.› This intergeneratonal<br />

cycle, which not only perpetuates existing inequalities,<br />

but enhances them with each generational<br />

turn, is exacerbated today ‹by the increasingly protracted<br />

nature of armed conflict, […] climate-related disasters<br />

and chronic crises›, including those that lead to<br />

the persistent displacement of large numbers of people<br />

across the globe. As a result, even though access to<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

education has improved in many parts of the world,<br />

the total number of school age children around the<br />

world without opportunities for formal education has<br />

increased since 2011.<br />

Meanwhile, even in economically privileged situations,<br />

childhood is faced with its own set of challenges. Much<br />

has been written elsewhere about the impacts of stress<br />

generated by narrowly achievement-oriented educational<br />

systems and the ever-more intrusive presence<br />

of media and information/entertainment technology<br />

in children’s lives. The combined effect of these two<br />

factors alone is a drastic reduction of developmentally<br />

appropriate play, including the sensory, motor and social<br />

experiences necessary for healthy neurodevelopmental<br />

and psychosocial maturation. This decline has<br />

been linked to childhood anxiety, stress and depression,<br />

as well as difficulties with attention, self-regulation<br />

and narcissism which have all increased at the same<br />

time as play has gradually disappeared. 3<br />

‹Autism Spectrum Disorder› as a Phenomenon of<br />

our Time<br />

Another more puzzling phenomenon is the rise in the<br />

recorded incidence of autism spectrum disorders. In<br />

the US, for example, 1 in 68 eight year-old children<br />

(1 in 42 boys and 1 in 189 girls) qualified for some<br />

type of autism spectrum diagnosis in 2012. Of these,<br />

about 32% also qualified for an intellectual disability<br />

diagnosis, while another 25% fell into the borderline<br />

intellectual disability range. The overall numbers represent<br />

a very substantial increase from just ten years<br />

prior, when the recorded incidence was about 1 in 150.<br />

This increase continues a trend that has been seen for<br />

several decades and seems similar, at least across the<br />

mostly high-income industrialized countries where<br />

such data is available. 4<br />

While it is generally assumed that at least some of this<br />

increase is the result of changing diagnostic practices,<br />

even conservative authorities such as the US Centers<br />

for Disease Control and Prevention (CDC) now consider<br />

171


Beiträge | Contributions<br />

the possibility that there might be some true increase<br />

in the prevalence of the underlying phenomenon.<br />

Other sources speak more boldly of an ‹autism epidemic›.<br />

Regardless of this debate, it seems clear that autism<br />

has risen to the forefront of public awareness as a<br />

21st century issue in health, education and social welfare<br />

(with 2011 estimates that childhood autism might<br />

cost the US up to 60.9 billion per year – an amount<br />

equivalent to about half of the entire federal education<br />

budget line item).<br />

Invisible Eugenics versus the Development of<br />

Inclusive Cultures<br />

On the other hand, advances in prenatal diagnostics<br />

have already drastically reduced the number of<br />

children born with certain other types of developmental<br />

disabilities – most notably Down syndrome. 5<br />

As prenatal screening widens its catch to a broader<br />

spectrum of chromosomal abnormalities and genetically<br />

linked syndromes, this trend can be expected<br />

to become much more pervasive. In the case of<br />

Down syndrome, this almost invisible reemergence<br />

of eugenic practices has led to a peculiar and paradoxical<br />

situation: While there is a body of literature<br />

that convincingly shows that having a child with<br />

Down syndrome is connected with greater wellbeing<br />

of the entire family (including parents and siblings)<br />

after birth, the prenatal diagnosis of Down syndrome<br />

usually causes significant stress and anxiety and is<br />

experienced as a negative event, often leading to the<br />

decision to terminate the pregnancy. 6<br />

While the so-called ‹Down syndrome advantage›, the<br />

positive effect that having a family member with<br />

Down syndrome has on other family members (shown<br />

in greater subjective indicators of well-being, lower<br />

divorce rates of parents and enhanced psychosocial<br />

development among siblings), has been identified specifically<br />

for this syndrome, the new eugenics also stand<br />

in broader contrast to the cultural phenomenon of a<br />

more widespread acceptance and recognition of the<br />

value and place in society of children (and adults) with<br />

developmental disabilities. This shift, which has developed<br />

in stages throughout the 20th century, is reflected<br />

in the UN Convention on the Rights of Persons with<br />

Disabilities and other forms in which the movement towards<br />

ever greater inclusiveness of society as a whole is<br />

being formalized and given legal power.<br />

Inclusion and its Side Effects<br />

The movement towards an embrace of diversity and<br />

inclusiveness, now embedded in transnational agreements,<br />

is reshaping public educational systems – not<br />

only in high income countries, but also in middle and<br />

even in low income countries. However, legal mandates<br />

that claim to support diversity and promote inclusiveness<br />

sometimes have unintended consequences<br />

that negatively impact especially the most vulnerable<br />

people. A strong political and funding preference for<br />

educational placements that are considered ‹inclusive›<br />

can end up working against diversity and choice by<br />

eliminating the spectrum of educational options for<br />

those whose complex needs might not be met well by<br />

a one-size-fits-all approach. When political advocacy<br />

becomes ideological and is hijacked by attempts to cut<br />

costs, systems lose the flexibility to create undogmatic<br />

solutions that are based on a true understanding of<br />

unique individual situations.<br />

Think global, act local<br />

These social, cultural and political trends make up<br />

some of the force vectors that converge to shape the<br />

field of education for children in vulnerable life situations.<br />

As professional practitioners in this field, we stand<br />

at their intersection in a particular place and time. It is<br />

sometimes difficult to shift the gaze from the immediate<br />

situation in front of us, the individual child and his<br />

or her needs, to this larger play of forces and recognize<br />

the individual situation as a place where these forces<br />

come together in a particular way to impact an individual<br />

biography.<br />

However, as anthroposophic practitioners, we are<br />

called to do just that, in line with the familiar motto:<br />

‹Think global, act local.› If we can carry a dynamic inner<br />

picture of global social and cultural processes – the<br />

trap of intergenerational cycles that make the poor<br />

poorer and the rich richer; the ecological crises and<br />

political conflicts leading to migrations and displacements<br />

at a scale never known before in human history;<br />

the progressive elimination of play through education<br />

and technology; the appearance of ever more children<br />

who do not learn to play, even if given the opportunity;<br />

the almost invisible re-emergence of eugenics,<br />

at the same time as we embrace diversity and social<br />

inclusion as contemporary values; the ideological in-<br />

172


Beiträge | Contributions<br />

strumentalization of those same progressive values for<br />

an agenda of cost-cutting that marginalizes the most<br />

vulnerable even further – if we can carry this picture as<br />

the phenomenology, the symptomatology of our time,<br />

we can perhaps find the many small and unassuming<br />

ways through which we can break the dynamics of a<br />

destructive cycle right where it impacts one individual<br />

situation or one small community.<br />

In a living system, change does not come from some<br />

central place of command-and-control. Change can<br />

start at any place within the system. Once it has appeared<br />

in one place, it will begin to show up in other<br />

places, seemingly disconnected and with little effect on<br />

the system as a whole. But at some point, when the<br />

small local embodiments of change have achieved critical<br />

mass and interconnectedness, their influence can<br />

begin to reverberate and ripple through the entire system,<br />

shifting it into a different mode. Not only disease<br />

and social pathology, but also healing and developmental<br />

progress can be propagated in this non-linear way.<br />

Vulnerability as a Yardstick for Social Change<br />

The UNICEF report ends in a ‹Call for Action› that highlights<br />

another aspect of this non-linear dynamic of<br />

change. In reviewing developmental progress with regard<br />

to the situation of the world’s children, it finds that<br />

whenever the effort goes towards improving the situation<br />

of the most vulnerable, the most marginalized and<br />

those who are least able to advocate for themselves, all<br />

groups will end up better off. However, when the focus<br />

is elsewhere, improvements may happen for some segment<br />

of the population, but the they do not translate<br />

to the most vulnerable – and can even leave them more<br />

disadvantaged than before. In other words, positive social<br />

change trickles up, not down (as some neo-liberal<br />

economists would have it). Thus, the main strategic direction<br />

for leveraging global change is to develop new<br />

creative solutions to complex systemic problems at the<br />

local level, focusing on the most disadvantaged, marginalized<br />

and vulnerable children. And the more interconnected<br />

these local efforts are across the health,<br />

education and social sectors, sharing resources among<br />

private and public agencies and networks, integrating<br />

short-term emergency interventions and long-term development<br />

work and working in inclusive, bottom-up,<br />

collaborative and participatory processes, the more effectively<br />

they will gain global momentum.<br />

Contribution of Anthroposophic Curative Education<br />

Such global social and cultural change through local action<br />

in support of society’s most vulnerable members<br />

has been the expressed goal of ‹Heilpädagogik› (the original<br />

term for what is often rendered as ‹curative education›<br />

in an English-speaking anthroposophic context)<br />

since it was first articulated in 1861. It must remain the<br />

goal of the anthroposophic curative education as well.<br />

This has a number of implications for our work as we look<br />

ahead towards the 100th anniversary of Steiner’s ‹Curative<br />

Education Course›:<br />

• We will need to be attentive to the most vulnerable<br />

and marginalized children in today’s world and develop<br />

ways of addressing their needs, even as we continue<br />

to support the achievements and progress towards<br />

inclusion made in the field of intellectual and developmental<br />

disabilities. While the answer to the question<br />

of who is most vulnerable will vary across contexts, this<br />

will certainly include working with children affected by<br />

displacement and trauma, as well as complex and multiple<br />

disabilities.<br />

• We will need to pay attention to the youngest children<br />

and the various challenges to sensory and neurodevelopmental<br />

health that impact early development<br />

– also, and maybe especially, in wealthy industrialized<br />

societies. This also means advocating for developmentally<br />

appropriate approaches throughout the various<br />

education systems within which we work.<br />

• We will need to continue to build cultures that value<br />

human diversity, including the presence and contribution<br />

of those living with a disability, in order to counter<br />

the new eugenics that increasingly closes the door to a<br />

whole spectrum of possibilities for incarnation.<br />

• We will need to strengthen our interconnectedness<br />

as a global movement – our ability to work with each<br />

other, learn from each other and support each other in<br />

practical ways, as well as our networking, partnerships<br />

and exchange with others active in our fields of work.<br />

The spiritual scientific foundation of our work can help us<br />

understand and work with the dynamic interrelationship<br />

between the micro-perspective of the day-to-day work with<br />

individual children in need of care and support and the<br />

global context whose forces converge in this moment of<br />

the I-to-I encounter, and to which we can apply leverage<br />

through the way we shape that encounter. The central me-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

173


Beiträge | Contributions<br />

ditation that Steiner gave to those working in this field is a<br />

tool to practice this inner gesture: to see the whole global<br />

situation present within the meeting of two human beings,<br />

and to see the significance of what happens in that meeting<br />

for the whole of humanity. The point is the circle; the<br />

circle is the point. The situations of children in the 21st<br />

century bring us face-to-face with the existential question<br />

of humanity. When we can inwardly hold together the widest<br />

possible view of global developments with the individual<br />

developmental path right in front of us, then that<br />

perspective opens up, in which we can find the present<br />

and future tasks for our work together.<br />

Jan Christopher Göschel holds a PhD<br />

in special education and rehabilitation<br />

sciences from the faculty of<br />

Human Sciences of the University<br />

from Cologne. He is a member of the<br />

director team of the Camphill Special<br />

School near Philadelphia (Pennsylvania)<br />

and in charge of the Training<br />

Network of Camphill communities in<br />

North America.<br />

References<br />

1) United Nations Children’s Fund (<strong>2016</strong>). The State of the<br />

World’s Children <strong>2016</strong>: A fair chance for every child. New<br />

York, NY: UNICEF.<br />

2) All quotes are from the summary of the UNICEF report at<br />

http://www.unicef.org/sowc<strong>2016</strong><br />

3) See for example Gray, P. (2011). The Decline of Play and<br />

the Rise of Psychopathology in Children and Adolescents.<br />

American Journal of Play, 3(4); Retrieved from http://www.<br />

journalofplay.org/sites/www.journalofplay.org/files/pdfarticles/3-4-article-gray-decline-of-play.pdf<br />

4) All data from Centers for Disease Control and Prevention<br />

(CDC). Retrieved from http://www.cdc.gov/ncbddd/autism/<br />

data.html<br />

See Skotko, B.G. (2009). With new prenatal testing, will babies<br />

with Down syndrome slowly disappear? Archives of Disease in<br />

Childhood, 94(11), 823-6.<br />

5) See Acharya, K. (2011). Prenatal testing for intellectual disability:<br />

Misperceptions and reality with lessons from Down syndrome.<br />

Developmental Disabilities Research Review, 17(1), 27-31.<br />

6) Georgens, J.D. & Deinhardt, H.M. (1861). Die Heilpädagogik<br />

– Mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten.<br />

Leipzig: Fleischer. Available at http://150-jahreheilpaedagogik.univie.ac.at/literatur<br />

174


Die Dynamik von Punkt und Kreis als Grundlage von Bindungssicherheit<br />

Von Annette Pichler<br />

Eine Untersuchung der Polarität von Punkt und Kreis (Steiner<br />

1924) zeigt im Hinblick auf Ergebnisse der Bindungsforschung<br />

ein erweitertes konzeptionelles Verständnis<br />

von Bindungsdynamik und bietet zudem die Möglichkeit,<br />

Bindungsverhalten innerlich nachvollziehend zu erleben.<br />

Daraus ergeben sich konkrete Möglichkeiten der Selbstführung<br />

im Sinne des pädagogischen Gesetzes (Steiner 1924).<br />

Punkt und Kreis<br />

Der im Heilpädagogischen Kurs (Steiner 1924) dargestellte<br />

Punkt-Kreis-Gedanke ist ein zentrales Instrument<br />

der anthroposophischen Heilpädagogik (Schmalenbach<br />

2001). Der Ursprung dieses Gedankens lässt sich bereits<br />

in früheren Werken finden. So beschreibt Steiner menschliches<br />

Sein als Bewusstsein, das zwar im Leib zentriert<br />

lebt, jedoch durch seine seelische Antwort auf Erfahrungen<br />

in eine bewegte Korrespondenz zur Welt tritt und<br />

sich, insofern es zu einem Ort des Geistes wird, sogar unbegrenzt<br />

in den Umkreis erweitern kann (Steiner 1904).<br />

Diese Beziehung des Ich zur Welt zeigt sich auch in der<br />

Morphologie der menschlichen Gestalt. Im Kopf findet<br />

sich eine tendenziell kugelig-abgeschlossene Form mit<br />

dem Mittelpunkt der Kugel im Inneren; in diesem zwar<br />

durch die Sinnesorgane zur Welt geöffneten, jedoch verhältnismässig<br />

geschützten Raum findet die Aktivität der<br />

Wahrnehmungsverarbeitung statt. Der Brustbereich stellt<br />

sich als eine nach hinten abgeschlossene, nach vorne offene<br />

«Mondenform», als «Kugelfragment» (Steiner 1919,<br />

S. 146) dar, wobei der Mittelpunkt der Kugel im Raum vor<br />

der Brust liegt; hier entsteht das Wechselspiel zwischen<br />

Wahrgenommenem und seelischer Reaktion. In den Gliedmassen<br />

öffnet sich die Gestalt schliesslich ganz zur Welt,<br />

Steiner bezeichnet sie daher als «Radien einer Kugel»<br />

(Steiner 1919, S. 147), deren Zentrum potenziell überall<br />

dort im Raum entsteht, wohin die Bewegung der Gliedmassen<br />

intendiert. Da wir uns mit unseren Gliedmassen<br />

jederzeit in jede Richtung wenden und dadurch zu den<br />

Handlungen anderer Menschen in Beziehung setzen können,<br />

entsteht hier eine quasi unendliche Kugelfläche.<br />

Vor diesem Hintergrund beschreibt Steiner im dritten,<br />

vierten und fünften Vortrag des Heilpädagogischen<br />

Kurses die Situation der ihm vorgestellten Kinder. Die<br />

beschriebenen Phänomene wurden später als «Polaritäten»<br />

bekannt (Holtzapfel 1990; Niemeijer, Gastkemper<br />

& Kamps 2011). Im dritten und vierten Vortrag beschreibt<br />

Steiner, dass Ich und Astralleib den physischätherischen<br />

Leib (Punkt) ergreifen, sich diesem jedoch<br />

nicht unterwerfen, sondern ihn, im Gegenteil, «ausschalten»<br />

(Steiner 1924, S. 36) und sich in unmittelbare<br />

Beziehung zu den Kräften der Aussenwelt (Kreis) stellen.<br />

Dieses schwingende Verhältnis zwischen Punkt und<br />

Kreis kann aus dem Lot geraten: Während es bei Epilepsie<br />

oder «geschlossen-gestauter Konstitution» (Niemeijer<br />

et al. 2011) zu Verdichtung, Verkrampfung von Ich<br />

und Astralleib in einem Punkt im Körper kommt, verlieren<br />

sich Ich und Astralleib bei «Hysterie» (Steiner 1924,<br />

S. 56) oder «offen-ausfliessender Konstitution» (Niemeijer<br />

et al. 2011) im Umkreis.<br />

Noch deutlicher erscheint der Punkt-Kreis-Gedanke dann<br />

im fünften Vortrag auf der siebten Tafelzeichnung in den<br />

polaren Grundgesten von Reflexion und Intentionalität: Der<br />

Kopf zentriert Wahrnehmungen, während die Gliedmassen<br />

Handlungen im Umkreis gestalten. Im Kopf integriert<br />

das Ich Wahrnehmungen und versucht, seine biografische<br />

Identität zu erfassen. Durch die Gliedmassen versucht das<br />

Ich entsprechend seiner Wahrnehmungen, Gedanken und<br />

Absichten in der Umwelt zu handeln. Das vermittelnde Element<br />

zwischen diesen Polen ist das Fühlen.<br />

Im zehnten Vortrag schliesslich entwickelt Steiner die<br />

Punkt-Umkreis-Übung als Meditation: «… dass Sie sich<br />

am Abend einleben in das Bewusstsein: In mir ist Gott, in<br />

mir ist Gott, oder der Gottesgeist, oder was immer … und<br />

am Morgen so, dass das hineinstrahlt in den ganzen Tag:<br />

Ich bin in Gott … Das ist eines und dasselbe, die obere<br />

und untere Figur (siehe Tafel 12). Und Sie müssen einfach<br />

verstehen: das ist ein Kreis, das ist ein Punkt. Es kommt<br />

nur abends nicht heraus, es kommt nur morgens heraus.<br />

Morgens müssen Sie denken: das ist ein Kreis, das ist ein<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

175


Beiträge | Contributions<br />

Punkt. Sie müssen verstehen, dass ein Kreis ein Punkt,<br />

ein Punkt ein Kreis ist.» (Steiner 1924, S. 147). Umgeben<br />

vom Kreis meines Seins kann ich im Punkt das Göttliche<br />

in mir aufnehmen, ausgehend vom Punkt meines Seins<br />

werde ich vom Göttlichen im Kreis aufgenommen. Wenn<br />

ich davon ausgehe, dass in jedem Menschen das Göttliche<br />

wohnt, dann ist dies ist auch ein sozialer Prozess: Ich<br />

komme sowohl im Punkt als auch im Kreis mit dem geistigen<br />

Prinzip im Du in Berührung. Indem ich sage «Gott ist<br />

in mir», nehme ich zugleich wahr, dass das Göttliche im<br />

Du lebt. Das Ich des Anderen bleibt zwar ein Rätsel, ein<br />

Fremdes – aber wir können uns durch den Ich-Sinn (Steiner<br />

1919, S. 124 ff.) der Wirklichkeit des anderen nähern.<br />

Zugleich werden wir durch den Ich-Sinn der anderen vom<br />

Umkreis wahrgenommen: «Ich bin in Gott.» Punkt und<br />

Kreis sind daher nur zwei Varianten einer schwingenden<br />

Bewegung: «Sie müssen verstehen, dass ein Kreis ein<br />

Punkt, ein Punkt ein Kreis ist.»<br />

Steiner beschreibt mit dem Punkt-Kreis-Gedanken Grundphänomene<br />

seelisch-geistiger Bewegung; diese wurden,<br />

wenngleich vor anderem Hintergrund, ähnlich von<br />

Fritz Riemann (2007) in seinem Werk «Grundformen der<br />

Angst» beschrieben. Auch bei traumatischer Belastung<br />

lassen sich Tendenzen zu Punkt (Vermeidung, Erstarrung)<br />

und Kreis (Panikattacken, Dissoziation) erkennen. Da es<br />

vielfältige Bezüge zwischen Angst, Trauma und Bindung<br />

gibt, lohnt sich eine Untersuchung des Punkt-Kreis-Gedankens<br />

im Hinblick auf die Ergebnisse der Bindungsforschung.<br />

Es zeigt sich, dass der Punkt-Kreis-Gedanke ein<br />

erweitertes konzeptionelles Verständnis von Bindungsdynamik<br />

erlaubt und die Möglichkeit bietet, Bindungsverhalten<br />

innerlich nachvollziehend zu erleben.<br />

Bindungsforschung<br />

John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, stellte<br />

die Hypothese auf, dass jedes Kind mit einem biologisch<br />

angelegten Bindungsverhaltenssystem geboren<br />

wird, welches bei Angst oder Schmerzen aktiviert wird,<br />

durch Bindungssignale emotionale Nähe zur Bezugsperson<br />

herstellt und so das Überleben sichert (Bowlby<br />

1958, 1973). Wird das Bindungsverhaltenssystem durch<br />

feinfühlige und zuverlässige Reaktion der Bezugsperson<br />

reguliert, kann das Kind von dieser «sicheren Basis» aus<br />

die Welt erkunden (Ainsworth & Bell 1970). Findet diese<br />

Regulation nicht statt, ist auch die Explorationsfähigkeit<br />

eingeschränkt. Das Bindungsverhaltenssystem steht<br />

also in wechselseitiger Abhängigkeit zum Explorationsverhaltenssystem<br />

(Waters, Bretherton & Vaughn 2015).<br />

Auch im Jugend- und Erwachsenenalter wird das Bindungsverhaltenssystem<br />

in verunsichernden Situationen<br />

aktiviert (Mikulincer & Shaver 2010).<br />

Bowlbys Mitarbeiterin Mary Ainsworth beobachtete mit<br />

einer standardisierten Untersuchungsmethode Bindungsund<br />

Explorationsverhalten von Kindern zwischen 12 und<br />

18 Monaten 1 in Anwesenheit der Bezugsperson sowie bei<br />

Trennung und Rückkehr (Ainsworth & Bell 1970). Sie identifizierte<br />

zunächst drei Bindungsmuster mit diversen Subtypen<br />

(Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 2015):<br />

• Unsicher-vermeidende Kinder (A) zeigen tendenziell<br />

wenig oder keine Reaktion bei Trennung von<br />

der Bezugsperson und meiden sie bei deren Rückkehr.<br />

Sie spielen oft scheinbar zufrieden, ihr Explorationsverhalten<br />

ist jedoch eingeschränkt und physiologische<br />

Messungen zeigen, dass sie unter Stress stehen<br />

(Spangler & Schieche 1998, in Brisch 2004, S. 31).<br />

• Sicher gebundene Kinder (B) zeigen leichte Unruhe<br />

oder weinen, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt.<br />

Sie suchen bei der Rückkehr Trost und Nähe und<br />

können dann wieder mit hoher Qualität explorieren.<br />

• Unsicher-ambivalente oder unsicher-verstrickte<br />

Kinder (C) sind sehr ängstlich, wenn die Bezugsperson<br />

den Raum verlässt. Bei der Rückkehr lassen sie sich<br />

nur schwer beruhigen und zeigen Wut und Widerstand<br />

bei gleichzeitigem Kontaktbedürfnis. Ihre Explorationsversuche<br />

sind durch ständige Rückversicherungen zur<br />

Bezugsperson eingeschränkt, ohne dass sie von dieser<br />

die nötige Sicherheit bekämen.<br />

• Die erst später identifizierten unsicher-desorganisierten<br />

Kinder (D) zeigen abgebrochene Annäherungen,<br />

Stereotypien, ängstliches Verhalten gegenüber<br />

der Bezugsperson sowie eingefrorene Bewegungen (Lyons-Ruth<br />

& Jacobvitz <strong>2016</strong>).<br />

Die Bindungsforschung hat Feinfühligkeit – die Fähigkeit<br />

der Bezugsperson, auf Gefühlsäusserungen und Bedürfnisse<br />

des Kindes angemessen, zuverlässig und prompt<br />

zu reagieren – als zentralen ätiologischen Faktor für Bindungsmuster<br />

nachgewiesen. Obwohl noch Forschungsbedarf<br />

besteht, z.B. im Hinblick auf die Interaktion zwischen<br />

kindlicher Reizbarkeit und Feinfühligkeit der Bezugsperson<br />

(Vaughn & Bost <strong>2016</strong>), lässt sich sagen: Feinfühlige, zuverlässige<br />

und prompte Reaktion der Bezugsperson geht sehr<br />

häufig mit Typ B (sicher) einher, während Typ A (vermeidende)<br />

Kinder häufig Bezugspersonen haben, die wenig oder<br />

kaum auf sie reagieren. Widersprüchliches Verhalten der<br />

Bezugsperson führt häufig zu Typ C (ambivalent). Ursa-<br />

176


Beiträge | Contributions<br />

chen für Typ D (desorganisiert) sind Misshandlungen, aber<br />

auch anderes beängstigendes Verhalten, z.B. aufgrund von<br />

Flashbacks selbst traumatisierter Eltern (Lyons-Ruth & Jacobvitz<br />

<strong>2016</strong>). Daraus lässt sich schliessen, dass Kinder in<br />

Abhängigkeit von dem Verhalten der jeweiligen Bezugspersonen<br />

unterschiedliche Bindungsmuster entwickeln (Lyons-Ruth<br />

& Jacobvitz <strong>2016</strong>). Kinder binden sich aufgrund<br />

der überlebenssichernden Funktion des Bindungsverhaltenssystems<br />

immer an ihre Bezugspersonen – auch wenn<br />

deren Verhalten bedrohlich, verwirrend oder beängstigend<br />

ist. Im Extremfall kommt es zu Bindungsstörungen im Kindesalter.<br />

Aber auch viele erst später auftretende Verhaltensauffälligkeiten<br />

und psychische Störungen stehen in<br />

Zusammenhang mit Bindungserfahrungen (Brisch 2002,<br />

2013; Holmes, 2012) und unsichere Bindungsmuster korrelieren<br />

mit Gesundheitsproblemen im Erwachsenenalter<br />

(Vaughn & Bost <strong>2016</strong>). Sichere Bindungsmuster hingegen<br />

gelten als Schutzfaktor für die Entwicklung über die<br />

Lebensspanne (Brisch 2004). In der Kindheit erworbene<br />

Bindungsmuster sind stabil, wenn sie nicht durch später<br />

gemachte positive oder negative Erfahrungen beeinflusst<br />

werden; dabei können sich sowohl sichere Muster zu unsicheren<br />

verändern als auch umgekehrt (Grossmann &<br />

Grossmann 2012).<br />

Fühlen lernen durch Affektspiegelung<br />

Eine besondere Rolle spielt der Umgang der Bezugsperson<br />

mit den Gefühlsäusserungen des Kindes, da dieses<br />

nur geringe gefühlsregulierende Kompetenzen hat.<br />

Bereits in den 1960er Jahren wurde die Bedeutung des<br />

«Spiegelns» für die emotionale Entwicklung entdeckt<br />

(Winnicott 2008). Seit den 1990er Jahren konnte ein britisches<br />

Forscherteam zeigen, dass Eltern kindliche Gefühle<br />

durch Mimik, Stimmlage und Gestik «markieren»,<br />

d.h. sie leicht übertrieben – bei bedrohlichen Gefühlen<br />

auch abgeschwächt – wiedergeben. So erlebt das Kind<br />

seine Gefühle als real und ihm selbst zugehörig. Es lernt,<br />

zwischen sich selbst und anderen zu unterscheiden. Zugleich<br />

werden Gefühle reguliert und für das Kind bewältigbar.<br />

Weiterhin benennt die Bezugsperson durch das<br />

Eingehen auf die Gefühlsausdrücke des Kindes innere<br />

Zustände: Gefühle, Wünsche, später auch Absichten und<br />

Überzeugungen. Dies ist Grundlage für das «Mentalisieren»:<br />

Verhalten als Ausdruck von inneren Zuständen zu<br />

interpretieren, dabei eigene innere Zustände von denen<br />

anderer zu unterscheiden sowie Gefühle und Aussenwelt<br />

zu trennen (Fonagy, Gergely, Jurist & Target 2010).<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Diese wichtigen Entwicklungsschritte in der frühen Kindheit<br />

