Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
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International Perspectives<br />
<strong>Seelenpflege</strong><br />
in Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
Anthroposophical<br />
Curative Education<br />
and Social Therapy<br />
International<br />
Perspectives<br />
Anthroposophische<br />
Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
Internationale<br />
Perspektiven<br />
Reports<br />
Articles<br />
Interviews<br />
Berichte<br />
Beiträge<br />
Interviews<br />
in cooperation with
Editorial<br />
Editorial<br />
Liebe Leserinnen und Leser<br />
Mit diesem Heft möchten wir Ihnen einen Überblick über<br />
die weltweite Arbeit der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie vorlegen. Sein Kernstück sind<br />
die Berichte aus den Ländern, in denen es diese Form<br />
der Arbeit mit und für Menschen mit Behinderung gibt –<br />
in manchen seit vielen Jahrzehnten, in anderen erst seit<br />
kurzer Zeit. Erfahrung und Pioniergeist reichen sich über<br />
Ländergrenzen und Kontinente hinweg die Hände. All<br />
diese Länder arbeiten in der Konferenz für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie zusammen, in der sie einmal im<br />
Jahr – jeden Herbst – zusammenkommen und sich über<br />
ihre gemeinsamen Aufgaben, Themen und Herausforderungen<br />
miteinander verständigen. Es sind die Mitglieder<br />
dieses Runden Tisches, die diese Berichte verfasst<br />
haben. Leider gibt es nicht von allen Ländern in diesem<br />
Heft Berichte, wir werden diese in kommenden Ausgaben<br />
ergänzen.<br />
Die Zukunft unserer Arbeit hängt massgeblich davon ab,<br />
dass wir gut qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
ausbilden. Wir haben zehn junge Menschen, die ihre<br />
heilpädagogische oder sozialtherapeutische Ausbildung<br />
in zehn verschiedenen Ländern machen, gebeten, uns<br />
einige Fragen zu beantworten:<br />
Wie ist Dein persönlicher Bezug zur anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie? Wie bist Du zu<br />
der Ausbildung und Mitarbeit in der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie gekommen?<br />
Welche Aufgaben stellen sich der Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
in der Zukunft?<br />
Was brauchst Du, um im Rahmen der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie in Zukunft<br />
arbeiten zu können?<br />
Welche Aufgabe hat die Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
in der Entwicklung der Gesellschaft, in der Du<br />
lebst?<br />
Entstanden sind zehn ganz unterschiedliche und spannende<br />
Antworten.<br />
Dear readers,<br />
This volume is our attempt at an overview of anthroposophic<br />
curative education and social therapy<br />
work worldwide. Its centrepiece consists of<br />
reports from the countries in which this kind of<br />
work with and for people with disabilities is being<br />
carried out – in some for many decades and in<br />
others only since quite recently. Experience and<br />
the pioneering spirit reach out to each other<br />
across national borders. All of these countries<br />
work together in the Council for Curative Education<br />
and Social Therapy, where they come together<br />
annually—each autumn—and communicate<br />
with each other about common tasks, themes and<br />
challenges. The members of this round table are<br />
the authors of these reports. Some countries have<br />
not provided reports for this volume; they will be<br />
added in future editions.<br />
The future of our work is significantly dependent<br />
on our training well-qualified co-workers. Therefore,<br />
we asked ten young people who are enrolled<br />
in curative education or social therapy training in<br />
ten different countries to answer some questions<br />
for us:<br />
What is your personal relationship to anthroposophic<br />
education for children with special needs<br />
and social therapy? How did you come to<br />
work in anthroposophic education for children<br />
with special needs and social therapy?<br />
What are the tasks of education for children with<br />
special needs and social therapy in the future?<br />
What do you need/what support do you need in<br />
order to be able to work within the framework<br />
of anthroposophic education for children<br />
with special needs and social therapy in<br />
the future?<br />
What is the task of education for children with<br />
special needs and social therapy in the development<br />
of the society in which you live?<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
3
Das Thema Ausbildung finden Sie auch in einem Bericht<br />
von Andreas Fischer wieder, der die wichtigsten<br />
Bildungsanliegen aus unserem Internationalen Ausbildungskreis<br />
für Sie zusammengefasst hat. Ein Meilenstein<br />
dieser Arbeit war die Verabschiedung der neuen<br />
«Charta Berufliche Bildung», die eine gemeinsame Referenz<br />
für die internationale Ausbildungsgemeinschaft<br />
sowie die Grundlage der Akkreditierung und Anerkennung<br />
in diesem Netzwerk bilden.<br />
Es sind die internationalen Kongresse «In der Begegnung<br />
leben», die eine beispielhafte, fast möchte man sagen<br />
beispiellose Erfolgsgeschichte darstellen. Sie haben in<br />
zahlreichen Ländern und Kontinenten bereits stattgefunden<br />
und werden im kommenden Jahr mit einem Weltkongress<br />
in Jekaterinburg, Russland kulminieren. Thomas<br />
Kraus hat eine Übersicht zusammengestellt und Matthias<br />
Pleger, Teilnehmer an allen Europäischen Kongressen<br />
einen Erlebnisbericht beigetragen.<br />
Aus dem künstlerischen Bereich haben wir einen Beitrag<br />
von Ingeborg Woitsch über ihre erfolgreiche Arbeit in den<br />
Schreibwerkstätten, in denen Menschen die Möglichkeit<br />
entdecken, sich auf neue Art auszudrücken und zu erleben.<br />
Hannes Weigert stellt uns die Arbeit des Malers Tor<br />
Janicki vor, der sich mit dem Bühnenvorhang zu den Mysteriendramen<br />
Rudolf Steiners beschäftigt hat.<br />
Eine weitere Farbe, die dieses Heft besitzt, finden Sie in<br />
den Beiträgen von Ute Craemer über die Arbeit in den<br />
Armenvierteln Lateinamerikas, von Jan Göschel über<br />
Kindheit und Vulnerabilität in den Bedingungen des 21.<br />
Jahrhunderts, von Rüdiger Grimm über die Entwicklung<br />
des Ich in Leib und Welt, von Florian Osswald über die<br />
Aufgaben der Erziehung in der Gegenwart, von Annette<br />
Pichler über Bindungsforschung im Zusammenhang mit<br />
dem Punkt-Kreis-Element und schliesslich von Stefan<br />
Siegel-Holz über die Sozialtherapeutische Gemeinschaft.<br />
Bilden die Berichte aus den Ländern die «horizontale»<br />
Situation in den Ländern ab, ihre Ausbreitung und ihren<br />
Beitrag für die jeweils nationale Kultur und Gesellschaft,<br />
so stellen diese Beiträge ein eher «vertikales» Element<br />
dar, indem sie einige Aspekte der Grundlagen und Methoden<br />
der aus der Anthroposophie heraus erwachsenen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie beleuchten. Dies gilt<br />
insbesondere für einen der ersten Aufsätze, der je über<br />
die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
geschrieben worden ist. Ita Wegman schrieb ihn im<br />
Jahr 1926. Sie zeichnete die Ausführungen Rudolf Stei-<br />
Ten very different answers were the result, all of which<br />
are fascinating to read.<br />
Training is also the topic of a report by Andreas Fischer,<br />
who summarized the most important training objectives<br />
from our International Training Circle for you, our<br />
readers. Our establishment of the new ‘Professional<br />
Training Charter’ was a milestone of our work which<br />
provides a common point of reference for the international<br />
training community as well as a basis for accreditation<br />
and recognition within the network.<br />
The international ‘Living in the Encounter’ conferences<br />
represent an exemplary, one could almost say unprecedented<br />
success story. They have now taken place in<br />
numerous countries and on several continents, and<br />
will culminate next year in a worldwide conference in<br />
Yekaterinburg, Russia. Thomas Kraus has composed an<br />
overview and Matthias Pleger, who participated in all<br />
of the European conferences, contributed an account<br />
of his experiences.<br />
From the sphere of the arts, we have a contribution by<br />
Ingeborg Woitsch on her successful work with writing<br />
workshops, in which people learn new ways of expressing<br />
and experiencing themselves. Hannes Weigert introduces<br />
us to the work of the painter Tor Janicki, who<br />
studied and worked with the stage curtain for Rudolf<br />
Steiner’s Mystery Dramas.<br />
This volume also includes wonderful contributions by<br />
Ute Craemer on her work in the slums of Latin America,<br />
by Jan Göschel on childhood and vulnerability in<br />
the context of the 21st century, by Rüdiger Grimm on<br />
the development of the I in body and world, by Florian<br />
Oswald on the tasks of education in our present<br />
time, by Annette Pichler on attachment research as it<br />
relates to the elements of point and periphery, and finally<br />
by Stefan Siegel-Holz on the social therapeutic<br />
community.<br />
If the reports from different countries portray the ‘horizontal’<br />
situations in the countries – their expansion<br />
and their contribution to the national culture and<br />
society, these contributions portray a more ‘vertical’<br />
element, in that they highlight some aspects of the<br />
foundations and methods of anthroposophically based<br />
curative education and social therapy. This is especially<br />
true of one of the first essays that was ever written<br />
about anthroposophic curative education and social<br />
therapy, which was written by Ita Wegman in 1930.<br />
She retraced Rudolf Steiner’s explanations from his<br />
4
ners im «Heilpädagogischen Kurs» nach und erweiterte<br />
sie durch ihre eigenen Erfahrungen und Gesichtspunkte<br />
als zusammenfassenden Beitrag zu den «Grundlagen<br />
der Heilpädagogik». Damit möchten wir auch einen Zusammenhang<br />
herstellen zu unserer eigenen Geschichte,<br />
die eine Geschichte individueller Initiative und gemeinschaftlicher<br />
Verantwortung und Ausgestaltung ist und<br />
den Boden für unsere heutige Arbeit entstehen liess.<br />
Mit Abschluss dieses Jahrgangs scheidet Rüdiger Grimm<br />
aus der Redaktion aus und bedankt sich bei Ihnen, liebe<br />
Leserinnen und Leser, herzlich für Ihre Wertschätzung<br />
und Verbundenheit mit dieser Zeitschrift, die ja ganz aus<br />
Ihren Beiträgen und Berichten und vor allem Ihrem Interesse<br />
lebt. Und dankt Bernhard Schmalenbach, Gabriele<br />
Scholtes und Pascale Hoffmann für die langjährige glückliche<br />
Zusammenarbeit. Jan Göschel, der das Sekretariat<br />
der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie zusammen<br />
mit Bart Vanmechelen und Sonja Zausch künftig<br />
leitet, wird seine Stelle in der Redaktion einnehmen.<br />
Wir hoffen, dass wir mit diesem Heft erreichen konnten,<br />
was der Titel verspricht, nämlich Perspektiven aufzuzeigen,<br />
die vom Leben unserer Bewegung und ihrer Zukunftskraft<br />
zeugen.<br />
‘Curative Education Course’ and expanded them from<br />
her own experiences and perspectives into a comprehensive<br />
article on the ‘Foundations of Curative Education.’<br />
In turn, we would like to connect that with our<br />
own history, which is a story of both individual initiative<br />
and community responsibility and organization,<br />
and which is the basis of our current work.<br />
With this edition, Rüdiger Grimm will be retiring from<br />
the editorial staff. He warmly thanks all of you, our<br />
readers, for your appreciation of and devotion to this<br />
magazine, which stays alive through your contributions<br />
and reports and especially your interest. He also<br />
thanks Bernhard Schmalenbach, Gabriele Scholtes and<br />
Pascale Hoffmann for many years of wonderful collaboration.<br />
Jan Göschel, who will be the new director of<br />
the Council for Curative Education and Social Therapy<br />
secretariat, along with Bart Vanmechelen and Sonja<br />
Zausch, will take over Rüdiger Grimm’s position on the<br />
editorial staff.<br />
We hope that this volume will succeed in living up to<br />
its title, in that it gives perspectives on the life of our<br />
movement and attests to its future-bearing momentum.<br />
Herzliche Grüsse und gute Lektüre wünschen Ihnen / With warm regards and best wishes for your reading pleasure,<br />
Rüdiger Grimm, Bernhard Schmalenbach und Gabriele Scholtes<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
5
Inhaltsverzeichnis | Contents<br />
Länderberichte | National Reports<br />
Interviews | Interviews<br />
Argentinien | Argentina<br />
Armenien | Armenia<br />
Australien Australia<br />
Belgien | Belgium<br />
Brasilien | Brazill<br />
China | China<br />
Kolumbien | Colombia<br />
Dänemark | Denmark<br />
Deutschland | Germany<br />
El Salvador | El Salvador<br />
England | English Region<br />
Finnland | Finland<br />
Frankreich | France<br />
Georgien | Georgia<br />
Indien | India<br />
Irland | Republic of Ireland<br />
Israel | Israel<br />
Italien | Italy<br />
Kirgistan | Kyrgystan<br />
Libanon | Lebanon<br />
Neuseeland | New Zealand<br />
Niederlande | Netherlands<br />
Norwegen | Norway<br />
Nordamerika | North Amerika<br />
Österreich| Austria<br />
Pakistan | Pakistan<br />
Peru | Peru<br />
Portugal | Portugal<br />
Rumänien | Romania<br />
Russland | Russia<br />
Schottland | Scotland<br />
Schweden | Sweden<br />
Schweiz | Switzerland<br />
Spanien | Spain<br />
Thailand | Thailand<br />
Tschechien | Czech Republik<br />
Ukraine | Ukraine<br />
Vietnam | Vietnam<br />
6<br />
8<br />
12<br />
15<br />
17<br />
20<br />
24<br />
26<br />
29<br />
33<br />
37<br />
39<br />
41<br />
43<br />
44<br />
47<br />
50<br />
52<br />
55<br />
59<br />
61<br />
64<br />
67<br />
70<br />
74<br />
79<br />
82<br />
84<br />
86<br />
88<br />
91<br />
94<br />
96<br />
98<br />
103<br />
104<br />
107<br />
110<br />
113<br />
Evelyn Eisele, Argentine<br />
Maria Neder Monteiro, Brazil<br />
Ben Dittmann, Denmark<br />
Dora Weisz, Germany<br />
Guranda Achelashvili, Georgia<br />
Maria Giorgia Ramunni, Italy<br />
Frederike Linger, Norway<br />
Siphamandla Qwabe, North America<br />
Lukas Hermanek, Switzerland<br />
Yuliia Bieliaieva, Ukraine<br />
10<br />
23<br />
31<br />
36<br />
46<br />
57<br />
72<br />
78<br />
101<br />
111<br />
«In der Begegnung leben»<br />
‹Living in the Encounter›<br />
Thomas Kraus 116<br />
Europäische Kongresse für Menschen mit<br />
Behinderung | European Congresses for<br />
People with Special Needs<br />
Ein Rückblick von Matthias Pleger<br />
A review by Matthias Pleger<br />
Weltweite Kongresse «In der Begegnung<br />
leben» | Worlwide Congresses ‹Living<br />
in the Encounter› 121<br />
Der Traum vom Schreiben<br />
The dream of writing<br />
Ingeborg Woitsch 132<br />
Die mittelpunkt-Schreibwerkstätten der<br />
Anthropoi Selbsthilfe | The centre point writing<br />
workshops at Anthropoi Self Help<br />
Goetheanum Vorhang<br />
Goetheanum Curtain<br />
Hannes Weigert 137<br />
Paintings by Tor Janicki and a sketch<br />
by Rudolf Steiner
Beiträge | Contributions<br />
Ausbildung in Heilpädagogik und Sozialtherapie, Andreas Fischer 145<br />
Professional training in Curative Education and Social Therapy, Andreas Fischer 148<br />
Charta Berufliche Bildung 149<br />
Charter Professional Education 150<br />
Favelaarbeit, Ute Craemer 154<br />
Works in the Favelas, Ute Craemer 157<br />
Eine Pädagogik der Gegenwart, Florian Osswald 161<br />
Education for the present time, Florian Osswald 164<br />
Kindheit und Vulnerabilität als Aufgaben im 21. Jahrhundert, Jan Christopher Göschel 167<br />
Childhood and Vulnerability: Tasks for the 21 st Century, Jan Christopher Göschel 171<br />
Die Dynamik von Punkt und Kreis als Grundlage von Bindungssicherheit, Annette Pichler 175<br />
The point-circle dynamic as the foundation of secure attachements, Annette Pichler 181<br />
Die sozialtherapeutische Gemeinschaft – Ein Auslauf- oder Zukunftsmodell? Stefan Siegel-Holz 187<br />
The social therapie community – a Thing of the past or a model for the future? Stefan Siegel-Holz 192<br />
Das «Ich in Leib und Welt» Aspekte zu seiner Entwicklung, Rüdiger Grimm 196<br />
Über die Grundlagen der Heilpädagogik, Ita Wegmann 205<br />
The Foundation of Curative Education, Ita Wegman 210<br />
Herausgeber:<br />
Konferenz für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie<br />
Medizinische Sektion<br />
der Freien Hochschule für<br />
Geisteswissenschaften am Goetheanum<br />
Dornach (Schweiz)<br />
Redaktion:<br />
Rüdiger Grimm<br />
Bernhard Schmalenbach<br />
Gabriele Scholtes<br />
Gratulationen 215<br />
Das neue Leitungsteam der<br />
Konferenz 216<br />
The new Leadership team of<br />
the Council 217<br />
Informationen u. Inserate 218<br />
Impressum 226<br />
pointandcircle 223<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
7
Berichte | Reports<br />
Argentinien | Argentina<br />
Kongress «In der Begegnung Leben» | Congress ‹Living in the Encounter›<br />
Entwicklungen<br />
Vor etwa dreissig Jahren fanden die ersten Keime der heilpädagogischen<br />
Arbeit in Argentinien ihren Anfang. Die Bewegung<br />
hat sich seither stark entwickelt und weit ausgebreitet.<br />
Heute gibt es vier Tagestätten für Jugendliche und erwachsene<br />
Menschen, ein heilpädagogisches Zentrum zur<br />
schulischen und therapeutischen Unterstützung und viele<br />
inklusive Waldorfschulen. Diese unterrichten zwischen<br />
ein bis vier inkludierte Schüler pro Klasse. In einer Waldorfschule<br />
sind parallele Hilfs-Klassen entstanden, die<br />
den heilpädagogischen Schülern die Möglichkeit geben,<br />
den Epochenunterricht nach individuellem Bedarf in der<br />
kleinen oder grossen Klasse zu halten.<br />
Die Schulen befinden sich sowohl in Buenos Aires als auch<br />
im Landesinneren. Es ist in Argentinien undenkbar, eine<br />
Schule ohne Inklusion zu konzipieren.<br />
Die Einrichtungen und Schulen bedürfen vieler Heilpädagogen,<br />
sodass es in Argentinien seit vielen Jahren Ausbildungen<br />
im Bereich der Heilpädagogik und Sozialtherapie in vier<br />
verschiedenen Regionen des Landes gibt. Alles in allem befinden<br />
sich zurzeit 193 Heilpädagogen in Ausbildung.<br />
History<br />
The first seeds of curative education in Argentina were<br />
planted around thirty years ago. Since then the movement<br />
has developed well and spread around the country.<br />
Today we have four day-care centres for youngsters<br />
and adults, one curative education centre with<br />
a school and therapeutic support, and many inclusive<br />
Waldorf schools, where one to four children with<br />
special needs are included in any one class. One of the<br />
Waldorf schools has started a parallel stream of small<br />
classes, where pupils with special needs can attend<br />
main lessons in the small or regular classes, depending<br />
on their individual requirements.<br />
The schools are situated in Buenos Aires as well as in<br />
the interior of the country. In Argentina a school that<br />
doesn’t practise inclusion is inconceivable.<br />
Our centres and schools need many curative teachers,<br />
which is why, for many years now, training in curative<br />
education and social therapy has been available in<br />
four separate regions. At present we have around 193<br />
trainee teachers. Around 171 youngsters and adults at-<br />
8
Berichte | Reports<br />