können durch ungenügendes oder unpassendes Affektspiegeln<br />

der Bezugsperson beeinträchtigt werden,<br />

z.B. wenn sie die Gefühle des Kindes ignoriert, sich von<br />

seinen Gefühlen überwältigen lässt oder zu sehr ihre eigenen<br />

Gefühle wiedergibt, statt die des Kindes zu markieren.<br />

Betroffene haben es dann schwer, ihre Gefühle<br />

von denen anderer zu unterscheiden. Diese Einschränkungen<br />

in Subjekt-Objekt-Differenzierung und Mentalisierungsfähigkeit<br />

begünstigen schwere psychische<br />

Störungen, insbesondere Borderline (Fonagy et al. 2010).<br />

Bindung vor dem Hintergrund von «Sympathie»<br />

und «Antipathie»<br />

Fraley & Spieker (2003) konnten zeigen, dass – trotz der<br />

letztlich von Ainsworth gewählten typologischen Darstellung<br />

– Bindungsverhalten wahrscheinlich eher als<br />

Kontinuum zu sehen ist; dafür spricht auch, dass mehrere<br />

Subtypen existieren, die jeweils Mischformen aus<br />

benachbarten Typen darstellen (Kissgen 2008). Die von<br />

Fraley & Spieker ermittelten Dimensionen sind Nähe suchen<br />

vs. Nähe vermeiden und Ärger/Widerstand zeigen<br />

vs. Ärger/Widerstand nicht zeigen. Im Folgenden beschränke<br />

ich mich auf erstere und stelle die Hypothese<br />

auf, dass sich die von Ainsworth entdeckten Bindungsverhaltensmodi<br />

in Beziehung zu der von Rudolf Steiner<br />

beschriebenen polaren Dynamik zwischen Sympathie<br />

und Antipathie (Steiner 1919) setzen lassen. (Tab. 1)<br />

Tab. 1<br />

Antipathie:<br />

Vorstellen<br />

Kopf, abschliessend<br />

Ich: zentrierend<br />

Fühlen<br />

Herz, ausgleichend<br />

Ich: vermittelnd<br />

Sympathie:<br />

Wollen<br />

Gliedmassen: öffnend<br />

Ich: peripher<br />

Nähe vermeiden Flexible Nähe Abhängige Nähe<br />

Bindung:<br />

unsicher-vermeidend (A)<br />

Bindung:<br />

sicher (B)<br />

Bindung:<br />

unsicher-verstrickt (C)<br />

Das Schwingen zwischen Sympathie und Antipathie<br />

sieht Steiner als Voraussetzung für den «Ich-Sinn» zur<br />

Wahrnehmung des Gegenübers als Individualität (Steiner<br />

1919). Ich gehe davon aus, dass Menschen mit unsicherem<br />

Bindungsverhalten in dieser Fähigkeit zunächst<br />

eingeschränkt sind, weil sie aufgrund des erlebten Mangels<br />

an Responsivität seitens ihrer Bezugspersonen sowohl<br />

zu sich selbst als auch zum Gegenüber ein wenig<br />

flexibles Verhältnis haben. Menschen mit vermeidendem<br />

Bindungsverhalten (A) beziehen sich demnach in<br />

einer antipathischen, einseitig mehr abschliessenden<br />

177


Beiträge | Contributions<br />

Geste eher auf Erfahrungen der Vergangenheit: Sie öffnen<br />

sich kaum oder gar nicht für neue Erfahrungen in<br />

Exploration und Bindung. Menschen mit ambivalentem<br />

Bindungsverhalten (C) sind hingegen in einer sympathischen,<br />

schutzlos offenen Geste mit ihren Bindungspersonen<br />

verstrickt: Sie leben eher in der Zukunft, im Warten<br />

auf eine Reaktion der Bindungsperson bzw. Angst vor<br />

möglicher Trennung, sie verlieren sich an den anderen.<br />

Menschen mit sicherem Bindungsverhalten (B) sind in<br />

der Lage, zwischen diesen beiden Polen immer wieder<br />

eine gute Balance zu erreichen und haben die Fähigkeit,<br />

einen inneren, gehaltenen Gefühlsraum zu bilden. Weiter<br />

unten werde ich zeigen, dass die Punkt-Umkreis-Meditation<br />

eine Möglichkeit darstellt, diesen Gefühlsraum<br />

zu entwickeln.<br />

Je sicherer also eine Person zu sich selbst in Beziehung<br />

steht, desto besser kann sie sich auch auf die Beziehung<br />

zum Gegenüber einlassen. Der so gebildete «sichere<br />

Hafen» (Ainsworth et al. 2015) ist nicht nur für Säuglinge<br />

und Kleinkinder von Bedeutung, sondern für jeden Menschen<br />

in verunsichernden Situationen. Da Behinderung<br />

das Risiko für eine Traumatisierung erheblich erhöht<br />

(Senckel 2008), gilt dies besonders für Kinder, Jugendliche<br />

und Erwachsene mit einer Behinderung.<br />

Bindungsbewusste professionelle Beziehungsgestaltung<br />

Wie oben erwähnt, wird Bindungsverhalten häufig von<br />

Bezugspersonen übertragen; statistisch gesehen zeigen<br />

ca. 40% einer Erwachsenenpopulation unsicheres<br />

Bindungsverhalten (van Ijzendoorn & Bakermans-Kranenburg<br />

2009), mit eventuell zunehmender Tendenz<br />

(Konrath, Chopik, Hsing & O’Brien 2014). Für gefährdete<br />

Familien wurden Interventionen entwickelt, um elterliche<br />

Feinfühligkeit zu trainieren (Brisch 2010). Zwar muss zwischen<br />

Bindung im familiären Umfeld und im professionellen<br />

Kontext unterschieden werden (Weber-Boch 2011),<br />

jedoch haben Fachkräfte in der sozialen Arbeit einen<br />

erheblichen Einfluss auf die Bindungssicherheit ihrer<br />

KlientInnen. Insbesondere wenn Angehörige nicht als Bindungsperson<br />

zur Verfügung stehen, entstehen auf Fachkräfte<br />

gerichtete Bindungserwartungen. Fachkräfte halten<br />

KlientInnen unter Umständen in künstlicher Hilflosigkeit,<br />

um durch ihre «Hilfe» die Erfüllung verdrängter eigener<br />

Bedürfnisse symbolisch auszuagieren (Schmidbauer<br />

1977). Es ist zu vermuten, dass dabei auch unerfüllte Bindungsbedürfnisse<br />

eine Rolle spielen können. Ähnliche<br />

Phänomene werden im psychotherapeutischen Kontext<br />

beschrieben (Schmidt-Lellek 2002). Daher ist es sinnvoll,<br />

für die Ausbildung von Fachkräften Instrumente zur Reflexion<br />

der eigenen Bindungsdynamik zu entwickeln.<br />

Die Punkt-Kreis-Meditation: Instrument zur Selbstreflexion<br />

und Entwicklung von Bindungssicherheit<br />

Die Punkt-Kreis-Meditation nimmt in diesem Zusammenhang<br />

eine besondere Stellung ein. Zunächst erweitert der<br />

Punkt-Kreis-Gedanke das Verständnis von Bindung um<br />

eine spirituelle Perspektive: Als originär geistige, jedoch<br />

punktuell inkarnierte Wesen brauchen wir auch deswegen<br />

andere Menschen, weil die Begegnung mit dem<br />

Gegenüber die Rückbindung an die kosmische Sphäre<br />

herstellt. Weiterhin entwickelt die Meditation bildhaft<br />

einen schwingenden Gefühlsraum und sie befähigt dazu,<br />

sich auf den kindlichen Modus, in welchem Bindungsverhalten<br />

ursprünglich entstanden ist, einzustimmen.<br />

Die Punkt-Kreis-Meditation als Bild öffnet uns einen<br />

konkreten Zugang zum inneren Erleben der oben beschriebenen<br />

Bindungsverhaltensmuster. Ich vermute,<br />

dass Menschen mit Bindungsverhaltensmuster A oder<br />

C es unter Umständen schwerer haben, die Schwingung<br />

zwischen den Polaritäten Punkt und Kreis zu vollziehen.<br />

Dass sie dabei sowohl dem Punkt als auch dem Kreis verhaftet<br />

sind, lässt sich an einer näheren Betrachtung der<br />

beiden Punkt-Umkreis Bilder zeigen (Abb. 1 und 2):<br />

Abb. 1<br />

«Gott ist in mir»: Menschen mit unsicher-verstricktem Bindungsverhalten<br />

(C) bleiben immer in der Nähe des Du,<br />

weil sie unsicher sind, wann sie von diesem wahrgenommen<br />

werden. Sie sind, im Bild der Punkt-Kreis-Meditation,<br />

in Bezug auf das Du im Punkt fixiert. Demgegenüber<br />

vermeiden Menschen mit unsicher-vermeidendem Bindungsverhalten<br />

(A) die Beziehung zum Du, weil sie gelernt<br />

haben, dass von diesem keine Reaktion zu erwarten ist.<br />

178


Beiträge | Contributions<br />

Sie bleiben, im Bild der Punkt-Kreis-Meditation und in<br />

Bezug auf das Du in der Distanz des Kreises. (Abb. 1)<br />

«Ich bin in Gott»: Mit der Metamorphose des Punktes<br />

zum Kreis nehmen Menschen mit unsicherem Bindungsverhalten<br />

zwar scheinbar die polare Position ein, jedoch<br />

wiederum ohne Schwingungsfähigkeit. Menschen mit<br />

unsicher-verstricktem Bindungsverhalten (C) verlieren<br />

im Kreis den Kontakt mit sich selbst, und Menschen mit<br />

unsicher-vermeidendem Bindungsverhalten (A) sind im<br />

Punkt auf sich selbst zentriert (Abb. 2).<br />

Indem das Ich erlebt, dass der Punkt ein Kreis und der<br />

Kreis ein Punkt ist, entwickelt es die Schwingungsfähigkeit<br />

zwischen Antipathie und Sympathie, d.h. seiner<br />

astralischen Strukturen. Dass dies konkret regulierend<br />

auf die eigene Bindungssicherheit sowie – im Sinne<br />

des pädagogischen Gesetzes – auf ätherische Strukturen<br />

der Menschen in der Umgebung wirken kann, bleibt<br />

zunächst hypothetisch, ist vor dem Hintergrund der Bindungsforschung<br />

jedoch einleuchtend. Abschliessend<br />

lässt sich daher die Hypothese formulieren, dass die<br />

Punkt-Kreis-Meditation eine Entwicklung von Bindungssicherheit<br />

sowohl der sie Ausführenden als auch der<br />

Menschen im psychosozialen Umkreis bewirken kann<br />

und erschliesst somit eine spannende Forschungsfrage.<br />

Annette Pichler, geb. 1969 in Tübingen,<br />

ist Heilerziehungspflegerin und<br />

Psychologin (MSc). Sie war langjährig<br />

hausverantwortlich in einer anthroposophischen<br />

Dorfgemeinschaft tätig und<br />

leitet seit 2010 das Rudolf-Steiner-Seminar<br />

Bad Boll.<br />

Abb. 2<br />

In beiden Fällen fehlen sowohl die Sicherheit im Erleben<br />

des eigenen Ich als auch die echte Du-Wahrnehmung –<br />

beides abhängig von der Schwingungsfähigkeit zwischen<br />

Punkt und Kreis. Menschen mit sicherem Bindungsverhalten<br />

(B) hingegen wären demnach in der Lage, ihr<br />

Beziehungsverhalten zwischen Punkt und Umkreis lebendig<br />

zu gestalten. Sie sind weder verloren an den<br />

Umkreis, noch gefangen im Punkt, sondern können zwischen<br />

beiden changieren. Indem sie den Punkt in sich<br />

und den Kreis um sich tragen, sind sie sowohl bei sich<br />

als auch beim Anderen.<br />

Es ist unschwer nachzuvollziehen, dass die gefühlsregulierende<br />

Funktion des Spiegelns von Gefühlen auf genau<br />

dieser Fähigkeit beruht: Zwischen dem Erleben des eigenen<br />

Ich und des Du zu differenzieren und dabei zugleich<br />

in respondierenden Kontakt zu gehen, schwingend zwischen<br />

Punkt und Kreis. Rudolf Steiner beschreibt diese<br />

Fähigkeit, zugleich bei sich und beim Gegenüber zu sein,<br />

als «wirksames Trösten» (Steiner 1924, S. 64).<br />

Die Punkt-Kreis-Meditation stellt also im Hinblick auf<br />

das im zweiten Vortrag des Heilpädagogischen Kurses<br />

beschriebene pädagogische Gesetz (Steiner 1924, S.<br />

23) eine konkrete Möglichkeit zur Seelenhygiene dar.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Anmerkungen<br />

1) Für ältere Kinder und Erwachsene gibt es ebenfalls diagnostische<br />

Instrumente.<br />

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The point-circle dynamic as the<br />

foundation of secure attachments<br />

By Annette Pichler<br />

Investigation of the polarity of point and circle (Steiner<br />

1924) in conjunction with the findings of attachment<br />

research provides the possibility to develop an<br />

extended concept of the dynamics of attachment and,<br />

beyond that, the possibility to attain a deeper understanding<br />

of attachment behaviour. And this, in turn,<br />

can open up ways of developing self-direction in the<br />

sense of the pedagogical law (Steiner 1924).<br />

Point and circle<br />

The point and circle concept as introduced in ‹Education<br />

for Special Needs› (Steiner 1924) is a tool central<br />

to anthroposophical curative education (Schmalenbach<br />

2001). Steiner had already begun to develop this<br />

thought in earlier works, for instance when he described<br />

how the human individuality is centred in the<br />

human body but enters at the same time into a living<br />

dialogue with the world as it responds emotionally to<br />

experiences and expands limitlessly by embracing the<br />

spiritual dimension (Steiner 1904). This relationship<br />

of the ‹I› with the world also manifests in the human<br />

form. The head is a spherical, enclosed form with an<br />

inner centre that is open to the world through the<br />

sense organs and yet relatively protected. This is where<br />

our perceptions are being processed. The chest is like a<br />

‹crescent moon›, closed at the back but open towards<br />

the front – a ‹spherical fragment› (Steiner 1919, p.<br />

146) whose centre lies in front of the thorax. This is<br />

where our perceptions interact with our inner responses.<br />

With our limbs we open ourselves totally to the<br />

world. Steiner therefore described the limbs as ‹radii›<br />

(Steiner 1919, p. 147). They can potentially form a centre<br />

anywhere where their movement is being directed.<br />

Because we can turn with our limbs in any direction at<br />

any time, relating to the actions of others, an infinite<br />

spherical area is being created.<br />

It was against this background that Steiner described,<br />

in lectures 3, 4 and 5 of Education for Special Needs,<br />

the situation of the children who were presented to<br />

him. The phenomena he outlined became later known<br />

as ‹polarities› (Holtzapfel 1990; Niemeijer, Gastkemper<br />

& Kamps 2011). In lectures 3 and 4 Steiner explained<br />

how ‹I› and astral body take hold of the physical/etheric<br />

body (point). They don’t become subordinate to it,<br />

however, but ‹eliminate› it (Steiner 1924, p. 36), relating<br />

directly to the forces of the outside world (circle).<br />

This oscillating between circle and point, or periphery<br />

and centre, can get out of balance: in the case of<br />

epilepsy, or of the ‹closed-off/congested constitution›<br />

(Niemeijer et al. 2011), we see a tendency towards<br />

condensation and spasms of ‹I› and astral body in<br />

one point of the body. In the case of ‹hysteria› (Steiner<br />

1924, p. 56), or the open/overflowing constitution<br />

(Niemeijer et al. 2011), ‹I› and astral body lose themselves<br />

in the periphery.<br />

The point-circle concept comes up even more clearly<br />

in lecture 5, on the seventh blackboard drawing, where<br />

the opposite basic gestures of reflection and intentionality<br />

are illustrated: the head centres the perceptions<br />

while the limbs perform actions in the periphery. In the<br />

head, the ‹I› integrates perceptions and tries to grasp<br />

its biographical identity. Through the limbs, the ‹I› tries<br />

to act out its perceptions, thoughts and intentions in<br />

the surrounding world. Between these two poles lies<br />

our feeling as the mediating element. It is in lecture 10<br />

that Steiner finally formulates the point-circle exercise<br />

as a meditation, ‹… in the evening you enter into<br />

the experience of ‘God is in me – God is in me, or the<br />

divine spirit is in me, or something of the kind … and<br />

in the morning, so that this thought lights up through<br />

your entire day, ‘I am in God’. … They are the same –<br />

the upper and the lower figure (see plate 12). You just<br />

need to understand that this is a circle and this is a<br />

point. It simply is not apparent in the evening, only in<br />

the morning. In the morning you must think ‘this is a<br />

circle, this is a point’. You have to understand that a<br />

circle is a point and a point a circle.› (Steiner 1924, p.<br />

147). Enveloped by the circle of my being I can absorb<br />

the divine in the point; starting from the point of my<br />

being I am absorbed by the divine into the circle. If we<br />

assume that God dwells in each human being, this is<br />

also a social process: in the point and in the circle I<br />

encounter the spirit in the You. In telling myself that<br />

‹God is in me› I realize that the divine lives in the You.<br />

The ‹I› of the other remains an enigma, remains alien<br />

to me – but with the help of my sense of self I can<br />

come closer to the reality of the other person (Steiner<br />

1919, p. 124ff.). At the same time we are being perceived<br />

from the periphery by the sense of self of others:<br />

‹I am in God›. Point and circle are therefore merely two<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

181


Beiträge | Contributions<br />

versions of the same oscillating movement. ‹You must<br />

understand that a circle is a point and a point a circle.›<br />

Steiner’s point-circle concept describes basic spirit-soul<br />

phenomena; Fritz Riemann (2007) described these phenomena<br />

in a similar way – albeit in a different context<br />

– in his book on anxiety. Looking at traumatic stress<br />

disorder we see the same tendencies towards the point<br />

(avoidance, rigidity) and the circle (panic attacks, dissociation).<br />

Because there are many parallels between fear,<br />

trauma and attachment it seems worthwhile examining<br />

the point-circle concept in connection with the<br />

findings of attachment research. It turns out that the<br />

point-circle concept can provide an extended concept<br />

of the dynamics of attachment and the possibility to<br />

attain a more profound understanding of attachment<br />

behaviours.<br />

Attachment research<br />

John Bowlby, the author of attachment theory, hypothesized<br />

that children have an innate attachment<br />

behavioural system, which is activated when they experience<br />

fear or pain; it creates emotional proximity to<br />

the caregiver through attachment signals and thereby<br />

helps to guarantee survival (Bowlby 1958, 1973). If the<br />

attachment behavioural system is regulated by sensitive<br />

and reliable responses from the attachment figure,<br />

the child is able to explore the world from this ‹secure<br />

base› (Ainsworth & Bell 1970). If this regulation is missing<br />

the child’s ability to explore will be restricted. The<br />

attachment behavioural system and the exploration<br />

behavioural system are therefore mutually dependent.<br />

(Waters, Bretherton & Vaughn 2015). The attachment<br />

behavioural system is also activated in adolescents<br />

and adults when they experience distressing situations.<br />

(Mikulincer & Shaver 2010).<br />

Bowlby’s colleague Mary Ainsworth used a standardized<br />

method for observing the attachment and exploration<br />

behaviours of children between the ages of 12 and 18<br />

months 1 when their attachment figure was present, absent<br />

and after their return (Ainsworth & Bell 1970). She<br />

initially identified three attachment patterns with various<br />

subtypes (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 2015):<br />

• Children with insecure-avoidant behaviour patterns<br />

(A) tend to respond hardly or not at all to being<br />

separated from their caregiver and avoid their caregiver<br />

upon their reunion. They often appear to be<br />

playing happily, but their exploration behaviour is<br />

restricted and physiological monitoring shows that<br />

they are actually under stress (Spangler & Schieche<br />

1998, in Brisch 2004, p. 31).<br />

• Securely attached children (B) are slightly restless<br />

or cry when their caregiver leaves the room.<br />

When she returns they seek comfort and proximity<br />

and are then able again to explore extensively.<br />

• Children with insecure-ambivalent or insecurepreoccupied<br />

behaviour patterns (C) display great<br />

anxiety when the caregiver departs. Upon their reunion<br />

with the caregiver these children are difficult<br />

to calm down and show anger and resistance whilst<br />

clearly seeking contact at the same time. Their exploration<br />

is constantly restricted because they seek<br />

reassurance from their caregiver, even if the caregiver<br />

does not convey the desired sense of security.<br />

• Children with insecure-disorganized behaviour<br />

patterns (D), a type that was only identified later,<br />

display disrupted attempts at seeking proximity,<br />

stereotypies and anxious behaviours towards their<br />

attachment figure as well as frozen movements (Lyons-Ruth<br />

& Jacobvitz <strong>2016</strong>).<br />

Attachment research has shown sensitivity, i.e. the ability<br />

of the attachment figure to respond appropriately,<br />

reliably and promptly to the child’s needs, to be a central<br />

etiological factor in the development of attachment<br />

patterns. Although more research is needed, for<br />

instance into the connection between child irritability<br />

and the sensitivity of the attachment figure (Vaughn &<br />

Bost <strong>2016</strong>), it can be concluded that sensitive, reliable<br />

and prompt responses on the part of the attachment<br />

figure often correlate with type B (secure), while type<br />

A (avoidant) children often have attachment figures<br />

who hardly respond to them. Attachment figures displaying<br />

contradictory behaviours often result in type<br />

C (ambivalent) attachments. Type D (disorganized)<br />

children have often been abused or have experienced<br />

other threatening behaviours such as flashbacks in<br />

their parents who have themselves been traumatized.<br />

(Lyons-Ruth & Jacobvitz <strong>2016</strong>). This shows that children<br />

develop different attachment patterns depending<br />

on the behaviours of their attachment figures (Lyons-<br />

Ruth & Jacobvitz <strong>2016</strong>). Because the attachment behavioural<br />

system has the function of securing survival,<br />

children always attach themselves to their caregivers<br />

even if these behave in a threatening, confusing or<br />

frightening manner. In extreme cases children develop<br />

attachment disorders. Yet even behavioural or psychological<br />

disorders which only manifest in later life are<br />

182


Beiträge | Contributions<br />

linked to attachment experiences (Brisch 2002, 2013;<br />

Holmes, 2012) and insecure attachment patterns often<br />

correlate with adult health problems (Vaughn & Bost<br />

<strong>2016</strong>). Secure attachment patterns, on the other hand,<br />

are seen as a factor that provides lifelong protection<br />

(Brisch 2004). Attachment patterns acquired in childhood<br />

prevail if they are not changed by later positive<br />

or negative experiences – such experiences can<br />

change secure into insecure patterns and vice versa<br />

(Grossmann & Grossmann 2012).<br />

Learning to feel through affect-mirroring<br />

How a caregiver deals with a child’s emotional expressions<br />

is particularly important because children are<br />

not really able to regulate emotions. The importance<br />

of ‹mirroring› for a child’s emotional development was<br />

discovered as early as the 1960s (Winnicott 2008).<br />

Since the 1990s a British team of researchers has been<br />

able to show that parents ‹mark› the infant’s emotional<br />

state in their face expressions, voice and gestures,<br />

in other words they imitate them in a slightly exaggerated<br />

– or, in the case of threatening emotions, in a<br />

subdued – way. This helps the child to experience that<br />

her feelings are real and that they belong to her. The<br />

child learns to differentiate between herself and others,<br />

while her emotions are regulated and become manageable<br />

for her. By responding to the child’s emotional<br />

expressions the caregiver also identifies diverse mental<br />

states such as feelings and desires, and later also intentions<br />

and beliefs. This is the foundation for mentalization,<br />

i.e. the ability to interpret behaviours as the<br />

expression of mental states whilst differentiating one’s<br />

own mental states from those of others and separating<br />

one’s feelings from the outside world (Fonagy, Gergely,<br />

Jurist & Target 2010).<br />

These important developmental stages of early childhood<br />

can be compromised by insufficient or inappropriate<br />

affect-mirroring by caregivers who ignore or<br />

feel overwhelmed by the child’s emotions, or who reflect<br />

their own emotions excessively instead of markedly<br />

reflecting those of the child. The child in question<br />

will have difficulties differentiating between her own<br />

emotions and those of others. Such restrictions to<br />

subject-object differentiation and to the ability to<br />

mentalize can cause severe mental disorders, BPD in<br />

particular (Fonagy et al. 2010).<br />

Attachment in relation to ‹sympathy› and<br />

‹antipathy›<br />

Fraley & Spieker (2003) demonstrated that – despite<br />

the typology ultimately chosen by Ainswaith – attachment<br />

behaviour should be seen as a continuum. Their<br />

view is supported by the fact that several of the subtypes<br />

constitute hybrid forms of adjacent types (Kissgen<br />

2008). The dimensions established by Fraley & Spieker<br />

are those of seeking proximity versus avoiding proximity<br />

and of displaying angry/resistant strategies versus<br />

not displaying them. I will restrict my deliberations<br />

to the former and hypothesize that the modes of attachment<br />

behaviour discovered by Ainsworth correlate<br />

with the polar dynamic between sympathy and antipathy<br />

described by Rudolf Steiner (Steiner 1919). (Tab. 1)<br />

Tab.1:<br />

Antipathy:<br />

Thinking<br />

Head, closing-off<br />

Ego: centring<br />

Feeling<br />

Heart, balancing<br />

Ego: mediating<br />

Sympathy:<br />

Willing<br />

Limbs, opening<br />

Ego: peripheric<br />

Avoidance of closeness Flexible closeness Dependent closeness<br />

Attachment:<br />

insecure-avoidant (A)<br />

Attachment:<br />

secure (B)<br />

Attachment:<br />

insecure -enmeshed (C)<br />

Rudolf Steiner holds that the swinging between sympathy<br />

and antipathy is necessary for our sense of ‹I›<br />

or self to perceive the individuality of others (Steiner<br />

1919). I propose that this faculty is initially limited in<br />

people with insecure attachment behaviour, because<br />

their relationship with themselves and with others is<br />

unstable as a result of their having experienced a lack<br />

of responsiveness in their attachment figures. Persons<br />

with avoidant attachment behaviour (A) therefore<br />

display an antipathetic and one-sidedly exclusive<br />

gesture, and tend to relate primarily to past experiences.<br />

They are rarely open to gaining new experiences<br />

through exploration and attachment. People with ambivalent<br />

attachment behaviour (C) on the other hand<br />

are preoccupied with their attachment figure in a gesture<br />

of sympathy and unprotected openness. They<br />

tend to live in the future, waiting for responses from<br />

their attachment figures or fearing a possible separation;<br />

they tend to lose themselves in the other person.<br />

People with secure attachment behaviour (B) can always<br />

establish a healthy balance between these two<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

183


Beiträge | Contributions<br />

poles and control their inner emotional space. I will<br />

show below that the point-circle meditation can help<br />

to create this emotional space.<br />

The more securely we relate to ourselves the better we<br />

are able to enter into relationships with others. The<br />

‹safe haven› created by this sense of security (Ainsworth<br />

et al. 2015) is not only important for babies and<br />

infants but for anyone who experiences unsettling situations.<br />

Because disabilities increase the danger of<br />

traumatization, this applies particularly to children,<br />

adolescents and adults with special needs.<br />

Being aware of attachment when forming<br />

professional relationships<br />

As mentioned earlier, it happens often that caregivers<br />

transfer attachment behaviours. Statistically, around<br />

40 per cent of a given adult population display insecure<br />

attachment behaviours (van Ijzendoorn & Bakermans-Kranenburg<br />

2009), probably with an upward<br />

trend (Konrath, Chopik, Hsing & O’Brien 2014). Measures<br />

have been developed to help families who are at<br />

risk to learn parental sensitivity (Brisch 2010). While<br />

we have to differentiate between attachment in the<br />

family environment and in the professional context<br />

(Weber-Boch 2011), it is right to say that care professionals<br />

have considerable influence on the attachment<br />

security of their clients. Particularly in cases where<br />

relatives are not available as attachment figures, expectations<br />

regarding attachment focus on the carers.<br />

It can happen that professional carers keep their clients<br />

in an artificial state of helplessness so they can<br />

symbolically satisfy their own repressed needs with<br />

their ‹help› (Schmidbauer 1977). Unmet needs for attachment<br />

may well play a part in these cases. Similar<br />

phenomena are known from psychotherapy (Schmidt-<br />

Lellek 2002). It would therefore make sense to develop<br />

tools that help professionals in training to reflect on<br />

their own attachment dynamics.<br />

The point-circle meditation can facilitate<br />

self-reflection and attachment security<br />

The point-circle meditation can be of particular use in<br />

this context, firstly by adding a spiritual dimension to<br />

the understanding of attachment. As beings of spiritual<br />

origin who incarnate again and again we need other<br />

people, not least because meeting them helps us reconnect<br />

with the cosmic sphere. Through its images this<br />

meditation moreover creates a vibrant feeling space and<br />

enables us to restore the mode in which we developed<br />

our initial attachment behaviour.<br />

As an image the point-circle meditation gives us inner<br />

access to the attachment behavioural patterns described<br />

above. I assume that attachment behaviour types<br />

A or C may find it more difficult to move between the<br />

polarities of point and circle. The fact that they cleave<br />

to the point as well as to the circle can be explained if<br />

we look more closely at the two point-circle illustrations<br />

(Figs 1 and 2):<br />

‹God is in me› – people of the insecure-preoccupied attachment<br />

type (C) always seek the proximity of the You<br />

because they are not sure when the You actually perceives<br />

them. Using the picture of the point-circle meditation<br />

we can say that they are fixated on the You<br />

as a point. Representatives of the insecure-avoidant attachment<br />

type, on the other hand, avoid relating to the<br />

You because they have learned that no response can be<br />

expected from them. In the picture of the point-circle<br />

meditation they keep their distance from the You by remaining<br />

on the circle. (Fig. 1)<br />

Fig. 1<br />

‹I am in God› – As the point metamorphoses and becomes<br />

a circle the insecurely attached seem to assume<br />

the polar position, but they are unable to oscillate between<br />

the two poles. The insecure-preoccupied attachment<br />

type (C) remains on the circle and loses contact<br />

with himself, while the insecure-avoidant type (A) focuses<br />

on himself in the point. (Fig. 3)<br />

Both types lack the security of experiencing their own<br />

‹I› as well as that of perceiving the You, since both<br />

kinds of security depend on the ability to move bet-<br />

184


Beiträge | Contributions<br />

ween point and circle. People with secure attachment<br />

behaviour (B) should therefore be able to vividly relate<br />

to others by alternating between centre and periphery.<br />

They are neither lost in the periphery nor are they<br />

caught in the point, since they can move freely between<br />

the two. In carrying the point within and the circle<br />

around them, they rest within themselves but they<br />

can be with the other person at the same time.<br />

Annette Pichler, born 1969 in Tübingen,<br />

is a psychologist (MS), developmental<br />

coach and director of the<br />

Rudolf Steiner Seminar in Bad Boll.<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