Die Tagesstätten werden insgesamt von 171 Jugendlichen<br />
und Erwachsenen besucht und im heilpädagogischen Zentrum<br />
35 Kinder begleitet und in den Schulen werden insgesamt<br />
ca. 500 Schüler heilpädagogisch betreut.<br />
Einige Entwicklungen haben sich im Bereich der Sozialtherapie<br />
ergeben: Nach der Teilnahme von 16 betreuten Menschen<br />
am südamerikanischen Kongress «In der Begegnung<br />
leben» in Brasilien im Herbst 2012 waren wir 2014 in<br />
Buenos Aires Gastgeber und reisten <strong>2016</strong> nach Cali, Kolumbien.<br />
Die Bewegung wächst stetig an. Es ist schon ein<br />
schönes soziales Netz entstanden, in dem sich sehr viele<br />
junge und ältere Menschen aus allen Initiativen und Einrichtungen<br />
als Gemeinschaft wohl fühlen.<br />
Die Sozialtherapie weitet sich im gesellschaftlichen Kontext<br />
in kleinen Schritten stetig aus. Es werden Kurse und<br />
kulturelle Veranstaltungen zur Information angeboten,<br />
doch die reiche und tiefgründige Arbeit der Sozialtherapie<br />
ist leider noch sehr unbekannt. In Argentinien gibt es<br />
noch keine Lebensgemeinschaft, nur einige kleine Versuche.<br />
Das hängt damit zusammen, dass die Familien ungern<br />
ihre erwachsenen Kinder anderen anvertrauen, aber<br />
auch damit, dass der nötige Mut und die Kraft fehlen, ein<br />
solches Projekt ohne staatliche Hilfe und finanzielle Ressourcen<br />
anzugehen.<br />
Gesellschaftliche Wirkungen und Aspekte<br />
Die Inklusion ist somit das landesweit bekannteste Merkmal<br />
unserer Waldorfschulen. Sehr geschätzt werden in der<br />
Öffentlichkeit unser ganzheitlicher Blick auf die menschliche<br />
Individualität sowie unsere Bemühungen, nicht nur<br />
heilpädagogische, sondern auch pädagogisch herausfordernde<br />
Kinder und Schüler mit psychiatrischen Krankheiten<br />
aufzunehmen.<br />
Leider ist es uns noch nicht gelungen, an politischen Diskussionen<br />
und staatlichen Projekten teilzunehmen und<br />
wir fragen uns, ob das überhaupt zu realisieren ist, ohne<br />
die eigene Identität und Mission zu verlieren.<br />
Argentinien ist eins der wenigen südamerikanischen Länder,<br />
die seit 25 Jahren für ihre behinderten Menschen aufkommen<br />
und alle Kosten übernehmen, auch an Waldorfschulen<br />
und Tagesstätten. Das ist aber sehr oft für die Familien und<br />
Einrichtungen mit langen Wartezeiten und Behördengängen<br />
verbunden, sodass die Einrichtungen wie auch die Mitarbeitenden<br />
lange auf ihre Gehälter warten müssen.<br />
Fachliche Themen<br />
Die wichtigsten fachlichen Fragen sind die der gesellschaftlichen<br />
Inklusion. Es ist wünschenswert, dass jeder<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
tend the day-care centres, the curative education centre<br />
has 35 children and the schools cater for around<br />
500 children with special needs.<br />
There have been a few new developments in the field<br />
of social therapy: after 16 people with special needs<br />
attended the South-American ‹Living in the Encounter›<br />
Congress in Brazil in the autumn of 2012, we were<br />
host in Buenos Aires in 2014 and we travelled to Cali<br />
in <strong>2016</strong>. The movement keeps growing. In the wonderful<br />
social network that has emerged many young and<br />
older people from all the initiatives and centres enjoy<br />
the feeling of being part of a community.<br />
Social therapy is growing slowly but steadily and finding<br />
its place in society, but although we offer informative<br />
courses and public events, the rich and<br />
profound work of social therapy remains too little<br />
known. There are no residential communities in Argentina<br />
yet, just a few small beginnings. This is due, on the<br />
one hand, to families being reluctant to entrust their<br />
adult children to the care of others, and on the other<br />
hand to the fact that it needs courage and strength to<br />
start such a project without state support and financial<br />
resources.<br />
Societal effects and aspects<br />
Inclusion is therefore the most distinctive hallmark of<br />
our Waldorf schools everywhere in the country. The<br />
public is very appreciative of our holistic approach to<br />
human individuality and of the fact that we not only<br />
accept children with special needs but also those with<br />
challenging behaviours and psychiatric illnesses.<br />
Unfortunately we have not yet been able to take part in<br />
political discussions and state-run projects and we are<br />
even wondering whether this would be possible at all<br />
without losing sight of our own identity and mission.<br />
Argentina is one of few countries in South America<br />
that looks after people with disabilities – and has done<br />
so for the last 25 years – paying all the costs involved,<br />
and this applies also to Waldorf schools and anthroposophical<br />
day-care centres. However, this often involves<br />
long waiting times for families and visits to the authorities,<br />
so that it takes a long time for the centres to<br />
finally receive money to pay staff salaries.<br />
Internal questions<br />
The most important questions are those related to<br />
inclusion. Every adult person with disabilities should<br />
be integrated into the working life, but the necessary<br />
conditions for this are not in place.<br />
9
Berichte | Reports<br />
erwachsene Mensch im Berufsleben eingegliedert werden<br />
kann, doch dazu fehlen die notwendigen Bedingungen.<br />
Weiterhin besteht die Frage der Zusammenarbeit mit den<br />
Familien der betreuten Menschen, sodass ein stützendes<br />
Netz entstehen kann.<br />
Ein weiteres Thema ist die Frage der Öffentlichkeitsarbeit:<br />
Wie können wir die anthroposophische Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie lancieren und für die Verbreitung auch in öffentlichen<br />
Schulen sorgen?<br />
Unsere Seminaristen führen zum Teil ihre Praktika in<br />
staatlichen Einrichtungen durch und sie werden dort mit<br />
offenen Händen empfangen.<br />
Netzwerkarbeit und Interdisziplinarität sind in jeder Hinsicht<br />
ein wichtiger Aspekt unserer täglichen Arbeit, um<br />
den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen einen adäquaten<br />
und Halt gebenden Rahmen zur Bildung ihrer Individualität<br />
zu bieten.<br />
Oft geht es uns so, dass wir mehr Fragen als Antworten<br />
haben und jedes Schicksal eine Herausforderung ist, an<br />
der wir alle wachsen. Mut zum Handeln ist erwünscht,<br />
kleine aber sichere Schritte sind zu gehen, uns der «Gesinnungspflanze»<br />
zu nähern, ihre Wurzeln zu ertasten und<br />
die Frucht an die Welt weiterzugeben. Daran arbeiten wir<br />
einzeln, aber auch gemeinsam als Netz.<br />
Zusammen organisieren wir für Juli 2018 in Buenos Aires die<br />
grosse lateinamerikanische heilpädagogische Tagung, deren<br />
Thema der Heilpädagogische Kurs Rudolf Steiners sein wird.<br />
Dazu laden wir alle sehr herzlich ein!<br />
There is also the aspect of cooperation with the families<br />
of the people with special needs in order to form a<br />
supportive network.<br />
And then there is the question of how we can make<br />
anthroposophical curative education and social therapy<br />
better known, particularly in state-sector schools.<br />
Some of our trainee teachers do their work experience<br />
in state institutions where they are welcomed with<br />
open arms.<br />
Networking and interdisciplinary work are important<br />
aspects of our daily work, because they enable us to provide<br />
an adequate and supportive framework for our children,<br />
adolescents and adults to unfold their individuality.<br />
We often feel we have more questions than answers<br />
and each destiny is a challenge that helps us all to grow.<br />
We need courage to take action and to take small, but<br />
firm steps towards the ‹spiritual plant› that nurtures us,<br />
seek for its roots and pass on its fruit to the world. This<br />
is what we work on individually and as a network.<br />
As a community we are organizing a major Latin-American<br />
Curative Education Congress in July 2018 that<br />
will have Rudolf Steiner’s ‹Education for Special Needs›<br />
as its theme.<br />
Come and be part of it!<br />
Doris Unger, Seminario de Pedagogía Curativa y Terapia<br />
Social Cruz del Sur<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Interview Evelyn Eisele<br />
Evelyn Eisele, born 1977 is an artist, living in Argentina. She is currently completing<br />
her training in Curative Pedagogy and Social Work, at «Cruz del Sur» and she works at<br />
the Rudolf Steiner high school of Buenos Aires as a Teacher of Arts.<br />
2012 begann ich an der Unterstufe der Rudolf Steiner<br />
Schule ein Praktikum und half dem Lehrer<br />
der ersten Klasse. In dieser Gruppe betreute ich<br />
ein Kind mit Hilfebedarf, das oftmals nicht in<br />
der Klasse bleiben konnte. Ich ging mit ihm nach<br />
I started working in 2012 in the primary school<br />
at Rudolf Steiner, accompanying the teacher<br />
of first grade. In this group, I met a child with<br />
special needs. This child often could not stay in<br />
class, so I used to go out with him to do ano-<br />
10
Interview<br />
draussen und unternahm andere Aufgaben. Oft<br />
waren wir im Garten tätig, gruben Löcher, um<br />
einen ‹Schatz› zu entdecken oder wir setzten<br />
Pflanzen. Danach konnten wir in die Klasse und<br />
zur dortigen Arbeit zurückkehren.<br />
Aufgrund dieser Aufgabe durfte ich an Arbeitsgruppen<br />
mit allen Lehrern, der Schulberatung und<br />
verschiedenen Therapeuten teilnehmen, die mit<br />
dem Jungen und seiner Familie arbeiteten und<br />
konnte somit über zwei Jahre hin die Wandlung<br />
und Entwicklung dieses Kindes erleben. Dieser<br />
grossartige kleine Bursche erweckte in mir die<br />
Begeisterung für die Heilpädagogik und ich entschied<br />
mich für das Studium. Durch diese Kinder<br />
entdeckte ich meine grosse Verbundenheit zu Kindern<br />
mit Behinderung.<br />
Die zukünftigen Aufgaben der Pädagogik für Kinder<br />
mit heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />
Bedürfnissen sind: Ein tiefer Blick auf die heute in<br />
Erscheinung tretenden Bedürfnisse, die Sensibilität<br />
dafür zu schärfen, warum gerade jenes Wesen<br />
auf uns zukommt, die Suche nach Mitgefühl, das<br />
Meditieren, das Gebet, die Suche nach Wegen, unsere<br />
Verbindung mit der geistigen Welt zu stärken,<br />
aktive Arbeit an Selbsterkenntnis und Selbsterziehung.<br />
Rudolf Steiner würde vielleicht sagen: ‹Es<br />
geht nicht darum, feingemessene Tricks zu benutzen,<br />
sondern in jedem Fall dasjenige zu tun, was<br />
der Fall selbst verlangt.›<br />
Um im Rahmen der anthroposophischen Pädagogik<br />
mit behinderten Kindern zu arbeiten, muss ich<br />
weiter tief in die Heilpädagogik eindringen, immer<br />
wieder Steiners Hinweise lesen, an Tagungen<br />
teilnehmen, die mich durch dieses grosse Wissen<br />
nähren und den Erfahrungen von Kollegen lauschen.<br />
Und ich muss Rudolf Steiners Nebenübungen<br />
praktizieren und üben.<br />
ther tasks; often we worked on the land, digging<br />
holes to find «treasures» or planting. After this<br />
type of activities, we could return to the work<br />
that was being done in the classroom.<br />
My work with this group and this child finished at<br />
the end of 2nd grade, and soon I could see the<br />
transformation, evolution and adaptation of this<br />
child. During this experience, I was able to make<br />
workgroups with all teachers, school counselling<br />
team, and with the various therapists who worked<br />
with the boy and his family. This great little<br />
kid inspired me to study special pedagogy and<br />
acquire the tools to work in this way.<br />
In those days I discovered I had a great affinity<br />
with children with special needs, in other grades<br />
of the school.<br />
The tasks of education for children with special<br />
needs and social therapy in the future are: To<br />
look in depth at the new needs presented to us<br />
these days, to sharpen our sensitivity to perceive<br />
what brings us each being, to search for empathy,<br />
to meditate, to pray and to seek ways to<br />
strengthen our ties with the spiritual world; to<br />
do active work of self-knowledge and self-education.<br />
Rudolf Steiner would say: «It is not about<br />
using finely measured special tricks, but to do in<br />
each case what the case itself demands.»<br />
To be able to work within the framework of<br />
anthroposophic education for children with<br />
special needs I need to keep going deeply into<br />
curative pedagogy, reading an re-reading Rudolf<br />
Steiner's notes, attending conferences that<br />
nourish me in that huge body of knowledge and<br />
listening to experiences from colleagues. And I<br />
need to practice the collateral exercises that left<br />
Rudolf Steiner gave us.<br />
Translation from English: Christian von Arnim<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
11
Berichte | Reports<br />
Armenien<br />
Armenia<br />
In Armenien sind Menschen mit Behinderungen weiterhin<br />
die gefährdetsten Mitglieder der Bevölkerung. Bei<br />
einer Gesamtbevölkerung von drei Millionen gibt es über<br />
180.000 Menschen mit Behinderungen, davon mehr als<br />
12.000 Kinder. 2012 führte die Regierung eine Gesamtstrategie<br />
mit dem Ziel ein, 25 Sondereinrichtungen zu<br />
entinstitutionalisieren, um seelenpflegebedürftige Kinder<br />
bis 2025 in Regelschulen zu integrieren. Es liegen<br />
keine statistische Daten über seelenpflegebedürftige Erwachsene<br />
vor.<br />
Nach dem Erdbeben 1988 in Spitak und dem Krieg in<br />
Nagorno Karabakh sah sich Armenien mit einer grossen<br />
Anzahl von Menschen mit körperlichen Behinderungen<br />
konfrontiert. Seitdem haben sich viele Organisationen<br />
erfolgreich mit der Unterstützung dieser Menschen befasst.<br />
Gemeinsam haben sie viel erreicht, damit ihnen<br />
das Umfeld zugänglich ist. Ausserdem sind zahlreiche<br />
kulturelle Aktivitäten für Menschen mit Behinderungen<br />
eingerichtet worden. Vor drei Jahren wurde eine Jobbörse<br />
nur für Arbeitssuchende mit Behinderungen eingeführt<br />
und inzwischen gibt es viele Organisationen, die Arbeiter<br />
mit körperlichen Behinderungen einstellen. Infolge der<br />
Fortschritte in der Organisation von sportlichen Aktivitäten<br />
ist die armenische Nationalmannschaft seit vielen<br />
Jahren an den Paralympischen Spielen beteiligt.<br />
Ein grosses Problem mit Anklängen an das vorangegangene<br />
sowjetische System ist jedoch die Voreingenommenheit<br />
gegenüber Menschen mit seelischen Problemen. Es<br />
gibt nur eine staatliche Organisation, die jedoch noch<br />
nach dem sowjetischen Modell arbeitet, was letztlich die<br />
Institutionalisierung von Jugendlichen mit seelischen Behinderungen<br />
bedeutet. Der Kampf um die Rechte dieser<br />
Menschen ist noch im Anfangsstadium. Menschen mit<br />
seelischer Behinderung, die z.B. das Alter von 18 Jahren<br />
erreichen, haben praktisch keine Rechte und können<br />
von der Sozialversorgung des Staats nur sehr begrenzte<br />
finanzielle Leistungen erwarten. Nach dem Verlassen<br />
des Kinderheims sind sie quasi der Wohnungslosigkeit<br />
ausgeliefert. Bisher hat sich der Staat nicht um die äusserst<br />
wichtigen Fragen der Beschäftigung und Integration<br />
gekümmert, deshalb werden sie nur von einigen privaten<br />
Initiativen wahrgenommen.<br />
In Armenia people with disabilities remain, as ever, the<br />
most vulnerable members of the population With an<br />
overall population of 3 millions in Armenia, there are<br />
more than 180,000 people with disabilites, more than<br />
12,000 of them children. In 2012 the government adopted<br />
an overall strategy of de-institutionalizing 25<br />
special institutions, promoting the integration of<br />
children in need of special care into ordinary schools<br />
by the year 2025. Statistical data concerning adults<br />
with special needs are not available.<br />
After the earthquake of 1988 in Spitak and the war<br />
in Nagorno Karabakh, Armenia faced high numbers of<br />
people with physical disabilities. Since then, many organizations<br />
have successfully engaged and dealt with<br />
the support of physically handicapped persons. Jointly,<br />
they have achieved a lot with regard to making the<br />
environment accessible for people with disabilities.<br />
Furthermore, numerous cultural activities have been<br />
established for people with physical disabilities. Three<br />
years ago, a job-fair was launched, dedicated to jobseekers<br />
with disabilities; by now, a lot of organizations<br />
are hiring workers with physical disabilities. And due<br />
to advances in the organization of sports activities,<br />
the Armenian national team has been involved in The<br />
Paralympic Games for many years.<br />
However, a major problem reminiscent of the previous<br />
Soviet system is prejudice against the people with mental<br />
problems. There is only one state organization, still<br />
operating on the Soviet model, i.e. institutionalising<br />
young people with mental disabilities . The struggle for<br />
the rights of these people is still in its initial stage. For<br />
example, people with mental disabilities who reach the<br />
age of 18 years have practically no rights and can only<br />
expect very limited financial support from state social<br />
services. After leaving the children’s homes such people<br />
are doomed to a homeless existence. So far, the state<br />
has paid no attention to the crucial issues of employment<br />
and integration, which are only addressed by a<br />
few private initiatives.<br />
The first anthroposophic initiative began on the basis<br />
of the country's only Waldorf School, which since its<br />
inception has been open for children with disabili-<br />
12
Berichte | Reports<br />
Eine Pause von der Arbeit | A break from work<br />
Die erste anthroposophische Initiative begann auf<br />
Grundlage der einzigen Waldorfschule des Landes, die<br />
seit ihrer Gründung für Kinder mit Behinderung offen<br />
ist. Im Laufe der Jahre sind erfolgreiche Methoden der<br />
Inklusion von Kindern mit verschiedenen Problemen<br />
und Behinderungen entwickelt worden und die Kinder<br />
geniessen den Unterricht mit Assistenz im allgemeinen<br />
pädagogischen Prozess sowie in individuellen pädagogischen<br />
Veranstaltungen.<br />
Als die erste Schülergruppe ihren Abschluss machte, entstand<br />
die Idee, sozialtherapeutische Einrichtungen zu<br />
organisieren, um die weitere Entwicklung dieser jungen<br />
Erwachsenen zu fördern. Im Dezember 2012 wurde die<br />
Theatergruppe «Mayri» gegründet. Im April 2014 leistete<br />
die Förderung von deutschen und niederländischen Stiftungen<br />
einen Beitrag zur Eröffnung des Mayri-Zentrums<br />
für Sozialtherapie mit Werkstätten, die inzwischen schon<br />
22 Jugendliche mit hauptsächlich seelischen Problemen<br />
beschäftigen. Mayri-Produkte sind wegen ihrer Qualität<br />
bekannt und werden in vielen Ausstellungen verkauft.<br />
Wir arbeiten mit allen Organisationen in diesem Bereich<br />
zusammen. Im Oktober 2015 wurde mit Hilfe einer Anzahl<br />
öffentlicher Organisationen ein Kongress für Menschen<br />
mit Behinderungen im Rahmen der europäischen<br />
ties. Over the years, productive methods have been<br />
developed for the inclusion of children with different<br />
problems, including mental care needs, providing accompanied<br />
participation in the general educational<br />
process as well as individual educational sessions.<br />
When the first group of youngsters graduated from<br />
school, the idea came up of organizing social therapeutic<br />
institutions, promoting the further development of<br />
these young adults. December 2012 saw the establishment<br />
of the theatre group ‹Mayri›, and in April 2014, the<br />
support of German and Dutch foundations contributed<br />
to the opening of the Mayri centre for social therapy ,<br />
with workshops that already employ 22 young people,<br />
mostly with mental problems. Mayri products have<br />
become known for their quality and are being sold at<br />
many exhibitions.<br />
We cooperate with all organizations involved in this field.<br />
In October 2015, aided by the joint efforts of a number<br />
of public organizations, a regional congress was organized<br />
for people with disabilities, within the framework of<br />
the European Congress «In der Begegnung leben (‹Living<br />
in the encounter›); it was attended by about 150 people<br />
from local organizations, as well as participants from<br />
Russia, Georgia, the Netherlands and Germany.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
13
Berichte | Reports<br />
Kongresse «In der Begegnung leben» organisiert, an dem<br />
etwa 150 Menschen von örtlichen Organisationen sowie<br />
Gäste aus Russland, Georgien, den Niederlanden und<br />
Deutschland teilnahmen.<br />
Leider erhält unser Zentrum keine staatliche Förderung<br />
und bleibt deshalb eine private Initiative, die nur allmählich<br />
die Möglichkeiten findet, die Prozesse im Land aktiv<br />
zu beeinflussen. Zur Zeit erachten wir es als das Beste,<br />
die Frage der Schaffung eines professionalen Rahmens<br />
zu thematisieren, sowohl für die Entwicklung einer inklusiven<br />
Bildung im Land als auch für den Aufbau von<br />
sozialtherapeutischen Institutionen. Es gibt noch viel zu<br />
tun, um diese Prozesse zu fördern, denn ohne sie kann<br />
die Entwicklung einer menschenwürdigen Gesellschaft<br />
nicht bewirkt werden. Sie erstrecken sich von der professionellen<br />
Ausbildung von pädagogischen Fackräften bis<br />
hin zur Verbesserung der Ausbildung von Sonderpädagogen,<br />
besonders hinsichtlich der Förderung ihrer diagnostischen<br />
und praktischen Fähigkeiten.<br />
Solchen Initiativen würde eine anthroposophisch orientierte<br />
Pädagogik zugutekommen. Im Rahmen des<br />
Erasmus-Mundus-Programms planen wir derzeit eine<br />
Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Universität Jerewan<br />
zur Entwicklung von graduierten Kursen für Sozialfürsorge<br />
in Verbindung mit der Universität Oslo. Die<br />
Studierenden im Aufbaustudium der Universität Jerewan<br />
werden dann bei Mayri ihr Praktikum absolvieren. Neben<br />
dem Erwerb von Grundkenntnissen ermöglicht dieses Gemeinschaftsprojekt<br />
auch ein Erlebnis der Sozialtherapie.<br />
In der Zwischenzeit sammeln wir professionelle Erfahrung,<br />
damit wir eine Initiative bilden können, die sich<br />
aufgrund ihres professionellen und humanistischen Ansatzes<br />
im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen<br />
auf ausreichend hohem Niveau etablieren kann, sodass<br />
weitere öffentliche Einrichtungen gefördert werden können.<br />
Gleichzeitig freue ich mich darüber, dass die jungen<br />
Mitarbeiter im Zentrum, die die Mehrheit des Teams ausmachen,<br />
die Anthroposophie mit grosser Begeisterung<br />
studieren. Sie verstehen, dass nur diese ihnen ein tieferes<br />
Verständnis für die Probleme der ihnen anvertrauten<br />
Menschen geben kann. Auf diese Weise ist es möglich,<br />
eine Kontinuität der Erkenntnisse sicherzustellen, die<br />
ein lebendiges Instrument für die schöpferische berufliche<br />
Weiterbildung der neuen Generation sein werden.<br />
Unfortunately, our centre does not receive state funding<br />
and therefore still remains a private initiative,<br />
only gradually transforming its abilitiy to have an active<br />
influence on developments in the country. At this<br />
moment in time , we deem it best to address the problem<br />
of creating a professional framework for the development<br />
of both inclusive education in the country<br />
and for the future development of social therapeutic<br />
institutions. To promote these processes, without<br />
which the development of a human society cannot be<br />
achieved, there is still a lot to do, ranging from the<br />
professional training of ordinary teachers to an improvement<br />
in the qualification of special teachers,<br />
especially in terms of increasing their diagnostic and<br />
practical skills.<br />
Such initiatives would benefit from anthroposophically<br />
oriented education. We are now planning to collaborate<br />
with Yerevan Pedagogical University in the<br />
development of graduate courses in social care, planned<br />
in association with the University of Oslo under<br />
the framework of Erasmus Mundus Programmes.<br />
Mayri then will become a place of practice for graduate<br />
students of Yerevan State University. This joint<br />
venture will have an important influence on helping<br />
them to acquire basic knowledge as well as on their<br />
experience of special methods.<br />
In the meantime, we are actively obtaining professional<br />
experience in order to create an organization<br />
which, due to its professional and humanistic approach<br />
towards people with disabilities, can establish itself as<br />
sufficiently high standard as to encourage the development<br />
of further similar public institutions. At the same<br />
time, I am extremely happy that young co-workers at<br />
the centre, being the majority of the team, are studying<br />
anthroposophy with great enthusiasm, understanding<br />
that only this will allow them to gain a deep insight<br />
into the problems of the people under our care. In<br />
this way it will be possible to ensure the continuity of<br />
knowledge, which will be a living instrument for creative<br />
professional development for the new generation.<br />
Zaruhi Manukyan, Mayri NGO, Yerevan<br />
Translation from English: Christian von Arnim<br />
14
Berichte | Reports<br />
Australien<br />
Australia<br />
Seit Anfang der 1958er Jahre hat die heilpädagogische<br />
und sozialtherapeutische Bewegung in Australien einige<br />
Perioden des Wachstums und der Konsolidierung<br />
durchlaufen. Es gibt weiterhin vielversprechende Bemühungen,<br />
neue Initiativen zu starten, wobei das Zentrum<br />
dieser Arbeit weiterhin im Grossstadtgebiet von Sydney<br />
in Ostaustralien mit Inala und Warrah liegt.<br />
Heute bietet Inala einerseits sozialtherapeutische Tagesdienstleistungen<br />
für etwa 200 Erwachsene in Sydneys<br />
nordwestlichen und östlichen Vororten an, 65 BewohnerInnen<br />
finden in Einrichtungen Unterstützung. In den letzten<br />
Jahren haben die guten Verbindungen mit der Gemeinde es<br />
Inala ermöglicht, eine Reihe von modernen Einrichtungen<br />
zu bauen, u.a. ein grosses Kulturzentrum für die Gemeinde<br />
und eine in das Umfeld integrierte Wohneinrichtung.<br />
Warrah bietet Werkstätten, Aktivitäten, soziales Engagement<br />
und tägliche Unterstützung für etwa 90 Erwachsene,<br />
von denen 50 Menschen auch in Warrahs Gruppenwohnungen<br />
leben. Eine kleine heilpädagogische Schule hat<br />
22 Schüler und wächst weiter.<br />
Die Mitarbeiterzahl steht bei etwa 160 Personen. Ein biologisch-dynamischer<br />
Bauernhof floriert und bietet eine<br />
lebendige Schnittstelle zu der Gemeinschaft.<br />
Eine neu Initiative zur Gründung einer heilpädagogischen<br />
Farmschule in Victoria (Südost Australien) macht<br />
Fortschritte. Eine kleine Initiative in Queensland, Sunhaven,<br />
begann 2009 mit dem Aufbau von Initiativen, die<br />
Wohnungs- und Tagesprogramme entwickeln.<br />
Kreativität in einer Zeit des Umbruchs<br />
Im Zeitraum 2014-2019 wird das System zur Unterstützung<br />
von Menschen mit Behinderungen im Sinne<br />
des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die<br />
Rechte von Menschen mit Behinderungen und der Personenzentrierung<br />
radikal umgewandelt. Im Gegensatz<br />
zum gegenwärtigen unterfinanzierten, krisenbedingten<br />
System, in dem Familien sich oft verzweifelt um Hilfe<br />
und knappe Dienstleistungen bemühen, ist es das Ziel<br />
der aktuellen Entwicklungen, ein Fördersystem direkt mit<br />
der betroffenen Person und ihrer Familie zu etablieren.<br />
Diese positiven Entwicklungen, die Menschen mit Behinderungen<br />
eine personenzentrierte Hilfe anbieten und die<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
From its inception in 1958, the work in Australia has<br />
evolved through periods of thr expansion of initiatives<br />
and of consolidation. Promising efforts to start<br />
new initiatives continue in Australia, but the hub of<br />
Australia’s work in Curative Education & Social Therapy<br />
is still concentrated in Metropolitan Sydney in Eastern<br />
Australia, with Inala and Warrah as the main centres.<br />
Today Inala’s expertise focusses on Social Therapeutic<br />
Day Services supporting over 200 adults in Sydney’s<br />
North West and Eastern suburbs and 65 residents in Accommodation<br />
services. Over the previous years, strong<br />
community support and linkages have enabled Inala to<br />
design and build a range of modern facilities including<br />
a large community arts centre and a hub of residential<br />
facilities integrated into community settings.<br />
Warrah provides workshops, activities, social engagement<br />
and day to day support for about 90 adults, including<br />
50 people who also reside in Warrah’s group<br />
homes. A small but growing Curative School has an enrolment<br />
of 22 – a significant increase over recent years<br />
and still growing. Staff numbers remain at around 160<br />
people. A biodynamic farm is thriving, and provides a<br />
vibrant interface with the broader community.<br />
A new initiative to start a Curative Farm School in Victoria<br />
(south eastern Australia) is making progress. A<br />
rural Steiner School, Little Yarra, has offered land on<br />
a share basis for the school to be build, which would<br />
include access to facilities, and the community life of<br />
the host school. A small initiative in Queensland, Sunhaven,<br />
wich began in 2009, has developed supported<br />
employment and respite services, with the goal of expansion<br />
to include residential and Day programs.<br />
Creating in a time of Change<br />
Over the period 2014-2019 the disability support system<br />
in Australia is being radically transformed in<br />
light of the United Nations Convention of the Rights<br />
of People with Disabilities and individualised funding.<br />
From the current under-resourced, crisis driven system<br />
in which families often desperately seek support and<br />
scarce services, the aim of current developments is<br />
to establish a support system directed by the person<br />
15
Berichte | Reports<br />
Inala Day Services in Cherrybrook<br />
es ihnen ermöglichen, ihr Leben auf Grund ihrer eigenen<br />
Zielsetzungen, Prioritäten und Bedürfnisse zu leben,<br />
sind begrüssenswert. Der Einführung des nationalen Invaliditätsversicherungssystems<br />
liegen starke Ideale zugrunde,<br />
sie ist jedoch gemässigt durch vorhersehbare<br />
Förderungs- und Finanzierungseinschränkung und fehlende<br />
Versorgung für einige kritischen Bedürfnisse, wie<br />
z.B. im Wohnungswesen. Die wachsende Betonung der<br />
wettbewerblichen Vermarktung von Dienstleistungen,<br />
das Risiko der Reduzierung von am Menschen orientierter<br />
Unterstützung auf eine vertragliche «Transaktion»<br />
und die Herausforderung, einen wahren Sinn von inklusiven<br />
Gemeinschaften und des gemeinschaftlichen Engagements<br />
zu pflegen, sind zentrale Fragen, mit der sich<br />
die Arbeit in Australien bewusst auseinandersetzt.<br />
Unsere Arbeit gründet auf Authentizität, Wärme, Kreativität<br />
und Entgegenkommen in menschlichen Beziehungen,<br />
bei denen jeder Einzelne in ein gemeinsames<br />
und wechselseitiges Verhältnis tritt. Die so entstehenden<br />
Bezüge haben eine Bedeutung, die weit über die<br />
prosaischen Transaktionen von «gelieferten Dienstleistungen»<br />
hinausgeht. Wir sind uns der zwingenden<br />
Notwendigkeit bewusst, diesen Ethos in den auf uns zukommenden<br />
sozialen und politischen Zusammenhängen<br />
zu pflegen und zu vertiefen. Es ist nötig, völlig neue<br />
Formen und Prozesse dafür zu entwickeln, eine wirkliche<br />
substantielle Gemeinschaft zu schaffen und Gemeinschaften,<br />
in denen es eine tiefe Anerkennung des<br />
gemeinsamen und persönlichen Schicksals gibt.<br />
with a disability and their families themselves. These<br />
very positive developments, enabling persons with<br />
disabilities to choose the person-centred supports<br />
which enable them to live their lives based on their<br />
own aspirations, priorities and needs, are welcomed.<br />
The introduction of the National Disability Insurance<br />
Scheme has strong foundational ideals, tempered by the<br />
ever -predictable funding and financial constraints, and<br />
the lack of provision for some critical needs such as<br />
housing. The growing future emphasis on competitive<br />
marketing of services offered, the risk of reducing<br />
human centred support to a ‹transactional› contract,<br />
and the challenge to maintain and nurture a true<br />
sense of inclusive communities and wider community<br />
engagement – these are central issues with which the<br />
work in Australia is consciously grappling.<br />
Our work is based on the authenticity, warmth, creativity<br />
and responsiveness in human relationships, in which<br />
each individual enters into a mutual and reciprocal relationship<br />
with another. These relationships which are<br />
created have significance which permeates far beyond<br />
the prosaic transactions of ‹delivered services.› We are<br />
very mindful of the imperative need to maintain and<br />
deepen this Ethos into the coming social and political<br />
contexts. Also, in these new contexts, the need for creating<br />
and developing entirely new forms and processes<br />
for what it is to create a real community of substance is<br />
of great significance – communities wherein lies a deep<br />
appreciation of shared and personal destiny.<br />
16
Berichte | Reports<br />
Entwicklung der Arbeit<br />
Es gibt einen Reichtum im Leben der Gemeinschaften, der<br />
von den Familien geschätzt und von den erwachsenen<br />
Bewohnern und Teilnehmern sehr genossen wird – dies<br />
ist eine Stärke der Arbeit in Australien. Es gibt weiterhin<br />
fortlaufende sozialtherapeutische Schulung, entweder als<br />
formal strukturierte Kurse, die gemeinsam von den Organisationen<br />
getragen werden, oder als auf die einzelnen<br />
Organisationen zugeschnittene Programme für die fortlaufende<br />
Mitarbeiterentwicklung. Ein Kurs über die Grundlagen<br />
der Heilpädagogik wurde von Barbara Baldwin über<br />
drei Jahre hin für die Mitarbeitenden der Heilpädagogischen<br />
Schule gehalten und hiess auch Lehrer aus Regelwaldorfschulen<br />
willkommen, da viele von ihnen Kinder mit<br />
sonderpädagogischen Bedürfnissen unterrichten. Das Ziel<br />
war, einen Dialog und eine Verbindung herzustellen, um<br />
die Arbeit mit den Kindern zu stärken.<br />
Die Kernwerte der Arbeit ziehen weiterhin Menschen an,<br />
es besteht jedoch die Herausforderung sicherzustellen,<br />
dass der anthroposophische Impuls gut fundiert ist, sowohl<br />
durch eine tief verwurzelte Kultur/Praxis als auch<br />
dadurch, erfolgreiche neue Formen der Mitarbeiterschulung<br />
zu finden. Ein jüngst durch Hohepa-Vertreter aus<br />
Neuseeland eingeleiteter Dialog könnte helfen, dies zu<br />
begünstigen und zu erweitern.<br />
Developing the Work<br />
There is a richness in the life of the communities which<br />
is highly valued by families and greatly enjoyed by adult<br />
residents and participants – it is a strength of the work<br />
in Australia. Ongoing training in Social Therapy has<br />
continued, either as formally structured courses jointly<br />
conducted by the organisations or as special organisationally<br />
tailored programs for ongoing staff development.<br />
A Foundations of Curative Education course was delivered<br />
by Barbara Baldwin over three years for Curative<br />
School staff, and welcomed teachers from mainstream<br />
Steiner Schools as many of them educate children with<br />
special needs. This aimed to create a dialogue and connection<br />
to strengthen the work with children.<br />
People continue to be attracted by the core values of<br />
the work, but the challenge remains of ensuring that<br />
the anthroposophical impulse is well grounded through<br />
both an embedded culture/practice and finding successful<br />
new forms for staff training. A very recent dialogue<br />
initiated by Hohepa representatives from New<br />
Zealand may help to foster and broaden this.<br />
Martin Porteous, Inala Day Services, Cherrybrook<br />
Translation from English: Margot Saar<br />
Belgien<br />
Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
wird in Belgien von sieben Organisationen angeboten,<br />
die im ‹Michaelis Verband› zusammenarbeiten. Sie unterstützen<br />
sich gegenseitig auf der politischen Ebene,<br />
bieten Mitarbeiterschulungen an und organisieren Arbeitsgruppen<br />
und Tagungen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit<br />
vertreten sie auch belgische Organisationen<br />
in der Internationalen Konferenz für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie und der ECCE.<br />
Vor etwa 50 Jahren wurden die ersten beiden Organisationen<br />
für Heilpädagogik in Belgien in der Region<br />
Antwerpen gegründet. Am Anfang unterstützte die holländische<br />
heilpädagogische Bewegung durch die Schulung<br />
von Mitarbeitern und die Bereitstellung finanzieller<br />
Mittel die Initiativen. Die Parcivalschool in Antwerpen ist<br />
eine Schule für seelenpflegebedürftige Kinder und Jugendliche<br />
und kann 10 Schüler mit unterschiedlichem<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Belgium<br />
In Belgium curative education and social therapy is provided<br />
by seven organisations. These organisations work<br />
together in the Michaelis Association to support each<br />
other on the policy level and to organise training of coworkers,<br />
study groups and conferences. Based on this<br />
collaboration, they also represent Belgian organisations<br />
in the International Council and in the ECCE.<br />
The start of these initiatives was strongly supported by<br />
the curative education movement in Holland, through<br />
the training of co-workers as well as the provision of<br />
funding. About 50 years ago, the first two organisations<br />
for curative education in Belgium were founded in the<br />
Antwerp region.<br />
The Parcivalschool in Antwerp is a school for children<br />
and adolescents in need of special care and accommodates<br />
210 pupils from many cultural backgrounds.<br />
Iona in Kessel is a residential place for 34 children and<br />
17
Berichte | Reports<br />
kulturellen Hintergrund unterbringen. Iona in Kessel ist<br />
eine Wohngemeinschaft für 34 Kinder und 33 Erwachsene.<br />
Tagsüber arbeiten die Bewohner im Haushalt, in der<br />
Landwirtschaft sowie in den künstlerischen und handwerklichen<br />
Werkstätten. Es besteht eine Zusammenarbeit<br />
mit dem Emiliushoeve (s. unten) im geförderten Beschäftigungsprogramm<br />
und in ähnlicher Weise kommt dem<br />