Notes<br />

1) There are diagnostic tools for older children and adults as<br />

well.<br />

Fig. 2<br />

It seems obvious that the emotion-regulating function<br />

of affect-mirroring relies on exactly this ability to differentiate<br />

between the experience of one’s own self<br />

and of the You, and of maintaining a responsive contact<br />

at the same time, oscillating between point and<br />

circle. Rudolf Steiner referred to this capacity of being<br />

with oneself and, at the same time, with the other person<br />

as ‹effective comforting› (Steiner 1924, p. 64).<br />

The point-circle meditation is a useful tool for inner<br />

hygiene when it comes to the pedagogical law that<br />

Rudolf Steiner introduced in lecture 2 of Education for<br />

Special Needs (Steiner 1924, p. 23). As the ‹I› experiences<br />

that the point is a circle and the circle a point,<br />

it learns to oscillate between its astral dimensions of<br />

antipathy and sympathy. It is conceivable in the light<br />

of attachment theory that this could have a regulating<br />

effect on a person’s attachment security and – in the<br />

sense of the pedagogical law – on the etheric makeup<br />

of the people around him. I would suggest in conclusion<br />

that the point-circle meditation may enhance<br />

attachment security in the person practising it as well<br />

as in those who form his or her psychosocial environment<br />

and that it therefore constitutes a promising<br />

topic of further research.<br />

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186


Die sozialtherapeutische Gemeinschaft – ein Auslauf- oder Zukunftsmodell?<br />

Von Stefan Siegel-Holz<br />

Einleitung<br />

Nüchtern betrachtet trifft man nicht mehr an vielen Orten<br />

auf die ‹klassische› sozialtherapeutische Gemeinschaft<br />

– was auch immer man darunter verstehen mag. Ist die<br />

Form der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von Menschen<br />

mit und ohne Behinderungen in eine bedrohliche<br />

Krise geraten? Dies gerade zu einem Zeitpunkt, wo<br />

das inklusive Miteinander im gesellschaftlichen Kontext<br />

idealisiert wird? Das wäre tatsächlich tragisch. Oder<br />

gehen die Gemeinschaften durch einen gesunden, notwendigen<br />

Umwandlungs- und Erneuerungsprozess,<br />

indem sie versuchen, mit den gesellschaftlichen Entwicklungen<br />

Schritt zu halten und zugleich ihren Mitgliedern<br />

gerecht zu werden?<br />

Wo stehen wir heute?<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

Nie zuvor erlebte die Menschheit so gravierende gesellschaftliche<br />

Entwicklungen wie in den vergangenen Jahrzehnten.<br />

Seit den Anfängen der anthroposophischen<br />

Sozialtherapie haben sich die Lebensbedingungen so<br />

grundlegend gewandelt, dass ein direkter Vergleich mit<br />

heute unmöglich ist. Die technischen Entwicklungen<br />

haben völlig neue Dimensionen des individuellen und<br />

sozialen Lebens erschlossen. Wir sind weltweit digital<br />

vernetzt und dennoch einsamer geworden. Das Wissen<br />

über Krankheitsbilder und therapeutische Möglichkeiten<br />

hat sich immens erweitert. Menschen mit Behinderungen<br />

haben ein anderes Ansehen in der Gesellschaft<br />

erlangt. Sichtbarer Ausdruck dessen ist das «Internationale<br />

Übereinkommen über die Rechte von Menschen<br />

mit Behinderungen», kurz UN-BRK, die von der UNO-Generalversammlung<br />

am 13.12.2006 verabschiedet und<br />

seitdem von den meisten Staaten unterzeichnet und ratifiziert<br />

wurde.<br />

Die UN-BRK ist ein Meilenstein in der Anerkennung der<br />

allgemeinen Würde des Menschen mit Behinderung. Ihr<br />

gegenüber stehen allerdings drei grosse Herausforderungen<br />

für die Behindertenhilfe: ihre Verrechtlichung,<br />

ihre Ökonomisierung und ihre Ideologisierung.<br />

• Verrechtlichung: In den letzten Jahrzehnten hatte die<br />

Behindertenhilfe in vielen Ländern mit einer zunehmenden<br />

Flut von Gesetzen, Verordnungen und Auflagen<br />

zu tun. Vorschriften zur Dokumentation und<br />

Qualitätssicherung beanspruchen inzwischen viel Aufmerksamkeit.<br />

Das Korsett, in dem sich Einrichtungen<br />

heute bewegen, ist vielerorts durch Regulierung und<br />

Bürokratisierung sehr eng geworden.<br />

• Ökonomisierung: In zahlreichen Ländern, insbesondere<br />

den Industrienationen, werden heute mehr oder weniger<br />

auskömmliche Geldmittel an die Einrichtungen<br />

der Behindertenhilfe gezahlt, damit diese ihren Auftrag<br />

erfüllen können. Allerdings werden diese Gelder eng an<br />

die genaue Erfüllung konkreter Standards gekoppelt.<br />

Die Ökonomie gibt heute vor, welche Hilfe wie und in<br />

welchem Umfang geleistet werden soll.<br />

• Ideologisierung: Ein Mensch mit Behinderung wird<br />

heute, glücklicherweise, weniger als Empfänger von be-<br />

187


Beiträge | Contributions<br />

vormundender Fürsorge verstanden. Vielmehr wird in<br />

den westlichen Staaten der moderne Kunde in ihm gesehen,<br />

der autonom und selbstständig diejenigen Hilfen<br />

einkauft, die er zum Leben braucht, wie andere auch,<br />

die sich beim Friseur die Haare schneiden oder vom<br />

Elektriker eine Leitung reparieren lassen. Spezielle Institutionen<br />

für Behinderte sollten möglichst abgeschafft<br />

werden. Der behinderte, auch der kognitiv behinderte<br />

Mensch, ist der Akteur und der Helfer wird zu seinem<br />

Dienstleistungsassistenten. Hier reduziert marktwirtschaftliches<br />

Denken die Tatsache, dass viele Menschen<br />

existenziell auf ganzheitliche Unterstützung angewiesen<br />

sind, auf eine reine Kunden- bzw. Kauf-Beziehung.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Bedingungen<br />

vor Ort für die Begleitung von Menschen mit Behinderungen<br />

haben sich erschwert, insofern die äusseren Einflüsse<br />

erheblich zugenommen haben. Dagegen haben<br />

sich die Bedingungen für Menschen mit Behinderungen<br />

selbst verbessert. Ihre Autonomie wird zunehmend gewürdigt,<br />

doch gleichzeitig droht ihre Bedürftigkeit unterschätzt<br />

zu werden. Ihnen werden endlich die vollen<br />

Menschenrechte zugesprochen. Diese scheitern jedoch<br />

oftmals an den ökonomischen Rahmenbedingungen.<br />

Der Auftrag der Sozialtherapie unter veränderten<br />

Bedingungen<br />

Traditionell besteht die Hilfe, die die anthroposophische<br />

Sozialtherapie zu leisten versucht, weniger in direkten<br />

Massnahmen an Menschen mit Behinderungen, sondern<br />

darin, dass ein soziales Umfeld arrangiert und angeboten<br />

wird, das den Hilfebedarf zu kompensieren bzw.<br />

zu mildern in der Lage ist. Der Erwachsene mit Hilfebedarf<br />

wird dabei nicht als lebenslang zu fördernder und pädagogisch<br />

zu betreuender Mensch mit Einschränkungen<br />

verstanden. Vielmehr wird grundsätzlich davon ausgegangen,<br />

dass er sein Leben selbst führen will und – mit<br />

Hilfestellungen – auch kann.<br />

Was die Sozialtherapie heute unmittelbar betrifft: Die<br />

Individualisierung der Zeitgenossen hat, zumindest in<br />

der westlichen Welt, auf allen Ebenen zugenommen.<br />

Gemeinschaftsbildung wird nicht grundsätzlich infrage<br />

gestellt. Sie hat jedoch die Qualität des Selbstverständlichen<br />

verloren. Traditionellen Gemeinschaften<br />

wie Familien, Kirchen oder Vereinen stehen immer mehr<br />

Alternativen gegenüber. Es bilden sich Gemeinschaften<br />

von Individualisten. Sie werden bewusst und aus freien<br />

Stücken ergriffen – und wieder verworfen.<br />

In vielen bestehenden sozialtherapeutischen Gemeinschaften<br />

ist die Teilnahme am Gemeinschaftsleben nicht<br />

mehr selbstverständlich, sondern wird jeweils bewusst<br />

ausgewählt und steht in Konkurrenz zur Teilnahme an<br />

Angeboten ausserhalb der Gemeinschaft.<br />

Trends wie der Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe<br />

(vom Fürsorge- zum Kunden-Prinzip) oder die<br />

Umsetzung der UN-BRK haben zu einem neuen Selbstbewusstsein<br />

von Menschen mit Behinderungen geführt,<br />

zum Beispiel über die eigenen Rechte und Lebenspläne.<br />

Viele junge Menschen mit Behinderungen suchen<br />

offene Wohnformen, wenn es ihnen irgendwie möglich<br />

erscheint. Wer sich früher um einen Platz in der Lebensgemeinschaft<br />

bewarb, um der ‹Anstalt› zu entkommen,<br />

bemüht sich heute um einen Platz in einer ambulant betreuten<br />

Wohnform, um der ‹Einrichtung› (wozu auch die<br />

Lebensgemeinschaften zählen) zu entkommen.<br />

Geändert haben sich auch Selbst- und Rollenverständnis<br />

vieler Mitarbeiter in sozialtherapeutischen Einrichtungen<br />

durch Individualisierung und Professionalisierung.<br />

Überlieferte weltanschauliche Systeme, auch die Anthroposophie,<br />

werden infrage gestellt. Die Fachlichkeit des<br />

Berufs rückt häufig in den Vordergrund: das Wissen um<br />

Krankheitsbilder und die Suche nach geeigneten, überprüfbaren<br />

Massnahmen, das Verhältnis von Nähe und<br />

Distanz gegenüber dem Klienten, die Problematik übergriffigen<br />

Verhaltens. Mit der Professionalisierung einher<br />

geht das Bewusstsein der eigenen Rechte als Arbeitnehmer,<br />

wenn es beispielsweise um den Einsatz eigener<br />

Ressourcen, Freizeit oder Erziehungszeiten geht. Insbesondere<br />

jüngeren Arbeitnehmern wird zunehmend die<br />

so genannte ‹work-life-balance› wichtig.<br />

Geändert haben sich schliesslich auch die Rahmenbedingungen<br />

in den Einrichtungen: Weil sich immer mehr<br />

Erwachsene um ein Leben ausserhalb von speziellen<br />

Einrichtungen bemühen, werden dort zunehmend diejenigen<br />

Menschen betreut, deren Hilfebedarf so gross ist,<br />

dass ein Leben ausserhalb einer Institution ausgeschlossen<br />

zu sein scheint. In der Folge steigt der Unterstützungsbedarf<br />

in solchen Einrichtungen insgesamt, was<br />

wiederum eine andere Professionalität des Personals<br />

erforderlich macht. Eine weitere Herausforderung stellt<br />

das steigende durchschnittliche Lebensalter der Bewohner<br />

mit seinen besonderen Aufgaben dar.<br />

188


Beiträge | Contributions<br />

Konsequenzen<br />

Will die anthroposophische Sozialtherapie diesen Entwicklungen<br />

gerecht werden, ergeben sich für sie unmittelbar<br />

Konsequenzen:<br />

Sie ist einerseits aufgefordert, die Tatsache der Individualisierung<br />

aller Beteiligten zu respektieren und<br />

konzeptionell einzubeziehen. Es geht dabei in den Gemeinschaften<br />

um eine weitere Differenzierung ihrer<br />

Angebote in Wohnen, Arbeit und Kultur und darum, Alternativen<br />

für unterschiedliche Bedürfnisse, Wünsche<br />

und Notwendigkeiten anbieten zu können.<br />

Zum anderen besteht die Aufgabe, den veränderten Lebensumständen<br />

Rechnung zu tragen und ihre Mitglieder<br />

auch als Zeitgenossen zu verstehen, in besonderem<br />

Masse die jüngeren Menschen, die die Gemeinschaften<br />

in die Zukunft führen werden.<br />

Der bleibende Auftrag sozialtherapeutischer Gemeinschaften<br />

Zumal in einer Zeit, in der sich gesellschaftliche Ansichten<br />

und Meinungen immer schneller wandeln, Hilfekonzepte<br />

in Mode kommen und wieder vergehen, scheint<br />

es mir geboten, nach den Grundlagen der menschlichen<br />

Existenz zu fragen und davon ausgehend Sozialtherapie<br />

zu denken. Auf welche grundlegenden, für die Sozialtherapie<br />

relevanten Bedingungen hat diese zu antworten?<br />

Die Frage der existenziellen Bedürftigkeit und Angewiesenheit<br />

Menschen haben grundlegende Bedürfnisse nach Bindung<br />

und Sicherheit einerseits, nach Autonomie und<br />

Freiheit andererseits. Man ist existenziell auf andere angewiesen<br />

und bleibt es Zeit seines Lebens. Man strebt<br />

zugleich danach, diese Abhängigkeiten, so gut es geht,<br />

zu überwinden. Selbstbestimmung ermöglicht es dem<br />

mündigen Menschen, ein Leben gemäss den eigenen Intentionen<br />

und Wünschen zu führen. Ebenso wichtig bleiben<br />

aber die sozialen Bindungen, die dem Leben Sinn,<br />

Schutz und Ausrichtung verleihen. In sicheren Bindungen<br />

und an sicheren Orten erfahren Menschen Geborgenheit,<br />

Heimat, Zuhause. In der Auseinandersetzung<br />

zwischen beiden Polen entwickelt sich die Persönlichkeit<br />

eines Menschen im Laufe seiner Biografie.<br />

In der fachlichen bzw. politischen Diskussion zur aktuellen<br />

Behindertenhilfe überwiegt häufig die Forderung<br />

nach Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen<br />

mit Behinderung. Wird diese Forderung verkürzt, so wird<br />

sie dem Hilfebedürftigen gerade nicht gerecht. Weil es<br />

ebenso um Bindung und Sicherheit geht, braucht es in<br />

der Sozialtherapie nach wie vor auch Begleitung und Betreuung,<br />

Orientierung und Sicherheit, die eine Gemeinschaft<br />

geben kann. Dies umso mehr, als in modernen<br />

Gesellschaften Leistungsdruck, Beschleunigung, Digitalisierung,<br />

zunehmende Komplexität und Anonymität<br />

der Lebenswelten viele Menschen mit Behinderungen<br />

überfordern und sie dadurch hilfloser machen, anstatt<br />

zu emanzipieren.<br />

Individualität, Gemeinschaft und Gesellschaft<br />

Als genuin soziale Wesen brauchen Menschen Beziehungen<br />

zu anderen Menschen in verschiedenen Qualitäten:<br />

Zweisamkeit, Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft<br />

und Welt. Dabei ist Gemeinschaft als derjenige soziale<br />

Kontext zu verstehen, in dem Menschen einander kennen,<br />

sich vertraut sind und untereinander Beziehungen<br />

pflegen. Als Lebens- und Beziehungsraum muss<br />

Gemeinschaft, um dem Einzelnen gerecht zu werden,<br />

heute mehr denn je seine Individualisierung wie auch<br />

seine Vergesellschaftung mit einschliessen. Aber ohne<br />

Gemeinschaft kann Individualisierung zu Vereinsamung<br />

und Vergesellschaftung zu Vermassung führen.<br />

Dimensionen des Hilfebedarfs<br />

Was brauchen Menschen mit einer kognitiven Behinderung?<br />

Zunächst alles, was jeder Mensch braucht, aber<br />

mit einer Unterstützung, die ihren kognitiven Hilfebedarf<br />

kompensiert. Weil Menschsein nicht nur Entwicklung<br />

zur Autonomie ist, sondern soziale Bezüge lebensnotwendig<br />

sind, braucht es zumindest Unterstützung zur<br />

Sozialfähigkeit. Werden darüber hinaus durch eine Gemeinschaft<br />

selbst Beziehungen angeboten, so kann das<br />

wesentlich zur Lebensqualität beitragen. Sozialtherapeutische<br />

Aufgaben bestehen in dieser Hinsicht in:<br />

• Hilfe zur Selbstbestimmung: Das heisst Hilfe, sich<br />

selbst wahrzunehmen, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche<br />

und Ängste zu erkennen und ihre Bedeutung zu<br />

verstehen. Es geht darum, zu helfen, den eigenen Bedürfnissen<br />

Geltung zu verschaffen, ggf. Alternativen aufzuzeigen<br />

und anzubieten. Es geht um Integrität im Sinne<br />

von ‹Selbst-sein-können›.<br />

• Hilfe zur Beziehung: Es geht um das Erlernen von gelingender<br />

Kommunikation und sozialen Kompetenzen, um<br />

die Regelung von Konflikten, das Üben von wertschätzenden<br />

und gegenseitigen Beziehungen.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

189


Beiträge | Contributions<br />

• Hilfe in Gemeinschaft: Über die Gestaltung und Pflege<br />

von Beziehungen hinaus besteht die Aufgabe in der sozialtherapeutischen<br />

Gemeinschaft darin, ein Umfeld als<br />

sicheren, verlässlichen Lebensort zu schaffen, der Stabilität<br />

durch Orientierung, Rhythmen und verbindliche Begegnungen<br />

schafft. Gemeinschaft bedeutet für viele auch<br />

Hilfe gegen Einsamkeit und Verwahrlosung.<br />

• Hilfe zur Gesellschaftsfähigkeit: Um in einer Gesellschaft<br />

kompetent zu werden, bestehen wichtige<br />

Aufgaben z.B. in der Vermittlung von allgemeinen Umgangsformen<br />

(etwa Verkehrsregeln oder den Umgang mit<br />

Geld), in politischer Bildung oder in der zunehmenden<br />

Umsetzung von Barrierefreiheit.<br />

Professionalität und Hilfe von Mensch zu Mensch<br />

Es bedarf neben der Professionalität des Helfers ebenso<br />

der Hilfe von Mensch zu Mensch, der zwischenmenschlichen<br />

Verbindlichkeit und Tragfähigkeit von Beziehungen.<br />

Zwar kann Professionalität als – empirisches Wissen und<br />

reflektiertes Handeln sehr hilfreich sein. Menschen, die<br />

auf Hilfe angewiesen sind, brauchen dennoch mehr als<br />

gute Fachleute. Sie brauchen auch den Mitmenschen,<br />

der authentische und individuelle Antwort in der Begleitung<br />

gibt. Solide Fachlichkeit und schlichte Mitmenschlichkeit<br />

zusammen schaffen das Vertrauen, Hilfe offen<br />

anzunehmen. Scheint hinter demjenigen, der Leistungen<br />

erbringt, selbst eine Persönlichkeit mit eigenem Gesicht<br />

und Charakter auf, schafft das die Grundlage dafür, sich<br />

auf eine Beziehung einzulassen.<br />

Professionalität wird auf diese Weise zur Verfügung gestellt,<br />

aber relativiert. Der Helfer als professioneller Sozialtherapeut<br />

ist charakterisiert durch absichtsvolle Hilfe,<br />

die er dem Hilfeempfänger zugutekommen lässt. Der<br />

Helfer als Mitmensch ist charakterisiert durch das absichtslose<br />

Interesse am anderen. Gute Hilfe kann gelingen,<br />

wenn beides zusammenkommt: menschliches und<br />

professionelles Engagement. Grundsätzlich ist das in<br />

jeder Begegnung möglich. Gerade an dieser Stelle aber<br />

eröffnet eine sozialtherapeutische Gemeinschaft als Lebensgemeinschaft<br />

ein weites, fruchtbares Feld hilfreicher<br />

sozialer Vernetzung.<br />

Sozialtherapeutische Gemeinschaften für die<br />

Zukunft<br />

Erst in einer Gesellschaft, die wirklich inklusiv ist, braucht<br />

es meines Erachtens keine besonderen Orte mehr. Eine<br />

solche Gesellschaft würde sich auszeichnen durch das<br />

Fehlen von Diskriminierung. Stattdessen würde jeder<br />

Einzelne mit allen seinen Fehlern, Schwächen und Behinderungen<br />

Wertschätzung erfahren. Überforderung im<br />

Lebensalltag würde von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft<br />

kompensiert, Andersartigkeit und Fremdheit<br />

würden als Bereicherung erlebt, nicht als Bedrohung.<br />

Nicht zuletzt würde Leistungsdenken relativiert und das<br />

Lohnprinzip als Anerkennung für messbar erbrachte Arbeit<br />

überwunden.<br />

Bis es jedoch so weit ist, braucht es ‹Versuchsstätten› für<br />

gesellschaftliche Entwicklung. In diesem Sinne könnte<br />

die inklusive sozialtherapeutische Gemeinschaft als Antizipation<br />

von Inklusion innerhalb der Gesellschaft eine<br />

wichtige Aufgabe erfüllen.<br />

Aber auch dann, wenn unsere Gesellschaften in diesem<br />

Sinne einmal inklusiv sein sollten, braucht es Gemeinschaft<br />

und Gesellschaft als zwei soziale Kontexte mit unterschiedlichem<br />

Horizont.<br />

Nun ist die sozialtherapeutische Gemeinschaft nicht per<br />

se ein brauchbares Zukunftsmodell, ebenso wenig wie<br />

Menschen, die mitten im Ort wohnen, schon inklusiv<br />

leben. Die Ausgangsbedingungen einer Lebensgemeinschaft<br />

mit den Bereichen Wohnen, Arbeit und Kultur<br />

mögen in gewisser Weise besonders günstig (so die Erfahrungswerte<br />

der Vergangenheit) sein, sind aber längst<br />

keine Garantie für eine gute Begleitung von Menschen<br />

mit Behinderungen. Lebensgemeinschaft im Sinne des<br />

Teilens wesentlicher Bereiche des Zusammenlebens ist<br />

auch nicht die einzige Form, wie Sozialtherapie gelingen<br />

kann. Grundsätzlich ist von einer Vielfalt auszugehen,<br />

die noch viel Entwicklungspotential für die Zukunft hat.<br />

Welche Gemeinschaften braucht es unter diesen Voraussetzungen<br />

für die Zukunft?<br />

Es braucht Gemeinschaften, die ein Anliegen über das<br />

marktwirtschaftliche Paradigma hinaus haben und die<br />

sich an grundlegenden humanistischen Werten ausrichten,<br />

um ihren Mitgliedern gerecht zu werden. Sofern sie<br />

sich an der Anthroposophie orientieren, werden sie von<br />

der Integrität und der geistigen Natur jedes Menschen<br />

ausgehen. Sie werden spirituell offen sein und sich um<br />

ein vertieftes Verständnis des Menschen bemühen. Weitere<br />

Bezugspunkte sollten die allgemeine Menschenwürde<br />

im Sinne der UN-BRK sowie das subjektiv gelingende,<br />

sinnerfüllte Leben sein – im Übrigen für alle Mitglieder<br />

einer Gemeinschaft.<br />

Es werden Werte-Gemeinschaften benötigt, die Modeerscheinungen<br />

und scheinbar Selbstverständliches<br />

190


Beiträge | Contributions<br />

hinterfragen, das Wesentliche hinter dem Vordergründigen<br />

erarbeiten und transparent machen, beispielsweise<br />

in Leitbildern.<br />

Weiterhin bedarf es Gemeinschaften, die sich den aktuellen<br />

gesellschaftlichen, politischen, ökologischen<br />

Herausforderungen aktiv stellen und die ihren Auftrag<br />

im zeitgeschichtlichen Kontext verstehen. Sie werden<br />

sonst immer ein Nischendasein führen und ihrer bürgerschaftlichen<br />

Aufgabe in einer demokratischen Welt<br />

nicht gerecht werden.<br />

Es braucht lernende und zukunftsoffene Gemeinschaften,<br />

die nicht nur in der Lage sind, aus Fehlern zu lernen,<br />

sondern auch Neues zu integrieren. Ihre grundlegenden<br />

Überzeugungen wiederum dienen als Korrektiv, wie das<br />

Neue zu bewerten ist.<br />

Zudem sind ‹durchlässige› Gemeinschaften gefragt,<br />

offen für Gesellschaft und Welt. Eine solche Durchlässigkeit<br />

bedarf der Dialogfähigkeit und korrespondiert<br />

mit einer Vernetzung mit dem Umfeld. Solche<br />

Gemeinschaften sind das Gegenteil von exklusiven,<br />

vereinnahmenden, verwahrenden, potentiell übergriffigen<br />

Einrichtungen.<br />

Solche Gemeinschaften brauchen Sozialkünstler, um<br />

Inklusion und stimmige Formen des Zusammenlebens<br />

zu entwickeln; ein Zusammenleben nicht nur von Menschen<br />

mit und ohne offensichtliche Behinderungen,<br />

sondern von Generationen, Nationen, Kulturen und Religionen.<br />

Dazu können z.B. neue Umgangsformen mit<br />

Geld, Gütern, mit gegenseitiger Verantwortung und Solidarität<br />

gehören.<br />

Gemeinschaft nicht mehr selbstverständlich ist und weil<br />

Konzepte und Praxis weiterzuentwickeln sind. Wenn es<br />

aber gelingt – zumal in einer zunehmend individualisierten<br />

und komplexen Welt – ergeben sich durch solche<br />

Gemeinschaften grosse Chancen für lebenswerte Alternativen<br />

mit menschlichem Gesicht.<br />

Stefan Siegel-Holz ist seit 1983 Mitarbeiter<br />

in der Camphill Dorfgemeinschaft<br />

Lehenhof, zunächst als ZDL,<br />

später als Hausverantwortlicher und in<br />

der Leitung. Er ist Mitglied der internationalen<br />

Konferenz für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in Dornach und arbeitet<br />

in verschiedenen Zusammenhängen<br />

im deutschen Bundesverband<br />

anthroposophisches Sozialwesen und<br />

innerhalb Camphills mit.<br />

Schluss<br />

Sozialtherapie innerhalb einer Lebensgemeinschaft hat<br />

dann ihre bleibende Berechtigung und Aufgabe,<br />

• wenn das, was sie leistet, den existenziellen Bedürfnissen<br />

der begleiteten Menschen sowie den Fähigkeiten<br />

und Kräften der Begleitenden entspricht;<br />

• solange es Menschen gibt, die die sozialtherapeutische<br />

Gemeinschaft zu ihrem Anliegen machen und<br />

denen es gelingt, Nachkommende dafür zu begeistern;<br />

• solange die rechtlichen, ökonomischen, ideologischen<br />

Rahmenbedingungen es zulassen, dass die Aufgaben<br />

ihren Intentionen gemäss zu bewältigen sind.<br />

Dann können solche Lebensorte in der Behindertenhilfe<br />

weiterhin Modellcharakter und Ausstrahlung haben.<br />

Die Aufgabe ist heute nicht leichter geworden, weil das<br />

besondere Engagement in einer sozialtherapeutischen<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

191


Beiträge | Contributions<br />

The social therapy community – a thing of the past or a model<br />

for the future?<br />

By Stefan Siegel-Holz<br />

Introduction<br />

The ‹classic› social therapy community – whatever you<br />

associate with this term – has become rare nowadays. Is<br />

this form of living and working together of people with<br />

and without disabilities going through a crisis? And that<br />

at a time when inclusion is being idealized by society?<br />

This would indeed be tragic. Or are the communities<br />

undergoing a healthy and necessary process of transformation<br />

and renewal, trying to keep up with societal<br />

progress whilst considering the needs of their members?<br />

Where are we today?<br />

Humanity has never experienced societal developments<br />

as radical as those of the last decades. Life<br />

conditions have changed so profoundly since the beginnings<br />

of anthroposophical social therapy that a direct<br />

comparison with today’s situation is impossible.<br />

The progress of technology has opened up entirely<br />

new dimensions in the lives of individuals as well as<br />

for society in general. We are now part of worldwide<br />

digital networks and at the same time more isolated<br />

than ever. Our knowledge of diseases and therapeutic<br />

possibilities has grown immensely. People with disabilities<br />

are seen in a different light by society, as is apparent<br />

from the UN’s ‹International Convention on the<br />

Rights of Persons with Disabilities› – CRPD for short –<br />

which was passed by the UN General Assembly on 13<br />

December 2006 and has since been signed and ratified<br />

by most states.<br />

The CRPD is a milestone when it comes to the recognition<br />

of the dignity of persons with disabilities. It<br />

poses, however, three major challenges for the work<br />

with these people in that it demands that this work be<br />

regulated, economized and ideologized.<br />

• Regulation: special needs care work is being flooded<br />

with rules, regulations and conditions. The need for<br />

documentation and quality assurance keeps everyone<br />

busy and many institutions find themselves stifled<br />

by a corset of regulations and bureaucracy that is<br />

being tugged ever tighter.<br />

• Economization: In many countries, the industrialized<br />

nations in particular, institutions working with<br />

people with disabilities receive more or less sufficient<br />

funding today to allow them to do their work adequately.<br />

However, this funding is often tied to particular<br />

conditions. Economic aspects determine what<br />

kind of help is being granted and how much of it.<br />

• Ideologization: fortunately, persons with disabilities<br />

are no longer seen as recipients of patronizing caregiving.<br />

The modern western view is that they are<br />

clients who buy the assistance they need in their life,<br />

as autonomously and independently as anyone who<br />

has his hair cut by a hairdresser or an electric lead<br />

repaired by an electrician. Institutions specializing in<br />

special needs care are no longer wanted and the idea<br />

is that they should be phased out. People with disabilities,<br />

cognitive disabilities included, are agents and<br />

their assistants become their service providers. The<br />

economic thinking in this case reduces people’s existential<br />

dependence on assistance to a purely commercial<br />

relationship.<br />

In summary we can say that the conditions for special<br />

needs care workers have become more difficult<br />

due to the considerable increase in external influences,<br />

while the situation has improved for the people with<br />

disabilities themselves. Their autonomy is being increasingly<br />

acknowledged, but there is a danger that their<br />

vulnerability is being underestimated. Finally they are<br />

given full human rights but are prevented by economic<br />

aspects from fully benefitting from these rights.<br />

The mission of social therapy in the face of<br />

these changes<br />

Traditionally, the assistance anthroposophical social<br />

therapy tries to provide does not consist as much in<br />

measures applied directly to people with disabilities<br />

but in creating and providing a social environment<br />

that can compensate for or mitigate the need for assistance.<br />

Adults with special needs are not seen as<br />

192


Beiträge | Contributions<br />

people with restrictions who need lifelong support and<br />

pedagogical help but the basic idea is that they want<br />

to live their life autonomously – and that they are able<br />

to do this with the necessary assistance.<br />

When it comes to social therapy as such, we see a growing<br />

process of individualization in the western world.<br />

While community building is not actually called into<br />

question, it is no longer setting the standards. More<br />

alternatives are emerging to the traditional forms of<br />

community such as family, church or clubs: communities<br />

of individualists; people consciously choose these<br />

new communities, join them voluntarily – and leave<br />

them again.<br />

In many existing social therapy communities participation<br />

in the communal life is no longer the rule, but<br />

rather an option that faces competition from other<br />

forms of provision outside the community.<br />

Trends such as the paradigm shift in working with<br />

people with special needs (from the care to the client<br />

principle) or the implementation of the UN’s CRPD<br />

have inspired new self-confidence in these people, for<br />

instance with regard to their rights and life plans. Many<br />

young people with disabilities opt for more open ways<br />

of living if they have the chance. People who used to<br />

apply for a place in a residential community as a way of<br />

getting away from institutions now try to find sheltered<br />

accommodation in order to get away from institutions<br />

– which now include the residential communities.<br />

As a result of individualization and professionalization<br />

many care workers in social therapy also have acquired<br />

a new self-image and understanding of their role. Traditional<br />

worldviews, anthroposophy included, are now<br />

being called into question and professional aspects<br />

feature more prominently: knowledge of disorders and<br />

the search for suitable, verifiable interventions, the relationship<br />

of proximity or distance to the client, the<br />

encroachment of a client’s personal space. Professionalization<br />

also goes hand in hand with the employees’<br />

awareness of their own rights when it comes to giving<br />

of their resources, taking time off or taking parental<br />

leave. For younger care-workers in particular the<br />

‹work-life balance› is increasingly important.<br />

And last, but not least, the conditions within the institutions<br />

have also changed: because more and more<br />

adults choose to live outside the specialized institutions,<br />

the remaining residents often need a very high<br />

degree of assistance and living outside the institution<br />

seems impossible for them. This means that the need<br />

for assistance is generally growing in these institutions<br />

and staff members are required to have more specialized<br />

professional qualifications. The increasing average<br />

age of the residents presents another challenge because<br />

of the specialized care needed for the elderly.<br />

Consequences<br />

This has direct consequences for anthroposophical social<br />

therapy if it wants to keep up with these developments:<br />

It needs, on the one hand, to respect the fact<br />

that the process of individualization affects everyone<br />

involved and include this in its conception. In practice<br />

this means that the ways people live, work and enjoy<br />

cultural activities together need to be further differentiated<br />

and alternatives need to be made available<br />

to cater for the diverse needs, wishes and disabilities.<br />

On the other hand social therapy needs to go with the<br />

times and see its members as people of these times<br />

– the younger generation in particular, since they are<br />

the future of the communities.<br />

The future task of the social therapy communities<br />

At a time when the views and opinions of society<br />

change ever faster, when concepts of assistance come<br />

into and go out of fashion, it seems to me to be essential<br />

to consider the foundations of human existence<br />

and build the concept of social therapy on them. What<br />

basic conditions are relevant to social therapy and<br />

need to be addressed by it?<br />

Existential needs and dependence<br />

As human beings we have a basic need for attachment<br />

and security on the one hand, and for autonomy and<br />

freedom on the other. We depend on others throughout<br />

our life. At the same time we strive to overcome these<br />

dependencies as much as possible. Self-determination<br />

allows us as adults to live our lives in accordance with<br />

our own intentions and wishes. Yet, social relationships<br />

remain important because they provide meaning, protection<br />

and orientation. In secure attachments and safe<br />

places we feel at ease and protected. It is in the alternation<br />

between these two poles that the individual personality<br />

evolves in the course of its biography.<br />

In the professional or political debate on special needs<br />

the dominating view today is for people with special<br />

needs to live self-determined and autonomous lives.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