Förderschulprogramm die enge Verbindung mit der Parcivalschool<br />
und anderen Schulen in der Umgebung zugute.<br />
In den achtziger Jahren gründeten Mitarbeiter dieser<br />
zwei Organisationen zwei neue sozialtherapeutische Initiativen:<br />
Widar in Merksplas und Talander in Arendonk.<br />
Widar ist eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für Sozialtherapie<br />
mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft,<br />
einer Bäckerei und Handwerkstatt für etwa 60 Menschen<br />
mit Förderbedarf. Der Laden und seine Produkte sind in<br />
den nahegelegenen Dörfern und der Stadt gut bekannt<br />
und das Brot wird in vielen Läden verkauft. Talander bietet<br />
Gartenbau, handwerkliche und künstlerische Werkstätten<br />
für etwa 17 Bewohner. Sowohl Widar als auch<br />
Talander sind an der Pflege der nahegelegenen Naturschutzgebiete<br />
beteiligt. Wanderer und Radler werden<br />
von den Bewohnern in Cafés und Teehäusern willkommen<br />
geheissen. Talander hat letztes Jahr einen Preis im<br />
Rahmen eines Wanderweg-Wettbewerbs erhalten.<br />
Vor etwa 30 Jahren entstanden zwei weitere Organisationen:<br />
Die Christoforusgemeenschap in Merelbeke und De<br />
Speelhoeve in Boechout.<br />
De Speelhoeve ist eine heilpädagogische Tagesstätte für<br />
21 Kinder und Jugendliche mit sehr hohem Hilfebedarf.<br />
Wegen ihren komplexen Behinderungen besuchen diese<br />
Kinder nicht die Schule, sie können jedoch in einer heilpädagogischen<br />
Umgebung aus dem Leben mit all seinem<br />
Reichtum lernen und daran arbeiten, ihre Grundfähigkeiten<br />
zu entwickeln. Nun hat sich die rechtliche Lage<br />
dahingehend entwickelt, dass diesen Kindern bald Lernprogramme<br />
angeboten werden können, unterstützt von<br />
den Kollegen der Parcivalschool, während De Speelhoeve<br />
im Gegenzug beim Betreuungsprogramm der Schule<br />
behilflich sein kann.<br />
Die Christoforusgemeenschap ist eine sozialtherapeutische<br />
Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die aus<br />
zwei Häusern für insgesamt 22 Bewohner besteht, mit<br />
Gartenbau und Handwerkstätten. Mit Festen, künstlerischen<br />
Veranstaltungen und Weihnachtsspielen ist<br />
diese Gemeinschaft gut in das Kulturleben der nahegelegenen<br />
Dörfer integriert.<br />
Es ist beachtenswert, dass sich die sozialtherapeutischen<br />
Einrichtungen in den letzten Jahren von einer<br />
Beim Plastizieren | Plasticzing<br />
33 adults. During the day the residents go to work in<br />
household and farm activities as well as in artistic and<br />
crafts workshops. Collaboration with the Emiliushoeve<br />
(see below) is in place regarding the supported work<br />
programme, and similarly, the special school programme<br />
benefits from close links with the Parcivalschool<br />
and with another school in the neighbourhood.<br />
In the 1980s co-workers from these two organisations<br />
established two new initiatives for social therapy:<br />
Widar in Merksplas and Talander in Arendonk. Widar<br />
is a shared living and working community for social<br />
therapy with biological-dynamic farming, a bakery<br />
and craft workshops for about 60 people with special<br />
needs. The shop and its products are well known in the<br />
villages and the town nearby and the bread is being<br />
sold in many of shops in the area. Talander offers gardening,<br />
crafts and artistic workshops for about 17 residents.<br />
Both Widar and Talander are involved in caring<br />
for the nearby nature reserves. Hikers and bikers are<br />
welcomed by the residents in cafés and tea houses. Talander<br />
was very successful in developing an award for<br />
hiking trail competition in the forest last year.<br />
About 30 years ago two other organisations came into<br />
existence: the Christoforusgemeenschap in Merelbeke<br />
and De Speelhoeve in Boechout.<br />
De Speelhoeve is a curative education daycare centre<br />
for 21 children and adolescents with multiple needs. Because<br />
of their complex disabilities these children cannot<br />
attend a school, but in a curative environment they can<br />
learn from life in all its richness and work on their development<br />
of basic skills. Now the legal situation has<br />
changed to the effect that in the near future learning<br />
18
Berichte | Reports<br />
Gemeinschaft für Menschen mit Behinderungen in Organisationen<br />
umgewandelt haben, die einen Beitrag<br />
zum Gesellschaftsleben leisten. Alle Organisationen<br />
haben einen guten Ruf und sind von der Regierung anerkannt,<br />
was bedeutet, dass die Gehälter der Mitarbeiter<br />
und Lehrer und ein grosser Teil der Betriebskosten subventioniert<br />
sind. Im Gegenzug müssen wir uns an viele<br />
Vorschriften halten und der Regierung Bericht erstatten.<br />
Ein System, das Qualität in der Pflege auferlegen soll,<br />
hat zur Professionalisierung des Managements geführt,<br />
fordert uns jedoch auch heraus, über unsere weniger<br />
messbaren Qualitäten und Werte nachzudenken und<br />
Wege der Sicherung zu finden. Der Impuls der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie wird<br />
sich als ein wirksamer Weg erweisen müssen, den Bedürfnissen<br />
der Kinder und Erwachsenen, für die wir arbeiten,<br />
Rechnung zu tragen. Währenddessen erwarten<br />
wir die grösste Reform in der Geschichte unseres Versorgungssystems,<br />
was viel Ungewissheit mit sich bringt.<br />
Die Haupttriebfeder ist die weitere Umsetzung der UN-<br />
Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen,<br />
aber auch der zukünftige Rahmen und die<br />
Bezahlbarkeit des Versorgungssystems selbst. Indem<br />
sie ihr personalisiertes Budget bekommen, haben Menschen<br />
mit Förderbedarf grössere Möglichkeiten, eigene<br />
Entscheidungen zu treffen. Andererseits sind die<br />
Budgets knapp und es geht auch darum, Kosten einzusparen,<br />
damit mehr Menschen ohne Anstieg des Gesamtbudgets<br />
Hilfe finden. Organisationen werden durch<br />
das Paradigma des sozialen Unternehmertums dazu<br />
herausgefordert, ihre Netzwerke zu stärken, Mittel zu<br />
beschaffen und neue, an die Hilfs- und Unterstützungsbedürfnisse<br />
des Einzelnen angepasste Arbeitsformen zu<br />
entwickeln. Die grösste Herausforderung neben diesen<br />
schwierigen externen Voraussetzungen ist jedoch, die<br />
internen Bedingungen zu sichern, damit das Ziel nicht<br />
aus den Augen verloren geht und ein tieferes Verständnis,<br />
hilfreiche Inspirationen und Intuitionen erlangt werden<br />
– indem wir zusammenarbeiten. Wir müssen uns<br />
um die Quelle kümmern, um den Fluss zu stärken!<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
programme can be offered for these children, supported<br />
by the colleagues of the Parcivalschool, while De Speelhoeve<br />
can support the care programme at the school.<br />
The Christoforusgemeenschap is a social therapy community<br />
of shared living and working, made up of two<br />
houses for altogether 22 residents providing garden<br />
work and craft workshops. With festivals, artistic<br />
events and Christmas plays this community is well integrated<br />
in the cultural life of the local villages.<br />
It is worth noting that over the past few years the social<br />
therapy organisations have been changing from being<br />
residential settings for people with disabilities to organisations<br />
that contribute to the quality of life of society<br />
as a whole. All organisations have built up a good reputation<br />
and are recognised by the government, which<br />
means that the salaries of the co-workers and teachers<br />
and most of the operating costs are subsided. In return,<br />
we have to comply with a lot of regulations and have<br />
to report to government. A system which has been set<br />
up to impose quality care has led to the professionalization<br />
of management but also challenges us to reflect<br />
on our less measurable qualities and values and to find<br />
ways to safeguard them. The choice for anthroposophical<br />
curative education and social therapy will have<br />
to be proven as an efficient way to answer the needs<br />
of the children and adults we work for. Meanwhile we<br />
are experiencing the biggest reform in the history of<br />
our care system, which brings a lot of uncertainty with<br />
it. Its main driving force is the further implementation<br />
of the UN Convention on the Rights of Persons with<br />
Disabilities, while another factor is the future framework<br />
and affordability of the care system itself. Being<br />
provided with personalised budgets, people in need of<br />
special care have more possibilities to make their own<br />
choices. On the other hand, those budgets are tight and<br />
the whole operation is also about saving costs in order<br />
to help more people without an increase of the overall<br />
budget. Organisations are challenged by the paradigm<br />
of social entrepreneurship, to strengthen their network,<br />
to fundraise and to develop new work forms tailored<br />
to the individual needs for assistance and support.<br />
But undoubtedly the greatest challenge under these<br />
stressful external conditions is to safeguard the inner<br />
well-beeing to stay focussed, gain deeper insight, helpful<br />
inspirations and intuition – by working together.<br />
Caring for the source to strengthen the flow!<br />
Bart Vanmechelen, De Speelhoeve, Boechout.<br />
Translation from English: Christian von Arnim<br />
19
Berichte | Reports<br />
In der Bäckerei | in the bakery<br />
Brasilien<br />
In Brasilien leben 204 Mio. Einwohner auf einer Fläche von<br />
8,5 Mio. km 2 , wobei die grösste Dichte im Südosten und<br />
Süden besteht.<br />
Anthroposophie ist gegenwärtig in den verschiedensten Lebensbereichen<br />
der brasilianischen Gesellschaft vertreten.<br />
Erste Gründungen und weitere Ausbreitung<br />
Die Etablierung der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
begann etwa 1960 mit der Gründung der Einrichtung<br />
Angaiá in Campos do Jordão (SP) durch die Heilpädagogin<br />
Gunda Bay. In den 80er-Jahren kam in São Paulo die<br />
Puppenfabrik Evi von Karin Evelyn Scheven dazu, die sich<br />
auch der Betreuung pflegebedürftiger Menschen annahm.<br />
Lucinda Dias gründete 1986 das «Sonnenhaus» (A Casa<br />
do Sol), 1991 formierte sich der Gemeinnützige Verein<br />
Parsifal (Ass. Beneficiente Parsifal) innerhalb der Puppenfabrik.<br />
Weitere Einrichtungen entstanden später in São<br />
Paulo und in anderen Städten. 1991 begann die erste<br />
Ausbildung der Heilpädagogik unter Mitwirkung verschiedener<br />
Lehrer aus Europa und einiger brasilianischer Ärzte.<br />
Brazil<br />
In Brazil 204 million people occupy an area of 8.5 million<br />
square kilometres, the population being densest in<br />
the south east and south.<br />
Anthroposophy is now represented in all parts of Brazilian<br />
society.<br />
First foundations and dissemination<br />
Anthroposophical curative education was first established<br />
around 1960 when the curative teacher<br />
Gunda Bay founded Angaiá in Campos do Jordão (SP).<br />
In the 1980s Karin Evelyn Scheven set up the Evi doll<br />
factory in São Paulo and began to work with people<br />
with special needs. In 1986 Lucinda Dias founded the<br />
‹House of the Sun› (A Casa do Sol) and in 1991 Parsifal<br />
was founded as a charitable association (Ass. Beneficiente<br />
Parsifal) within the doll factory. Other centres<br />
followed in São Paulo and in other cities. In 1991 the<br />
first curative education training was established with<br />
the help of various teachers from Europe and some<br />
Brazilian physicians.<br />
20
Berichte | Reports<br />
Der Verband<br />
Mit den Jahren entstand eine Studiengruppe von Therapeuten,<br />
die an Kongressen am Goetheanum teilnahmen.<br />
Schon im Jahre 2000 bildete sich eine Gruppe von Vertretern<br />
der bestehenden Einrichtungen und nach mehreren<br />
Treffen und der Durchführung des fünften Ibero-amerikanischen<br />
Kongresses in Brasilien wurde 2004 der Verband<br />
gegründet, der alle bis dahin existierenden Arbeiten vereinigte<br />
(Federação de Instituições e Profissionais de Educação<br />
Terapêutica e Terapia Social do Brasil).<br />
Diese Ziele bestehen in:<br />
• Netzwerkarbeit<br />
• Entwicklung von anthroposophisch orientierten Einrichtungen<br />
begleiten und unterstützen<br />
• Weiterführende Fortbildungen für Berufstätige<br />
• Unterstützung bei der Konzeptarbeit<br />
• Beratung für Familien und Berufstätige, die Fortbildungskurse<br />
und/oder Arbeitsplätze suchen; für Studenten die<br />
Praktika innerhalb und ausserhalb Brasiliens suchen;<br />
für Familien, die Betreuung oder Beratung suchen<br />
• Repräsentation gegenüber anderen Verbänden<br />
Heute zählen zehn Mitgliedsorganisationen zum Verband,<br />
sieben Initiativen sind im Aufbau, andere in der<br />
Gründungsphase (sechs in São Paulo, andere im Landesinneren<br />
und in anderen Bundesländern Brasiliens).<br />
In den Einrichtungen werden annähernd 400 Menschen<br />
mit Behinderungen von 140 Mitarbeitenden begleitet;<br />
zudem hat der Verband mittels seiner Aktivitäten mehr<br />
als 2.500 Menschen direkt oder indirekt erreicht, darunter<br />
Familien, Erzieher und andere Fachkräfte. Die<br />
Einsatzbereiche reichen von Beratungs- und Fortbildungsangeboten<br />
durch unabhängige Fachkräfte über institutionelle<br />
Tagesbetreuung, therapeutische Werkstätten bis<br />
hin zu Schulbegleitungsangeboten.<br />
Aktionen des Verbandes<br />
Seit 2007 erfolgen jährliche Treffen zur Verbesserung<br />
der Zusammenarbeit und Vernetzung, die inzwischen<br />
Wirkung zeigen.<br />
Der erste Begegnungs-Kongress für Menschen mit Behinderungen<br />
fand 2009 statt und das Projekt wird mit monatlichen<br />
Treffen fortgesetzt. Es konnten Partnerschaften<br />
im Freizeit- und Kulturbereich gewonnen und Gesetze zur<br />
besseren Nutzung des Flugverkehrs vorangetrieben werden,<br />
um die Teilnahmemöglichkeiten an den Kongressen<br />
in anderen Ländern zu verbessern.<br />
The association<br />
Over the years a study group has been formed by the<br />
therapists who attended the conferences at the Goetheanum.<br />
As early as 2000 a group of representatives<br />
of the existing centres came together and, after they<br />
had met several times and organized the fifth Ibero-<br />
American Congress in Brazil, an association was founded<br />
in 2004, uniting all the centres that existed at that<br />
time (Federação de Instituições e Profissionais de Educação<br />
Terapêutica e Terapia Social do Brasil).<br />
The association pursues the following goals:<br />
• Networking<br />
• Supporting the development of anthroposophically<br />
oriented institutions<br />
• Professional development for people in work<br />
• Supporting the conceptual work<br />
• Providing advice to families and working people who<br />
are looking for further training and/or jobs; for students<br />
in search of work experience placements in Brazil<br />
or abroad; for families in need of care or advice<br />
• epresenting our movement to other associations<br />
Today, the association has ten member organizations,<br />
seven initiatives in development and others that are still<br />
in the foundation phase (six in São Paulo, others in the<br />
interior of the country and in other Brazilian states).<br />
In these centres almost 400 people with disabilities are<br />
being supported by 140 staff; in addition the association<br />
is directly or indirectly in contact with more than<br />
2500 people, including families, educators and other<br />
professionals in the field. The services offered range<br />
from consultation and further training through independent<br />
specialists to day-care centres, therapeutic<br />
workshops and learning support in schools.<br />
Association activities<br />
Since 2007 annual meetings have been held in order<br />
to improve cooperation and networking and they are<br />
now proving effective.<br />
The first ‹Encounter› congress for people with disabilities<br />
took place in 2009 and the project is being continued<br />
in monthly meetings. Partnerships have been set<br />
up in the field of leisure and culture and it was possible<br />
to promote laws that make it easier to use flights to<br />
get to congresses in other countries.<br />
The association has increased its publicity, for instance<br />
by organizing events on the International Day of Per-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
21
Berichte | Reports<br />
Der Verband hat seine Öffentlichkeitsarbeit intensiviert,<br />
er organisiert beispielsweise Veranstaltungen anlässlich<br />
des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung<br />
oder beteiligt sich mit einem eigenen Stand an der<br />
ReaTech Messe, der grössten nationalen Messe für Rehabilitation<br />
und Behinderung.<br />
Der Verband veranstaltet nationale wie internationale Tagungen<br />
für Mitarbeitende, Dozenten und Auszubildende,<br />
teilweise mit Unterstützung von Kollegen aus anderen<br />
Ländern und neuerdings auch zum Teil unter Beteiligung<br />
und Mitwirkung von Menschen mit Behinderungen. Beim<br />
Ibero-amerikanischen interdisziplinären Kongress findet<br />
der Verband seit 2013 ein Forum, in dem gemeinsame<br />
Fragen und Berührungspunkte von Pädagogik und dem<br />
Gesundheitsbereich aus anthroposophischer Sicht besprochen<br />
werden.<br />
Seit 1998 nehmen brasilianische Therapeuten an den<br />
Heilpädagogischen Tagungen in Dornach teil und seit<br />
2000 wirken sie mit an den jährlichen Konferenzen für<br />
Vertreter des Internationalen Rates. Eine grosse Inspirationsquelle<br />
stellen die Besuche der brasilianischen<br />
Therapeuten in europäischen Institutionen dar, durch<br />
die neue Programme in den verschiedenen Arbeitsgebieten<br />
des Fachbereichs angeregt und entwickelt<br />
werden können. Zudem vermittelt und empfiehlt der<br />
Verband Praktikumsplätze, ehrenamtliche Dienste in<br />
Brasilien und im Ausland.<br />
Derzeit laufende Projekte: Arbeitsgruppe Unterstützte<br />
Kommunikation, Projekt VINE, Berufsanerkennung in<br />
Brasilien, Unterstützungsgruppe für Inklusion an Schulen,<br />
Vereinsmitgliedschaft von unabhängigen Fachkräften<br />
und neuen Institutionen, Stipendiatsvergabe.<br />
Ausbildung<br />
Seit 1991 findet in Brasilien die Ausbildung zu Fachkräften<br />
statt. Heute werden sechs Ausbildungsseminare<br />
für Therapeutische Erziehung (Heilpädagogik) und Sozialtherapie<br />
in verschiedenen Städten mit mehr als 200<br />
Studierenden durchgeführt, die im Rahmen der beruflichen<br />
Qualifikation vor allem einen Weg zur persönlichen<br />
Entwicklung suchen. Eine Repräsentantin nimmt Teil am<br />
Internationalen Ausbilderkreis in Kassel und die Ausbildung<br />
des gemeinnützigen Vereines Parsifal ist durch den<br />
Internationalen Rat für Heilpädagogik und Sozialtherapie,<br />
durch die Medizinische Sektion am Goetheanum<br />
und durch den Brasilianischen Verein Anthroposophischer<br />
Medizin (ABMA) anerkannt.<br />
sons with Disabilities or by running a stall at ReaTeach,<br />
the biggest national trade fair of technologies in rehabilitation<br />
and disability.<br />
National and international cooperation<br />
The association organizes national and international<br />
conferences for staff, lecturers and trainees, partly with<br />
the support of colleagues from other countries and recently<br />
also involving people with special needs. Since<br />
2013 the association has used the Ibero-American Interdisciplinary<br />
Congress to provide a forum where<br />
people can discuss questions regarding education and<br />
healthcare from an anthroposophical point of view.<br />
Since 1998 Brazilian therapists have attended the curative<br />
education conferences in Dornach and since<br />
2000 Brazil has been represented in the meetings of<br />
the International Council. Visits to European institutions<br />
have been most inspiring and have helped to develop<br />
new programmes in all kinds of fields within our<br />
profession. In addition, the Association arranges and<br />
recommends work experience placements and volunteering<br />
in Brazil and abroad.<br />
Current projects include a working group on facilitated<br />
communication, the VINE project, professional recognition<br />
in Brazil, a support group for inclusion in<br />
schools, the question of association membership for<br />
independent specialists in the field and for new institutions,<br />
and the granting of scholarships.<br />
Training<br />
Training of specialists in Brazil started in 1991 and<br />
training seminars in therapeutic education (curative<br />
education) and social therapy are now held in various<br />
cities. More than 200 students attend these courses in<br />
search not only of professional qualifications but also<br />
of self-development. A representative of the trainings<br />
attends the meetings of the International Training<br />
Group in Kassel and the training at Parsifal, a charitable<br />
organization, is recognized by the International<br />
Curative Education and Social Therapy Council, the<br />
Medical Section at the Goetheanum and the Brazilian<br />
Association for Anthroposophic Medicine (ABMA).<br />
Paula Cardoso Mourao, Federação de Instituições e<br />
Profissionais de Educação, Terapêutica e Terapia Social<br />
do Brasil, São Paulo<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
22
Interview Maria Neder Monteiro<br />
Marina Neder Monteiro is 38 years old and studies at the Seminar for Special Needs Education and Social<br />
Therapy in São Paulo. She teaches Englisch at Escola Livre Areté.<br />
Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr unterrichte ich<br />
Englisch und habe dies immer im Lichte der Anthroposophie<br />
getan. Heute bin ich Englischlehrerin<br />
an der Escola Livre Areté und auch Förderlehrerin<br />
einer jungen Teenagerin mit Hilfebedarf am Colégio<br />
Waldorf Micael de São Paulo in Brasilien.<br />
Da ich mehr und mehr Kinder mit Hilfebedarf in meiner<br />
Klasse zu unterrichten hatte, fand ich es an der<br />
Zeit, dass ich die Art Pädagogin werde, die meine<br />
Kinder brauchen. Eine, die ihnen helfen und sie<br />
durch die Schuljahre begleiten kann, immer in Anbetracht<br />
ihrer Bedürfnisse.<br />
Anthropsophische Heilpädagogik sollte den Kindern<br />
helfen, sich in der bestmöglichen Weise zu entwickeln<br />
und zu Menschen zu werden, die (so weit wie<br />
möglich) ein unabhängiges und würdiges Leben<br />
führen können. Die direkte Arbeit mit der Teenagerin,<br />
sie das Lesen und Schreiben zu lehren, ihr<br />
soziale Kompetenzen näherzubringen, ihren Lernrhytmus<br />
und ihre Wesensart verstehen zu lernen,<br />
erfüllte mich. Doch meistens zeigte es sich, dass<br />
ich selbst Lernende war.<br />
Eine wichtige Aufgabe der heilpädagogischen und<br />
sozialtherapeutischen Arbeit ist die soziale Inklusion.<br />
Es hat sich weltweit mit Bezug auf diesen Aspekt<br />
viel verbessert, wir haben jedoch noch einen<br />
langen Weg vor uns. In Brasilien haben Kinder mit<br />
Hilfebedarf das Recht, die Regelschule zu besuchen<br />
und der Lehrplan wird ihren Bedürfnissen<br />
und den Fähigkeiten, die sie brauchen, um sich zu<br />
entwickeln, angepasst. Die Entwicklung einer Hilfsgruppe<br />
wäre für die Unterstützung von Förderlehrern<br />
und der Schulgemeinschaft sehr wichtig.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
I have been teaching English since I was twenty and<br />
have always done that in the light of anthroposophy.<br />
Nowadays, apart from being an English teacher<br />
at Escola Livre Areté, I am also a learning support<br />
teacher of a young teenage girl with special needs<br />
at Colégio Waldorf Micael de São Paulo in Brazil.<br />
Since I started having a large number of children<br />
with special needs attending my classes, I believed<br />
it was time for me to become the type of educator<br />
my children needed me to be. One who would be<br />
able to help and guide them through their school<br />
years, always taking their needs into account. As<br />
I had already become a Waldorf teacher, I decided<br />
to become a special needs teacher too.<br />
Education for children with special needs and social<br />
therapy have the role of helping children to develop<br />
themselves at their best and become human beings<br />
capable of living their lives with dignity. and as<br />
much autonomy as possible. Working directly with<br />
a teenage girl, teaching her how to write and read,<br />
teaching her social skills, and learning to respect her<br />
learning rhythm and her way of being, fulfilled my<br />
soul and showed me that most of the times when I<br />
thought I was teaching I was actually learning.<br />
I believe one important task of education for children<br />
with special needs and social therapy is social<br />
inclusion. The world community has improved a<br />
lot regarding this aspect but we still have a long<br />
way to go.In Brazil children with special needs<br />
have the right to go to a regular school and have<br />
the curriculum adapted to their needs and the<br />
abilities they need to develop. The development<br />
of a care group would be of great importance to<br />
support learning support teachers and the school<br />
community as a whole.<br />
Translation from English: Christian von Arnim<br />
23
Berichte | Reports<br />
China | China<br />
Gegenwärtig gibt es drei offizielle Schulen für seelenpflegebedürftige<br />
Kinder, es existieren jedoch private Initiativen,<br />
von denen einige mit Regelwaldorfschulen bzw.<br />
als unabhängige Dienste zusammenarbeiten, z.B. mit<br />
dem Schwerpunkt der traditionellen und anthroposophischen<br />
Medizin, Schulungsmethoden oder rhythmische<br />
Massage. Sie sind in Beijing und anderen Provinzen in<br />
Südchina gelegen, es ist jedoch schwierig, exakte statistische<br />
Daten zu bekommen.<br />
Wesentliche Entwicklungen der letzten drei Jahre<br />
Jeden Sommer wird das International Postgraduate Medical<br />
Training (IPMT) unter der Leitung von Michaela<br />
Glöckler veranstaltet; dieses Programm hat die berufliche<br />
Entwicklung verbessert und findet nun im fünften<br />
Jahr statt. Das Programm bietet eine heilpädagogische<br />
Schulung und Lehrerausbildung.<br />
Über zwei Jahre wurde eine von Barbara Baldwin geleitete<br />
heilpädagogische Ausbildung für Schulen im Süden und<br />
Osten von China angeboten. Eine Klasse für Fortgeschrittene<br />
wird in der Waldorfschule Chengdu betrieben, jedoch<br />
noch ohne Zertifizierungen der Studierenden durch<br />
das Goetheanum. Neben der Heilpädagogik finden Schulungsveranstaltungen<br />
und Arbeitstreffen für rhythmische<br />
Massage, Heileurythmie und anthroposophische Medizin<br />
statt. An den Lehrerausbildungsveranstaltungen nahmen<br />
neben Lehrern von Waldorfschulen auch Eltern, andere<br />
potenzielle Lehrer und interessierte junge Leute teil. Die<br />
meisten sind Eltern, die vom gegenwärtigen Bildungssystem<br />
enttäuscht sind, oft auch Eltern von seelenpflegebedürftigen<br />
Kindern, die keine passenden Schulen für ihre<br />
Kinder finden können. In den letzten zwei Jahren waren<br />
viele Heilpädagogen, anthroposophische Ärzte und Therapeuten<br />
aus dem Ausland eingeladen.<br />
Die heutige Situation<br />
Die anthroposophische Heilpädagogik in China befindet<br />
sich im Pionierstadium und das bedeutet, dass sie nur<br />
wenigen Menschen bekannt ist. Es wird also ein sehr langer<br />
Weg sein, sie in China zu entwickeln und zu etablieren.<br />
Es gibt keine offizielle staatliche Finanzierung und wir verwenden<br />
neben den Schulgeldern unser eigenes Geld, um<br />
die Gehälter und Einrichtungen bezahlen zu können.<br />
Nur wenige Menschen verstehen das Anliegen der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik: Die meisten denken,<br />
dass es sich nur darum handelt, mit den seelenpflege-<br />
There are currently three official schools for children in<br />
need of special care, but there are also private initiatives,<br />
some of which work together with regular Waldorf<br />
schools or as independent services, with emphases on<br />
traditional and anthroposphic medicine, anthroposophic<br />
training methods, or rhythmic massage. They are located<br />
in Beijing and other provinces in southern China; however,<br />
it is difficult to obtain exact statistical data.<br />
Key developments in the last three years<br />
Every summer, the International Postgraduate Medical<br />
Training (IPMT) takes place, directed by Michaela<br />
Glöckler. This programme has improved professional<br />
development, and is now in its fifth year. It offers curative<br />
education training and teacher training.<br />
For two years, Barbara Baldwin directed a curative<br />
education training programme for schools in the<br />
south and east of China. An advanced training class<br />
is offered in the Waldorf school in Chengdu, though<br />
it is not certified by the Goetheanum. In addition to<br />
curative education, there are training events and professional<br />
meetings for rhythmic massage, Eurythmy<br />
Therapy and anthroposophic medicine. Besides Waldorf<br />
teachers, many parents, other potential teachers<br />
and interested young people have been taking part in<br />
teacher training events. A large number of them are<br />
parents who are disappointed with the current education<br />
system, and many are parents of children with<br />
special needs who are unable to find suitable schools<br />
for their children. In the last two years, many curative<br />
educators, anthroposophic physicians and therapists<br />
have been invited from other countries.<br />
The current situation<br />
Anthroposophic curative education in China is in the<br />
pioneer stages, which means that it is known to only a<br />
few. Therefore, it will be a long path to developing and<br />
establishing it in China. There is no official governmen-<br />
24
Berichte | Reports<br />
bedürftigen Kindern zu spielen und fröhliche Zeiten mit<br />
ihnen zu verbringen. Das ist ein weiterer Grund, warum<br />
wir so viele Ausbilder aus dem Ausland eingeladen<br />
haben – um dieser Art von Missverständnis zu begegnen<br />
und verständlich zu machen, was die Ziele der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik sind.<br />
Die wichtigsten Themen und Fragen<br />
Was ist anthroposophische Heilpädagogik? Oder was ist<br />
ihr Ziel und wie wird das Ziel erreicht?<br />
Trotz der Bereitschaft, die notwendigen hohen Gehälter<br />
für fachkundige Mitarbeiter zu finanzieren, gibt es kaum<br />
qualifizierte Lehrer oder Therapeuten und offensichtlich<br />
wenig Bereitschaft, eine Ausbildung zu absolvieren. Die<br />
Qualität der Pädagogik bleibt unter diesen Umständen<br />
eine Herausforderung. Das gleiche trifft auf das Verständnissniveau<br />
der Elternschaft und deren Erwartungen zu.<br />
Ist es notwendig, eine Gemeinschaft zu bilden? Wer sind<br />
die wichtigen Personen in der Schule? Was ist die Verantwortung<br />
des Lehrers? Neben grundlegenden Fragen<br />
in Bezug auf die Zusammenarbeit der Lehrer mit einem<br />
interdisziplinären Therapeutenteam besteht die Diskussion<br />
über einen individuellen Bildungsplan und die<br />
Überwachung der Leistungen des Kindes von einem<br />
Team verschiedener Pädagogen. Allgemein herrscht ein<br />
grosser Mangel an anthroposophisch ausgebildeten Ärzten<br />
und Therapeuten.<br />
Entwicklungsimpulse und nächste Schritte<br />
In den letzten zwei Jahren wurden hochwertige Schulungen<br />
mit dem Schwerpunkt Heilpädagogik organisiert,<br />
die neben Heilpädagogen auch Lehrer mit einbezogen,<br />
um die Qualität der Heilpädagogik in Regelschulen<br />
zu verbessern. Als Ergebnis dieser Schulungen haben<br />
wir schon eine Gemeinschaft von anthroposophischen<br />
Heilpädagogen aufgebaut, die mehr als 300 Personen<br />
umfasst. Gegenwärtig ist unsere Schulung darauf ausgerichtet,<br />
alle interessierten Waldorfschulen und deren<br />
Mitarbeiter zu unterstützen.<br />
Wir wünschen uns Hilfe aus Dornach, um die Entwicklung<br />
der Heilpädagogik in China weiterzubringen und zu<br />
etablieren. Unsere Überlegungen richten sich zur Zeit auf<br />
das Folgende: Eine umfangreiche Lehrerausbildung und<br />
elementare Strategie für eine heilpädagogische Ausbildung,<br />
Netzwerkarbeit mit den anthroposophischen Ärzten<br />
und Therapeuten und die Übersetzung von kurzen<br />
Schlüsseldokumenten in die einheimische Sprache, um<br />
Eltern Informationen über eine gesunde Lebensweise<br />
und die gegenwärtigen Entwicklungen geben zu können.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
tal financial support, and we spend our own money, in<br />
addition to the schools’ money, in order to be able to<br />
pay the salaries and institutional costs.<br />
Only a few people understand the goals of anthroposophic<br />
curative education: Most believe that its focus<br />
is simply to play with the children with special needs<br />
and to spend cheerful time with them. This is a further<br />
reason for inviting so many educators from other<br />
countries – in order to counter this kind of misunderstanding<br />
and to help people understand the goals of<br />
anthroposphic curative education.<br />
The most important themes and questions<br />
What is anthroposophic curative education? Or what<br />
is the goal, and how do we reach it ? In spite of our<br />
willingness to finance the necessarily high salaries for<br />
specialized professionals, there are very few qualified<br />
teachers or therapists and apparently little willingness<br />
to complete a training programme. Under these conditions,<br />
the quality of education remains a challenge.<br />
This applies to the parents’ level of understanding and<br />
expectations as well.<br />
Is it necessary to build a community? Who are the important<br />
people in a school? What are the teachers’ responsibilities?<br />
Besides fundamental questions relating<br />
to collaboration between teachers and an interdisciplinary<br />
team of therapists, there is debate regarding individual<br />
educational plans and monitoring of children’s<br />
performance by a team of educators. In general, there<br />
is a massive lack of anthroposophically trained physicians<br />
and therapists.<br />
Development impulses and next steps<br />
In the last two years, high quality training programmes<br />
emphasizing curative education, have been organized,<br />
drawing in both curative educators and teachers in order<br />
to improve the quality of curative education in regular<br />
schools. As a result of these work we have already built<br />
a community of anthroposophic curative educators including<br />
over 300 people. Currently, our training aims to<br />
support all interested Waldorf schools and their staff.<br />
We wish for help from Dornach in order to further<br />
develop the establishment of curative education in<br />
China. Our current focal points are: A comprehensive<br />
teacher training programme and basic plan for a<br />
curative education training; networking with anthroposophic<br />
physicians and therapists and translation of<br />
short key documents into the local language, to make<br />
basic information on a healthy lifestyle and current<br />
developments available to parents.<br />
25
Berichte | Reports<br />
Wang Zhen ist Mutter eines behinderten Kindes und Schulgründerin<br />
der ersten heilpädagogischen Schule in China (bearbeitet<br />
und gekürzt von Gabriele Scholtes).<br />
Da die Entwicklungen in China mit einem rasanten Tempo fortschreiten,<br />
entspricht dieser Beitrag nicht mehr dem gegewärtigen<br />
Stand. Leider hat uns ein aktuellerer Bericht erst nach<br />
Redaktionsschluss erreicht, sodass wir ihn für dieses Heft nicht<br />
mehr berücksichtigen konnten. Sie finden ihn auf unserer Internetseite<br />
unter: khsdornach.org<br />
Wang Zhen is mother of a child with disabilities and founder<br />
of the first curative education school in China (edited and<br />
condensed by Gabriele Scholtes).<br />
Because developments in China are happening so rapidly,<br />
this contribution is no longer up to date. Unfortunately, a<br />
more current report reached us only after the editorial deadline,<br />
and can no longer be included in this volume. It can be<br />
found on our website: khsdornach.org.<br />
Translation from English: Tascha Babitch<br />
Die Menschen in Agualinda | The people in Agualinda<br />
Kolumbien<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie kamen vor weniger als<br />
30 Jahren nach Kolumbien. Nun gibt es drei Einrichtungen,<br />
die pädagogische und sozialtherapeutische Dienste<br />
anbieten. In der Schule Arca Mundial in Medellin wird<br />
seit 17 Jahren Heilpädagogik und Sozialtherapie praktiziert.<br />
Sie versorgt 50 Menschen, die von 20 Personen,<br />
darunter Lehrer, Therapeuten und anderen Mitarbeiter,<br />
unterstützt werden. Zwar begleitete diese Einrichtung<br />
noch mehr Menschen, aber ein Wechsel in der Regierungspolitik<br />
veranlasste einige Familien, ihre Kinder anderweitig<br />
unterzubringen. Die in Cali gelegene Schule<br />
Granja Tarapaca startete vor sieben Jahren in einer ländlichen<br />
Umgebung mit der Versorgung von Kindern und<br />
Erwachsenen. Auch nach der Umsiedelung in eine städtische<br />
Region konnte die ländliche Atmosphäre, die das<br />
Colombia<br />
Curative education and social therapy (Cest) arrived<br />
in Colombia less than 30 years ago; now there are<br />
three institutions offering education and social therapy<br />
services. Arca Mundial, in Medellin, is a 17-yearold<br />
school where both curative education and social<br />
therapy are being practiced. It serves 50 individuals,<br />
supported by 20 people, among them teachers, therapists,<br />
co-workers and other staff. Although this institution<br />
used to support more individuals, a change of<br />
government policy on subsidies led some families to<br />
take their young ones to other places. Granja Tarapaca<br />
is another school, located in Cali, which started seven<br />
years ago in a rural setting serving children and adults.<br />
After a period of time they relocated to the city, and<br />
their chosen location has allowed them to keep the<br />
26
Berichte | Reports<br />
Tagesprogramm charakterisiert, beibehalten werden.<br />
Die Schule versorgt 20 Menschen mit insgesamt zwölf<br />
Mitarbeitern in der Unterstützungsgruppe. Agualinda<br />
liegt in einem Vorort der Hauptstadt Bogota und legt<br />
grösseres Gewicht auf die sozialtherapeutische Komponente.<br />
Auf einer Farm, eine Stunde von der Hauptstadt<br />
entfernt gelegen, werden seit drei Jahren im Sinne des<br />
Camphill-Gedankens sechs Personen von sieben Mitarbeitern<br />
betreut. Andere Einrichtungen, Einzelpersonen<br />
und unabhängige Programme bieten heilpädagogische<br />
oder sozialtherapeutische Dienste an, was die Gesamtzahl<br />
der in diesem Berich arbeitenden Menschen auf<br />
landesweit 150 Personen bringt.<br />
In Kolumbien herrscht seit 68 Jahren Krieg. Viele Variablen<br />