193


Beiträge | Contributions<br />

There is, however, a danger that their needs are no longer<br />

met. Since attachment and safety are important,<br />

social therapy must continue to provide the support,<br />

care, orientation and security that only a community<br />

can give. This is the more important since the pressure<br />

to achieve, the acceleration, digitalization, increasing<br />

complexity and anonymity we see today are stressful<br />

for people with special needs and make them more<br />

helpless instead of emancipating them.<br />

Individuality, community and society<br />

As genuinely social beings we need the qualities of various<br />

relationships: as part of a couple, of a family, a<br />

community, society and the world. Community here<br />

means the social context where people know each<br />

other, are familiar with one another and foster mutual<br />

relationships. As places of living together and of relationships,<br />

modern communities – if they are to do justice<br />

to the individual – need to respect each person’s need<br />

for individualization as well as their need for socialization.<br />

Without the community, individualization may<br />

lead to isolation and socialization to massification.<br />

Dimensions of special needs<br />

What do persons with cognitive disabilities need? To<br />

start with they need all the things everyone needs, but<br />

in conjunction with the kind of support that compensates<br />

for their cognitive restrictions. Because being<br />

human involves more than becoming autonomous<br />

and because social relationships are vital for human<br />

beings, we need to help those in our care to develop<br />

their social skills. The relationships a community provides<br />

beyond that enhances the quality of life of its<br />

members. The tasks of social therapists are therefore<br />

• to encourage self-determination by helping those<br />

in their care to develop self-awareness, know their<br />

own needs, wishes and fears and understand their<br />

meaning. The care-receivers need help with asserting<br />

themselves and they need to be made aware of alternatives.<br />

The aim is integrity in the sense of ‹being able<br />

to be oneself›.<br />

• to encourage relationships by helping those in their<br />

care to learn to communicate successfully, acquire<br />

social skills, manage conflicts and respect each other.<br />

• to encourage community life. In addition to shaping<br />

and fostering relationships the social therapy<br />

community has the task to create a safe and reliable<br />

environment that conveys stability through orienta-<br />

tion, rhythm and committed relationships. Community<br />

can also protect against loneliness and neglect.<br />

• to encourage social skills. Social competence requires<br />

learning about general social conventions (such as<br />

traffic rules or monetary matters), acquiring a political<br />

education and overcoming barriers.<br />

Professionalism and personal application<br />

Apart from a professional attitude social care workers<br />

also need to be able to help others on a personal basis;<br />

they need to be able to commit to and support relationships.<br />

Professional attitudes – in the form of empirical<br />

knowledge and reflected actions – can be very<br />

helpful, but people with special needs need more than<br />

well-trained experts. They need fellow human beings<br />

who give them authentic and individual answers when<br />

a situation requires this. Expertise and simple humanity<br />

need to come together so that the person with special<br />

needs can develop the trust to accept help. When<br />

the individuality lights up behind the care-giver the<br />

foundation is laid for a relationship.<br />

This approach ensures that professional expertise is<br />

available but this expertise is qualified. As professional<br />

social therapists care workers give intentional support<br />

to those in their care. As fellow human beings<br />

they have a non-intentional interest in the other person.<br />

Giving positive assistance is possible when human<br />

and professional commitment come together. This can<br />

happen in any human encounter. The social therapy<br />

community as a residential community can provide<br />

the fertile soil for social relationships.<br />

The future of social therapy communities<br />

Specialized institutions will, in my view, only become<br />

redundant in a truly inclusive society, where there is<br />

no discrimination, where each single person is appreciated<br />

with his or her shortcomings, weaknesses and<br />

disabilities; where stressful situations are compensated<br />

by the other members of society; where otherness<br />

and diversity are perceived as enriching rather than as<br />

a threat; where the focus on performance is put into<br />

perspective and the principle of paying a salary in recognition<br />

for quantifiable services is overcome.<br />

Until this vision can become reality we need ‹test centres›<br />

for societal development. Inclusive communities<br />

for social therapy could play an important part in this<br />

development by anticipating real inclusion.<br />

194


Beiträge | Contributions<br />

But even once our societies have become fully inclusive<br />

in the sense outlined, the community and society will be<br />

needed as two social environments with different horizons.<br />

The social therapy community in itself is not yet a viable<br />

future model, just as persons who live in a town do<br />

not yet live inclusively. While residential communities<br />

where people live and work together and share cultural<br />

experiences may be particularly well equipped (as<br />

past experience shows), they cannot guarantee that<br />

their special needs residents are optimally supported.<br />

What is needed most of all is diversity and there is<br />

much potential for future development in this respect.<br />

Considering all this, what kind of communities<br />

do we need in future?<br />

We need communities that leave the economic paradigm<br />

behind and choose to be guided by fundamental<br />

humane values in working with those in their care.<br />

If these communities are inspired by anthroposophy,<br />

they will found their work on the idea of the integrity<br />

and spiritual essence of each individuality. They will be<br />

open to spirituality and strive for a deeper understanding<br />

of human nature. They will champion the dignity<br />

of the human being (as set out in the UN’s CRPD) and<br />

aspire to achieve subjectively successful and meaningful<br />

lives – for all community members.<br />

We need communities with values that call fashions and<br />

apparently ‹normal› goals into question and speak openly<br />

– for instance, in their mission statements – of the deeper<br />

essence that needs to be sought under the surface.<br />

These communities need to stand up to the present<br />

societal, political and ecological challenges and take<br />

hold of the tasks presented by the historical developments.<br />

If they fail to take this on they will always have<br />

a niche existence and never do their civic duty in a<br />

democratic world.<br />

We need communities which are open to new influences<br />

and ready to learn, and learn from their own<br />

mistakes too. Their underlying fundamental principles<br />

must serve as a corrective and a means of evaluation<br />

of these new influences.<br />

We need ‹permeable› communities which are open to<br />

society and to the world. This permeability requires the<br />

ability and willingness to enter into dialogue with the<br />

outside world. They must be the opposite of exclusive,<br />

authoritarian and potentially intrusive institutions.<br />

Such communities need social artists who develop the<br />

principle of inclusion and find suitable forms of living<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

together; their aim will be the coexistence not only of<br />

people with and without apparent disabilities, but of<br />

generations, nations, cultures and religions. New approaches<br />

to money, commodities, responsibility and<br />

solidarity can also be part of this development.<br />

Conclusion<br />

Social therapy within the residential community will<br />

have a future<br />

• if its services and provisions meet the existential<br />

needs of the people in their care and if it makes good<br />

use of the competence and skills of its care providers;<br />

• f there are people who commit to social therapy in<br />

a community setting and who are able to inspire the<br />

younger generation;<br />

• if the prevailing legal, economic and ideological conditions<br />

permit that social therapy can be carried out<br />

in accordance with its underlying intentions.<br />

If these conditions are met, residential social therapy<br />

can continue to be an attractive solution with a model<br />

character. It has become more difficult to implement<br />

because people no longer commit so easily to the<br />

community life and also because its concept and approach<br />

need to be overhauled and developed further.<br />

But if they succeed the social therapy communities<br />

can be a viable and humane alternative.<br />

Stefan Siegel-Holz works for the Camphill<br />

Community Lehenhof since 1983,<br />

first as a volunteer, later responsible<br />

for a house and member of the director<br />

team. He is a member of the internationale<br />

Konferenz für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in Dornach and<br />

works in various contexts for the Deutscher<br />

Bundesverband anthroposophisches<br />

Sozialwesen and in Camphills.<br />

Translation from German: Margot Saar<br />

195


Beiträge | Contributions<br />

Das «Ich» in Leib und Welt<br />

Aspekte zu seiner Entwicklung<br />

von Rüdiger Grimm<br />

Vor allem zu Beginn und am Ende der Vorträge über<br />

Heilpädagogik, die Rudolf Steiner im Sommer des Jahres<br />

1924 im Saal der «Schreinerei» am Goetheanum<br />

hielt, sprach er über weitreichende Entwicklungsfragen<br />

des menschlichen «Ich». Sie machen auf zentrale Aspekte<br />

der Arbeit im Feld der Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

aufmerksam. Darüber hinaus berühren sie<br />

Fragen der gegenwärtigen Entwicklung des Menschen<br />

und der Kultur. Ich habe im folgenden Text versucht, einige<br />

wenige von vielen möglichen Gesichtspunkten aus<br />

dem Werk Steiners, die diese Fragen weiter beleuchten<br />

können, zusammen zu stellen und sie mit anderen Ansätzen,<br />

in denen Aufschluss über die Entwicklung des<br />

«Ich» gesucht wird, in Beziehung zu setzen.<br />

«… dass der Mensch mit seiner irdisch-sinnlichen Natur nur<br />

als die Offenbarung dessen vor sich selber steht, was er in<br />

Wirklichkeit ist» (R. Steiner 1925/1998, S. 23).<br />

1.<br />

Der Mensch kann zu seinem eigenen «Ich» ein erlebendes<br />

und betrachtendes Verhältnis einnehmen. Er<br />

erlebt dann nicht nur sein eigenes Denken, Fühlen und<br />

Handeln, sondern er weiss, dass er denkt, fühlt und<br />

handelt und kann auf seine Gedanken, Gefühle und<br />

Handlungen Einfluss nehmen. Auf diesem reflexiven<br />

und zugleich selbstgestaltenden Prozess beruht sein<br />

Selbsterleben, das man als ein produktives Verhältnis<br />

des «Ich» zu sich selbst und zur Welt verstehen kann.<br />

Allerdings gehört diese Fähigkeit nicht zur Naturausstattung<br />

des Menschen, sie wird zwar zu einem Teil im<br />

Sozialisationsprozess erworben, aber ist in ihrem Kern<br />

eine individuell erworbene Fähigkeit. Durch sie wird<br />

deutlich, dass das «Ich» des Menschen sich in einem<br />

Entwicklungsprozess befindet. Indem das «Ich» in dieser<br />

Art von Selbstwirksamkeit auf sich selbst Einfluss<br />

nimmt, erweitert es sowohl den Radius seiner Selbstwahrnehmung<br />

als auch den der Wahrnehmung für das<br />

«Ich» anderer Menschen. Und es wird sich der Subtilität<br />

der eigenen Existenz bewusster. Denn obwohl die<br />

«Ich»-Erfahrung mit einem inneren Evidenzgefühl verbunden<br />

ist, bleibt zunächst im Dunkeln, was dieses<br />

«Ich» seinem Grunde nach ist und woher es stammt.<br />

Für die Heilpädagogik und Sozialtherapie ist diese<br />

Frage seit je von besonderer Bedeutung gewesen. Sehr<br />

oft trifft man in diesem Arbeitsfeld auf Kinder, Jugendliche<br />

und Erwachsene, die nur eingeschränkt über die<br />

landläufig mit «Ich»-Bewusstsein identifizierten Merkmale<br />

und Kompetenzen wie Kognition oder Sprache<br />

verfügen, die gleichwohl über eine starke Persönlichkeitswirkung,<br />

Originalität und Authentizität verfügen.<br />

In seinem Roman «Stiller», der zu den bedeutenden<br />

Zeugnissen des literarischen Schaffens im 20. Jahrhundert<br />

gehört, stellt sein Autor Max Frisch die Frage, wer<br />

hinter den Erfahrungen und Vorstellungen, die einen<br />

Menschen auszumachen scheinen, steht. So sagt eine<br />

der Protagonistinnen: «– nicht umsonst heisst es in<br />

den Geboten: du sollst dir kein Bildnis machen … Wenn<br />

man einen Menschen liebt, so lässt man ihm doch jede<br />

Möglichkeit offen und ist trotz aller Erinnerungen einfach<br />

bereit, zu staunen, immer wieder zu staunen,<br />

wie der andere ist … nicht ein fertiges Bildnis» (Frisch<br />

1954). Der Mann Stiller ist einer, der sich nicht mehr<br />

zu seinem Leben bekennen, nicht aufgehen will in den<br />

Erwartungen, die andere an ihn hegen. Der frei werden<br />

will von dem Bild, das er von sich selbst und andere<br />

von ihm gemacht haben, dem er aber lediglich eine<br />

andere Fiktion entgegensetzen kann: «Stillers Biographie<br />

besteht aus Projektionen seiner Umgebung, Mister<br />

Whites Biographie (sein von ihm ausgedachtes<br />

alter ego, Anm. R.G.) aus dessen Geschichten und Rollen,<br />

die er spielt. Weder im einen noch im anderen Fall<br />

196


Beiträge | Contributions<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

stimmen Ich und Biographie überein. ... Das wirkliche<br />

Leben ist unaussprechlich» (Schütt 2011, S. 495).<br />

Genau einen solchen Zuschreibungsprozess verstehen<br />

weite Teile der heutigen Sozialwissenschaften<br />

als Grundlage für die Entstehung des «Ich»-Bewusstseins.<br />

So meint der Frankfurter Soziologe Axel Honneth<br />

in Weiterführung der Thesen G. H. Meads, «dass sich<br />

die Ich-Bildung des Subjekts über Stufen der Internalisierung<br />

eines sozialen Reaktionsverhaltens vollzieht»<br />

(Honneth 2010, S. 265). Das bedeutet, dass das Kind<br />

an den Haltungen, Äusserungen und Reaktionen der<br />

Umwelt «einen inneren Persönlichkeitskern» (ebd.)<br />

ausbilde, der als Anerkennungsprozess in der Interaktion<br />

«aus Schichten einer positiven Selbstziehung»<br />

(ebd.) bestehe. Was bei Honneth positiv gewendet<br />

als Vorgang einer basalen Anerkennung des anderen<br />

gemeint ist, wird im Fall von Menschen mit Behinderung<br />

häufig als gegenteilige Erfahrung nicht der Anerkennung,<br />

sondern der Abwertung und Stigmatisierung<br />

mit den entsprechenden negativen Folgen für deren<br />

Selbstbild beschrieben.<br />

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wird hier<br />

ein Prozess beschrieben, der im Falle des kleinen<br />

Kindes ja unter der Bewusstseinsschwelle verläuft.<br />

Doch anscheinend wird auch die Identitätsbildung<br />

des heutigen Menschen, sofern sie über der Bewusstseinsschwelle<br />

liegt, immer stärker von sozialen Spiegelungsprozessen<br />

bedingt. So weist Heinz Bude in<br />

seinem Buch «Gesellschaft der Angst» darauf hin,<br />

dass die innere Gleichgewichtsbildung des Individuums<br />

durch die Signale anderer ersetzt werde: «Das<br />

Ich wird zum Ich der anderen und steht dann allerdings<br />

vor dem Problem, aus den Tausenden von Spiegelungen<br />

ein Bild für sich selbst zu gewinnen» (Bude<br />

2014, S. 24 f). Gesellschaftskritisch merkt Honneth<br />

dazu an, dass die Entwicklung des Individuums hin<br />

zu mehr Autonomie, wie sie die Soziologie seit mehreren<br />

Jahrzehnten empirisch beobachte, «inzwischen<br />

so stark zu einem institutionalisierten Erwartungsmuster<br />

der sozialen Reproduktion geworden sind, dass<br />

sie ihre innere Zweckbestimmung verloren haben und<br />

vielmehr zur Legitimationsgrundlage des Systems geworden<br />

sind» (Honneth 2010, S. 207–208). Damit<br />

ist gemeint, dass viele ursprünglich als Aufgaben der<br />

Gemeinschaft resp. Gesellschaft als Sozialwesen verstandenen<br />

Verantwortlichkeiten nun an die «Ich»-AG,<br />

den Unternehmer seiner selbst delegiert werden. Das<br />

damit verbundene Unbehagen (das «Unbehagen in<br />

der Kultur») kennzeichnet der französische Kulturwissenschaftler<br />

Alain Ehrenberg als die zweifache Vorstellung,<br />

«dass die soziale Bindung schwächer wird und<br />

dass das Individuum im Gegenzug mit Verantwortlichkeiten<br />

und Prüfungen überladen ist, die es zuvor nicht<br />

kannte» (Ehrenberg 2011, S. 18). Wo Ehrenberg als<br />

Folge dieser Entwicklung die Zunahme psychischer Leiden<br />

und Probleme seelischer Gesundheit sieht, spricht<br />

Honneth von fatalen Folgen für den Einzelnen: «Das<br />

Resultat dieses paradoxalen Umschlags, in dem jene<br />

Prozesse, die einmal eine Steigerung qualitativer Freiheit<br />

versprachen, nunmehr zur Ideologie der Deinstitutionalisierung<br />

geworden sind, ist die Entstehung einer<br />

Vielzahl von individuellen Symptomen innerer Leere,<br />

Sich-überflüssig-Fühlens und Bestimmungslosigkeit»<br />

(Honneth 2010, S. 207–208).<br />

«Was mit nichts in Berührung kommt, kann von sich selber<br />

nichts wissen» (R. Steiner 1912/2003, S. 41).<br />

2.<br />

Um die Bedeutung der Aussenwelt für die Entstehung<br />

des «Ich»-Bewusstseins besser zu verstehen, kann<br />

man einen Perspektivwechsel vornehmen und verstehen,<br />

dass die Aussenwelt zwar bedeutend für das Erwachen<br />

des «Ich» ist, aber nicht ursächlich für dessen<br />

Existenz, wie es der Symbolischer Interaktionismus<br />

eines Mead oder die konstruktivistischen Sichtweisen<br />

nahelegen wollen. Dann bildet sich dieses nicht als<br />

Spiegelung an der Welt, sondern es wendet sich intentional<br />

der Welt zu, um an der Berührung mit ihr zu sich<br />

selbst zu kommen. So beschreibt Rudolf Steiner: «Das<br />

Kind würde nicht zum Ich-Bewusstsein kommen, wenn<br />

es sich nicht an der Aussenwelt, an dem Widerstand der<br />

Aussenwelt wahrnehmen würde» (Steiner 1912/2003,<br />

S. 41). Diese konstruktive Widerstandserfahrung, die<br />

Berührung mit den Menschen und den Dingen lässt<br />

das Bewusstsein von sich selbst aufleuchten, jene authentische<br />

Erfahrung «Ich» zu sein, die nicht von aussen<br />

eingegeben werden kann, sondern immer nur sich<br />

197


Beiträge | Contributions<br />

selbst und nie einen anderen meinen kann. Es handelt<br />

sich dabei um eine genuine Intuition, denn «das «Ich»<br />

kann auf keine Weise von aussen wahrgenommen werden,<br />

es kann nur im Innern erlebt werden» (Steiner<br />

1905/1979, S. 22). Woran das Kind erwacht, ist aus<br />

dieser Perspektive indes nicht zufällig. Das «Ich» erwacht<br />

an der Welt, an den Menschen und den Dingen,<br />

nicht aus einem zufälligen Aufeinandertreffen heraus,<br />

sondern weil es den Menschen und Dingen begegnet,<br />

die für es bedeutungsvoll sind.<br />

Es erwacht auch an der eigenen Körperlichkeit, gleichsam<br />

an einem innerlichen Prozess des Anstossens, so<br />

dass letztlich ein doppelter Vorgang stattfindet: Das<br />

äussere Anstossen an die Welt und das innere Anstossen<br />

an den eigenen Leib geschieht im gleichen Zug.<br />

Diejenige Sinneserfahrung, die diese doppelte Wahrnehmung<br />

zur Verfügung stellt, kommt durch den Tastsinn<br />

zustande, dessen Wahrnehmungsbereich an der<br />

Grenze zwischen Leib und Welt angesiedelt ist. Seine<br />

primäre Wahrnehmung ist das Grenzerlebnis zwischen<br />

innen und aussen. Nur sekundär kommt die taktile<br />

Wahrnehmung, z.B. von Oberflächen und Material, von<br />

«rau», «spitz» oder «glatt» zustande (vgl. König 1971).<br />

So vermittelt der Tastsinn das Gefühl der Existenz im<br />

«Ich»: seine Organe «geben uns eigentlich ursprünglich<br />

im inneren Erleben unser Ich-Gefühl, unsere innerliche<br />

Ich-Wahrnehmung» (Steiner 1916/1992, S. 250).<br />

Ein weiteres Feld, an dem das «Ich» sich selbst zum<br />

Erleben bringt – im seelischen Erleben –, ist das Gedächtnis.<br />

Hier bewirkt es, dass die flüchtigen Erlebnisse<br />

des Tages zu dauerhaften Erinnerungen werden.<br />

So wie sich das «Ich» an Leib und Welt zum Erleben<br />

bringt, so tut es dies auch an den inneren Bildern<br />

des Gedächtnisses, wobei Steiner genau differenziert:<br />

«Nicht das Bleibende als solches wird hier als<br />

ein ‹Ich› bezeichnet, sondern dasjenige, welches dieses<br />

Bleibende erlebt. … Mit dem Gewahrwerden eines<br />

Dauernden, Bleibenden im Wechsel der inneren Erlebnisse<br />

beginnt das Aufdämmern des Ich-Gefühls»<br />

(Steiner 1910/1989b, S. 61). Die innere «Bildwelt»<br />

des Gedächtnisses gibt – so wie es die Begegnung mit<br />

der Aussenwelt und die Gestalterfahrung des eigenen<br />

Leibes in anderer Weise tun – dem «Ich» die Möglichkeit,<br />

sich in den Zeitdimensionen von Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft zu erleben und zu reflektieren.<br />

Erst dadurch kann es zu einem biographischen Wesen<br />

und zum Akteur seiner eigenen Entwicklung werden.<br />

«Das eigentlich dauernde Seelenleben ist dahinter, steigt<br />

herunter, das geht durch die wiederholten Erdenleben und<br />

sitzt in der Organisation des Leibes darinnen» (R. Steiner<br />

1924/1995, S. 13).<br />

3.<br />

Eine Möglichkeit, sich mit der Diskrepanzerfahrung in<br />

Bezug auf das «Ich»-Erleben produktiv auseinanderzusetzen<br />

– dem Rätsel der eigenen Existenz –, liegt<br />

in einem meditativen Übungsweg. Mit ihm lässt sich<br />

die innere Erfahrung des «Ich» vertiefen. Was im Alltagsleben<br />

eher flüchtige Aufmerksamkeit erfährt – die<br />

reflexive Bewusstwerdung des eigenen Denkens, Fühlens<br />

und Handeln als Wirksamkeit des «Ich» – kann in<br />

der Meditation intensiver beobachtet und erlebt werden.<br />

Anlässlich der Weihnachtstagung zur Begründung<br />

der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft<br />

des Jahres 1923/24 hatte Rudolf Steiner als eine Art<br />

«inneren Grundstein» einen Meditationsspruch gestiftet,<br />

in dem der spirituelle Zusammenhang des<br />

Menschen mit der geistigen Welt in den Blickpunkt<br />

gestellt wird. In drei, den Kernbestand dieses Spruchs<br />

bildenden Übungen kann die Erfahrung des menschlichen<br />

«Ich» intensiviert und verdichtet werden. Diese<br />

betreffen seine Herkunft, seinen Zusammenhang mit<br />

der Welt und die auf seine Zukunftsentwicklung angelegte<br />

Freiheitsgestalt des Menschen. In den folgenden<br />

Abschnitten werden dazu einige Gesichtspunkte<br />

dargestellt. (Den Text des Spruchs findet man in dem<br />

Band: Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen<br />

Anthroposophischen Gesellschaft (Steiner<br />

1924/1963), sowie in diversen Einzelausgaben. Darüber<br />

hinaus gibt es mehrere Übersichtsdarstellungen,<br />

z.B. Grosse 2013).<br />

Die Herkunft des eigenen «Ich» – und damit auch seine<br />

eigene individuelle und menschheitliche Geschichtlichkeit<br />

– liegt für das Tagesbewusstsein im Dunkeln. Die<br />

Meditationsübung des «Geist-Erinnerns», wie Steiner<br />

sie bezeichnet, führt in der Rückerinnerung an einen<br />

Punkt in der Biographie, hinter den keine Erinnerung<br />

reicht. Bezeichnender Weise erscheinen die ersten Er-<br />

198


Beiträge | Contributions<br />

innerungen oder Erinnerungsinseln zeitgleich mit dem<br />

Auftreten des ersten «Ich»-Sagen des kleinen Kindes,<br />

also dem Auftreten der Intuition des «Ich», das sich an<br />

Leib und Welt resp. an den erwachenden Gedächtnisvorgängen<br />

zu spiegeln begonnen hat. Auch wenn man hier<br />

an einer Bewusstseinsschwelle angekommen ist, gibt es<br />

keinen Zweifel, dass die Existenz des «Ich» nicht erst an<br />

diesem Punkt begonnen hat. Die Übung des «Geist-Erinnerns»<br />

lässt dies als «Schwellenerfahrung» erlebbar<br />

werden. Sie vermittelt nicht nur das Erlebnis einer Grenze,<br />

sondern auch das für die Entwicklung sowohl des individuellen<br />

Menschen, wie auch des Menschenwesens<br />

an sich, also das Gefühl dafür, dass das «Ich» des Menschen<br />

ein Wesen in Entwicklung ist. Als solches ist es,<br />

so bringt es die «Grundsteinmeditation» zum Ausdruck,<br />

aus einem archaischen Schöpfungsvorgang entstanden,<br />

als individuelles menschliches «Ich» aus einem göttlichen<br />

«Ich». Dieses entwickelt sich nicht in einem einzigen<br />

Leben, sondern in einem biographischen Weg von<br />

Leben zu Leben:<br />

«Der Mensch trägt in sich einen seelischen Wesenskern,<br />

welcher einer geistigen Welt angehört.<br />

Dieser seelische Wesenskern ist das menschliche<br />

Dauerwesen, welches in wiederholten Erdenleben<br />

sich so auslebt, dass es sich in einem Erdenleben<br />

innerhalb des gewöhnlichen Bewusstseins als<br />

eine diesem Bewusstsein gegenüber selbständige<br />

Wesenheit heranbildet, nach dem physischen<br />

Tode des Menschen in einer rein geistigen Welt erlebt,<br />

und nach entsprechender Zeit die Ergebnisse<br />

des vorangehenden Erdenlebens in einem neuen<br />

darlebt. Es wirkt dieses Dauerwesen so, dass es<br />

zum Inspirator des Schicksals des Menschen wird.<br />

Es inspiriert dieses Schicksal so, dass sich ein Erdenleben<br />

als die durch die Weltordnung begründete<br />

Folge der vorangehenden ergibt» (Steiner 1987,<br />

S. 43).<br />

Was Rudolf Steiner in diesen Worten in dem Buch «Die<br />

Schwelle der geistigen Welt» beschrieben hat, verdeutlicht<br />

seine Ausführungen im ersten Vortrag des<br />

«Heilpädagogischen Kurses»: das Verhältnis des «eigentlichen<br />

Seelenlebens» (des seelischen Wesenskerns)<br />

zu dem «symptomatischen Seelenleben», das<br />

dadurch entsteht, dass sich der Wesenskern mit dem<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

aus der Generationenfolge stammenden Vererbungsleib<br />

verbindet und damit in die irdische Existenz tritt.<br />

Es ist jener Inkarnationsprozess, der an der Begegnung<br />

mit Leib und Welt zum «Tagesbewusstsein» führt,<br />

in dem sich das «Ich» des Menschen an den Prozessen<br />

des Denkens, Fühlens und Wollens, die es selbst<br />

hervorbringt zu gleicher Zeit selbst spiegelt. Steiner<br />

nannte es «symptomatisches Seelenleben». Er sagte:<br />

«Dieses Denken, Fühlen und Wollen ist überhaupt nur<br />

da wie Spiegelbilder, richtig wie Spiegelbilder, löscht<br />

aus, wenn wir einschlafen. Das eigentlich dauernde<br />

Seelenleben ist dahinter, steigt herunter, das geht<br />

durch die wiederholten Erdenleben und sitzt in der Organisation<br />

des Leibes darinnen» (Steiner 1924/1995,<br />

S. 13–14). Die Bezeichnungen, die Steiner für die Beschreibung<br />

dieser Prozesse verwendet, wechseln,<br />

beziehen sich jedoch auf die gleichen Begriffe: «eigentliches<br />

Seelenleben», «Wesenskern» oder «höheres<br />

Ich» gegenüber «symptomatischem Seelenleben»<br />

oder «niederem Ich».<br />

Das Kind muss in seinen ersten Lebensjahren nun<br />

den aus der Vererbungslinie stammenden Leib sich zu<br />

eigen machen, das überlieferte Modell individualisieren<br />

und den Leib zu einem Instrument für das Wirken<br />

des Seelisch-geistigen zu machen. Dabei tritt das kindliche<br />

«Ich» an jene Widerstandserfahrungen, von denen<br />

schon die Rede gewesen ist. Man müsse gewissermassen<br />

im geistigen Griff haben, wie stark die Individualität<br />

des Kindes sich gegenüber dem Leib durchsetzen<br />

könne, meinte Steiner in jenem ersten Vortrag. Allerdings<br />

sagte er in einem Vortrag über Pädagogik, den er<br />

wenige Wochen nach dem Heilpädagogischen Kurs in<br />

England hielt, dass die meisten Menschen noch sehr<br />

vieles dem gegebenen Modell «nachbauen» würden<br />

(Steiner 1924/1989c, S. 18).<br />

«… das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es<br />

verbunden ist» (Steiner 1904/2003, S. 50).<br />

4.<br />

Ein zweiter Aspekt des «Ich» bezieht sich auf dessen<br />

Weltbezug, sein Verbundensein mit anderen Menschen<br />

und den Ereignissen und Dingen in der Welt.<br />

Dieser kann in einer Übung des «Geist-Besinnens» er-<br />

199


Beiträge | Contributions<br />

fasst werden, in der man dem rhythmischen Verhältnis<br />

des Menschen zur Welt nachspüren kann, einem<br />

Geschehen, in dem das «Ich» immer neu nach einem<br />

Gleichgewicht zu der es umgebenden Welt strebt und<br />

das zu einer inneren Einheit mit deren Ereignissen und<br />

Geschehnissen führen kann. In dem bereits erwähnten<br />

Buch «Die Schwelle der geistigen Welt», das als eine<br />

Art von geisteswissenschaftlicher Hermeneutik und<br />

Herantasten an Steiners geisteswissenschaftliche Begriffsbildung<br />

verstanden werden kann, heisst es: «Die<br />

Seele fühlt, dass sie in diesem Leben von sich selbst<br />

loskommen kann. Dieses Gefühl aber braucht die<br />

Seele ebenso wie das entgegengesetzte, dasjenige des<br />

völlig In-sich-selbst-sein-Könnens. In beiden Gefühlen<br />

liegt der ihr notwendige Pendelschlag ihres gesunden<br />

Lebens» (Steiner 1913/1987, S. 10).<br />

In dem Buch «Resonanz – eine Soziologie der Weltbeziehung»<br />

von Hartmut Rosa findet sich eine Beschreibung<br />

dieses dynamischen und dialogischen<br />

Verhältnisses: «dass Subjekte nicht auf eine vorgeformte<br />

Welt treffen, sondern postuliert, dass beide<br />

Seiten – Subjekt und Welt – in der und durch die wechselseitige<br />

Bezogenheit erst geformt, geprägt, ja mehr<br />

noch: konstituiert werden. Was und wie ein Subjekt<br />

ist, lässt sich erst bestimmen vor dem Hintergrund der<br />

Welt, in die es sich gestellt und auf die es sich bezogen<br />

findet; Selbstverhältnis und Weltverhältnis lassen<br />

sich in diesem Sinne nicht trennen. Subjekte stehen<br />

der Welt also nicht gegenüber, sondern sie finden<br />

sich immer schon in einer Welt, mit der sie verknüpft<br />

und verwoben sind, der gegenüber sie je nach historischem<br />

und kulturellem Kontext fliessende oder auch<br />

feste Grenzen haben» (Rosa <strong>2016</strong>, S. 62–63). Wie alle<br />

dynamischen Beziehungen kann dieser Vorgang vielen<br />

Störungen unterliegen und so entspricht es der prekären<br />

Lage des «Ich», wenn der kanadische Philosoph<br />

Charles Taylor befürchtet, «dass in der dominanten naturalistisch-rationalistischen<br />

Selbstinterpretation der<br />

Moderne das Subjekt allmählich zu einem nur noch<br />

«punktförmigen Selbst» schrumpfe» (zit. nach Rosa<br />

<strong>2016</strong>, S. 63). Es verliert dann den Gegenpol der von<br />

aussen kommenden «peripheren» Weltwahrnehmung,<br />

die von zentraler Bedeutung für den rhythmischen Austauschprozess<br />

des Ichs ist.<br />

Der Weltbezug des «Ich» hängt jedoch von dessen Öffnung<br />

zur Welt ab und in welches Verhältnis es sich zu<br />

ihr setzt, von der Art und Weise wie es sich initiativ zwischen<br />

innen und aussen, zwischen Selbstbezug und<br />

Weltbezug bewegt. Es hat zu tun mit jener Fähigkeit<br />

des Loslassens von sich selbst, hin zu einer in die Tiefe<br />

gehenden Begegnung mit der Welt, vor allem mit dem<br />

anderen Menschen. Hin zur Entwicklung einer nichtegozentrischen<br />

Aufmerksamkeit, von der sich etwa der<br />

Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen das<br />

verspricht, «was man den Dominoeffekt des Zuhörens<br />

nennen könnte: Wenn jemand wirklich zuhört, ändert<br />

er das System der kommunikativen Spielregeln. Dinge<br />

geraten in Bewegung» (Pörksen <strong>2016</strong>, S. 50). Im Loslassen<br />

und seinem scheinbaren Selbstverlust kommt<br />

es zu einer neuen und überraschenden Begegnung<br />

nicht nur mit der Welt, sondern auch mit sich selbst.<br />

Sehr genau hat Rudolf Steiner den Vorgang dieser Art<br />

von Aufmerksamkeit im «Heilpädagogischen Kurs» beschrieben.<br />

Um sich in der dort beschriebenen Art und<br />

Weise mit Empathie in das Kind einfühlen zu können,<br />

ist es notwendig, die eigenen Emotionen – die Reaktionen<br />

von Sympathie und Antipathie – zurückhalten<br />

und in Ruhe das Kind in sich aufnehmen zu können.<br />

Es ist die Voraussetzung dafür, dass der Erziehende<br />

sein eigenes Fühlen (und eben nicht seine spontanen<br />

emotionalen Reaktionen) für einen Prozess der Wahrnehmung<br />

der Welt, in diesem Fall des Kindes, zur Verfügung<br />

stellt. Nur dann kommt es zu einer wirklichen<br />

Wahrnehmung und nicht zu blossen Projektionen. So<br />

sagte Steiner: «Erst dann, wenn man es so weit gebracht<br />

hat, dass einem eine solche Erscheinung zum<br />

objektiven Bild wird, dass man sie mit einer gewissen<br />

Gelassenheit als objektives Bild nimmt und nichts<br />

Anderes dafür empfindet als Mitleid, dann ist die im<br />

astralischen Leib befindliche Seelenverfassung da, die<br />

in richtiger Weise den Erzieher neben das Kind hinstellt.<br />

Und dann wird er alles übrige mehr oder weniger<br />

richtig besorgen» (Steiner 1924/1995, S. 35).<br />

Damit dieser unmittelbare Handlungsimpuls – die<br />

heilpädagogische Intuition – zustande kommen kann,<br />

muss eine entsprechende Tiefe der Begegnung stattfinden,<br />

die als Mitleid, Mitgefühl oder Empathie verstanden<br />

werden kann: «Wenn wir ein Wesen nur von aussen<br />

200


Beiträge | Contributions<br />

anschauen, bietet es unseren Sinnen und unserem Verstande<br />

das dar, was von den Eindrücken herrührt, die<br />

von ihm kommen. Wenn wir aber Mitgefühl entwickeln,<br />

treten wir über die Sphäre der Eindrücke, die das Wesen<br />

auf uns macht, hinüber; dann leben wir mit, was in dem<br />

geheimsten Allerheiligsten in den Wesen vorgeht, leben<br />

uns hinüber von unserer Ich-Sphäre in die Sphäre des<br />

andern Wesens» (Steiner 1911/1989a, 103). Es geht,<br />

wenn man diese Aussage berücksichtigt, um die Bildung<br />

eines Vertrauensraums, in dem Kind und Erziehender<br />

diese tiefgreifende Begegnungssphäre betreten<br />

dürfen. Die kaum mehr überschaubare Zahl an Publikationen<br />

zu Empathie und verwandten Fragen zeigt, welch<br />

tiefes Bedürfnis an Begegnung und Heilung vorliegt,<br />

aber auch wie wenig man diese Prozesse voraussetzen<br />

kann. Immerhin sollen, wie «Welt online» am 8.11.<br />

2010 meldete, rund zehn Prozent der deutschen Bevölkerung<br />

am Phänomen der Alexithymie leiden, dem Unvermögen<br />

die Gefühle anderer «lesen» zu können.<br />

Carl Rogers ging aus der Sicht der humanistischen Psychologie<br />

davon aus, dass wirkliche Empathie authentisch<br />

sei und kathartisch wirken könne; sie sei weder<br />

eine Interpretation von Zeichen und Verhaltensmerkmalen<br />

am anderen Menschen, noch eine Art von verkapptem<br />

Selbstmitleid (vgl. Grimm 2002). In diesem<br />

Zusammenhang ist Rudolf Steiners Sinneslehre von<br />

Bedeutung: So wie der Tastsinn als «Leibessinn» für<br />

die Erfahrung des eigenen «Ich» zentral ist, so ist es der<br />

Ich-Sinn für die Wahrnehmung des «Ich» eines anderen<br />

Menschen. Der damit verbundene Sinnesvorgang ist<br />

nicht von äusseren Zeichen und Merkmalen abhängig,<br />

sondern eine unmittelbare Wahrnehmung. So sagte er<br />

in den Vorträgen über «Das Rätsel des Menschen», es<br />

«beruht das Wahrnehmen des Ich des anderen nicht<br />

auf einem Schluss, sondern ist eine unmittelbar wirkliche,<br />

selbständige Wahrheit, die unabhängig gewonnen<br />

wird davon, dass wir den andern sehen, dass wir<br />

seine Töne hören. Abgesehen davon, dass wir seine<br />

Sprache vernehmen, dass wir sein Inkarnat sehen,<br />

dass wir seine Gesten auf uns wirken lassen, abgesehen<br />

von alledem nehmen wir unmittelbar das Ich des<br />

andern wahr» (Steiner 1916/1992, 241 f).<br />

Darauf beruht die Begegnung von Mensch zu Mensch.<br />

Genau dies – das Gegenüber und Miteinander von<br />

einem «Ich-Wesen» mit einem anderen» kann, als der<br />

Prototyp des Sozialen verstanden werden: das «Wir»<br />

führt zu einer Begegnung von «Ich» zu «Ich». Diese Begegnung<br />

ist nicht per se damit verbunden, dass sich<br />

das «Ich» in der Dyade, der Gruppe oder Gemeinschaft<br />

aufgibt, gleichsam regrediert und entgrenzt, wie es<br />

etwa Honneth in seinem bereits erwähnten Buch «Das<br />

Ich im Wir» in Anlehnung an die psychoanalytische Tradition<br />

im Sinne Donald Winnicotts annimmt. Sondern<br />

es gehört zu den Entwicklungsdimensionen des «Ich»,<br />

dass es sich immer mehr zu einem «sozialen Ich» entwickelt,<br />

das die freie Begegnung mit dem anderen<br />

Menschen ermöglicht.<br />

Das «Ich» indes ist in der Lage, die Waage zwischen<br />

den beiden Polen dieses rhythmischen Prozesses<br />

von Entäusserung und Rückbezug zu halten und das<br />

Gleichgewicht zwischen dem punktuellen und peripheren<br />

Erleben zu finden. Bei allen möglichen, zum Leben<br />

gehörenden, «Gleichgewichtsstörungen» ist dies sein<br />

Lebenselement und das Substrat seiner Entwicklung.<br />

Für das biographische Erleben eines gelingenden Lebens<br />

ist es entscheidend, ob man die von aussen herankommenden<br />

Lebensereignisse als zu sich gehörend<br />

integrieren kann oder sie als fremdbestimmende,<br />

sogar feindliche Einflüsse abweist.<br />

Steiner hat die Bedeutung der äusseren Ereignisse –<br />

den Weltbezug des «Ich» – als Gelegenheit bezeichnet,<br />

an der dieses sich in seinem Schicksal erkennen<br />

lernen kann. In seinem Buch «Theosophie» schrieb<br />

er: Der Mensch «wird dann sein «Ich» nicht nur in seinen<br />

von «innen» herauskommenden Entwicklungsimpulsen<br />

suchen, sondern in dem, was «von außen»<br />

gestaltend in sein Leben eingreift. In dem, was «ihm<br />

geschieht», wird er das eigene Ich erkennen» (Steiner<br />

1904/2003, S. 83). Es muss nicht eigens unterstrichen<br />

werden, welche Bedeutung eine solche Perspektive für<br />

den Selbstbezug des Menschen hat und welche Herausforderung,<br />

aber auch Entwicklungschance sie als<br />

biographische Übung beinhaltet.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

201


Beiträge | Contributions<br />

«… Weltenwesenslicht dem eigenen «Ich» zu freiem Wollen<br />

schenken» (R. Steiner 1924/1963).<br />

5.<br />

Ein weiterer und dritter Aspekt findet sich in der Art<br />

und Weise, wie sich das «Ich» im Denken erlebt. Der<br />

Mensch hat den Schritt zu seinem Tagesbewusstsein<br />

und zum Erleben seines «symptomatischen» oder<br />

niederen «Ich» mit dem Verlust seines früheren ursprünglichen<br />

geistigen Erlebens erkauft. So richtete<br />

sich sein Denken und Handeln vorwiegend auf die gegebene<br />

physische Sinneswelt. Von diesem Standpunkt<br />

aus musste er versuchen, die Fragen und Rätsel seiner<br />

Existenz zu lösen. In dieser Situation liegt der historische<br />

Schritt und die Chance zur Freiheitsentwicklung<br />

des Menschen. Die Wendung zur Sinneswelt bedeutet<br />

den Verlust der früheren unmittelbaren Verbindung zur<br />

geistigen Welt und des Bewusstseins des nicht verkörperten,<br />

höheren «Ich» als Wesenskern. Damit ist der<br />

Mensch mit dem Beginn der Neuzeit auf sich selbst<br />

gestellt. Das ist indes die Bedingung für die Entwicklung<br />

von Freiheit und Verantwortung. Sergej Prokofieff<br />

hat diesen Gedanken in einer Untersuchung über den<br />

«Ich»-Begriff der Anthroposophie aufgegriffen, indem<br />

er auf die Bedeutung des Lebens auf der Erde hinwies:<br />

«Diesen Prozess kann der Mensch nur auf der<br />

Erde, aus seinem Erden-Ich beginnen und ausführen.<br />

Denn allein in ihm kann die menschliche Freiheit als<br />

eine entscheidende Bedingung … erlebt und daraufhin<br />

in die weitere Entfaltung des höheren Selbstes mitgenommen<br />

werden» und fügt Steiner im Wortlaut an:<br />

«Das ist derjenige, der sein höheres Selbst ausgebildet<br />

hat. Hier in dieser physischen Welt ist die Ausbildungsstätte»<br />

(Prokofieff 2010, S. 43).<br />

Damit befindet sich der Mensch in einer historischen<br />

Verantwortungssituation, in der er sich mit dem Bösen<br />

als Bedingung der Freiheit auseinandersetzen muss.<br />

Denn Entwicklung zur Freiheit ist nicht denkbar ohne<br />

die Notwendigkeit und Möglichkeit zu wählen und ohne<br />

in sich selbst die Gegenkräfte gegen Unwahrheit, Ignoranz,<br />

Egoismus, Verletzung und Zerstörung zu entwickeln.<br />

Nicht Gott trägt die Schuld für dasjenige, was auf<br />

der Erde geschieht, sondern Menschen. Diese Tatsache<br />

liegt fortan als Schatten über dem Leben jedes Menschen<br />

und seinem Handlungsfeld.<br />

Steiners dritte Übung, die in dem genannten Meditationsspruch<br />

des «Grundsteins» entwickelt ist, weist<br />

auf diesen Entwicklungsweg zur Freiheit hin. Das meditative<br />

Denken ermöglicht, sich über das an die<br />

Sinnestätigkeit gebundene Denken hinaus mit dem Gedankenwesen<br />

der Welt zu verbinden und an ihm teilzuhaben<br />

– womöglich nur anfänglich und zart. In welcher<br />

Art der Mensch diese Gedanken anwendet, wofür er sie<br />

einsetzt, ist keine unmittelbare Folge des Erlebens dieser<br />

Gedanken, sondern offen: zwischen Erkenntnis und<br />

Handlung liegt die Entscheidung des Menschen. Freiheit<br />

beginnt dort, wo der Mensch in die Verantwortung<br />

für sein Denken und Handeln eintritt.<br />

Der amerikanische Philosoph Matthew Crawford hat in<br />

seinem Buch «Die Wiedergewinnung des Wirklichen»<br />

darauf hingewiesen, dass «echte Handlungsmacht»<br />

nicht auf einem Willkürakt beruhen könne, «sondern<br />

paradoxerweise auf der Unterwerfung unter Dinge, die<br />

ihr eigenes, unergründliches Wesen haben, ob dieses<br />

Ding nun ein Musikinstrument, ein Garten oder eine<br />

Brücke ist» (Crawford <strong>2016</strong>, S. 44–45). Es sei der «situierte»<br />

Mensch, der sich in seiner Verkörpertheit, seiner<br />

zutiefst sozialen Natur und in dem bestimmten<br />

historischen Moment, in dem er lebe, vorfinde (ebd.<br />

S. 48).<br />

Aus der Perspektive des «Heilpädagogischen Kurses»<br />

geht es in diesem Zusammenhang um die Gestaltung<br />

eines schöpferischen «Augenblicks», um situativ gelingendes<br />

Handeln in Lern- und Entwicklungsumgebungen,<br />

um die «heilpädagogische Intuition», wie sie<br />

weiter oben genannt wurde. Wo sie gelingt, ist sie ein<br />

Handlungsimpuls, der aus der Wahrnehmung des Kindes<br />

und der in ihm liegenden Möglichkeiten heraus<br />

entsteht und nicht Ergebnis eines Programms, Rezeptes<br />

oder gar persönlicher Willkür. Dieser Handlungsgestus<br />

kann auch als ein Prototyp für ein Handeln vom<br />

anderen her verstanden werden.<br />

Als «Willensbewegung» des «Ich» beginnt der dem Tagesbewusstsein<br />

nur teilweise zugängliche Prozess der<br />

Intuition mit der intensiven Aufmerksamkeit auf das<br />

Kind, als Moment einer authentischen Begegnung,<br />

die von aktiver Zuwendung und Interesse getragen ist.<br />

«Ein im Leben webendes Wissen vom Menschen nimmt<br />

das Wesen des Kindes auf wie das Auge die Farbe aufnimmt»,<br />

hatte Rudolf Steiner in einem Aufsatz über<br />

202


Beiträge | Contributions<br />

«Pädagogik und Kunst» des Jahres 1923 geschrieben<br />

(Steiner, zit. nach Kiersch 2010, S. 78). Damit<br />

wird charakterisiert, in welcher feinen Weise Wahrnehmung<br />

und Erfahrung und Wissen miteinander in<br />

Verbindung treten. Denn an diese erste Episode der<br />

Aufmerksamkeit schliesst sich jene bereits erwähnte<br />

Phase des Mitgefühls, der Empathie an, als die «Seelenverfassung,<br />

die in richtiger Weise den Erzieher<br />

neben das Kind stellt» (Steiner 1924/1995, S. 35).<br />

Von hier aus geschieht der Übergang in das intuitive<br />

Handeln gleichsam als Metamorphose von Erkenntnis<br />

und Empathie: «Und dann wird er alles Übrige<br />

mehr oder weniger richtig besorgen. Denn, meine lieben<br />

Freunde, Sie glauben gar nicht, wie gleichgültig<br />

es im Grunde genommen ist, was man als Erzieher<br />

oberflächlich redet oder nicht redet, und wie stark es<br />

von Belang ist, wie man als Erzieher selbst ist» (ebd.).<br />

Jedes pädagogische oder heilpädagogische Handeln<br />

muss sich aus der Persönlichkeit, aus der Präsenz<br />

des «Ich» des Erziehenden legitimieren (ausführlicher<br />

in Grimm <strong>2016</strong>).<br />

«Alles Erdenkliche hätte ich sein können – vielleicht sogar<br />

einer jener Menschen, die ich manchmal wegen ihres Studiums<br />

beneide –, wenn ich ohne Körperbehinderung zu meinem<br />

Lebenslauf angetreten wäre, nur eines nicht: Ich selbst!<br />

Dieser bestimmte Mensch mit meinem Namen ist gar nicht<br />

anders zu denken als mit einer spastischen Lähmung, die<br />

seine Geh-, Greif- und Sprechfähigkeit einschränkt» (Fredi<br />

Saal 2002).<br />

6.<br />

Diese Prozesse rechnen mit dem sich in Entwicklung<br />

befindenden «Ich» des Menschen. Steiner ging<br />

davon aus, dass jede Entwicklung vom «Ich» ausgehen<br />

müsse, denn wir «haben in dem Erdenleben nur<br />

ein einziges menschliches Glied, an dessen Entwicklung<br />

wir wirklich arbeiten können, das ist unser Ich»<br />

(Steiner 1912/2003, S. 43). Schon weiter oben wurde<br />

auf die prekäre Situation des «Ich» hingewiesen, auf<br />

die Ambiguität zwischen innerer Entwicklung und äusseren<br />

Zwängen. Im «Heilpädagogischen Kurs» beklagt<br />

Steiner vor allem die Neigung zur Selbstbespiegelung,<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

die den Moment der Intuition nicht ins Bewusstsein<br />

treten lasse. So würden die an sich nahe an der Bewusstseinsschwelle<br />

liegenden «Einfälle» gar nicht<br />

wahrgenommen. Dass unsere Kultur einer nicht-egozentrischen<br />

«Ich»-Entwicklung bedarf, ist heute allgemein<br />

bekannt. Das «grosse Ego» des sich selbst<br />

durchsetzenden Machers, das Zeitalter der Narzissten<br />

(Lasch) oder das «spätmoderne Konsumenten-Ich»<br />

(Crawford) müssen als überkommende Lebens- und<br />

Charaktermuster durch ein neues «Ich» abgelöst werden,<br />

das sich, ohne sich selbst zu verlieren, im «Wir»<br />

mit anderen «Ichen» an der Gestaltung der Aufgaben<br />

des Lebens beteiligt.<br />

Rudolf Steiners Aussage über das «Ich» in seinem<br />

Buch «Theosophie»: «Das Ich erhält Wesen und Bedeutung<br />

von dem, womit es verbunden ist» kann man<br />

auch aktiv formulieren mit: «womit es sich selbst verbindet».<br />

Damit wird das produktive Verhältnis zum eigenen<br />

«Ich» noch deutlicher unterstrichen. Die weitere<br />

Evolution des «Ich», einst das grosse Geschenk der<br />

geistigen Welt an den Menschen, muss nun von diesem<br />

«Ich» selbst ausgehen. Dabei kann es mit der Hilfe<br />

der geistigen Welt rechnen. Es sei noch ein «Baby», ermahnte<br />

Steiner seine Zuhörer gegen Ende seiner Ausführungen<br />

über Heilpädagogik, das jüngste seiner<br />

Wesensglieder (Steiner 1924/1995, S. 184). Einst,<br />

erst in einer fernen Entwicklungsepoche würde «ein<br />

ungeheures Wissen von dem Zusammenhang des Lebens<br />

von dem Ich ausstrahlen» (Steiner 1915/1981,<br />

S. 61).<br />

Zu Beginn und am Ende seiner zukunftsweisenden<br />

Ausführungen über Heilpädagogik entwickelte Steiner<br />

Entwicklungsperspektiven des menschlichen «Ich»,<br />

die man in einem komplementären Zusammenhang<br />

sehen kann: Er begann im ersten Vortrag mit einem<br />

Bild der Inkarnation des Menschen, zeigte auf, wie<br />

durch das höhere «Ich» die Verbindung eines geistigseelischen<br />

Wesens mit einem körperlich-materialen<br />

Wesen zustande kommt, wie zerbrechlich indes dieser<br />

Zusammenhang nicht nur am Anfang des Lebens<br />

sein kann, sondern dauernd bleibt. Diese allen Menschen<br />

gemeinsame Conditio humana ist es, die alles<br />

irdisch-biographische in einem übergreifenden Licht<br />

der Entwicklung des Menschen von Leben zu Leben<br />

aufscheinen lässt. So endete er seine Ausführungen im<br />

203


Beiträge | Contributions<br />

zwölften Vortrag schliesslich mit dem Bild des «Ich»,<br />

das gerade in seiner Fragilität in einer weitreichenden<br />

Zukunftsentwicklung steht.<br />

Michael Dackweiler in Freundschaft und<br />

zu guter Genesung gewidmet<br />

Rüdiger Grimm ist bis Ende <strong>2016</strong> Sekretär der Konferenz für<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie, Medizinische Sektion am<br />

Goetheanum und Professor für Theorien und Methoden der<br />

Heilpädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft<br />

in Alfter.<br />

Anmerkung: Fredi Saal (1935-2010), wurde mit einer Körperbehinderung<br />

geboren und fälschlicher Weise als geistig behindert<br />

eingestuft. Gegen den Willen seiner Mutter brachte man ihn in<br />

einem Heim für geistig behinderte Kinder unter. Erst nach Jahren<br />

wurden seine grossen Fähigkeiten erkannt und er konnte<br />

ein eigenständiges Leben aufbauen, sich autodidaktisch weiterbilden<br />

und wurde zu einem der Vordenker der Selbsthilfebewegungen.<br />

Sein Buch «Warum sollte ich jemand anderes sein<br />

wollen?» gehört zu den grossen Erzählungen eines neuen Ich-<br />

Bewusstseins.<br />

Literaturverzeichnis<br />

Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger<br />

Edition, HIS.<br />

Crawford, Matthew B. (<strong>2016</strong>): Die Wiedergewinnung des Wirklichen.<br />

Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung.<br />

Unter Mitarbeit von Stephan Gebauer. Berlin: Ullstein Verlag<br />

Ehrenberg, Alain (2011): Das Unbehagen in der Gesellschaft. 1.<br />

Aufl. Berlin: Suhrkamp.<br />

Frisch, Max (1954): Stiller. Roman. Frankfurt: Suhrkamp.<br />

Grimm, Rüdiger (2002): Erstaunen, Mitgefühl und Gewissen -<br />

Chancen und Gwefährdungen der Alltagsethik in den helfenden<br />

Berufen. In: Michaela Glöckler (Hg.): Spirituelle Ethik.<br />

Situationsgerechtes, selbstverantwortetes Handeln. Dornach:<br />

Verlag am Goetheanum, S. 121–150.<br />

Grimm, Rüdiger (<strong>2016</strong>): Selbstentwicklung und Heilpädagogischer<br />

Alltag. Meditative Elemente im «Heilpädagogischen<br />

Kurs» Rudolf Steiners. In: Michaela Glöckler (Hrsg.): Meditation<br />

in der Anthroposophischen Medizin. Ein Praxisbuch<br />

für Ärzte, therapeutisch Tätige, Pflegende und Patienten.<br />

Berlin: Salumed Verlag<br />

Grosse, Rudolf (2013): Die Weihnachtstagung als Zeitenwende.<br />

Dornach: Verlag am Goetheanum<br />

Honneth, Axel (2010): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie.<br />

Orig.-Ausg., 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch<br />

Wissenschaft, 1959).<br />

Kiersch, Johannes (2010): «Mit ganz andern Mitteln gemalt».<br />

Überlegungen zur hermeneutischen Erschliessung der esoterischen<br />

Lehrerkurse Steiners. In: RoSE – Research of Steiner<br />

Education 1 (2), S. 73–82.<br />

König, Karl (1971): Sinnesentwicklung und Leiberfahrung. Heilpädagogische<br />

Gesichtspunkte zur Sinneslehre Rudolf Steiners.<br />

Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben<br />

Pörksen, Bernhard (<strong>2016</strong>): Man kann Menschen zum Schweigen<br />

bringen, sie jedoch niemals zum Zuhören zwingen. Echtes Zuhören<br />

ist ein Geschenk. In: Die Zeit, 11.08.<strong>2016</strong> (34), S. 50.<br />

Prokofieff, Sergej O. (2010): Das Rätsel des menschlichen Ich.<br />

Eine anthroposophische Betrachtung. Dornach: Verlag am<br />

Goetheanum.<br />

Rosa, Hartmut (<strong>2016</strong>): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung.<br />

3. Auflage. Berlin: Suhrkamp.<br />

Saal, Fredi (2002): Warum sollte ich jemand anderes sein wollen?<br />

Erfahrungen eines Behinderten. Mit einem Nachruf von<br />

Günter Dörr. Neumünster: Ed. Jakob van Hoddis im Paranus-<br />

Verl.<br />

Schütt, Julian (2011): Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs;<br />

1911 - 1954. 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp.<br />

Steiner, Rudolf (1904/2003): Theosophie. Einführung in übersinnliche<br />

Welterkenntnis und Menschenbestimmung. 32.,<br />

durchges. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag (GA 9).<br />

Steiner, Rudolf (1905/1979): Die Stufen der höheren Erkenntnis.<br />

Dornach: Rudolf Steiner Verlag (GA 12).<br />

Steiner, Rudolf (1915/1981): Schicksalsbildung und Leben<br />

nach dem Tode. Sieben Vorträge, gehalten in Berlin vom 16.<br />

November bis 21. Dezember 1915. 3. Aufl. Dornach: Rudolf-<br />

Steiner-Verlag (GA 157a).<br />

Steiner, Rudolf (1916/1992): Das Rätsel des Menschen. Die geistigen<br />

Hintergründe der menschlichen Geschichte. Fünfzehn<br />

Vorträge, gehalten in Dornach vom 29. Juli bis 3. September<br />

1916; 3. Aufl. Dornach: Rudolf Stei-ner Verlag (GA 170).<br />

Steiner, Rudolf (1924/1995): Heilpädagogischer Kurs. Zwölf<br />

Vorträge, gehalten in Dornach vom 25. Juni bis 7. Juli 1924<br />

vor Ärzten und Heilpädagogen. 8. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner<br />

Verlag (GA 317).<br />

Steiner, Rudolf (1924/1963): Die Weihnachtstagung zur Begründung<br />

der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft.<br />

24. Dezember 1923 bis 1. Januar 1924. Grundsteinlegung,<br />

Vorträge und Ansprachen, Statutenberatung. Dornach: Rudolf<br />

Steiner Verlag (GA 260).<br />

Steiner, Rudolf (1913/1987): Die Schwelle der geistigen Welt.<br />

Aphoristische Ausführungen. 7. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner<br />

Verlag (GA 17).<br />

Steiner, Rudolf (1911/1989a): Der irdische und der kosmische<br />

Mensch. Ein Zyklus von neun Vorträgen, gehalten in Berlin<br />

am 23. Oktobr 1911 und zwischen dem 19. März und 20.<br />

Juni 1912. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag (GA 133).<br />