des Konflikts, eine extrem ungleiche Vermögens- und<br />
Chancenverteilung und die Korruption innerhalb der Regierung<br />
sind nur einige der Bedingungen, die unser Leben<br />
beeinflussen – auch das Leben von seelenpflegebedürftigen<br />
Menschen. Fehlende finanzielle Regierungsförderung<br />
zusammen mit den Erfordernissen bürokratischer<br />
Vorschriften charakterisieren die Einstellung des Staates<br />
gegenüber den pädagogischen und therapeutischen<br />
Grundsätzen der Heilpädagogik und Sozialtherapie. Ausserdem<br />
ist es schwierig, qualifiziertes Personal auf diesem<br />
Gebiet zu finden und vielfältige Hürden stehen der<br />
Einführung von Methoden im Hochschulsektor im Weg,<br />
die nicht als traditionell angesehen werden.<br />
Trotzdem bestehen die Pioniere entgegen allen Erwartungen<br />
weiter. Härten wurden bewältigt und obgleich<br />
eine Einrichtung aufgeben musste, hat die Flamme der<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie sich in den Händen<br />
einer mutigen und standhaften Gruppe von Kämpfern<br />
erhalten. Das Schicksal blies seinen Anteil an Solidarität<br />
von europäischen Einzelpersonen der entstehenden<br />
Bewegung zu. Andere leisteten einen Beitrag zur Pflege<br />
der sich entwickelnden Keime aus der Perspektive der<br />
Waldorfpädagogik. 2014 wurde der erste Versuch eines<br />
von der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
unterstützten Schulungsprogramms mit über 40 Teilnehmern<br />
erfolgreich abgeschlossen. Viele Kolumbianer<br />
waren Mitarbeitende oder Auszubildende in Europa,<br />
haben ihr Wissen zurückgebracht und damit unsere Entwicklung<br />
bereichert. In diesem Jahr fand ein lateinamerikanischer<br />
Kongress für Jugendliche und Erwachsene<br />
mit Beeinträchtigung statt und stellte einen weiteren erfolgreichen<br />
Schritt in der Entwicklung von Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in unserem Land dar. Soeben ist die<br />
erste Umfrage über Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
abgeschlossen worden, die klar den Willen der Befragten<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
country flavour that characterizes their day programme.<br />
The school serves 20 individuals, with 12 staff in<br />
total in its support group. Agualinda, in a suburb of<br />
Bogota, the capital, places more emphasis on the Social<br />
Therapy component. Located on a farm less than<br />
an hour from the city, it has been in existence for three<br />
years and their Camphill style life and work serves six<br />
persons, who are being taken care of by seven staff<br />
members. Other institutions, individuals, and independent<br />
programmes offer certain CEST services, bringing<br />
the total of people involved to an estimated 150 individuals<br />
nationwide.<br />
Colombia has been at war for 68 years. Many variables<br />
within the conflict, an extremely unequal distribution<br />
of wealth and opportunities, and a high level of governmental<br />
corruption are only some of the conditions<br />
that have affected all aspects of our life – the lives of<br />
individuals in need of special care of the soul not being<br />
an exception. Lack of governmental financial support,<br />
on top of the demands of bureaucratic regulations,<br />
have characterized the state’s position towards the pedagogical<br />
and therapeutic tenets CEST entails. In addition,<br />
it remains difficult to find qualified personnel in<br />
the field, and an abundance of obstacles get in the way<br />
of trying to introduce into the higher education sector<br />
any methods that may be deemed far from traditional.<br />
Nevertheless, pioneers have survived against all odds.<br />
Hardships were overcome, and though one institution<br />
disappeared in the process, the flame of CEST has prevailed<br />
in the hands of a group of courageous and dedicated<br />
warriors. Destiny blew its share of solidarity from<br />
European individuals to the nascent movement as well<br />
as others who contributed to looking after the growing<br />
seeds from the perspective of Waldorf Education.<br />
In 2014, the first attempt at a training programme<br />
supported by CEST Council was successfully concluded<br />
with over 40 participants. Many Colombians have become<br />
co-workers in Scotland, Germany, and elsewhere,<br />
and have brought back their new knowledge to<br />
enrich our development. Others have pursued formal<br />
education abroad to do the same. In March this year,<br />
a Latin-American Congress for Youth and Adults with<br />
Special Talents was held in Cali and constituted another<br />
successful step in the development of CEST in our<br />
country. At the time of writing this, the first national<br />
survey on Curative Education and Social Therapy has<br />
been completed, clearly spelling out the respondent’s<br />
will to pursue bigger and better achievements in organizational,<br />
educational, financial, and social terms.<br />
27
Berichte | Reports<br />
zum Ausdruck brachte, grössere und bessere organisatorische,<br />
pädagogische, finanzielle und soziale Errungenschaften<br />
zu erzielen.<br />
Die Dauer des Krieges hat zu einer Art kollektiven Gleichgültigkeit<br />
der Realität gegenüber geführt. Trotz des<br />
Bestehens von Initiativen, Impulsen und engagierten Einzelpersonen,<br />
die das Wachstum der Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie betreiben, ist die Wirkung weit entfernt<br />
von dem, was gebraucht wird. Dies bedeutet, dass soziale,<br />
wirtschaftliche und politische Aspekte unserer Realität<br />
nicht so angesprochen werden, wie es eigentlich nötig<br />
wäre. Die gegenwärtigen Initiativen haben jedoch eindeutig<br />
eine partizipative Haltung und enorme Tatkraft. Mit<br />
einem riesigen Sprung in die auf uns zukommende Zeit<br />
suchen sie die Mittel, um mehr Beteiligung zu erreichen,<br />
um die nötige Zusammengehörigkeit und Kraft herbeizuführen<br />
und wirtschaftliche und politische Unterstützung<br />
nicht nur zu suchen, sondern einzufordern – Initiativen,<br />
die ihren grossen Beitrag auf der Suche nach einer auf Solidarität<br />
beruhenden Zukunft bewiesen haben.<br />
Wie können Heilpädagogik und Sozialtherapie sich entwickeln,<br />
sodass sie einerseits die ihnen zustehende Anerkennung<br />
bekommen und andererseits ihr eigenes Wachstum<br />
und Überleben sichern? Einigkeit, Pädagogik, Beteiligung<br />
am sozialen System und das Streben nach Nachhaltigkeit<br />
ergeben sich als die anfänglichen Antworten. Irgendwann<br />
wird der Versuch gemacht werden müssen, sich an bestehende<br />
Gesetze zu halten, die der Staat selbst nicht einhält<br />
und neue, dringend gebrauchte zu formulieren.<br />
Die Gründung eines landesweiten Verbandes wird bald<br />
in die Wege geleitet. Die Schulungs- und pädagogischen<br />
Bedürfnisse der Mitglieder wird als nächstes in Angriff<br />
genommen. Die Entwicklung alternativer Finanzierungskonzepte<br />
und die Wahrnehmung der Rechte von Menschen<br />
mit Hilfebedarf stehen schon als Schlüsselpunkte<br />
auf der vorgesehenen Tagesordnung.<br />
Die heilpädagogische und sozialtherapeutische Bewegung<br />
ist in Kolumbien, einem Land, in dem die Ungleichheit<br />
herrscht und die Gewalt es scheinbar schafft,<br />
die Menschen einzuschläfern, nicht mehr wegzudenken.<br />
Während Friedensabkommen unterzeichnet werden,<br />
deren Versprechen noch eingelöst werden müssen,<br />
sind die Heilpädagogik und Sozialtherapie bestrebt, ein<br />
Samen und eine Frucht zu werden, durch die wir hoffen,<br />
dass unsere Willenskraft in der Kunst aufblüht, Behinderungen<br />
in Fähigkeiten zu verwandeln.<br />
The length of the war resulted in a sort of collective attitude<br />
of indifference towards reality. Despite the presence<br />
of initiatives, impulses, and committed individuals<br />
pursuing the growth of CEST, the impact has been far<br />
from what was and is needed. This means that social,<br />
economic and political aspects of our reality have not<br />
been addressed as they should have been. Current<br />
proposals reflect a positive attitude to the immediate<br />
tasks, aiming to work together in hope and strength,<br />
seeking and finding economic and political support for<br />
the social initiatives which have been proven to contribute<br />
so much to a future based on solidarity.<br />
How will CEST develop so that it can, on the one hand,<br />
achieve the recognition it deserves, and on the other,<br />
guarantee its own growth and survival? Unity, education,<br />
involvement in the social component, and the<br />
pursuit of sustainability come up as the initial answers.<br />
Somewhere along the line, compliance with existing<br />
laws that the state itself does not abide by, and formulation<br />
of others badly needed, will have to be sought.<br />
The establishment of a national association will soon be<br />
initiated. Addressing the training and educational needs<br />
of its members will follow. Developing alternatives to<br />
dealing with the economic issues and pursuing the defense<br />
of the rights of individuals with special needs do<br />
already feature as key points in the evolving agenda.<br />
The Curative Education and Social Therapy movement<br />
in Colombia, a country where inequality has ruled<br />
and where violence has seemed to deprive people of<br />
initiative, is here to stay. As peace treaties are signed<br />
as a promise of what remains to be seen, CEST strives<br />
to become a fruit and a seed in one single form, by<br />
which we hope our will blossom into the art of turning<br />
disability into talent.<br />
Oscar Betancourt, Granja del Angel, Medellin<br />
Translation from English: Christian von Arnim<br />
28
Berichte | Reports<br />
Dänemark<br />
Einrichtungen in Dänemark<br />
Marjatta (Seeland), ist das grösste heilpädagogische<br />
Schulheim in Dänemark und betreibt vier sozialtherapeutische<br />
Einrichtungen mit betreutem Wohnen und<br />
Werkstätten für über 210 Kinder, Jugendliche und Erwachsene.<br />
Ebenso ist Marjatta ein Forschungscenter und<br />
bietet eine Ausbildung für Heilpädagogen an.<br />
In der Tagesstätte Solhjorten werden 23 Kinder und Jugendliche<br />
betreut. Zudem gibt es ein kleines Wohnheim<br />
mit fünf Kindern.<br />
In der Dorfgemeinschaft Ølsted (Fünen) leben 26 Jugendliche<br />
und Erwachsene verteilt in zwei Heimen. Dazu kommt<br />
eine kleine Schulgruppe mit sechs Schülern, die der Waldorfschule<br />
in Odense angeschlossen ist und die kleine<br />
Wohngemeinschaft «Bernards Hus» mit sechs Erwachsenen.<br />
Die Dorfgemeinschaft Hertha (Jütland) betreut 26 Menschen<br />
mit geistiger Behinderung. Tornsbjerggård ist ein<br />
Heim für fünfzehn Erwachsene, Hadruplund ein Schulheim<br />
für 20 Kinder und Jugendliche. Die Waldorfschule<br />
in Århus beschult zwölf Kinder, die heilpädagogisch betreut<br />
werden. Die Silkeborg Waldorfschule hat eine kleine<br />
Gruppe mit drei Kindern.<br />
Zentrale Entwicklungen und Ereignisse<br />
Die öffentlichen Haushalte haben in den letzten sechs<br />
Jahren Einsparungen vornehmen müssen, was auch zu<br />
Kürzungen in vielen heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />
Einrichtungen führte. Zugleich sind etliche<br />
Kommunen bemüht, heilpädagogische Angebote lokal<br />
und in eigener Regie durchzuführen. Die Regierung beabsichtigt,<br />
dass 97% Kinder eines Jahrgangs in den öffentlichen<br />
Schulen inkludiert werden. Als Folge dieser<br />
Bestrebungen der Kommunen ist die Zahl der Kinder<br />
unter 18 Jahren, die in Schulheimen betreut werden, seit<br />
2008 drastisch gefallen.<br />
Unter dem Motto «Allkunst» wurde ein grosses nordisches<br />
Kultur- und Sportfestival mit über 400 Teilnehmenden organisiert,<br />
das inhaltlich und formell zusammen mit den<br />
behinderten Menschen geplant und vorbereitet wurde.<br />
Nach dem Rückzug der Pioniere befindet sich der Dänische<br />
Verband für Heilpädagogik und Sozialtherapie in einem<br />
Prozess der Transformation, aus dem neue Möglichkeiten<br />
zur Zusammenarbeit und Selbstorganisation entstehen. Es<br />
wurde ein Vorstand gegründet, der eine enge Zusammenarbeit<br />
mit der heilpädagogischen Ausbildung aufgenom-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Denmark<br />
Danish institutions<br />
Marjatta (Zealand) is the biggest residential school<br />
for curative education in Denmark. It encompasses<br />
four centres for social therapy with assisted living and<br />
workshops for more than 210 children, adolescents<br />
and adults. It is also a research centre and offers training<br />
for special needs teachers.<br />
Solhjorten day-care centre has places for 23 children<br />
and youngsters. There is also a small residential house<br />
with five children.<br />
Ølsted, a village community in Funen, has two homes<br />
for 26 youngsters and adults. There is also a small class<br />
of six pupils, which is affiliated to the Odense Waldorf<br />
School, and a small residential community, Bernards<br />
Hus, with six adults.<br />
Hertha is a village community in Jutland, which offers<br />
care for 26 people with learning disabilities. Tornsbjerggård<br />
is a home for fifteen adults, Hadruplund a<br />
boarding school for 20 children and adolescents. The<br />
Waldorf School in Århus takes in twelve children who<br />
receive special learning support and the Silkeborg<br />
Waldorf School has a small class of three children with<br />
special needs.<br />
Important developments and events<br />
The government has cut back on expenditure over the<br />
last six years which means that many curative education<br />
and social therapy centres receive less funding. In<br />
addition to this, a number of local councils are trying<br />
to offer special needs education themselves. The government<br />
wants to include 97% of children in any one<br />
age group into state schools.As a result of these developments<br />
the number of children under the age of 18,<br />
who are cared for in our residential schools, has fallen<br />
drastically since 2008.<br />
A big Nordic culture and sports festival called Allkunst,<br />
which was attended by more than 400 people, was<br />
planned, prepared and organized together with people<br />
with special needs.<br />
Now that the pioneers have gone, the Danish curative<br />
education and social therapy association is undergoing<br />
a transformative process that reveals new ways<br />
of cooperation and self-organization. A board of directors<br />
has been formed which works closely with the<br />
special needs teacher training in order to organize<br />
small conferences for interested staff members and<br />
29
Berichte | Reports<br />
men hat, um mehrere kleinere Tagungen zu veranstalten<br />
für alle interessierten Mitarbeiter. In Zusammenhang mit<br />
dem Verband ist auch eine neue Zeitschrift namens «Kairos»<br />
erschienen, die sich mit vielen interessanten Artikeln<br />
nicht nur an Heilpädagogen wendet.<br />
Gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Aspekte<br />
Die administrativen Aufgaben wachsen Jahr für Jahr. Die<br />
Behörden fordern konkret messbare pädagogische Zielsetzungen<br />
für jeden Schüler und betreuten Menschen<br />
mit überprüfbaren Indikatoren. Qualitätskontrolle und<br />
Qualitätsentwicklung im Zuge von «New Public Management»<br />
gewinnen zunehmend Einfluss und stellen eine<br />
Herausforderung für anthroposophisch orientierte heilpädagogische<br />
Einrichtungen dar, die sich an der individuellen<br />
Konstitution des Kindes orientieren.<br />
Angesichts der Regionalisierungstendenzen ist es für<br />
die kleineren Organisationen schwer zu überleben, weil<br />
die Kommunen eigene Betreuungs-Dienste anbieten<br />
und die bei uns betreuten Menschen in ihre Heimatkommune<br />
holen wollen. Die Kommunen bestehen auf<br />
wirtschaftlicher Kontrolle und es ist entscheidend, dass<br />
die Eltern für das Recht auf die freie Wahl des Wohnortes<br />
ihrer Kinder kämpfen.<br />
Fachliche Fragen<br />
In fachlicher Hinsicht beschäftigt uns vorzugsweise die<br />
Frage, wie eine zeitgemässe anthroposophische Gemeinschaftsbildung<br />
in Zeiten der zunehmenden Individualisierung<br />
gefördert und gelebt werden kann.<br />
Daneben stehen wir im pädagogischen Austausch über<br />
die Problematik fremdaggressiven Verhaltens. Dazu bedarf<br />
es neben Übungen zur Selbsterkenntnis der Vertiefung<br />
der Menschenkunde und der Schulung der<br />
Beobachtungsgabe.<br />
Entwicklungsmwotive und nächste Schritte<br />
Es ist eine zunehmende Herausforderung für Einrichtungen<br />
mit Erwachsenen, dass die Betreuten älter werden. Wie<br />
schafft man gute Lernbedingungen, Beschäftigungsmöglichkeiten,<br />
kulturelle Angebote und zuletzt gute Wohnräume?<br />
Marjatta hat in den letzten Jahren in Forschung und Ausbildung<br />
investiert und bemüht sich, die anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie zeitgemäss zu<br />
vermitteln und weiterzuentwickeln im Dialog mit anderen<br />
pädagogischen Theorien und Ansätzen.<br />
Weiterhin besteht die Intention, tragfähige gemeinschaftsbildende<br />
Formen des Zusammenlebens zu ent-<br />
Reigentanz | Round dance<br />
co-workers. The association also publishes a new journal<br />
– Kairos – with many interesting articles, not only<br />
for curative teachers.<br />
Socio-political and economic aspects<br />
The administrative work increases with every year. The<br />
authorities demand concrete and measurable educational<br />
objectives with verifiable indicators for every<br />
person in our care. The ‹New Public Management›<br />
concept demands increasing degrees of quality control<br />
and quality development. This is a challenge for<br />
anthroposophically oriented centres where the main<br />
focus is on the child’s individual constitution.<br />
The smaller organizations struggle to survive because<br />
of the trend for regionalization: the local councils<br />
offer their own care provision and want the people<br />
who are cared for in our centres to return to their own<br />
homes. The local councils insist on having financial<br />
control and it is important that parents fight for their<br />
right to choose freely where their children should live.<br />
Internal questions<br />
At a professional level, we are mostly concerned with<br />
the question of anthroposophical community building<br />
and the form this has to take in order to do justice<br />
to the process of individualization. In addition,<br />
we share our experiences of dealing with aggressive<br />
behaviours. For these studies to be successful we need<br />
to strengthen our self-knowledge, deepen our insight<br />
into the human being and train our observation skills.<br />
Developmental motifs and next steps<br />
The adult centres are increasingly facing the challenge<br />
of those in their care growing older. How can one<br />
30
Berichte | Reports<br />
wickeln, wo der einzelne eine Wahlmöglichkeit hat, sein<br />
persönliches Leben mit anderen zu gestalten, z.B. durch<br />
inkludierende Arbeitsplätze, in einem beschützten Rahmen<br />
in Zusammenarbeit mit freiwilligen Bürgern und<br />
Vereinen sowie beruflichen Einrichtungen.<br />
Beitrag zur Entwicklung der anthroposophischen<br />
Bewegung<br />
Im Rahmen der Einrichtungen werden in Zusammenarbeit<br />
mit der anthroposophischen Gesellschaft Dänemarks<br />
drei bis vier Mal im Jahr Klassenstunden<br />
gehalten. Marjatta hat ein Entwicklungs- und Ausbildungscenter,<br />
das zu anthroposophischen Kursen, Tagungen,<br />