Steiner, Rudolf (1910/1989b): Die Geheimwissenschaft im Umriss.<br />

30. Aufl., 69.-73. Tsd. Dornach: Rudolf Steiner Verlag (GA 13).<br />

Steiner, Rudolf (1924/1989c): Die Kunst des Erziehens aus dem<br />

Erfassen der Menschenwesenheit. Sieben Vorträge, gehalten<br />

in Torquay vom 12. bis 20. August 1924, mit einer Fragenbeantwortung.<br />

5. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag<br />

(GA 311).<br />

Steiner, Rudolf (1925/1998): Anthroposophische Leitsätze. Der<br />

Erkenntnisweg der Anthroposophie; Das Michael-Mysterium.<br />

10. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag (GA 26).<br />

Steiner, Rudolf (1912/2003): Okkulte Untersuchungen über das<br />

Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Zwanzig Vorträge,<br />

gehalten 1912 bis 1913 in verschiedenen Städten. 5. Aufl.<br />

Dornach: Rudolf-Steiner-Verlag (GA 140).<br />

The translation into english is available at:<br />

seelenpflege.info/special<br />

204


Beiträge | Contributions<br />

Über die Grundlagen der Heilpädagogik<br />

Von Ita Wegman<br />

Wiederholt hat Rudolf Steiner darauf hingewiesen, dass<br />

für denjenigen, der von einer umfassenden Welt- und<br />

Menschenerkenntnis ausgeht, der Pädagoge bis zu<br />

einem gewissen Grade ebenso ein Heiler ist wie der Arzt.<br />

Und daneben steht der Ausspruch Rudolf Steiners, der<br />

besagt, dass der Arzt, der im wahren Sinne ein Heiler<br />

sein will, die Erziehungskunst, im weitesten Sinne aufgefasst,<br />

in sich lebendig haben muss, mit dem Bewusstsein,<br />

dass die Heilkunst in engster Verbindung mit der<br />

Initiationswissenschaft steht. Beide Hinweise wird auch<br />

derjenige voll und ganz verstehen, der sich ernstlich mit<br />

demjenigen befasst hat, was die Geisteswissenschaft<br />

an Erkenntnisgut für das Verständnis der menschlichen<br />

Entwickelung und im Besonderen der Entwickelung im<br />

kindlichen Alter gegeben hat. Und so musste natürlicherweise<br />

das Heilen und Erziehen miteinander verbunden<br />

werden, um zu einer speziellen Heilpädagogik zu kommen;<br />

zu einer solchen Heilpädagogik, die ihr Entstehen<br />

dem anthroposophischen Wissen verdankt, und zu der<br />

uns Rudolf Steiner hingeführt hat.<br />

Es soll nun im Folgenden vom ärztlichen Standpunkte<br />

aus dargestellt werden, wie die Krankheitszustände mit<br />

körperlichen und seelischen Entwickelungsstörungen im<br />

Kindesalter zu betrachten sind, und in welcher Weise<br />

Heilpädagogik in Anwendung kommen kann.<br />

So wissen wir, dass das Kind in seiner Entwickelung<br />

nach Leib, Seele und Geist durch ganz verschiedene Lebensepochen<br />

hindurchgehen muss, dass es in den verschiedenen<br />

Lebensaltern in ganz verschiedener Weise<br />

der Aussenwelt gegenübersteht, und dass auch seine<br />

physiologischen Vorgänge in den einzelnen Lebensphasen<br />

sich wesentlich voneinander unterscheiden. Wir<br />

müssen uns vorstellen, dass das Kind durch die Geburt<br />

den physischen Leib erhält, der ihm durch die Eltern<br />

zukommt. Es ist eine Art Modell eines physischen Leibes,<br />

behaftet mit den Merkmalen der Vererbung, in das<br />

hinein das Kind geboren wird, und in das es nach und<br />

nach mit seinen höheren Wesensgliedern untertauchen<br />

muss. Diesen physischen Leib, dieses durch die Eltern<br />

vererbungsmässig erhaltene Modell muss das geistigseelische<br />

Wesen, das sich in diesem Leib verkörpert hat,<br />

allmählich umgestalten, um sich darin seinem eigenen<br />

Wesen entsprechend entfalten zu können. Dies vollzieht<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

sich in den ersten sieben Lebensjahren, und diese Umgestaltung<br />

ist umso intensiver, je stärker das individuelle,<br />

geistig-seelische Wesen des Kindes ist.<br />

Aufgabe der Erziehung ist es nun, in dieser Lebensepoche<br />

dem Kinde zu helfen, in gesunder Weise sich seinen<br />

neuen physischen Leib zu gestalten, und alle diejenigen<br />

Einflüsse von ihm fernzuhalten, die es bei dieser Arbeit<br />

stören können. Denn das Kind ist in den ersten sieben<br />

Lebensjahren wie ein einziges grosses Sinnesorgan zu<br />

betrachten das auf alle Vorgänge seiner Umgebung mit<br />

seiner ganzen Organisation nachahmend reagiert. Und<br />

alles, was von aussen her an Unharmonischem an das<br />

Kind herandringt, macht es krank, weil es die höheren<br />

Wesensglieder in ihrer Arbeit an einem gesunden Aufbau<br />

der leiblichen Organisation hemmt.<br />

Diese Arbeit an seiner physischen Leiblichkeit nimmt<br />

das Geistig-Seelische des Kindes in der Zeit von der Geburt<br />

bis zum Zahnwechsel voll und ganz in Anspruch.<br />

Und zeigt sich das geistig-seelische Wesen stark, dann<br />

werden die Vererbungskräfte im physischen Leib überwunden,<br />

was jedoch meist nicht ohne Kampf vor sich<br />

gehen kann. Und dieser Kampf führt dann zu den sogenannten<br />

Kinderkrankheiten, die ja in dieser Zeit des Kindesalters<br />

besonders häufig auftreten. Auch alle anderen<br />

akuten Krankheiten in diesem Alter können gewissermassen<br />

betrachtet werden als ein Kämpfen der geistigseelischen<br />

Individualität gegen den vererbten Leib, das<br />

sogenannte Modell.<br />

Die Krankheit ist also hier schon als ein natürlicher Heilvorgang<br />

zu betrachten, und ein Arzt, der diese Vorgänge<br />

in rechter Weise versteht, wird sogleich zum Erzieher, der<br />

das Kind in solche Verhältnisse bringt, wo die Krankheit<br />

und dasjenige, was aus ihr entstehen kann, dahin gelenkt<br />

wird, dass es für die Entwickelung des Kindes förderlich<br />

ist.<br />

Hier kann man also schon sehen, wie eng das Heilen mit<br />

dem Erziehen verbunden ist. Und noch intensiver wird<br />

der Arzt eingreifen müssen, wenn es sich um konstitutionelle<br />

Krankheiten mit körperlichen und seelischen<br />

Entwickelungsstörungen handelt. Da wird der Arzt noch<br />

mehr zum Heilpädagogen werden müssen, indem er vor<br />

der Notwendigkeit steht, neben seinen medikamentösen<br />

Verordnungen noch individuelle, dem Wesen und<br />

205


Beiträge | Contributions<br />

der Krankheit des Kindes entsprechende heilpädagogische<br />

Massnahmen zu treffen, um dem Kinde durchgreifend<br />

helfen zu können.<br />

Und es muss der Arzt ein tiefgehendes Verständnis dafür<br />

haben, was die Ursachen solcher Krankheiten sind, und<br />

was den verschiedenen Krankheitssymptomen zugrunde<br />

liegt. Er muss wissen, wie dasjenige, was Rudolf Steiner<br />

als den Bildekräfteleib bezeichnet hat, verbunden<br />

mit den geistig-seelischen Kräften des Kindes, plastisch<br />

umgestaltend auf den physischen Leib wirkt, wie diese<br />

Bildekräfte den Lebensprozessen der physischen Organisation<br />

zugrunde liegen, und in welcher Weise dieser<br />

Bildekräfteleib – auch Ätherleib in der Geisteswissenschaft<br />

genannt – in den ersten sieben Lebensjahren des<br />

Kindes an seinem Kopfe mit den Sinnesnervenorganen,<br />

in der Brust, mit der Atmung und Blutzirkulation und in<br />

dem Stoffwechsel-Gliedmassensystem wirkt. Der Arzt<br />

muss wissen, wie diese Bildekräfte, die den Leib formen,<br />

nach und nach freier und selbständiger von der leiblichen<br />

Organisation werden, und sich beteiligen an der<br />

Entwickelung des kindlichen Seelenlebens. Dann wird er<br />

auch erkennen können, was die Anzeichen und Folgen<br />

sind, wenn die Bildekräfte nicht richtig eingreifen oder<br />

nicht zur rechten Zeit frei werden können.<br />

Behalten wir im Auge, dass die geistig-seelischen Kräfte<br />

des Kindes von der Geburt bis zu der Zeit des Zahnwechsels<br />

allein die Aufgabe haben, sich an der plastischen<br />

Ausgestaltung der Leiblichkeit zu betätigen, und vor<br />

allem in diesem Lebensabschnitt an der Gestaltung<br />

des Kopfes mit den Sinnesnervenorganen zu arbeiten,<br />

während sie vom Kopfe aus in den ganzen Organismus<br />

einströmen, so müssen wir uns vorstellen, dass der<br />

Bildekräfteleib, während er zunächst nach der Geburt<br />

gleichmässig den Organismus durchdringt, nur etwa in<br />

den ersten zweieinhalb Jahren als Wachstums- und Gestaltungskraft<br />

im Haupte tätig ist. Das Wachstum und die<br />

Organbildung im Kopfe ist bis zu diesem Zeitpunkte gewissermassen<br />

abgeschlossen, und es kann sich in demselben<br />

Masse, als sich dieser Bildekräfteleib zurückzieht<br />

von dem Haupte, die Fähigkeit zu gehen und zu sprechen<br />

entwickeln. Und in dem Gehen und Sprechen offenbart<br />

sich uns durch den Leib die Entfaltung der geistig-seelischen<br />

Wesenskräfte des Kindes.<br />

Treten nun hier Störungen ein, und können sich z.B. die<br />

Bildekräfte nicht in geordneter Weise nach und nach bis<br />

zum Alter von zweieinhalb Jahren aus der Kopforganisation<br />

zurückziehen, dann kann auch das Kind nicht ordentlich<br />

gehen und sprechen lernen; es kann bei schweren<br />

Störungen im Ablauf dieser Prozesse dazu führen, dass<br />

das Kind nicht zum Gehen- und Sprechenlernen kommt,<br />

oder dass es sich nicht aufrichten kann, dass die Gliedmassen<br />

und die Brust im Wachstum zurückbleiben, rachitische<br />

Merkmale zeigen, während der Kopf an Umfang<br />

zunimmt. Und man hat schliesslich, wenn die Bildekräfte<br />

über die Zeit hinaus als Wachstumskräfte wirksam<br />

bleiben, denjenigen Krankheitszustand, den man als Hydrocephalie<br />

oder Wasserkopf bezeichnet.<br />

Auch kann natürlich der Fall eintreten, dass die Wachstumskräfte<br />

im Kopf zu schwach sind oder zu frühzeitig<br />

sich zurückziehen, dann können wir in den verschiedensten<br />

Graden dasjenige beobachten, was im extremen<br />

Fall die Mikrocephalie oder Kleinköpfigkeit ist; der Kopf<br />

verhärtet sich zu früh.<br />

Je früher nun der Arzt solche nach der einen oder anderen<br />

Richtung gehenden Krankheitstendenzen an einem<br />

Kinde erkennt, umso weitgehender wird er noch die<br />

Möglichkeit haben, hier gesundend einzuwirken. Er wird<br />

einem Kinde, bei dem der Kopf über das normale Mass<br />

hinauswachsen will, solche Substanzen als Medikamente<br />

verabreichen müssen, welche die ungehemmt im<br />

Kopfe fortwirkenden Wachstums- oder Bildekräfte, die zu<br />

Hydrocephalie führen und in dieser Intensität im Kopfe<br />

im Grunde nur im Embryonalstadium des Kindes normal<br />

sind, eindämmen und dem Gehirn die rechte Festigkeit<br />

geben; z.B. durch Verabreichung von Blei oder Kieselsäure<br />

in geeigneter Form; dazu solche Substanzen, welche<br />

auf schon vorhandene Deformierungen rückblickend einwirken<br />

können – in diesem Falle z.B. ein Hypophysen-<br />

Präparat – und diätische Massnahmen. Auch wird man,<br />

wenn das Kind schon etwas älter ist, durch heilpädagogisches<br />

Vorgehen, vor allem aber auch durch heileurythmische<br />

Übungen versuchen, die im Kopfe in dem Wachstum<br />

über das Ziel hinauswirkenden Kräfte in eine normale<br />

Gestaltung hineinzuleiten und auch der Brust- und<br />

Gliedmassenorganisation die mangelnden Gestaltungskräfte<br />

zuzuführen. Bei den Kleinköpfigen, bei denen es<br />

darauf ankommt, die Wachstumskräfte, die sich zu früh<br />

vom Kopfe zurückgezogen haben, wieder von neuem anzuregen,<br />

wird z.B. Silber das Hauptmedikament sein.<br />

Bis zum fünften Jahre etwa arbeiten normalerweise die<br />

Bildekräfte an der Ausgestaltung des Brustorganismus,<br />

dem rhythmischen System, an Atmung und Blutkreislauf,<br />

und ihnen kommen auch diejenigen Kräfte zu Hilfe,<br />

die aus dem Kopfe schon frei geworden sind. Ungesunde<br />

Einwirkungen auf das Kind von aussen her werden<br />

also auch in dieser Zeit die verschiedensten Störungen<br />

in der innerlichen Gestaltungstätigkeit der Bildekräfte<br />

zur Folge haben können. Ungeheuer wichtig wird es<br />

206


Beiträge | Contributions<br />

sein, dass das Kind in einer Umgebung ist, die es versteht.<br />

Je harmonischer und moralischer die es umgebenden<br />

Menschen sind, umso besser wird es für das Kind<br />

sein, da es auch noch in diesem Alter nur nachahmen<br />

will, und seine Bildekräfte alles in sich aufnehmen, was<br />

in der Umgebung geschieht. Unschöne Bewegungen und<br />

Gewohnheiten der Erwachsenen, ungute Gedanken und<br />

Gefühle, Sprachfehler, auch unharmonische Formen, die<br />

das Kind umgeben, sind nicht ohne Folgen. Früher oder<br />

später können sich die Anomalien zeigen. Besonders<br />

schädlich ist es auch für dieses Alter, wenn nunmehr die<br />

durch das allmähliche Freiwerden des Bildekräfteleibes<br />

aus der Brustorganisation als Phantasie und Gedächtnis<br />

aufkeimenden Fähigkeiten in ungesunder Weise beansprucht<br />

werden. Bei Kindern, die nicht gedeihen wollen,<br />

nervös, blass und körperlich zurückgeblieben sind, wird<br />

man auch meistens die Ursachen solcher Krankheitserscheinungen<br />

in derartigen Störungen in der Entwickelung<br />

finden können. Auch kann der Fall so liegen, dass<br />

durch Veranlagung die Tendenz dazu vorliegt, dass die<br />

Bildekräfte zu lange und zu intensiv mit der Brustorganisation<br />

verbunden bleiben, dann werden wir in ähnlicher<br />

Weise wie bei der Hydrocephalie, nur auf einem anderen<br />

Gebiete, einen ungesund fortdauernden Zustand haben,<br />

der zur organischen oder funktionellen Störungen in der<br />

Brustorganisation, zu Entwicklungshemmungen führt,<br />

die, wenn sie nicht rechtzeitig erkennt und berücksichtigt<br />

werden, schwerwiegende Folgen haben können. Der<br />

Arzt wird einem solchen Kinde Medikamente geben, die<br />

vor allem die plastischen Kräfte, die vom Kopfe aus in<br />

den Organismus hineinstrahlen, aufrufen, um auch die<br />

Organe der Atmung und Blutzirkulation aus dem übermässigen<br />

Wachstum und den übermässigen Lebensprozessen<br />

in die rechte Gestaltung zu bringen; er wird u.a.<br />

kohlensauren oder phosphorsauren Kalk, kieselsaures<br />

Eisen, auch Salzbäder geben. Auch wird der Arzt versuchen,<br />

durch heilpädagogisches Vorgehen in ähnlicher<br />

Weise zu wirken, z.B. durch eurythmische und auch spezielle<br />

heileurythmische Übungen. Indem er das Kind solche<br />

gesetzmässige, individuell gewählte Bewegungen<br />

ausführen oder anschauen lässt, wird er auch auf diesem<br />

Wege harmonisierend auf die Wachstums- und Gestaltungskräfte<br />

wirken können.<br />

Nach dem 5. Lebensjahre bis zum Zahnwechsel beginnt<br />

nun wieder eine neue Phase für das gesunde Kind. Es<br />

löst sich jetzt auch aus dem Gliedmassen- und Stoffwechselorganismus<br />

bis zu einem gewissen Grade der<br />

Bildekräfteleib heraus, und Hand in Hand damit geht<br />

eine psychische Veränderung vor sich. Das Kind fängt<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

an, nach und nach einen hingebungsvollen Glauben an<br />

den Erwachsenen zu entfalten, und in der Hingabe an<br />

die Autorität seines Erziehers beginnt es einen Sinn zu<br />

entwickeln für dasjenige, was als moralische Ermahnungen<br />

an es herangebracht wird. Wie unendlich gross auch<br />

hier noch die Gefahren sind, wird man aus dem Vorausgegangenen<br />

erahnen können, weil das Kind noch immer<br />

alles, was es erlebt, nachahmend bis in die Gestaltung<br />

seiner Organe in sich aufnimmt.<br />

Weittragend können auch die Nachteile sein, wenn sich<br />

diese Metamorphose durch äussere oder auch veranlagte<br />

Störungen nicht richtig vollziehen kann. Denn das Kind<br />

bereitet sich auch schon auf eine andere Epoche seines<br />

Lebens vor, die mit dem Zahnwechsel beginnen soll.<br />

Dieser Zahnwechsel ist ein sehr bedeutsamer Moment in<br />

der Entwickelung und auch für den Arzt ein wesentlicher<br />

Anhaltspunkt für die Beurteilung eines kranken Kindes.<br />

Aus einer unregelmässigen, ungesunden, verspäteten<br />

oder verfrühten Entwickelung der zweiten Zähne wird<br />

man ablesen können, was im Kinde als Krankheitsprozess<br />

oder Krankheitstendenz vorliegt. Treten die zweiten<br />

Zähne zu spät und unregelmässig auf, und sind sie z.B.<br />

zu weich, dann sind die plastisch härtenden Kräfte, die<br />

vom Kopfe einstrahlen, zu schwach gewesen; oder aber,<br />

sie haben zu stark und ungehemmt gewirkt, wenn die<br />

zweiten Zähne zu früh durchbrechen und der Arzt wird<br />

je nachdem Sorge tragen, entweder die mineralisierenden,<br />

gestaltenden Prozesse im Organismus anzuregen,<br />

oder wenn die aufstrebenden Bildekräfte zu schwach<br />

waren, so dass die Zähne ungenügend ausgebildet<br />

schon vorzeitig durchgebrochen sind, die Wachstumsund<br />

Lebensprozesse zu unterstützen. Wird man auch z.B.<br />

darauf achten, dass das Kind geschickt in seinen Händen<br />

und Füssen ist, wird man ihm, wenn es ungelenk<br />

ist, bestimmte Übungen mit seinen Händen und Füssen<br />

machen lassen, so wird man ihm auch dadurch zu einer<br />

gesunden Entfaltung der inneren plastischen Tätigkeit<br />

seiner höheren Wesensglieder verhelfen, wenn sie nicht<br />

richtig eingreifen wollen, wofür eben auch die Störungen<br />

der Zahnbildung ein sichtbarer Ausdruck sind.<br />

Mit dem Zahnwechsel ist das Kind im Grund auch ein<br />

anderes Wesen geworden, was wiederum beachtet werden<br />

muss, wenn man das Kind in seinem gesunden oder<br />

kranken Lebensprozessen und Lebensäusserungen verstehen<br />

will. Hier müssen wir das Augenmerk darauf richten,<br />

wie die geistig-seelischen Kräfte – man kann auch<br />

sagen Ich und Astralleib – des Kindes an dem Aufbau<br />

seiner Organisation beteiligt sind. Wir müssen wissen,<br />

dass das Geistig-Seelische im Kinde bis zu seinem 7. Le-<br />

207


Beiträge | Contributions<br />

bensjahr nur auf die Kopforganisation gewirkt hat, und<br />

von da aus an der plastischen Ausgestaltung des ganzen<br />

Organismus bis ins Stofflich-Substanzielle mitbeteiligt<br />

war, während mit dem Zahnwechsel diese Kräfte<br />

aus dem Kopfe sich zurückziehen und nur mehr in die<br />

rhythmischen Bewegungsvorgänge, die mit der Brustorganisation<br />

zusammenhängen, und durch die Atmung<br />

und den Blutkreislauf in die Organisation hineinwirken.<br />

Das Kind wird von einem nachahmenden zu einem selbständig<br />

fühlenden Wesen. Es öffnet sich mit seinem Gefühlsleben<br />

der Umgebung, es horcht auf das, was der<br />

Erzieher durch die Sprache und in bildhafter Weise ihm<br />

übermitteln kann. Alles, was auf sein Gefühlsleben wirken<br />

kann, beeinflusst seine Atmung und Blutzirkulation<br />

und strahlt auf diesem Wege bis in seine Wachstumsund<br />

Lebensprozesse, bis in seine Gestaltungsvorgänge<br />

hinein; Gesundendes und Zerstörendes. Viel wird also<br />

für die Gesundheit in diesem Alter davon abhängen, was<br />

die Umgebung dem Kinde bietet und vom ihm verlangt;<br />

auch davon, wie seine äusseren Lebensbedingungen<br />

sind, ob es z.B. genügend Bewegung in der freien Luft<br />

hat oder zu viel durch die Anforderung der Schule beansprucht<br />

wird. Fehler in der Erziehung, ungesunde und<br />

unregelmässige Lebensweise, auch einseitige Beanspruchung<br />

des Kindes werden Störungen verursachen. Das<br />

Kind wird kränklich, es können Störungen der Verdauung<br />

und der Ausscheidungsvorgänge auftreten, es kann sich<br />

die Bleichsucht vorbereiten. Auch Schwäche und Erkrankungen<br />

der Atmungs- und Zirkulationsorgane im späteren<br />

Alter können die Folge davon sein.<br />

Der Arzt also, der solche Zusammenhänge versteht, wird<br />

auch, wenn er ein Kind in der Zeit vom Zahnwechsel bis<br />

zur Geschlechtsreife zur Behandlung bekommt, sein Augenmerk<br />

darauf richten, was ungesund in der Lebensweise<br />

und Umgebung des Kindes ist. Er wird ihm seine<br />

Lebensweise regeln, für eine gesunde Erziehung Sorge<br />

tragen und wird, wenn nötig, heilpädagogische Anweisungen<br />

geben, indem er vor allem Musikalisches und<br />

Rhythmisches zu Hilfe nehmen kann. Dazu natürlich dasjenige,<br />

was an Heilmitteln notwendig ist.<br />

Wir sehen also, wie mannigfaltig die Erkrankungen und<br />

die Krankheitsursachen im Kindesalter sind, und wie<br />

auch in der Jugend oft schon die Keime für Krankheiten<br />

zu suchen sind, die erst beim Erwachsenen, oft sogar<br />

erst mit 40-50 Jahren, z.B. als Stoffwechselstörungen<br />

oder frühzeitige Sklerose zur Auswirkung kommen. Und<br />

ein reiches Feld bietet sich dem Arzt und Heilpädagogen,<br />

der alle diese Zusammenhänge kennt, um vorzubeugen,<br />

auszugleichen oder zu heilen, was schon ungesund und<br />

abnorm ist. Und verschieden wird die Behandlung sein,<br />

je nachdem, ob die Krankheitszustände erst funktionell<br />

sind, oder ob schon tiefer gehende Anomalien, Wachstums-<br />

oder psychische Entwicklungshemmungen und<br />

Deformitäten innerer Organe vorhanden sind, und von<br />

welchem Organ oder Organsystem sie ausgehen.<br />

So kann z.B. folgender Krankheitszustand vorliegen: Die<br />

physisch-ätherische Organisation des Kindes ist unharmonisch<br />

gestaltet, es bestehen innere, wenn auch nur<br />

ganz feine Deformitäten in einem oder dem anderen<br />

Organ oder Organsystem; dann kann das geistig-seelische<br />

Wesen des Kindes in einem solchen Leibe seine Tätigkeit<br />

nicht richtig entfalten. Ein Organ, z.B. die Lunge,<br />

kann so geschaffen sein, dass sie unter Umständen<br />

das Seelisch-Geistige zu fest und unregelmässig aufnimmt,<br />

so dass es sich in ihm leicht staut. Dann kann<br />

dies schliesslich zu Krampfzuständen, zu epileptischen<br />

Anfällen und Bewusstseinstrübungen führen. Oder<br />

aber, es kann das andere Extrem vorliegen, dass die<br />

seelisch-geistigen Wesensglieder die Neigung haben,<br />

zu stark auszufliessen, weil die Organe zu schwach<br />

sind, um sie genügend festzuhalten und in sich aufzunehmen.<br />

Dann treten Krankheitserscheinungen ein, die<br />

mehr funktionellen Charakter haben, z.B. Störungen der<br />

Ausscheidungsprozesse, Sekretionsstörungen, Überempfindlichkeit<br />

und ängstliches Wesen. Auch das Bettnässen,<br />

ein ja so weit verbreitetes Übel im Kindesalter,<br />

geht in diese Richtung.<br />

Oder zwei weitere Beispiele: Ist der Gliedmassen-Stoffwechselorganismus<br />

zu schwach ausgebildet, und können<br />

die höheren Wesensglieder – Ich und Astralleib – nur<br />

unharmonisch und mangelhaft da eingreifen in die Prozesse,<br />

dann kann man in den verschiedensten Abstufungen<br />

körperliche und seelische Störungen beobachten.<br />

Damit der Stoffwechsel in der richtigen Art vor sich gehen<br />

kann und keine Störungen stattfinden, muss Schwefel<br />

in bestimmter Menge in den Stoffwechselprozessen<br />

vorhanden sein. Ist zu wenig Schwefel im Organismus,<br />

dann wird der Stoffwechsel verlangsamt, träge vor sich<br />

gehen. Das ganze Aussehen und Verhalten verändert<br />

sich entsprechend. Astralleib und Ich kann nicht genügend<br />

in das Stoffwechselsystem eingreifen, und man hat<br />

das Bild eines Kindes, das die äusseren Eindrücke nicht<br />

richtig verarbeiten, sie nicht in seine körperliche Organisation<br />

einprägen kann. Sie können ohne Willensakt in<br />

sein Bewusstsein heraufsteigen und das Kind unter Umständen<br />

zwangsmässig beherrschen. Es ist ein Kind, mit<br />

dem man sich schwer in Beziehung setzen kann, und der<br />

Erzieher muss viel Geduld und Phantasie haben, um an<br />

208


Beiträge | Contributions<br />

es herantreten zu können. Man wird ihm natürlich auch<br />

durch Medikamente und entsprechende Diät zu einem<br />

regeren Stoffwechsel verhelfen müssen.<br />

Auf der andern Seite wiederum kann der Stoffwechsel<br />

zu stark ausgeprägt sein, so dass die höheren Wesensglieder<br />

zu intensiv beansprucht werden. Im Gegensatz<br />

zu dem vorher beschriebenen Krankheitsbild befindet<br />

sich in den Stoffwechselprozessen zu viel Schwefel.<br />

Das ganze Kind ist sulfurig, bis in seine Haare. Sein<br />

Wesen ist innerlich voller Unruhe, die es nach aussen<br />

auch zeigen kann, abwechselnd mit Zuständen von<br />

äusserer Apathie. Auch kann man an einem solchen<br />

Kinde beobachten, dass es äussere Eindrücke zu gierig<br />

einsaugt, dass diese teilweise in dem Stoffwechselorganismus<br />

verschwinden und für das Bewusstsein verloren<br />

gehen. Ein solches Kind kann u.a. Eisen und Salze<br />

notwendig haben, man wird ihm z.B. mehr Salz in der<br />

Nahrung geben, auch Wurzelgemüse, um ihm die Kopfkräfte<br />

und seine Gestaltungskräfte im Blute zu stärken<br />

und ein Gleichgewicht zum Stoffwechsel zu schaffen.<br />

Man wird es auch daran gewöhnen, bestimmte Eindrücke<br />

regelmässig in sich wachzurufen, um seine eigene<br />

innere Aktivität zu entwickeln.<br />

Zu unterscheiden von den hier angedeuteten Krankheitserscheinungen<br />

sind noch die sogenannten moralischen<br />

Defekte im kindlichen Seelenleben. Da handelt<br />

es sich nicht mehr bloss um Stauungen oder Ausfliessen,<br />

oder um ein unregelmässiges Eingreifen des Geistig-Seelischen<br />

in den Organen oder Organsystemen, da<br />

sind es vielmehr wirkliche Deformitäten des physischen<br />

Leibes, die bereits bis in die Embryonalzeit zurückgehen.<br />

Man kann z.B. bei solchen moralischen Defekten<br />

finden, dass durch Druckwirkungen auf den Embryo<br />

schon im Mutterleibe das Gehirn zu schmal gebildet<br />

ist, oder dass sich andere Teile des Gehirns nicht richtig<br />

gestalten konnten. Es werden also schon die Bildekräfte<br />

im Embryonalleben gestört. Und wir müssen annehmen,<br />

dass bei allen schon angeborenen Defekten eine<br />

karmische Auswirkung zugrunde liegt.<br />

Diese moralischen Defekte im Kindesalter sind mehr verbreitet,<br />

als man gewöhnlich annimmt. So ist z.B. schon<br />

die Sammelwut oft ein leichtes Symptom von dem, was<br />

wir im extremen Fall in der Kleptomanie vor uns haben.<br />

Auch Neigung zu Grausamkeiten, z.B. der Hang zur Tierquälerei<br />

und Unverträglichkeit, die im Kindesalter sich<br />

zeigen, kann man, soweit es nicht blosse Nachahmungen<br />

sind, nicht mehr nur als Ungezogenheit betrachten,<br />

sondern gehören auch schon mit in das Gebiet der moralischen<br />

Defekte hinein. Dies tritt auch deutlich dadurch<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

zutage, dass man meist mit den gewöhnlichen Erziehungsversuchen<br />

nicht zum Ziele kommt.<br />

Verzweifelt könnte man nun sein, wenn man annehmen<br />

müsste, dass solche Kinder keine Möglichkeit haben, gebessert<br />

oder geheilt zu werden, weil es sich um angeborene<br />

Bildungsdefekte handelt. Doch ganz im Gegenteil,<br />

es wird gerade hier der Heilpädagoge im Verein mit der<br />

Arzt seine ganze Kunst erfolgreich entfalten können. Er<br />

wird mit Einsetzen seiner ganzen Persönlichkeit an das<br />

Kind herantreten und mit Lebendigkeit versuchen, bei<br />

dem Kinde den Sinn zu wecken für die ihm fehlende<br />

Moral. Er muss durch sein ganzes Wesen das Beispiel<br />

für das Kind werden, so dass es ihm mit vollstem Vertrauen<br />

folgen kann. Dann wird es ihm gelingen können,<br />

nicht durch Ermahnungen und Bestrafungen, sondern<br />

z.B. durch unermüdliches Erzählen von Geschichten den<br />

Sinn für die Moral im Kinde zu erwecken, indem er in<br />

diesen Erzählungen die bestehenden Fehler immer von<br />

neuem wieder ad absurdum führt in einer Weise, wie es<br />

den kindlichen Gemüt entsprechen kann. Und aus der<br />

vertrauenden Hingabe an die Autorität des Erziehers<br />

wird das Kind es annehmen können.<br />

Auf der andern Seite hat der Arzt dahin zu wirken, dass<br />

er durch Darreichung von Medikamenten und Angaben<br />

für spezielle heileurythmische Übungen versucht, die<br />

plastischen Bildkräfte des kranken Organes aufzurufen<br />

und der Organisation die Möglichkeit zu geben, nachzuholen,<br />

was in der embryonalen Entwickelung verhindert<br />

worden ist. Wichtig ist es dafür allerdings, wenn man<br />

sich von einer solchen Behandlung noch eine Heilung<br />

versprechen will, dass ein solches Kind schon vor dem<br />

Zahnwechsel mindestens jedoch vor der Geschlechtsreife<br />

in Behandlung kommt, solange seine Organisation<br />

noch bildungsfähig ist.<br />

So ist nun mit dem Vorliegenden ein Versuch gemacht,<br />

das Theoretische der heilpädagogischen Arbeit, so wie<br />

es Rudolf Steiner den Ärzten und Pädagogen gegeben<br />

hat, in kurzem zu skizzieren. Es sind dies die Richtlinien<br />

für die Ausübung der Heilpädagogik, nach denen Ärzte<br />

und Pädagogen sich ihre Arbeit aufgebaut haben. Sie<br />

sind durch Studium und Erfahrung zu etwas geworden,<br />

was dem Arzt und Heilpädagogen in Fleisch und Blut<br />

übergegangen ist, so dass sein Tun von selbst daraus<br />

folgt und sich in der tätigen Hilfe am kranken Kinde entfalten<br />

kann. Wozu es geführt hat, in das mögen die hier<br />

folgenden Aufsätze und Berichte einen Einblick geben.<br />

Dieser Aufsatz erschien in der Zeitschrift Natura, im 1.<br />

Jahrgang 1926.<br />

209


The Foundations of Curative Education<br />

von Ita Wegman<br />

For the benefit of those who take their departure from<br />

a comprehensive knowledge of world and man, Rudolf<br />

Steiner has repeatedly pointed out, that to some degree<br />

the pedagogue is also a healer like the doctor. In association<br />

with this is Rudolf Steiner‘s word that the doctor who<br />

wishes to be a healer in the true sense of the word, has<br />

to be involved in a general but imaginative way in the art<br />

of education. He should be aware that the art of healing<br />

stands in very close relation to initiation science. Both<br />

indications are fully understandable to those who have<br />

earnestly acquired knowledge of human development<br />

and, more especially, huaan development in childhood,<br />

which spiritual science has passed on to us. It is only<br />

natural therefore that healing and education have been<br />

bonded in kinship to provide a special curative education,<br />

healing education; a form of curative education<br />

which owes its origin to the anthroposophic knowledge<br />

on which Rudolf Steiner has acted as a guide.<br />

The following considerations are written from a medical<br />

point of view and describe the diagnosis and treatment<br />

of states of illness which are related to physical<br />

and psychological disorders in child development.<br />

Ways of applying curative education in such situations<br />

are then explored.<br />

We know that the child has to pass through completely<br />

different phases of life in its development of body, soul<br />

and spirit; it faces its surroundings in various ways during<br />

the different phases of life. Let us imagine that the<br />

child receives a physical body at birth which is given<br />

to him by his parents. It is a model of a physical body<br />

which has the heredity features into which this child is<br />

born and has to submerge by degrees with its higher<br />

members. This physical body, the model received from<br />

the heredity stream of the parents is incorporated by the<br />

soul-spiritual being and transformed little by little so<br />

that it can unfold within it according to its disposition.<br />

This is accomplished in the first seven years of life and<br />

the more intensive the transformations, the stronger the<br />

individual soul-spirit of the child may be.<br />

It is the task of education to help the child in this phase<br />

of life to shape and mould its new physical body in a<br />

healthy way and to curb and check the influences which<br />

could disturb him in this work. In the first seven years of<br />

its life the child can be looked upon as one single, large<br />

sensory organ, which reacts in an imitative way to all the<br />

developments in its surrounding. Everything that works<br />

unharmoniously upon the child, externally speaking, will<br />

make him ill, because it hinders the higher members of<br />

being in their work on the healthy shaping and formation<br />

of the physical body.<br />

The work on the physical body of the child involving its<br />

soul-spiritual powers is fully accomplished in the time<br />

between birth and the coming of the second teeth. If the<br />

soul spiritual being of the child manifests itself too strongly,<br />

then the hereditary forces in the physical body are<br />

overcome; this does not, however, take place without a<br />

struggle. The ensuing disharmony leads to the so-called<br />

children‘s diseases, which occur rather frequently in this<br />

period of childhood. All the other acute illnesses of this<br />

period of life may also be looked upon as a contest between<br />

the soul-spiritual individuality and the body inherited<br />

from the parents, the so-called model.<br />

Illness is considered here as a natural process of healing.<br />

The doctor who understands these processes correctly,<br />

takes on the role of a teacher at the same time and changes<br />

the circumstances the child is in, so that the illness<br />

210


Beiträge | Contributions<br />

and its effects can be directed and steered to further the<br />

development of the child. Thus you can see how closely<br />

connected healing and education are. The doctor has<br />

to intervene even more intensively if he is dealing with<br />

a constitutional illness concerning developmental disorders<br />

of body and soul. In this case he has to become<br />

more of a curative teacher and is required to combine his<br />

medical prescriptions with individual curative educational<br />

measures which correspond to the nature and illness<br />

of the child. This is necessary for the child to be helped<br />

as a whole.<br />

The doctor should have a profound understanding of the<br />

causes of such illnesses and what is at the root of the different<br />

symptoms. He should have knowledge of the body<br />

of formative forces as Rudolf Steiner has phrased it, how<br />

this is linked to the soul-spiritual forces of the child, how<br />

they combine to work in a plastic, transformative way on<br />

the physical body, what role these formative forces play<br />

in the life processes of the physical body and how these<br />

formative forces - termed as the ‚ether body‘ in spiritual<br />

science - affect the head of the child, the nerve-sense organs,<br />

respiration and blood circulation in the chest and<br />

the metabolic-limb system. He should realize how these<br />

formative forces form the (physical) body and gradually<br />

become liberated and more independent from the physical<br />

organisation so that they can participate in the development<br />

of the child‘s soul life. He realizes where the<br />

symptoms and consequences appear, if the formative<br />

forces are not involved properly or do not become free<br />

at the right time.<br />

Bear in mind that the soul task of the soul-spiritual forces<br />

is to be active in the moulding and shaping of the body,<br />

primarily by the formation of the head and the sensorynerve<br />

organs during this phase of life. While these forces<br />

flow from the head into the whole organism, we should<br />

imagine that the formative body of forces only work as<br />

forces of development and growth in the head during<br />

the first two and a half years. The growth and organ development<br />

in the head is then to some degree concluded.<br />

To the extent to which the body of formative forces<br />

withdraws from the head, to the same degree does the<br />

child learn to walk and speak It is through walking and<br />

speaking that the unfolding of the soul-spiritual forces of<br />

the child are manifested in the body.<br />

If there are upsets and hindrances to this process, if the<br />

formative forces do not withdraw from the head organisation<br />

of the child in an orderly fashion, then the child<br />

cannot learn to walk and speak properly. In the case of<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

severe disorders in this development, the child may become<br />

disabled in its movement and retarded in speech,<br />

or the child may not learn to stand upright. The limbs<br />

and the chest are impeded in growth, symptoms of rickets<br />

become apparent and the circumference of the head<br />

grows. If the formative forces work beyond their time as<br />

forces of growth, then we have the pathological condition<br />

which is called hydrocephalus or «water head».<br />

Of course the forces of growth in the head maybe too<br />

weak or have to be withdrawn too early. Then we can<br />

observe various degrees of a condition, an extreme of<br />

which is microcephaly or small-headedness. In this case<br />

the head hardens too soon. The earlier the doctor recognizes<br />

the one or the other tendency towards illness in<br />

the child, the greater the possibility is of assisting it. The<br />

child whose head grows beyond the normal measure can<br />

be prescribed substances, which curb the forces of growth<br />

and development that cause hydrocephalus and can<br />

usually only be detected at such intense levels during<br />

the embryological period, which is then normal. The medicines<br />

can give the right firmness to the brain, e.g. the<br />

administration of plumbum and silicic acid (silica) in suitable<br />

forms. In addition, there are substances which can<br />

reduce the existing deformity - in this case a hypophysis<br />

preparation and also dietary measures. If the child<br />

is somewhat older, one can try to guide the excessive<br />

growth forces in the head towards normal formation by<br />

means of curative education and particularly by way of<br />

eurythmic exercises. By these means one can bring these<br />

forces into the chest and limb organisations where they<br />

are lacking.<br />

For the small-headed children, it is a matter of stimulating<br />

again the growth forces which have withdrawn too<br />

early from the head. In this case the chief medicine will be<br />

argentum (silver). Till the age of five, the formative forces<br />

work are involved in the shaping and formation of the<br />

chest, the pulsating movement and system, breathing<br />

and blood circulation. The forces which have already<br />

been freed from the head assist in the chest. Unhealthy<br />

environmental influences on the child can lead to diverse<br />

disturbances of the inner formative activity in this phase<br />

of life, too. It extremely important that the child is understood<br />

in its surroundings. The more harmonious and<br />

moral the people who surround the child are, the more<br />

beneficial this is for the child, because it only wants to<br />

imitate and absorb in a formative sense everything that<br />

happens in its surrounding. Ungainly movements and<br />

habits of the adults, bad thoughts and feelings, speech<br />

211


Beiträge | Contributions<br />

impediments and lack of harmony and form around the<br />

child all have consequences. Sooner or later anomalies<br />

can appear. It is particularly detrimental if the body of<br />

formative forces gradually being released from the chest<br />

at this age result in fantasy and the ripening of memory<br />

and these new faculties are engaged in an unhealthy<br />

way. The origin of illnesses of children who do not thrive,<br />

who are nervous, pale and retarded in their physical development<br />

can be frequently discovered and detected in<br />

such disturbances to their development. It can also occur<br />

that a tendency exists in the constitution for the formative<br />

forces to remain too long and too intensely linked to<br />

the chest. This leads to hindrances in the development<br />

which can result in grave consequences if they are not recognised<br />

in time. The doctor can prescribe medicines for<br />

the child which call forth and assist the plastic-moulding<br />

forces which flow from the head into the body, to deter<br />

the respiratory organs and blood circulation from excessive<br />

growth and development and help find the appropriate<br />

form. He can administer among other thing Conchae<br />

(calcium carbonate) Phosphor calcite and Nontronite<br />

(iron silicate) and saline baths.<br />

The doctor can also try prescribing curative educational<br />

exercises which have a similar effect, e.g. through<br />

eurythmic and special curative eurythmic exercises. In<br />

letting the child perform or watch individually selected<br />

movements based on certain principles, he can again<br />

work in a harmonising way upon the growth and plasticmoulding<br />

forces.<br />

From the age of six until the second teeth start coming<br />

through, a new phase for the healthy child begins. To a<br />

certain degree the body of formative forces is released<br />

from the limb and metabolic organisations and this goes<br />

hand in hand with a physical change. The child gradually<br />

develops trust and faith in the adult which enables him<br />

to surrender to his authority and develop a sense for the<br />

moral admonitions which are posed to him. The dangers<br />

are infinitely great, for as you can surmise from the above<br />

mentioned, the child still takes everything it has experienced<br />

through imitation directly into the formation of its<br />

organs. If this metamorphosis cannot take place properly<br />

on account of external disturbances or disposition of character,<br />

the disadvantages can be far-reaching, because<br />

the child is also being prepared for another stage in its<br />

life, which begins with the coming of the second teeth.<br />

This is a very significant moment in its development and<br />

also a meaningful point of reference for the assessment<br />

of an ill child for the physician. From an irregular, un-<br />

healthy, belated or too early development of the second<br />

teeth one is able to read what is present in the child as a<br />

process or tendency towards illness. If the second teeth<br />

appear too late and irregularly, or they are too soft, for example,<br />

then this is due to the fact that the formative hardening<br />

forces, ranging from the head inwards, have been<br />

too weak. Alternatively, they might have been too forceful<br />

and unrestrained, the result being that the second<br />

teeth break through too early. The physician is concerned<br />

in either case and either stimulates the mineralizing<br />

formative process in the organism, or supports the<br />

growth-and-life-process if the upsurging formative forces<br />

have been too weak and hence cause the teeth to prematurely<br />

break through without being properly formed. If<br />

the doctor is observant of the child‘s dexterity and adroitness<br />

with his hands and feet and gives arm exercises<br />

to overcome his clumsiness, this enhances the healthy<br />

development of the inner formative activity of the higher<br />

members of his being, whenever they do not involve<br />

themselves appropriately. A visible expression of this are<br />

the disturbances in the formation of the second teeth.<br />

With the change of teeth, the child has fundamentally<br />

become another being and this needs to be taken into<br />

consideration when one wishes to understand the child<br />

in its healthy as well as unhealthy life processes and expressions.<br />

At this point we have to direct our attention<br />

to the way in which the spiritual-soul forces, - we can<br />

call them ‚ego‘ and ‚astral body‘ - of the child, are involved<br />

in the development of this structure. We should<br />

know that the spiritual-soul element in the child has only<br />

worked in the head until the age of seven and as from<br />

there has been active in the formative shaping of the<br />

entire organism right into its material substance - these<br />

forces withdraw, however, with the coming of the second<br />

teeth and from then on are more related to the rhythmic<br />

movement processes of the chest, where they work with<br />

the organism via breathing and blood circulation. These<br />

forces withdraw from the head with the change of teeth<br />

and now work more in the rhythmic movements and processes<br />

which are typical of the chest processes of breathing<br />

and blood circulation. The child progresses from<br />

an imitative being to one which feels independently. It<br />

opens itself to its environment with its life of feeling, it listens<br />

to the teacher and what he can convey through language<br />

and vigour of imagination. Everything that affects<br />

its life of feelings will influence its breathing and blood<br />

circulation and thus radiates right into its growth and<br />

life processes - right into its structuring processes; in a<br />

212


Beiträge | Contributions<br />

health-giving manner but also destructively. His state of<br />

health at this age of life depends on the demands made<br />

upon him in his surroundings and what they have to offer<br />

him. It also depends on external circumstances, if he has<br />

enough exercise out-of-doors or if he is overworked at<br />

school. Mistakes made in his education, an unhealthy<br />

and irregular life-style, also any one-sided demands<br />

made upon the child will cause disturbances. The child<br />

becomes prone to illness, disorders of the digestive and<br />

excreting processes can occur, anaemia can start to develop.<br />

It can also lead to weakness and illness in the respiratory<br />

and circulatory organs at a later age.<br />

From the time his second teeth come through till the<br />

beginning of puberty, a doctor who understands these<br />

connections looks carefully at a child who comes to<br />

his surgery, to see if its life-style or environment is unhealthy.<br />

He rearranges the child‘s life-style, provides it<br />

with a healthy education and if necessary prescribe curative<br />

educational instruction, focusing especially on<br />

musical and rhythmical exercises. In addition, he can<br />

prescribe the necessary medicines.<br />

Thus we see how manifold the illnesses and their causes<br />

in childhood are and also the necessity of detecting<br />

the seeds of illnesses, which in adulthood, in fact, frequently<br />

around the age of 40 till 50 ripen and break out,<br />

for instance in metabolic disturbances or early sclerosis.<br />

A rich field of preventive treatment is available to the<br />

physicians and curative educationalist, who are aware<br />

of all these connections and who can prevent, make up<br />

for (compensate) or heal the things which are in an unhealthy<br />

or abnormal state. Treatment differs according to<br />

whether the illness expresses itself merely in a functional<br />

way or whether more profound abnormalities, growth<br />

or developmental impediments and deformities of inner<br />

organs are present, and also from which organ or organ<br />

system they originate.<br />

The following illness, for example, might be diagnosed:<br />

the physical-etheric organisation of the child is not concurrent;<br />

there is evidence of inner deformities - sometimes<br />

very fine ones - of one or the other organ or organ<br />

system. The spiritual-soul being of the child is then<br />

unable to unfold its activity completely One organ, e.g.<br />

the lungs can be constituted in such a way that it absorbs<br />

the soul-spiritual being too rigidly and irregularly,<br />

so they (the lungs) become congested. This can lead to<br />

cramping and eventually to epileptic seizures and blackouts<br />

or loss of consciousness. Conversely the other extreme<br />

can prevail, when the soul-spiritual being has the<br />

tendency to flow out too strongly because the organs<br />

are too weak to hold its members sufficiently and to absorb<br />

them. Then you see conditions of illness with more<br />

functional character, e.g. disturbances of the processes<br />

of excretion and secretion, hypersensitivity and anxious<br />

nature. Enuresis is also a wide-spread malady in childhood<br />

which can be attributed to this.<br />

Two further examples: if the metabolic-limb organisation<br />

is structured too weakly, then the higher members - the<br />

ego and the astral body cannot be involved in the processes<br />

sufficiently and harmoniously and it is possible<br />

to observe the most diverse phases of soul and bodily<br />

disturbances. In order to let the metabolism function in a<br />

proper way and to prevent disturbances, there has to be<br />

a certain amount of sulphur in the metabolic processes. If<br />

there is too little sulphur in the organism, then the metabolism<br />

becomes slower and tardy. The entire appearance<br />

and behaviour changes correspondingly. The astral body<br />

and ego cannot be involved appropriately in the metabolism<br />

and you get the image of a child who cannot process<br />

the outer impressions properly and is not able to imprint<br />

them onto his physical organisation. These impressions<br />

can gain access to the child‘s consciousness without intent<br />

on his part and, given the circumstances, dominate<br />

him in a compulsive way. This is a child with whom<br />

it is difficult to make contact (to form a relationship at<br />

all) and the teacher needs a lot of patience and fantasy<br />

in order to reach the child. In this case it is necessary to<br />

help the child towards a more active metabolism with the<br />

help of medicines and an appropriate diet.<br />

Conversely the metabolism may be structured too strongly<br />

and the higher members are then intensely overworked.<br />

In contrast to the depiction of the illness mentioned<br />

above there is too much sulphur in the metabolic processes.<br />

The child is sulphuric right into its hair. It is completely<br />

restless, which can be seen outwardly and which<br />

is combined with alternating states of outward apathy.<br />

In such a child you can also observe that it greedily absorbs<br />

the exterior impressions, they partly disappear in<br />

the metabolic organisations and are lost to the child‘s<br />

consciousness.<br />

A child of this description may be in need of iron and<br />

salt (among others) and should be given more salt in<br />

his food; also by giving him root vegetables you can<br />

strengthen the head and formative forces working in the<br />

blood. This creates an equilibrium in the metabolism.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

213


Beiträge | Contributions<br />

The child can be taught to regularly recall certain impressions.<br />

In this way its own inner activity can be developed.<br />

It is important to distinguish between the illness depicted<br />

above (all are manifestations of illness) and the<br />

so-called moral defects in the soul life of the child. It is<br />

not just a matter of congestions and «flowing out» or an<br />

irregular engagement of the soul-spirit with the organs<br />

or the organ system but real deformities of the physical<br />

body which go back to the embryonic time. You can find,<br />

to mention just one example, that in the case of moral<br />

defects, the brain was structured and formed too small<br />

in the mother‘s womb on account of pressures working<br />

on the embryo; it could also be the case that other parts<br />

of the brain were not properly formed and structured. It<br />

shows that the formative forces were already disturbed<br />

in the life of the embryo. We have to assume that a karmic<br />

cause is at the root of all congenital defects.<br />

These moral defects in childhood are far more common<br />

than is popularly assumed. The collector‘s passion is a<br />

certain symptom of the extreme form of kleptomania. The<br />

tendency towards cruelty, the tormenting of animals and<br />

intolerance which show up in childhood belong to the<br />

area of moral defects, that is when it is not just a case of<br />

imitation or naughtiness. This becomes evident because<br />

the ordinary attempts of education do not succeed.<br />

In the light of this one could become desperate, if it was<br />

accepted that such children have no possibility of being<br />

helped or healed, because they have inborn malformations.<br />

On the contrary, it is exactly at this spot that the<br />

curative teacher together with the doctor can develop<br />

his skills and artistry successfully. He can approach the<br />

child, be entirely involved personally and try in an imaginative<br />

way to awaken in the child a sense for the morality<br />

that he lacks. In engaging himself wholly he should try to<br />

become an example to the child, so that it can follow him<br />

with the fullest trust. He is then able to succeed in awakening<br />

a sense of morality in the child, not by reproach or<br />

punishments, but, for instance, by tirelessly telling stories<br />

to the child, in which the existing moral weakness is<br />

time and again shown to lead to ad absurdum. The stories<br />

should appeal to the child and be appropriate. The<br />

child will be able to accept the stories on account of its<br />

trust in the teacher‘s authority.<br />

The physician on the other hand has to work in such a<br />

way that he tries to call up the ‚plastic‘ formative forces<br />

of the diseased organ by means of administering medicines<br />

and indicating certain curative eurythmic exercises.<br />

He does this in order to allow the organisation the<br />

possibility to catch up with what has been prevented during<br />

its embryonic development. It is therefore important<br />

that before undertaking such a course of treatment the<br />

child‘s second teeth have not come out or it is at least<br />

not yet in puberty e.g. as long as its physical form of organisation<br />

is still pliable in its formative development.<br />

With these considerations an attempt has been made to<br />

briefly sketch the theoretical aspect of curative work as<br />

it was provided to physicians and curative teachers by<br />

Rudolf Steiner. They are the guidelines for the practise of<br />

curative education according to which the physician and<br />

educator have developed their work. Through study and<br />

experience they have become something like second nature,<br />

so that treatment can be implemented accordingly<br />

and can unfold as active help to the ill child.<br />

This article appeared in «NATURA» 1926. Translation by<br />

Nora and Friedwart Bock<br />

214


Gratulationen<br />

Gratulationen<br />

Wir möchten einigen verdienten Kolleginnen und Kolleginnen sehr herzlich zu einem runden<br />

Geburtstag gratulieren, Menschen, die das Leben unserer Bewegung für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie über viele Jahre initiativ und massgeblich mitgestaltet haben.<br />

Ingrid Küstermann konnte am 29.Mai <strong>2016</strong> ihren 90. Geburtstag begehen. Dr. med. Ingrid Küstermann<br />

hat nach Jahren der Mitarbeit im Zusammenhang des Sonnenhofs in Arlesheim und<br />

vor allem in «La Motta» in Brissago mit ihrem Mann und einer Gruppe von Kolleginnen und<br />

Kollegen die Einrichtungen des Christophorus Hauses in Dortmund aufgebaut. Das Christophorus<br />

Haus gehört heute zu den grössten und massgeblichen Einrichtungen in Deutschland.<br />

Wir danken Ingrid Küstermann von Herzen für Ihre bewundernswerte Lebensleistung und ihre<br />

unverminderte, freundschaftliche Verbundenheit zu unserer Bewegung und wünschen ihr<br />

gute Gesundheit und für die Zukunft das Beste.<br />

Ina Starke feierte am 28. Juli <strong>2016</strong> Juli ihren 90. Geburtstag. Wir gratulieren der Jubilarin zu<br />

diesem besonderen Fest und freuen uns, dass sie ihren Lebensabend in der alten Frische und<br />

Wachheit und ihrem grossen Bewusstseinskreis erleben darf, die wir so gut von ihr kennen.<br />

Ina Starke gehört wie Ingrid Küstermann zu dem Kreis von Menschen, die in der Nachkriegssituation<br />

Einrichtungen neu aufgebaut und mit Leben, künstlerischer Gestaltung und spirituellem<br />

Niveau erfüllt haben. Mit ihrem Mann Dr. Georg Starke und einer Gruppe von erfahrenen<br />

Mitarbeitern hat sie Schloss Bingenheim zu einem weithin bekannten Zentrum der Heilpädagogik<br />

gemacht. Sie hat darüber hinaus lange Jahre im Vorstand des deutschen Verbandes<br />

und in der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie mitgewirkt. Auch ihr von Herzen<br />

alles Gute, Gesundheit und noch viele gute Jahre!<br />

Michael Steinke wurde schon am 28. März 2015 achtzig Jahre alt. Unsere Glückwünsche an<br />

ihn verbinden wir mit der Dankbarkeit für seine langjährige Mitwirkung in unserem Arbeitsfeld,<br />

das durch seine Beiträge wesentlich bereichert worden ist. Nach Jahren der Mitarbeit<br />

in der Camphill-Bewegung in Grossbritannien baute Dr. med. Michael Steinke das «Thomas-<br />

Haus» in Berlin auf, eine anerkannte Einrichtung für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen.<br />

Viele Jahre wirkte er auch in der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie und<br />

ihrem Arbeitskreis der in der Heilpädagogik und Sozialtherapie tätigen Ärzte mit. Wir danken<br />

ihm für seine grosse Lebensleistung und wünschen ihm von Herzen alles Gute für seine Gesundheit<br />

und hoffentlich viele Jahre fruchtbarer Arbeit!<br />

Zsuzsa Mesterhazy wurde im Januar dieses Jahres 80 Jahre alt. Zu diesem besonderen Jahrestag<br />

senden wir ihr unsere allerherzlichsten, guten Wünsche für ihre Gesundheit und für<br />

weiteres fruchtbares Schaffen! Prof. Dr. Zsuzsa Mesterhazy gehört seit vielen Jahren zu den<br />

führenden Heilpädagoginnen und Heilpädagogen Ungarns und ist in der internationalen wissenschaftlichen<br />

Szene eine hochgeschätzte Kollegin. Sie hat viele Jahre die Bárczi Gusztáv-<br />

Fakultät für Heilpädagogik der Eötvös Loránd Universität in Budapest geleitet, an der sie<br />

noch immer in der Begleitung von Nachwuchswissenschaftlern tätig ist. Sie hat an dieser<br />

Hochschule eine Waldorflehrerausbildung aufgebaut, um für die in Ungarn nach der Wende<br />

entstehende Waldorfpädagogik und Heilpädagogik qualifizierte Mitarbeiter auszubilden. Wir<br />

sind stolz darauf, dass sie zu uns gehört und danken ihr für ihre massgebende und weitausstrahlende<br />

Arbeit.<br />

Rüdiger Grimm<br />

für die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

215


Informationen | Informations<br />

Personelle Veränderungen in der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

Nach 21 Jahren wird Rüdiger Grimm seine Mitarbeit als Sekretär der Konferenz für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie zum 31. Dezember <strong>2016</strong> beenden. Als neue Leiter der Konferenz<br />

für Heilpädagogik und Sozialtherapie und ihres Sekretariats wurden Jan Göschel, Bart Vanmechelen<br />

und Sonja Zausch berufen.<br />

Dr. phil. Jan Göschel<br />

geb. 1974, ist langjähriger Mitarbeiter der Camphill Gemeinschaft Beaver Run in den USA<br />

und Leiter der Camphill-Academy, einem Zusammenschluss der Ausbildungsstätten für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie in Nordamerika. Nach seinem Studium der Psychologie und<br />

Waldorfpädagogik in Edinburgh und einem Sonderpädagogik-Studium in den USA wurde der<br />

gebürtige Deutsche in der Camphill Bewegung in Amerika tätig. Er ist langjähriges Mitglied<br />

im Internationalen Ausbildungskreis und Ausbildungsrat der Konferenz für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie.<br />

Bart Vanmechelen<br />

geb. 1963, ist Direktor von «De Speelhove», einer Einrichtung für schwermehrfach behinderte<br />

Kinder in Belgien, die er seit mehr als zwanzig Jahren leitet. Es hat Psychologie in<br />

Belgien und Organisationsentwicklung in England studiert und ist seit vielen Jahren in der<br />

Anthroposophischen Bewegung und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft engagiert.<br />

Besonders hat er sich auch aktiv an der Meditationsinitiative am Goetheanum beteiligt.<br />

Bart Vanmechelen ist Generalsekretär der Belgischen Landesgesellschaft.<br />

Sonja Zausch<br />

geb. 1968, hat nach Ausbildungen als Bäckerin, Tänzerin und Eurythmistin und Jahren der<br />

beruflichen Arbeit im Bereich Tanz und Eurythmie den Weg in die Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

gefunden. Sie arbeitet an der von ihr mitbegründeten «Emil Molt Akademie» in<br />

Berlin, einer Ausbildungsstätte für anthroposophisch orientierte Sozialassistenz und Heilerziehungspflege.<br />

Im Rahmen eines Masterstudiums an der Alanus Hochschule Alfter hat sie<br />

über Eurythmie in der Erwachsenenbildung gearbeitet. Ihr Interesse gilt insbesondere nonverbalen,<br />

in Bewegung stattfindenden Kommunikationsprozessen.<br />

Jan Göschel wird mit 50 Stellenprozenten, Bart Vanmechelen und Sonja Zausch werden mit<br />

jeweils ca. 20 Stellenprozenten mitarbeiten.<br />

Die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

ist das internationale Forum der Zusammenarbeit der anthroposophischen Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie, ihrer Verbände und Einrichtungen. Als runder Tisch führt sie Vertreterinnen<br />

und Vertreter aus fast 50 Ländern zusammen. Sie ist Teil der Medizinischen Sektion<br />

der Freien Hochschule am Goetheanum. Sie führt ein Sekretariat in Dornach, das für die<br />

Koordination der internationalen Zusammenarbeit und die Repräsentation der Konferenz<br />

zuständig ist. Ihr Rechtsträger ist der «Fonds für Heilpädagogik und Sozialtherapie» mit Sitz<br />

in Dornach, ein gemeinnütziger Verein nach Schweizer Recht.<br />

Die Verabschiedung von Rüdiger Grimm und die Übergabe an die neuen Leitungspersonen<br />

findet anlässlich der Internationalen Tagung für Heilpädagogik und Sozialtherapie «… und<br />

werdend mich ins Dasein prägen. Das Ich in Leib und Welt», sowie der Klausurtagung der<br />

Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie am 7. Oktober <strong>2016</strong> am Goetheanum statt.<br />

216


Informationen | Informations<br />

Personnel changes in the Council for Curative Education and Social Therapy<br />

After 21 years as Secretary of the Council for Curative Education and Social Therapy, Rüdiger<br />

Grimm will resign on December 31st, <strong>2016</strong>. Jan Göschel, Bart Vanmechelen and Sonja Zausch<br />

have been called on to assume leadership of the Council for Cura-tive Education and Social<br />

Therapy.<br />

Dr. Jan Göschel<br />

born in 1974, is a long-time co-worker at Camphill Special School Bea-ver Run in the USA<br />

and President of the Camphill Academy, a consortium of the North American training programs<br />

for curative education and social therapy. After finishing his degree in Psychology and<br />

Waldorf teacher training in Edinburgh, and a Special Edu-cation degree in the USA, the native<br />

German became active in the Camphill move-ment in America. He is a long-standing member<br />

of the International Training Circle and of the International Training Council.<br />

Bart Vanmechelen<br />

born in 1963, has been Director of De Speelhove, an institution for children with multiple<br />

severe disabilities in Belgium, for over twenty years. He studied Psychology in Belgium and<br />

Organizational Development in England and has been ac-tive in the anthroposophic movement<br />

and the School of Spiritual Science for many years. In particular, he was instrumental in<br />

the Goetheanum Meditation Initiative. Bart Vanmechelen is General Secretary of the Belgian<br />

Anthroposophic Society.<br />

Sonja Zausch<br />

born in 1968, found her way to curative education and social therapy after training as a baker,<br />

a dancer and an eurythmist, and after years of professional work as a dancer and eurythmist.<br />

She works at the Emil Molt Akademie in Berlin, a vocational college offering anthroposophically<br />

oriented professional training in social care and special needs education. She has also<br />

completed a Masters degree in Eu-rythmy in Adult Education at the Alanus University in Alfter,<br />

Germany. She is particu-larly interested in non-verbal, movement-based communication<br />

processes. She is coordinator for professional education with Anthropoi, the German association<br />

for anthroposophic social services and member of its professional education council.<br />

Jan Göschel will be employed half time, and Bart Vanmechelen and Sonja Zausch will each be<br />

employed at 20% as part-time team members.<br />

The Council for Curative Education and Social Therapy<br />

is the international forum for collaboration in anthroposophic curative education and social<br />

therapy and its associa-tions and institutions. Its members represent almost 50 countries. It<br />

is part of the Medical Section of the School of Spiritual Science, Goetheanum. The Council<br />

for Curative Education and Social Therapy maintains its central office in Dornach, which is<br />

respon-sible for coordination of international collaboration. Its legal entity is the non-profit<br />

association, Fonds für Heilpädagogik und Sozialtherapie, based in Dornach.<br />

Our farewell to Rüdiger Grimm and the hand-off to the new leadership team will take place<br />

at the International Conference for Curative Education and Social Therapy, “...and growing,<br />

root me in existence. The I in body and world”, as well as at the closed meeting of the Council<br />

for Curative Education and Social Therapy in October, <strong>2016</strong> at the Goetheanum in Dornach.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

217


Freunde<br />

der heilpädagogisch-sozialtherapeutischen Bewegung<br />

weltweit<br />

Die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners sind<br />

vor allem durch die Unterstützung der internationalen<br />

Waldorfschul- und Kindergartenbewegung bekannt. Vielen<br />

der über 700 heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />

Initiativen in aller Welt konnte ebenso geholfen<br />

werden. Etwa ein Drittel der weitergeleiteten Spendenmittel<br />

kommen Initiativen und Einrichtungen zugute, die<br />

sich teilweise unter extrem schwierigen Bedingungen um<br />

die Lebensqualität und Bildungschancen von Menschen<br />

mit Behinderungen kümmern. Ein Grossteil von ihnen erhält<br />

keinerlei staatliche Hilfen, viele sind Pioniereinrichtungen<br />

im jeweiligen Land.<br />

Die «Freunde» entsenden jedes Jahr über 1.600 junge<br />

Menschen, die einen Freiwilligendienst durchführen<br />

möchten. Viele von ihnen sind in sozialtherapeutischen<br />

Einrichtungen tätig und bereichern den Gemeinschaftsalltag.<br />

Die meisten haben auf diese Weise ihre<br />

erste Begegnung mit Menschen mit Behinderung. Manche<br />

entschliessen sich danach zu einer beruflichen Ausbildung<br />

in dieser Fachrichtung und initiieren eigene<br />

Projekte. Das ist das Zukunftspotential der Bewegung!<br />

Ein weiterer Schwerpunkt ist der Internationale Hilfsfonds,<br />

durch den Spenden zu 100 % weitergeleitet werden.<br />

Damit dies auch weiterhin in dieser Form realisiert<br />

werden kann, sind die «Freunde» ihrerseits auf finanzielle<br />

Unterstützung durch Spenden und Fördermitgliedschaften<br />

angewiesen. Mit der Zunahme der weltweiten<br />

Projekte haben sich natürlich auch die Anfragen auf finanzielle<br />

Unterstützung signifikant erhöht.<br />

Durch die Kooperation mit dem deutschen Bundesministerium<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-<br />

Friends<br />

of the worldwide curative education and social<br />

therapeutic movement<br />

The Friends of Waldorf Education association is best<br />

known for its support of the international Waldorf<br />

school and kindergarten movement. However, it has<br />

also supported many of the over 700 curative education<br />

and social therapy initiatives worldwide. Approximately<br />

one third of donated funds are directed to<br />

initiatives and institutions which focus on the quality<br />

of life and education of people with disabilities, sometimes<br />

operating under the most difficult conditions.<br />

The majority of these institutions receive no government<br />

funding, and many are pioneering institutions in<br />

their respective countries.<br />

The ‹Friends› send out over 1,600 young people each<br />

year for a year of voluntary service. Many of them<br />

work in social therapeutic institutions, enriching the<br />

community life. For most of them, this is their first encounter<br />

with people with disabilities. Some, as a result<br />

of this year, decide on a professional training in this<br />

field and initiate their own projects. This is the future<br />

of the movement!<br />

Another focal point is the International Relief Fund,<br />

which can pass on 100% of donations. In order to continue<br />

to be able to do this, the ‹Friends› rely in turn<br />

on financial donations and supporting memberships.<br />

The increase in worldwide projects has significantly increased<br />

the need for financial support.<br />

Through our cooperation with the German Federal<br />

Ministry for Economic Cooperation and Development<br />

(BMZ), we were able to file innumerable applications<br />

for financial support and successfully transfer the<br />

funds to implement projects in the last two decades.<br />

218


Informationen | Informations<br />

wicklung (BMZ) konnten in den letzten zwei Jahrzehnten<br />

zahlreiche Anträge auf finanzielle Förderung gestellt und<br />

erfolgreich umgesetzt werden. Davon konnten namhafte<br />

Einrichtungen profitieren oder sind dadurch überhaupt<br />

erst ermöglicht worden: Die «Peaceful Bamboo Family» in<br />

Vietnam; das «Zentrum für Heilpädagogik und Sozialtherapie»<br />

in Simeria/Rumänien; in Georgien die Lebensgemeinschaft<br />

«Qedeli» und die «Michaelschule» in Tbilissi;<br />

das Tageszentrum «Mayri» in Armenien; «Arca Mundial»<br />

in Kolumbien; «Fista» im Libanon und «Manas» in Kirgisien,<br />

um nur einige zu nennen. Nicht nur Gebäude wurden<br />

errichtet, sondern auch Patenschaften vermittelt,<br />

um Kindern den Besuch an einer heilpädagogischen<br />

Schule zu ermöglichen. Heilpädagogische Lehrer wurden<br />

ausgebildet und Gehälter aufgestockt, damit sie sich<br />

nicht eine andere Arbeitsstelle suchen mussten.<br />

Die Freunde der Erziehungskunst sind damit massgeblich<br />

an der weltweiten Ausbreitung der anthroposophisch<br />

orientierten Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

beteiligt und werden dies auch in Zukunft gerne tun, um<br />

Menschen mit Behinderungen adäquate Begleitung und<br />

Förderung zu ermöglichen.<br />

Thomas Kraus<br />

(Bereich Heilpädagogik und Sozialtherapie)<br />

This benefitted and, in some cases, made possible, notable<br />

institutions: The ‹Peaceful Bamboo Family› in<br />

Vietnam; the ‹Centre for Curative Education and Social<br />

Therapy› in Simeria, Romania; the lifesharing community<br />

‹Qedeli› and the Michael School in Tbilisi, Georgia;<br />

‹Mayri› day centre in Armenia; ‹Arca Mundial› in Colombia;<br />

‹Fista› in Lebanon; and ‹Mansa› in Kyrgyzstan,<br />

to name just a few. Not only were buildings erected,<br />

but sponsorships of children were established in order<br />

to enable them to attend curative education schools.<br />

Curative education teachers were trained and their salaries<br />

were increased so that they did not have to look<br />

for additional jobs.<br />

With all of these projects, the Friends of Waldorf Education<br />

are leaders in the worldwide expansion of anthroposophically<br />

oriented curative education and<br />

social therapy and would like to continue to be so, in<br />

order to enable people with disabilities to have appropriate<br />

support and care.<br />

Thomas Kraus<br />

(Curative Education and Social Therapy division)<br />

Translation from German: Tascha Babitsch<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

219


Freiwilligendienste:<br />

soziales Engagement erleben<br />

Interkulturellen Austausch erleben, Unterstützung bei<br />

der täglichen Arbeit erhalten, motivierte Menschen aus<br />

der ganzen Welt in ihrem sozialen Engagement begleiten<br />

– all das ermöglichen die Freiwilligendienste der Freunde<br />

der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.<br />

Als Hilfsorganisation in der weltweiten Waldorfbewegung<br />

sind die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners<br />

e.V. vielen bekannt und seit langem etabliert. Als<br />

Träger von internationalen und nationalen Freiwilligendiensten<br />

wächst der Verein Jahr um Jahr.<br />

Seit 1993 ermöglichen die «Freunde» jungen Menschen<br />

aus Deutschland das Engagement in anthroposophischwaldorfpädagogischen<br />

Einrichtungen auf der ganzen Welt.<br />

Internationale Freiwillige ab 18 Jahren ohne Höchstalter<br />

können seit 2006 über das Incoming-Programm des Vereins<br />

einen zwölfmonatigen Freiwilligendienst in Deutschland<br />

leisten. Die inzwischen über 150 Freiwilligen pro Jahr<br />

werden dabei von einem erfahrenen Team der «Freunde»<br />

begleitet.<br />

Zahlreiche Einrichtungen freuen sich auf die internationale<br />

Unterstützung. Dabei stehen Projekte der Sozialtherapie<br />

und Heilpädagogik, biologisch-dynamische<br />

Betriebe, Waldorfkindergärten und Schulen den Freiwilligen<br />

als Einsatzstelle offen. Voraussetzungen für<br />

die Teilnahme sind, dass die angehenden Freiwilligen<br />

Deutschkenntnisse mitbringen, sozial engagiert sind<br />

und den Lebens- und Arbeitsweisen in Deutschland neugierig<br />

und offen gegenüberstehen.<br />

Volunteer Service:<br />

Experience Social Engagement<br />

Experiencing intercultural exchange, gaining support<br />

in everyday work, accompanying motivated people<br />

from around the world in their social engagement—a<br />

volunteer service through the Friends of Waldorf Education<br />

makes all of this possible.<br />

As the aid organization of the world wide Waldorf<br />

movement, the Friends of Waldorf Education are well<br />

known and long established. As arranger of international<br />

and national volunteer services, the Friends continue<br />

to grow year after year.<br />

Since 1993 the Friends of Waldorf Education has been<br />

making it possible for young people from Germany to<br />

volunteer at anthroposophical and Waldorf pedagogical<br />

institutions around the world. Since 2006 international<br />

volunteers over 18 years of age, without an age limit,<br />

can complete a 12 month long volunteer service in Germany<br />

through the Incoming Programme of the Friends.<br />

The Incoming Programme offers people from around<br />

the world the chance to volunteer at anthroposophisical<br />

and/or Waldorf pedagogical institutions throughout<br />

Germany. Supported by an experienced team, the<br />

Friends advise and supervise over 150 international volunteers<br />

annually during their social year in Germany.<br />

Numerous anthroposophical and Waldorf pedagogical<br />

institutions in Germany look forward to the international<br />

support. Projects in social therapy and curative<br />

education, biodynamical farms, Waldorf kindergartens<br />

and schools are possible placement institutions open to<br />

220


Informationen | Informations<br />

Eine Besonderheit des Incoming-Programms ist die<br />

Möglichkeit, sowohl im Februar als auch im August ein<br />

soziales Jahr beginnen zu können. Liegt ein besonderes<br />

anthroposophisches und/oder waldorfpädagogisches<br />

Anliegen vor, bietet die sechsmonatige Verlängerung<br />

des Dienstes Incoming-Freiwilligen die Möglichkeit für<br />

einen gut vorbereiteten, nahtlosen Übergang in die<br />

Ausbildung.<br />

Ein Freiwilligendienst macht die Verbindung von Helfen<br />

und Lernen zu einem besonderen Jahr in der Entwicklung<br />

meist junger Menschen, denn der interkulturelle<br />

Austausch, das soziale Engagement sowie die zwischenmenschlichen<br />

Begegnungen geben Raum für persönliche<br />

Entwicklung und Orientierung. Für die Einsatzstellen bedeutet<br />

die Aufnahme von Freiwilligen nicht nur die tatkräftige<br />

Unterstützung durch junge Erwachsene in allen<br />

Bereichen, sondern auch die Chance, neue Ideen und Lebenswelten<br />

kennen zu lernen.<br />

Und die Nachfrage nach Möglichkeiten zum Engagement<br />

wächst. Um das Interesse bedienen zu können, sind die<br />

«Freunde» auf der Suche nach weiteren Kooperationen<br />

mit anthroposophischen Einrichtungen weltweit.<br />

Voraussetzung für die aufnehmenden Institutionen ist<br />

ein waldorfpädagogischer und/oder anthroposophischer<br />

Hintergrund. Die BewerberInnen durchlaufen<br />

einen ausführlichen Auswahl- und Beratungsprozess.<br />

Dabei liegt die Personalentscheidung am Ende bei den<br />

Einrichtungen. Die «Freunde» unterstützen die Einsatzstellen<br />

selbstverständlich bei sämtlichen administrativen<br />

Fragen sowie bei der Vor- und Nachbereitung des<br />

Freiwilligendienstes.<br />

Während ihres Dienstes werden die Freiwilligen von den<br />

Freunden der Erziehungskunst begleitet, dazu gehören<br />

auch verpflichtende Seminare vor, während und nach<br />

dem Dienst. Die Seminare beinhalten u.a. eine Einführung<br />

in die Anthroposophie und den Austausch über<br />

spezifische Arbeitsanforderungen in der Sozialtherapie<br />

und Heilpädagogik sowie <strong>Spezial</strong>themen, wie beispielsweise<br />

politische Bildung.<br />

Christoph Herrmann<br />

volunteers. Requirements of the prospective volunteers<br />

for participation are: knowledge of German (at least<br />

A2 level), social engagement, and curiosity about and<br />

openness to the German way of living and working.<br />

A unique aspect of the Incoming Programme is the<br />

possibility to start a volunteer year both in February<br />

as well as in August. If a volunteer is especially interested<br />

in anthroposophy and /or Waldorf-pedagogy,<br />

a 6-month extension of the service offers the Incoming<br />

volunteer the possibility to prepare for a seamless<br />

transition into training.<br />

Interested persons can apply for a voluntary service that<br />

begins in February 2017 in Germany. All further information<br />

about the programme and application deadlines<br />

can be found at: www.freunde-waldorf.de/incoming.<br />

The connection of helping and learning turns a volunteer<br />

service into a special year in the development<br />

of most young people, because the intercultural exchange,<br />

social engagement and also interpersonal interactions<br />

offer opportunity for personal development<br />

and orientation. For the host institution, taking on volunteers<br />

means not only energetic support from young<br />

adults in all areas, but also the chance to learn about<br />

new ideas and different ways of life.<br />

And the demand for such engagement possibilities<br />

grows. In order to meet this interest, the Friends of<br />

Waldorf Education is looking to expand their cooperation<br />

with anthroposophical institutions worldwide.<br />

Requirements for host institutions are a Waldorf pedagogical<br />

and/or anthroposophical background and the<br />

ability to offer applicants a continuing and complete<br />

selection and advising process. To that end, the final<br />

decision on which volunteer(s) to accept lies with the<br />

host institution. The Friends of Waldorf Education naturally<br />

supports the host institutions in answering any<br />

administrative questions and in preparation for and<br />

follow-up to the volunteer service.<br />

During the service, the volunteers will be accompanied<br />

by the Friends of Waldorf Education. Included in<br />

this are required seminars, before, during, and after the<br />

volunteer service. The seminars address, among other<br />

topics, an introduction to anthroposophy and information<br />

about specific job requirements in social therapy<br />

and curative education as well as addressing special<br />

themes like political education.<br />

Christoph Herrmann<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

221


Wer glaubt, ein Werkstattleiter<br />

leitet eine Werkstatt, der glaubt<br />

auch, ein Zitronenfalter faltet<br />

Zitronen.<br />

Michael Dackweiler<br />

Beratung, Coaching und Seminare<br />

www.iona-werkstatt.de<br />

Werkstatt<br />

222<br />

individuelle Entwicklung – soziale Kompetenz


Bernhard Schmalenbach (hg.)<br />

Dimensionen<br />

der Heilpädagogik<br />

Entwicklungsbegleitung,<br />

Gemeinschaftsbildung und Inklusion<br />

Festschrift für Rüdiger Grimm<br />

Das Aufgabenfeld der Heilpädagogik als inte grative<br />

Humanwissenschaft, als Praxis der gleitung und der Teilhabeförderung ist weit gespannt:<br />

Entwicklungsbe-<br />

Es umfasst die Erarbeitung von Grundlagen und<br />

Methoden, des Selbstverständnisses ses und des gesell-<br />

schaftlichen Ortes heilpädagogischen Handelns. Der<br />

vorliegende Band versammelt eine Fülle Beiträge aus<br />

unterschiedlichen Themen und Arbeitsfeldern der<br />

Heilpädagogik: Anregungen zur Praxis, Erkundungen<br />

zur Geschichte der Heilpädagogik, zu Gemeinschaftsbildung<br />

und Inklusion – im Dialog von Theorie und<br />

Praxis und aus unterschiedlichen Perspektiven, auch<br />

solchen der anthroposophischen Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie. 23 Autorinnen und Autoren geben Er-<br />

fahrungsberichte und Denkanstöße für diese, Rüdiger<br />

Grimm gewidmete Festschrift.<br />

360 Seiten, kartoniert, 15,8 × 23 cm<br />

40 Euro | 50 Franken<br />

ISBN 978-3-7235-1571-6<br />

Reihe: Edition Anthropos, Band 6<br />

Göschel, Jan Christopher<br />

Der biografische Mythos als<br />

pädagogisches Leitbild<br />

Transdisziplinäre Förderplanung auf<br />

Grundlage der Kinderkonferenz in der<br />

anthroposophischen Heilpädagogik<br />

Band 1 | ISBN 978-3-7235-1460-3<br />

Fischer, Andreas<br />

Zur Qualität der Beziehungs dienst leistung<br />

in Institutionen für Menschen<br />

mit Behinderungen<br />

Eine empirische Studie im Zusammenhang<br />

mit dem QM-Verfahren «Wege zur Qualität»<br />

Band 2 | ISBN 978-3-7235-1459-7<br />

Blomaard, Pim<br />

Beziehungsgestaltung in der<br />

Begleitung von Menschen mit<br />

Behinderungen<br />

Aspekte zur Berufsethik der<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

Band 3 | ISBN 978-3-7235-1461-0<br />

www.vamg.ch<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

223


Bernhard Schmalenbach unter<br />

Mitarbeit von Sören Roters-Möller<br />

Heilpädagogische<br />

Perspektiven<br />

auf das Alter<br />

Anregungen zur Aus- und<br />

Weiterbildung für die Begleitung<br />

von Menschen mit Behinderung<br />

Unsere Gesellschaft kann sich über die Tatsache<br />

freuen, dass auch Menschen mit Behinderungen<br />

immer älter werden. In gleichem Maße erweitert sich<br />

die Zielgruppe der heilpädagogischen Arbeit, was<br />

Fachkräfte sowie ehrenamtliche Begleiterinnen und<br />

Begleiter der Behindertenhilfe mit neuen Aufgaben,<br />

Erwartungen und offenen Fragen konfrontiert.<br />

Bernhard Schmalenbach legt mit seinen heilpädagogischen<br />

Perspektiven das Hauptaugenmerk auf fachlich<br />

fundierte Einschätzungen dazu, über welche nisse und Fähigkeiten Mitarbeiter heilpädagogischer<br />

Kennt-<br />

Einrichtungen verfügen sollten, um ältere Menschen<br />

mit Behinderung angemessen begleiten zu können.<br />

Neben den Altersperspektiven aus Soziologie,<br />

Philosophie und Psychologie werden unterschiedliche<br />

Zugänge und methodische wie inhaltliche Schwerpunktsetzungen<br />

im Themenfeld Behinderung und<br />

Alter skizziert. Besondere Berücksichtigung findet<br />

dabei der biografische Zugang in Form von Biografiearbeit<br />

und der Präsentation von Erkenntnissen aus<br />

biografischen Interviews zu Vorstellungen vom Altern.<br />

Mit dem Blick auf Spiritualität und Tod sowie einem<br />

Kapitel zu Impulsen aus der Kunst erweitert diese<br />

Publikation die bisherigen Darstellungen<br />

192 Seiten, kartoniert, 15,8 × 23 cm,<br />

20 Euro | 25 Franken<br />

ISBN 978-3-7235-1561-7<br />

Reihe: Edition Anthropos, Band 5<br />

Frielingsdorf, Volker | Grimm, Rüdiger |<br />

Kaldenberg, Brigitte<br />

Geschichte der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

Entwicklungslinien und<br />

Aufgabenfelder 1920 — 1980<br />

Band 4 | ISBN 978-3-7235-1478-8<br />

www.vamg.ch<br />

224


magazine for anthroposophical curative education and social therapy<br />

EDITOR: Philip Haddon 22 Devonshire Street Birmingham, B18 5DL, UK phil_n@<br />

hushmail.com<br />

Editorial Group; Philip Haddon, Belinda Heys, Christoph Hanni and Maria Mountain.<br />

Four times a year, the present issue being a special double issue, we publish in depth<br />

main articles, reports from around the world movement, book reviews, stories of<br />

human achievements, tales of community life, signs of the times, medical reports<br />

and more.<br />

pointandcircle is published on behalf of the Council for Curative Education and Social<br />

Therapy within the Medical Section of the School for Spiritual Science at the<br />

Goetheanum, Dornach; and in association with the Anthroposophical Curative Education<br />

and Social Therapy Association (ACESTA).<br />

SUBSCRIPTIONS: Belinda Heys Treetop, Post Horn Lane Forest Row, East Sussex RH18<br />

5DD, UK pandcsubs@gmail.com<br />

We would be pleased to send you a subscription (£18.00 for four issues a year including<br />

postage) or an individual copy (£4.50 + postage).<br />

Please contact: Belinda Heys (Subscriptions) at pandcsubs@gmail.com or send the form<br />

below to: Treetop, Post Horn Lane, Forest Row, East Sussex, RH18 5DD, UK<br />

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I include a cheque of GB £18 made out to pointandcircle<br />

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Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

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Fondazione La Motta<br />

La Motta ist eine von Dr. Ita Wegman gegründete sozialtherapeutische Institution im Tessin mit<br />

anthroposophischem Hintergrund. Es leben dort 46 interne und 10 externe Menschen mit speziellen<br />

Bedürfnissen und Begleitungsbedarf im Wohnheim mit integrierter Beschäftigungsstätte.<br />

Auf Mai 2017, oder nach Vereinbarung, suchen wir eine(n)<br />

Heimleiter(in)/Direktor(in)<br />

der/die mit Unterstützung eines erfahrenen Leitungsteams die Führungsverantwortung übernimmt,<br />

den Bewohnern die grösstmögliche Unterstützung in allen Lebensbereichen bietet und die Institution<br />

gemäss ihrem Leitbild nach innen und aussen vertritt.<br />

Sie haben<br />

• Einen Fachhochschulabschluss im Bereich Sozialpädagogik oder verwandten Disziplinen<br />

• Betriebswirtschaftliche Kenntnisse und Kompetenzen<br />

• Berufs- und Führungserfahrung in sozialtherapeutischen Einrichtungen<br />

• Konkrete Kenntnisse und Erfahrungen in anthroposophischer Sozialtherapie<br />

Sehr gute Kenntnisse in italienischer und deutscher Sprache<br />

• Schweizer Nationalität oder Aufenthaltsbewilligung<br />

Wir können bieten<br />

• <strong>Seelenpflege</strong>-bedürftige Menschen aller Altersstufen mit Hilfsbedarf und speziellen<br />

Bedürfnissen<br />

• Ein angenehmes Arbeitsklima in einer interessanten und seit vielen Jahren bestehenden<br />

Institution<br />

• Engagierte und kompetente Mitarbeiter<br />

• Eine angemessene Vergütung<br />

Schriftliche Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis Ende Oktober <strong>2016</strong> an den<br />

Präsidenten der Stiftung La Motta, Dr. Erdmut J. Schädel, Via Costa di Dentro 5, CH 6614 Brissago.<br />

Für weitere Auskünfte steht Ihnen auch der bisherige Stelleninhaber, Herr Kurt Bitterli, gerne zur<br />

Verfügung (Tel: +41 91 786 80 20; k.bitterli@la-motta.ch)<br />

226


Peter Heusser<br />

Anthroposophie<br />

und Wissenschaft<br />

Eine Einführung<br />

Erkenntniswissenschaft, Physik, Chemie,<br />

Genetik, Biologie, Neurobiologie,<br />

Psychologie, Philosophie des Geistes,<br />

Anthropologie, Anthroposophie, Medizin<br />

Dieses Buch ist die erste gründliche Einführung in die Wissenschaftsgrundlagen der<br />

Anthroposophie und der anthroposophischen Medizin im Kontext der akademischen<br />

Wissenschaft. Dabei ermöglicht die Erkenntniswissenschaft Rudolf Steiners eine bisher<br />

kaum beachtete solide Grundierung der modernen Wissenschaften. Physik, Chemie,<br />

Genetik, Morphogenese, Biologie, Neurobiologie,<br />

Psychologie, Anthropologie und Philosophie des<br />

Geistes werden durch sie ihrer reduktionistischen<br />

Form entkleidet und bilden so die empirische Grundlage<br />

eines neuen, geistgemäßen wissenschaftlichen<br />

Verständnisses von Mensch und Natur. Das wird an<br />

aktuellen Grundfragen nach dem Wesen der Substanz,<br />

des Lebens, der Wechselwirkung von Leib und Seele<br />

und der Freiheit des menschlichen Geistes aufgezeigt.<br />

Das Resultat ist eine nicht-reduktionistische<br />

Anthropologie, die die emergenten Eigenschaften<br />

von Körper, Leben, Seele und Geist als verschiedene,<br />

aber gleichermaßen reale Wesensschichten des<br />

Menschen anerkennt. Das ist kongruent mit den<br />

grundlegenden Konzepten der Anthroposophie<br />

und anthroposophischen Medizin, aber auch mit der<br />

klassischen Anthropologie des Abendlandes. Es wird<br />

gezeigt, wie sich diese Anthropologie historisch und<br />

erkenntnismethodisch in die moderne Anthroposophie<br />

weiterentwickelt hat, und wie sich deren Erkenntnisresultate<br />

zur modernen naturwissenschaftlichen<br />

Forschung verhalten, besonders in der Medizin.<br />

Das Buch ist auch als Wissenschaftsgrundlage der<br />

Pädagogik sowie anderer Fachgebiete geeignet,<br />

die es mit dem Menschen als Ganzem zu tun haben.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

227


<strong>Seelenpflege</strong> in Heilpädagogik und Sozialtherapie 35. Jahrgang <strong>2016</strong> Heft 3 & 4<br />

Impressum<br />

Herausgegeben von der Konferenz für Heil pädagogik und Sozialtherapie<br />

in der Medizinischen Sektion der Freien Hochschule für<br />

Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach (Schweiz) www.<br />

khsdornach.org<br />

Redaktion<br />

Dr. Rüdiger Grimm<br />

Dr. Bernhard Schmalenbach<br />

Gabriele Scholtes (Dipl.-Heilpädagogin)<br />

Administration<br />

Pascale Hoffmann<br />

Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich.<br />

Abonnementspreise CHF Euro<br />

Abonnement 42.-- 32.--<br />

Studierende/Senioren 27.-- 20.--<br />

Einzelheft (zuzügl. Porto) 15.-- 10.--<br />

Organisationsabonnement<br />

ab fünf Hefte 300.-- 250.--<br />

Weitere Informationen unter: www.seelenpflege.info<br />

Layout<br />

Roland Maus<br />

Satz<br />

Gabriele Scholtes, Rüdiger Grimm<br />

Druck<br />

Uehlin Druck und Medienhaus<br />

Inh. Hubert Mößner<br />

Hohe-Flum-Strasse 40<br />

DE-79650 Schopfheim<br />

Anschrift<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong><br />

Ruchti-Weg 9, CH-4143 Dornach<br />

Telefon: +41 61-701 84 85<br />

eMail: zs@khsdornach.org<br />

Website: www.seelenpflege.info<br />

Verlag der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie, Dornach<br />

ISSN 1420-5564<br />

Mediadaten: www.seelenpflege.info<br />

Das Abonnement ist jederzeit kündbar.<br />

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Ich abonniere jetzt!<br />

die Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong><br />

in Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

zum Preis von CHF 42.-- | Euro 32.-- (Studierende und Senioren 27.-- | 20.--) pro Jahr. Das Abonnement ist jederzeit kündbar.<br />

Mein Abonnement beginnt mit der nächsten Ausgabe.<br />

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228


Anthroposophical<br />

Curative Education<br />

and Social Therapy<br />

International<br />

Perspectives<br />

Anthroposophische<br />

Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

Internationale<br />

Perspektiven<br />

Reports<br />

Articles<br />

Interviews<br />

Berichte<br />

Beiträge<br />

Interviews

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