Ausbildung und Fortbildung einlädt. Weiterhin<br />
hat Marjatta eine Forschungsabteilung, welche aktiv<br />
Mittel sucht, um Forschungsprojekte mit anthroposophischen<br />
Fragen durchzuführen.<br />
Ausserdem existiert ein Kreis von Menschen, die sich<br />
mindestens zweimal im Jahr mit dem Ziel versammeln,<br />
alle anthroposophischen Arbeitsfelder zu inspirieren,<br />
die Arbeit der anthroposophischen Gesellschaft zu stärken<br />
und in der Öffentlichkeit zu verbreiten.<br />
Lars Svendsen, Elmehøjen, Broby<br />
Übersetzung aus dem Deutschen: Margot Saar<br />
create good learning conditions, occupational and cultural<br />
possibilities and well-designed living spaces?<br />
In recent years Marjatta has invested in research and<br />
training and is trying to convey anthroposophical curative<br />
education and social therapy in a way that is<br />
suited to our time, and to develop it in dialogue with<br />
other educational theories and approaches.<br />
We are furthermore striving to develop strong, community-building<br />
forms of living together, where individuals<br />
can choose in which way to share their life<br />
with others, for instance by introducing inclusive work<br />
places in a protected environment, together with volunteers,<br />
associations and professional institutions.<br />
Contributions to the development of the anthroposophical<br />
movement<br />
In collaboration with the Anthroposophical Society in<br />
Denmark our institutions hold class lessons three to<br />
four times a year. Marjatta has a centre for development<br />
and training, offering anthroposophical courses, conferences,<br />
training and professional development, and a research<br />
department that is actively seeking funding to<br />
carry out research into anthroposophical questions.<br />
A group of people meet at least twice a year; their<br />
aims are to inspire all anthroposophical fields of work,<br />
to strengthen the work of the Anthroposophical Society<br />
and to make it better known to the wider public.<br />
Interview Ben Dittmann<br />
Ben Dittmann, 23 years old, takes part in the practice integrated curative education<br />
training at House Marjatta in Denmark.<br />
Neben meinem täglichen Bezug durch Arbeit oder Ausbildung<br />
bin ich vor allem an den Erklärungsansätzen<br />
der Heilpädagogik interessiert. Durch meine Arbeit<br />
bin ich aussergewöhnlichen Phänomenen begegnet,<br />
die innerhalb der Anthroposophie ihren Platz und<br />
in der Betrachtung einen hohen Stellenwert hatten.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Besides my daily relationship with curative education<br />
through my work and training, I am especially<br />
interested in its explanatory approaches.<br />
Through my work, I have encountered unusual<br />
phenomena which can be found within anthroposophy<br />
and are afforded a high significance. I<br />
31
Interview<br />
Ich habe mich für diesen Weg entschieden, nachdem<br />
ich während eines sozialen Jahres in Frankreich<br />
damit hervorragende Erfahrung gemacht hatte.<br />
Heilpädagogik und Anthroposophie sollten insgesamt<br />
viel mehr als Forschungsgegenstand betrachtet<br />
werden. Die Möglichkeiten, Perspektiven und auch<br />
Grenzen müssen neu ausgelotet werden, wobei<br />
auch vermehrt wissenschaftliche Methoden angewandt<br />
werden sollten. Eine engere Zusammenarbeit<br />
mit anderen Wissenschaftszweigen halte ich für<br />
notwendig, ebenso die Ausweitung anthroposophischer<br />
Ideen auf weitere Forschungsgebiete. Ich erlebe<br />
dabei oftmals eine Selbstgewissheit, die einen<br />
unvoreingenommenen Diskurs erschwert.<br />
Innerhalb meiner heilpädagogischen Praxis wünsche<br />
ich mir die Freiheit, neue Ideen umzusetzen und<br />
mir mit deren Resultaten Gehör zu verschaffen. Anthroposophischen<br />
Separierungstendenzen sollten<br />
kritisch hinterfragt werden. Ich würde mich freuen,<br />
bei Vorträgen o.ä. neue Gesichter zu sehen oder<br />
neue Gedanken zu hören. Meine Beobachtung ist,<br />
dass die Anthroposophie von wenigen Experten in<br />
der Öffentlichkeit repräsentiert wird und ich wünsche<br />
mir, dass die Bewegung in Zukunft breiter aufgestellt<br />
sein wird.<br />
Eine Aufgabe der Zukunft wird sein, Inhalte der Anthroposophie<br />
als Idee in Frage zu stellen. Um gesellschaftlich<br />
mehr wahrgenommen zu werden, ist es<br />
notwendig, dass Begriffe erneuert und zeitgemässe<br />
Fragen gestellt werden, dass die Anthroposophie neu<br />
repräsentiert wird und bspw. durch Forschung, auch<br />
andere Methoden angewandt werden. Es ist wichtig,<br />
sich der Moderne und dem Zeitgeist zu öffnen,<br />
um auf heutige Gegebenheiten eingehen zu können.<br />
Dass man dabei trotz abstrakter Denkmodelle auch<br />
empirisch vorgehen kann, sollte besonders in der Beziehung<br />
zur Gesellschaft nie vergessen werden.<br />
chose this path after an outstanding experience<br />
with it during a year of volunteering in France.<br />
Curative education and anthroposophy should be<br />
regarded more as research subjects. The possibilities,<br />
perspectives and also limits must be<br />
re-explored, with the increased application of<br />
scientific methods. I believe that closer collaboration<br />
with other branches of science is necessary,<br />
along with the expansion of anthroposophic<br />
ideas to further areas of research. I often come<br />
up against a self-certainty that renders impartial<br />
discourse difficult.<br />
Within my curative education practice, I would<br />
like to have the freedom to implement new ideas<br />
and to have their results recognized. Anthroposophic<br />
tendencies toward separation should be<br />
critically scrutinized. I would be so glad to see<br />
new faces or hear new thoughts at lectures and<br />
similar events. In my observation, anthroposophy<br />
is represented in the public sphere by only a few<br />
experts and my wish for the future is that the<br />
movement have a broader base.<br />
One of our future tasks will be to question the<br />
contents of anthroposophic ideas. In order for<br />
it to be taken seriously in our society, it is necessary<br />
for terms to be re-evaluated and timely<br />
questions asked, for anthroposophy to be represented<br />
in a new way and applied in new ways, as<br />
in new research methods. It is important that we<br />
be open to the contemporary zeitgeist in order<br />
to be able to address current situations. And we<br />
should never forget that, despite abstract hypotheses,<br />
it is possible to proceed empirically, especially<br />
in relation to society.<br />
Translation from German: Tascha Babitsch<br />
32
Berichte | Reports<br />
Deutschland<br />
Germany<br />
Statistisches<br />
Der Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen<br />
e.V. (kurz Anthropoi Bundesverband) ist ein Zusammenschluss<br />
von derzeit 178 Trägerorganisationen mit rund<br />
240 Einrichtungen, in denen ca. 16.000 Menschen<br />
mit geistiger, seelischer oder mehrfacher Behinderung<br />
leben, lernen und arbeiten.<br />
Die Bandbreite der Angebote der Mitgliedsorganisationen<br />
(MO) reicht von der Frühförderung und ambulanten<br />
Heilpädagogik über Tages- und Heimschulen, Jugendhilfeeinrichtungen,<br />
Werkstätten, Dorf- und Lebensgemeinschaften,<br />
sozialpsychiatrischen Nachsorgeeinrichtungen<br />
und sozialen Landwirtschaftsbetrieben bis hin zu Angeboten<br />
der Tagesstruktur und der Pflege für schwerstbehinderte<br />
oder betagte Menschen. Seit drei Jahren<br />
firmiert der Verband unter seinem neuen Namen mit<br />
dem Slogan: Gemeinsam Mensch sein.<br />
Die Einrichtungen arbeiten in neun Regionalkonferenzen<br />
und acht Fachbereichen zusammen. So können sie ihre<br />
anthroposophischen Grundlagen pflegen und gemeinsam<br />
fachliche Entwicklung gestalten. Auch Aus-, Fort- und<br />
Weiterbildung von SelbstvertreterInnen und Mitarbeitenden<br />
gehören zum Aufgabenspektrum des Verbandes.<br />
Auf Bundesebene ist Anthropoi Bundesverband einer der<br />
fünf Fachverbände für Menschen mit Behinderung, die gemeinsam<br />
in Deutschland ca. 90% der Dienste und Einrichtungen<br />
für Menschen mit geistiger, seelischer, körperlicher<br />
oder mehrfacher Behinderung repräsentieren und seit 37<br />
Jahren auf sozial- und gesundheitspolitischem Feld, in ethischen<br />
Fragen und fachlichen Projekten zusammenarbeiten.<br />
Er ist Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband<br />
– Gesamtverband e.V. – und steht in Kooperation mit<br />
anthroposophischen Fach- und Berufsorganisationen, sowohl<br />
in Deutschland als auch international.<br />
Wichtige Entwicklungen der letzten drei Jahre<br />
Gewaltprävention<br />
In den vergangenen Jahren wurden drei regionale Fachstellen<br />
für Gewaltprävention aufgebaut, die Beratung,<br />
Unterstützung und Schutz für Menschen mit Assistenzbedarf,<br />
deren Angehörige und die Mitarbeitenden in<br />
den Einrichtungen bieten. Es finden Fortbildungsangebote,<br />
auch im Sinne eines erweiterten Gewaltbegriffs,<br />
statt und die Vertrauensstellen in vielen Einrichtungen<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Statistical information<br />
The German curative education and social therapy association<br />
(Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen<br />
e.V. or Anthropoi Bundesverband for short) is<br />
a federation of 178 providers with approximately 240<br />
centres, where around 16,000 individuals with mental,<br />
intellectual or multiple disabilities live, learn and work.<br />
The services offered by its member organizations (MO)<br />
range from early intervention based on curative education<br />
and home visits to day and boarding schools,<br />
youth welfare centres, workshops, village and residential<br />
communities, socio-psychiatric after-care centres<br />
and social farming to day-care and general care provision<br />
for people with severe disabilities and for the elderly.<br />
Three years ago the association added the slogan<br />
‹being human together› to its logo.<br />
The centres work together in nine regional councils and<br />
eight specialist groups, which allows them to foster their<br />
anthroposophical foundations and pursue professional<br />
development. The association also provides training opportunities<br />
(basic, further, in-service) for self-employed<br />
as well as employed specialists in the field.<br />
At the national level Anthropoi is one of five special<br />
needs associations representing around 90 per cent of<br />
services and institutions for people with intellectual,<br />
mental, physical or multiple disabilities in Germany.<br />
These associations have worked together on social and<br />
healthcare questions, ethics and themed projects for<br />
the last 37 years. Anthropoi is a member of Deutscher<br />
Paritätischer Wohlfahrtsverband, a German umbrella<br />
welfare organization, and cooperates with anthroposophical<br />
professional or specialist organizations in<br />
Germany and abroad.<br />
Important developments in the last three years<br />
Prevention of violence<br />
Three regional bureaus for the prevention of violence<br />
have been set up in recent years. They offer advice, support<br />
and protection to people with special needs, their<br />
families and staff, and provide in-service training, for<br />
instance on topics such as an extended concept of violence.<br />
Many institutions have adopted their advice and<br />
prevention scheme. A compilation of guidelines offers<br />
information on basic principles and formal procedures.<br />
33
Berichte | Reports<br />
haben ihr Beratungs- und Präventionsangebot aufgenommen.<br />
Ein Kompendium zeigt dazu Grundlagen und<br />
formale Vorgehensweisen auf.<br />
Sozialpolitische und wirtschaftliche Aspekte<br />
In Deutschland wird gegenwärtig die Eingliederungshilfe<br />
als wichtigste Form staatlicher Unterstützung und Förderung<br />
von Menschen mit Behinderung neu geordnet. Mit<br />
dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) wird das Ziel verfolgt,<br />
die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen vom<br />
Fürsorgesystem zum Teilhaberecht weiterzuentwickeln.<br />
Die Leistungen sollen sich zukünftig am persönlichen Bedarf<br />
orientieren und entsprechend eines bundeseinheitlichen<br />
Verfahrens personenbezogen ermittelt werden,<br />
was untrennbar mit der politischen Vorgabe verknüpft<br />
ist, keine neue Ausgabendynamik entstehen zu lassen.<br />
Neben dem BTHG erfordert das Dritte Pflegestärkungsgesetz<br />
(PSG III) und damit die Schnittstelle Eingliederungshilfe/Pflege<br />
seitens der Fachverbände hohe<br />
Aufmerksamkeit. Ein dritter Schwerpunkt schliesslich<br />
betrifft die Reform der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII)<br />
hin zu einer «Inklusiven Lösung».<br />
Die Interessen von Anthropoi Bundesverband werden<br />
über die Konferenz der Fachverbände für Menschen mit<br />
Behinderung in die gesellschaftliche Diskussion und die<br />
Gesetzgebungsverfahren eingebracht.<br />
Fachlichen Themen<br />
Fachlich beschäftigt uns die Entwicklung von Angeboten<br />
zur Begleitung von Menschen mit hohem Hilfebedarf (Pflegebedürftigkeit,<br />
herausforderndes Verhalten) sowie von<br />
Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung und<br />
einer parallelen psychischen Erkrankung. Hierzu gab und<br />
gibt es Fort- und Weiterbildungsangebote, eine Weiterentwicklung<br />
akademischer Studienangebote ist geplant.<br />
Im letzten Jahr fand mit «Anthropoi Bundesverband: Perspektiven<br />
2030» ein moderierter Prozess für Menschen<br />
mit Assistenzbedarf und Mitarbeitende aus allen MO des<br />
Verbandes mit folgenden Ausgangspunkten statt:<br />
• Erwartungen der MO an ihre Verbandsarbeit.<br />
• Langfristige Aufgaben des Verbandes.<br />
• Strategische Gestaltung der Zusammenarbeit der MO<br />
im Bundesverband.<br />
Das Ergebnis subsumiert sechs Schwerpunktthemen: 1.<br />
Stärkung der anthroposophischen Grundlagen, 2. Mitwirkung<br />
von Menschen mit Assistenzbedarf, 3. Entwicklung<br />
neuer heilpädagogischer und sozialtherapeutischer<br />
Angebote und Zukunftsimpulse, 4. Weiterentwicklung<br />
Socio-political and economic aspects<br />
In Germany inclusion is seen as the most important<br />
way for the state to support and promote people with<br />
disabilities. The federal participation act (Bundesteilhabegesetz,<br />
BTHG) aims to transform the process of<br />
inclusion from an act of welfare provision into a right<br />
of participation. All services will in future depend on<br />
individual needs and will be granted, in each case, in<br />
accordance with a uniform national assessment procedure<br />
that is firmly bound by the political directive to<br />
keep a cap on expenditure.<br />
As well as on the participation act, the attention of the<br />
professional associations is focused on the third care<br />
enhancement act (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG<br />
III), which concerns the area where inclusion assistance<br />
and care come together. A third point of interest is the<br />
reform of the child and youth welfare services and their<br />
adaptation to the concept of inclusion.<br />
The interests of Anthropoi are carried into the public<br />
arena and into the legislative procedures by the Conference<br />
of Special Needs Associations.<br />
Internal aspects<br />
In our particular field we are concerned with developing<br />
ways of helping people who need a high level of<br />
support (people in need of care or with challenging<br />
behaviours) and of people with learning disabilities in<br />
conjunction with a psychiatric disorder. Further training<br />
and professional development courses have been<br />
Foto: Ingeborg Woitsch<br />
Mitgliederversammlung Anthropoi <strong>2016</strong> | General Assembly Anthropoi <strong>2016</strong><br />
34
Berichte | Reports<br />
der beruflichen Bildung, 5. Sozialpolitik, Öffentlichkeitsarbeit,<br />
Lobbyarbeit, 6. Verbesserung der Zusammenarbeit<br />
und Vernetzung.<br />
Mitwirkung von Menschen mit Assistenzbedarf<br />
In vielen Fachbereichen und Regionen, bei Thementagen<br />
und Fortbildungen nimmt die Selbstvertretung von Menschen<br />
mit Assistenzbedarf zunehmend Gestalt an.<br />
Sie sind, je nach Fachbereich, inklusiv mitwirkendende<br />
Mitglieder (FB LebensOrte) oder arbeiten als Delegierte<br />
in einem eigenen Gremium und treffen sich regelmässig<br />
zu gemeinsamen Sitzungen (FB Arbeitsleben).<br />
Zudem ist ihre Mitwirkung in den Regionalkonferenzen<br />
und die Beratung der Vorstände des Bundes- und<br />
des Elternverbands auf Bundesebene gefragt, sie beteiligen<br />
sich aktiv an den mittelpunkt-Seiten der Zeitschrift<br />
‹Punkt und Kreis› sowie an der Veranstaltung<br />
von Bildungsangeboten.<br />
Beitrag zur Entwicklung der anthroposophischen<br />
Bewegung<br />
Seit diesem Jahr beteiligt sich Anthropoi Bundesverband<br />
aktiv an den Jahrestagungen der Anthroposophischen<br />
Gesellschaft in Deutschland.<br />
Für 2017 wird ein gemeinsamer Kongress zu «100 Jahre<br />
anthroposophischer Sozialimpuls» in Bochum vorbereitet.<br />
An gesellschaftlich relevanten Fragestellungen arbeiten<br />
wir zurzeit mit dem Projekt «Zukunftsfähige<br />
Teilhabe am Arbeitsleben: Auf dem Weg in eine Postwachstumsgesellschaft».<br />
Manfred Trautwein, Anthropoi Bundesverband anthroposophisches<br />
Sozialwesen e.V., Bingenheim<br />
Übersetzung aus dem Deutschen: Margot Saar<br />
provided on the topic and there are plans to develop<br />
academic study courses.<br />
Last year Anthropoi organized ‹Perspectives 2030›, a<br />
moderated process for people with special needs and<br />
staff in all of the Association’s MOs, focusing on the<br />
following issues:<br />
• What do the MOs expect of the association?<br />
• Long-term tasks of the association.<br />
• What should the cooperation of MOs within the national<br />
association look like?<br />
The outcome can be divided into six main categories:<br />
1. Strengthening the anthroposophical foundations,<br />
2. Involving people with special needs, 3. Developing<br />
new steps and future impulses in curative education<br />
and social therapy, 4. Continuing to develop vocational<br />
training opportunities, 5. Social policy, publicity, lobbying,<br />
6. Improving cooperation and networking.<br />
Involvement of people with special needs<br />
People with special needs increasingly represent themselves<br />
in their professional fields or regions, during<br />
theme days and professional development opportunities.<br />
They are either inclusively involved members or<br />
work as delegates in a particular committee and come<br />
together in regular meetings.<br />
They act as advisors to the boards of professional and<br />
parents’ associations, contribute to regional conferences,<br />
to ‹Punkt und Kreis› (the German journal for anthroposophical<br />
curative education) and to educational events.<br />
Contributions to the development of the anthroposophical<br />
movement<br />
As from this year, Anthropoi also actively contributes<br />
to the annual conferences of the Anthroposophical<br />
Society in Germany.<br />
A joint congress to celebrate the centenary of the anthroposophical<br />
social impulse is being prepared and<br />
are due to take place in Bochum in 2017.<br />
We are also working on socially relevant questions, at<br />
present under the heading of ‹Sustainable participation<br />
in working life: on the way to a post-growth society›.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
35
Interview<br />
Interview Dora Weisz<br />
Dora Weisz is a certified kindergarten teacher, Group Leader at the Friedel-Eder<br />
School in Munich since 2007, and student at the Rudolf Steiner Institute in Bad<br />
Boll since 2015.<br />
Während meiner staatlichen Schullaufbahn war ich nicht<br />
glücklich, da mir der Überblick und Zusammenhang<br />
fehlten. Dies erlebte ich im Laufe des Praktikums in<br />
einer heilpädagogischen Schule völlig anders und ich<br />
habe seitdem viele Aspekte des anthroposophischen<br />
Ansatzes sehr schätzen gelernt. Vieles davon passt so<br />
gut in mein immer schon gefühltes Weltbild. Jetzt habe<br />
ich eine anthroposophische heilpädagogische Ausbildung<br />
begonnen, die ich sehr schätze. Ich arbeite heute<br />
als Erzieherin an meiner ersten Praktikumsstelle und<br />
bin viel glücklicher, als zu meiner eigenen Schulzeit.<br />
Ich sehe die zukünftigen Aufgaben der Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie darin, die Inklusion so umzusetzen,<br />
dass alle Beteiligten davon profitieren und ein<br />
gemeinsames Miteinander wachsen kann, ohne dass<br />
Benachteiligung und Ausgrenzung geschehen. Ich<br />
denke, dass auch aus der aktuellen Flüchtlingsthematik<br />
umfassende Aufgaben entstehen werden.<br />
Um im Rahmen der anthroposophischen Heilpädagogik arbeiten<br />
zu können, brauche ich vor allem Zeit, Vertrauen<br />
und Unterstützun! Dabei geht es sowohl um meine Zeit<br />
wie auch um die der Klienten und des ganzen Umfelds.<br />
Beim Vertrauen denke ich an Selbstvertrauen, an eine<br />
vertrauensvolle Beziehung zum Klienten und zur Umgebung.<br />
Im Hinblick auf Unterstützung sehe ich die<br />
Notwendigkeit, mir selbst über meine Möglichkeiten<br />
bewusst zu sein, es gibt eine wechselseitige Unterstützung<br />
zwischen dem Klienten und mir als Heilpädagogin<br />
und wir zusammen sind wiederum angewiesen auf die<br />
Hilfe des gesamten Umfelds.<br />
Als gesellschaftliche Aufgabe der Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie sehe ich die Gewährleistung, dass<br />
jeder Mensch mit seiner Persönlichkeit, mit dem was<br />
er mitbringt, mit seinen Stärken und Besonderheiten<br />
ein altersgerechtes, partizipierendes und anerkanntes<br />
Leben führen kann. Ausserdem sollte die individuelle<br />
Lebensgestaltung in der Gesellschaft Geltung<br />
haben und positiv unterstützt werden.<br />
During my public schooling I was unhappy, because<br />
I had no overview or context. In my experience<br />
at a curative education school I discovered<br />
something very different, and have since learned<br />
to appreciate many aspects of the anthroposophic<br />
approach. Much of it fits so well with what<br />
has always been my instinctive worldview. I have<br />
now begun an anthroposophic curative education<br />
training, which I value greatly. I am currently<br />
working as a kindergarten teacher in my first<br />
practice and am so much happier than I was during<br />
my own schooling.<br />
I see the future task of curative education and social<br />
therapy as implementing inclusion in such a way<br />
that everyone involved benefits and a community is<br />
able to grow, without disadvantaging or marginalizing<br />
anyone. I also think that the current refugee<br />
situation will give rise to many related tasks.<br />
In order to work within the framework of anthroposophic<br />
curative education, I need time, trust<br />
and support! By time, I mean my own, as well as<br />
that of my clients and our whole environment.<br />
In terms of trust, I am thinking of trust in myself,<br />
a trusting relationship with my clients, and with<br />
those around me. Regarding support, I see the<br />
necessity of being conscious of my own capacities,<br />
there is a reciprocal support between the<br />
clients and me as curative educator, and we are<br />
both dependent on the help of our environment.<br />
I see the social task of curative education and social<br />
therapy to be to guarantee that all human<br />
beings can lead an age-appropriate, participatory<br />
and recognized life with their own personality,<br />
with whatever they bring to the table, with their<br />
strengths and characteristics. In addition, individual<br />
life choices should be respected and supported<br />
in our society.<br />
Translation from German: Tascha Babitsch<br />
36
Berichte | Reports<br />
La Tutuni in San Salvador<br />
El Salvador<br />
El Salvador<br />
Entstehung und Entwicklung der heilpädagogischen<br />
Arbeit<br />
Seit etwa 1997 ist die Waldorfpädagogik in El Salvador<br />
etabliert. Zuvor gab es immer wieder neue Impulse und<br />
eine kleine Gruppe hegte den innigen Wunsch, eine Waldorfschule<br />
zu gründen. Anfangs kamen Dozentinnen und<br />
Dozenten aus Italien, der Schweiz und Deutschland nach<br />
El Salvador, um Fortbildungen anzubieten.<br />
Inzwischen ist nach diesen ersten anthropsophisch-pädagogischen<br />
Impulsen das heilpädagogische und soziale<br />
Projekt «La Tutuni» entstanden, das von einer Absolventin<br />
des Rudolf-Steiner-Seminars in Bad Boll mit Unterstützung<br />
des gesamten Kurses, der Leitung und der<br />
Lehrerschaft gegründet wurde.<br />
Dies ist ein wichtiger Punkt: Eine Gruppe ganz neu ausgebildeter<br />
Heilpädagogen hat dieses Projekt initiiert<br />
und jahrelang mitgetragen. Daneben wurde das Projekt<br />
durch die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
in Dornach begleitet und ausserdem unterstützt von<br />
vielen HeilpädagogInnen, HeilerzieherInnen oder Freunden<br />
aus deren Reihen. Zurzeit bekommt die Initiative Unterstützung<br />
durch die «Freunde der Erziehungskunst»<br />
und einen Freundeskreis aus Frankreich.<br />
The origins and history of curative education<br />
in El Salvador<br />
Waldorf Education has been established in El Salvador<br />
since 1997. Before that time there had been a small<br />
group of people who felt strongly that they wanted to<br />
found a Waldorf School, and made repeated efforts to<br />
do so. At first, lecturers came from Italy, Switzerland and<br />
Germany in order to offer professional development.<br />
La Tutuni has grown from these initial anthroposophical<br />
and educational impulses. It is a curative education<br />
and social therapy project that was founded<br />
by a graduate of the Rudolf Steiner Seminar in Bad<br />
Boll, with the backing of all other course members,<br />
the course leader and the teachers. It is significant<br />
that a group of newly trained curative teachers initiated<br />
and, for years, continued to carry this project.<br />
Support was also received from the Curative Education<br />
and Social Therapy Council in Dornach and from<br />
many curative teachers and educators or friends of<br />
the movement. At present, the initiative is supported<br />
by the Friends of Rudolf Steiner Education and a<br />
group of friends in France.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
37
Berichte | Reports<br />
Die Kinder<br />
Die Kinder sind im Alter zwischen zwei und zehn Jahren<br />
und werden am Nachmittag betreut. Sie selbst nennen<br />
diesen Ort «La escuelita» (die kleine Schule). La Tutuni<br />
ist nicht nur für die Kinder eine Schule, sondern auch für<br />
uns Erwachsene! Wir alle, die dort arbeiten oder helfen,<br />
können ein Lebenspraktikum in La Tutuni absolvieren.<br />
Hier wird auf eine sehr natürliche und gesunde Art Inklusion<br />
praktiziert.<br />
Die anthroposophische Bewegung in El Salvador<br />
Es gibt zwei Eurythmielehrer in El Salvador, die sich sehr<br />
intensiv für die Verbreitung der Eurythmie in diesem<br />
Land einsetzen, um sie bekannt zu machen und die Menschen<br />
dafür zu begeistern.<br />
Ein Netzwerk anthroposophischer Arbeit ist dort leider<br />
wenig vertreten, allerdings gibt es zumindest einmal monatlich<br />
einen Studienkreis.<br />
Die heutige Situation<br />
In El Salvador gehören der Konsum wie auch der Handel<br />
von Drogen zum Alltag. Das Projekt La Tutuni befindet sich<br />
im Stadtteil Tutunichapa, einem der gefährlichsten Wohnviertel<br />
der Hauptstadt San Salvador. Da die Kriminalität in<br />
dieser Umgebung so hoch ist und um die Anonymität der<br />
Kinder zu schützen, haben wir bewusst darauf geachtet,<br />
das Projekt im eigenen Land nicht bekannt zu machen.<br />
Begonnen haben wir unsere Arbeit in einer Wohnung.<br />
Die Gruppe ist aber in den letzten drei Jahren von 15 auf<br />
29 Kinder gewachsen, sodass zwei weitere Wohnungen<br />
erworben wurden. Es gibt drei verschiedene Gruppen,<br />
deren Kinder zwischen drei und dreizehn Jahren alt sind.<br />
Hier wird viel gelernt: Angefangen vom Zähneputzen und<br />
Händewaschen über den respektvollen Umgang miteinader<br />
bis hin zum Lesen und Schreiben.<br />
Die Eltern sind aktiver geworden und sehr glücklich darüber,<br />
dass La Tutuni nun an fünf Nachmittagen geöffnet ist.<br />
Für die Zukunft wünschen wir uns als Projekt selbständiger<br />
zu werden. Es hindern uns aber vor allem finanzielle<br />
Probleme daran, noch mehr Aktivitäten anzubieten, die<br />
Öffnungszeiten zu erweitern und künstlerische Kurse zu<br />
ermöglichen. Unsere Vision ist es, mit allen an Waldorfpädagogik<br />
und Heilpädagogik interessierten Menschen<br />
im Land zusammen zu arbeiten, die Kräfte zu vereinen<br />
und trotz unterschiedlicher Ideen oder Projekte eine<br />
starke Bewegung zu werden.<br />
The children<br />
The children are between two and ten years old and are<br />
looked after in the afternoons. They call this place La<br />
escuelita (little school). La Tutuni is not only a school<br />
for the children but also for us adults! All who work<br />
or help here are learning for life at La Tutuni, ehre inclusion<br />
is practised in a very natural and healthy way.<br />
The anthroposophical movement in El Salvador<br />
There are two dedicated eurythmy teachers in El Salvador<br />
who do their best to make eurythmy better known<br />
in this country and to awaken people’s interest in it.<br />
Unfortunately there is no real anthroposophical network,<br />
but we have a monthly study group.<br />
The situation today<br />
Drug use and drug dealing are part of everyday life in<br />
El Salvador. La Tutuni is located in Tutunichapa, one of<br />
the most dangerous districts in the capital, San Salvador.<br />
Because the crime rate in this area is so high<br />
and we want to protect the children’s anonymity we<br />
deliberately refrain from advertising our project in this<br />
country. We started our work in one apartment, but<br />
since now that the group has grown from 15 to 29<br />
children over the last three years we have acquired<br />
two more apartments. We have three groups of children<br />
whose ages range from three to thirteen. They are<br />
learning many things, from cleaning their teeth and<br />
washing their hands to being considerate and respecting<br />
each other, as well as reading and writing.<br />
The parents have become more active and are very<br />
pleased that La Tutuni is now open on five afternoons<br />
every week.<br />
Our wish for the future is for our project to become<br />
more independent. It is largely because of a shortage<br />
of money that we are unable to provide more activities,<br />
extend our opening times and offer artistic<br />
courses.<br />
Our vision is to be able to work together with everyone<br />
in this country who is interested in Waldorf and<br />
curative education, to pool our resources and become<br />
a strong movement even if we pursue different ideas<br />
and projects.<br />
Carolina Merino, La Tutuni, San Salvador<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
38
Berichte | Reports<br />
England<br />
In England gibt insgesamt 14 Camphill-Gemeinschaften<br />
(elf Orte für Erwachsene, eine heilpädagogische Schule<br />
und zwei Ausbildungsstätten) und drei unabhängige Einrichtungen.<br />
Die letzteren liegen in der Grafschaft Sussex:<br />
ein Pflegeheim, ein Internat und eine Ausbildungs- und<br />
Arbeitsstätte für Erwachsene, in der es auch eine Theatergesellschaft<br />
gibt.<br />
Die Englische Camphill-Bewegung hat in den letzten<br />
drei Jahren eine sehr kritische Phase durchlaufen, in der<br />
viele regulative, Führungs- und strukturelle Veränderungen<br />
vorherrschten. In Verbindung mit der Abkehr von der<br />
Selbstverwaltung und der Einführung neuer Führungsstrukturen<br />
hat dies zu einer erheblichen Reduzierung<br />
von Lebensgemeinschaften geführt, die jedoch weiterhin<br />
Mitglieder des Camphill-Verbandes sind. Der Verband<br />
ist für den Namen und das Ethos von Camphill verantwortlich,<br />
das von den Idealen der Dreigliederung des<br />
sozialen Organismus, der Anthroposophie, des Christentums<br />
und des gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens<br />
geprägt ist. Darin liegt sowohl eine Herausforderung als<br />
auch eine Ermutigung für die Vielfalt, die weiterhin in der<br />
Englischen Region, 50 Jahre nach dem Todestag von Dr.<br />
Karl König am Ostersonntag 1966, besteht.<br />
Ein weitere Faktor für den Rückgang traditioneller Camphill-Plätze,<br />
in denen das Teilen des Lebens und Schicksals<br />
über 70 Jahre lang ein Leuchtfeuer gewesen ist, ist<br />
zweifellos der Generationswechsel und die Herausforderung,<br />
neue Mitarbeitende zu finden und zu behalten.<br />
Junge Menschen sehen ihre Einstellung nicht mehr unbedingt<br />
als eine lebenslange Berufung an. In diesem<br />
Zusammenhang kämpfen alle Einrichtungen damit,<br />
Schulungen anzubieten, um die anthroposophischen<br />
Werte und Kultur zu vermitteln.<br />
Im September 2015 wurde die Aktionsgruppe «Allianz<br />
für Camphill» gegründet, um über die Vorteile des gemeinschaftlichen<br />
Lebens in Camphill zu informieren und<br />
dafür zu werben. Im Westminster Palast in London fand<br />
eine erfolgreiche Präsentation unter dem Motto «Entscheidung<br />
für intentionale Gemeinschaften» vor Mitgliedern<br />
des Unter- und Oberhauses des Parlaments und<br />
Interessensgruppen für Menschen mit Behinderungen<br />
statt, die die vielen Vorteile von Gemeinschaftsleben<br />
hervorhob. Diese Initiative, der viele Familienangehörige<br />
von Menschen mit Behinderungen angehören, ermutigt<br />
Gemeinschaften, neue Wege der Partnerschaft im Leben<br />
und in der Arbeit mit und nicht an erster Stelle Betreuung<br />
für Menschen mit Hilfebedarf zu finden.<br />
Die schwierige Finanzierungssituation für die Arbeit mit<br />
Menschen mit Behinderungen in allen Altersgruppen<br />
wirkt sich auf sämtliche Organisationen aus und ist ein<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
English Region<br />
In England there are now a total of 14 Camphill<br />
Communities – of which eleven are adult communities,<br />
including one school and two colleges – and<br />
three independent places. The latter are situated in<br />
the counties of Sussex: a care home, a residential<br />
school and a training and work place for adults<br />
which incorporates a theatre company.<br />
The Camphill English Region presents a complex picture<br />
during the past three years dominated by many regulatory,<br />
governance and life structural changes. These<br />
together with a departure from self-management and<br />
the introduction of new management structures have<br />
led to a considerable reduction of places who continue<br />
to be members of the Association of Camphill Communities.<br />
The Association is responsible for the name of<br />
Camphill and its ethos which is inspired by the ideals of<br />
the Threefold Social Order, Anthroposophy, Christianity<br />
and shared living and working. Therein lies both a challenge<br />
and encouragement for the diversity that continues<br />
to exist in the English region 50 years after Dr Karl<br />
Koenig died on Easter Sunday 1966.<br />
Further factors in the reduction of traditional Camphill<br />
places where life and destiny sharing has been<br />
the beacon for over 70 years are no doubt the change<br />
of generation and its challenges to recruit and retain<br />
with ever more challenging role descriptions a new<br />
generation who may no longer see their appointments<br />
as a lifelong vocation. In this connection all places are<br />
struggling to provide the mandatory training as well<br />
as the anthroposophical values and culture.<br />
At the time of writing a further mediation process is taking<br />
place between co-workers of some adult communities,<br />
their managers and trustees in order to preserve<br />
some community elements and to build trust and confidence<br />
in a future where living out of the Association’s<br />
ideals can once more become a visible force.<br />
In September a campaign group ‹Alliance for Camphill›,<br />
was set up to inform and promote the benefits<br />
of Camphill Shared Living communities. A successful<br />
presentation to Members of the Parliament , the Lords<br />
(of the government) and other disability stakeholders<br />
‹Choice for Intentional Community›, highlighting the<br />
many benefits of community in delivering support to<br />
learning disabled adults took place at Westminster Palace<br />
in London. This initiative which has many family<br />
members of people with disabilities, is encouraging<br />
39
Berichte | Reports<br />
Kampf nicht nur für die unabhängigen Einrichtungen,<br />
sondern auch für die Camphill-Initiativen. Im März wurde<br />
die vor 70 Jahren gegründete St. Christopher Schule<br />
von einem überregionalen Pflegeunternehmen infolge<br />
vernichtender Berichte über schlechtes Management<br />
übernommen. Nutley Hall, Philpots Manor und Pericles<br />
verändern sich zusehends und finden innovative Wege,<br />
innerhalb der Grenzen enger Pflegebudgets den Anforderungen<br />
von Kindern und Erwachsenen mit vielfältigen<br />
Bedürfnissen zu genügen.<br />
Im Mai fand zum wiederholten Mal ein Schlichtungsprozess<br />
zwischen Mitarbeitenden einiger Gemeinschaften<br />
für Erwachsene, ihren Managern und den Treuhändern<br />
statt, um übereinstimmende Elemente zu finden und<br />
Vertrauen und Zuversicht für eine Zukunft zu bilden, in<br />
der das Leben aufgrund der Ideale des Verbandes wieder<br />
eine sichtbare Kraft werden kann.<br />
Zurzeit ist es fraglich, ob die Zukunft des Verbandes ACE-<br />
STA (Verband für Anthroposophische Pflege, Pädagogik<br />
und Sozialtherapie), der ursprünglich als Zusammenschluss<br />
der Organisationen in Grossbritannien gegründet<br />
wurde, um bei der freiwilligen Registrierung der Fachkräfte<br />
zu helfen, angesichts seiner Richtungslosigkeit und der<br />
veränderten Umstände weiterhin gewährleistet ist.<br />
communities to find new ways of partnership in life<br />
and work with, rather than primarily care provision for<br />
people of all abilities and support needs.<br />
Securing funding for people with disabilities of all ages<br />
is affecting all organisations and presents a struggle<br />
for the independent places as well as Camphill. In<br />
March St Christopher’ School, which was started 70<br />
years ago in Bristol, was taken over by a national care<br />
company following damning reports of poor management<br />
and huge deficits. Nutley Hall, Philpots Manor<br />
and Pericles continue to adapt and find innovative<br />
ways to meet the needs of children and adults with<br />
diverse needs within the care budget restraints.<br />
At the time of writing the future of ACESTA (Association<br />
for those working with people with complex needs<br />
in Care, Education and Social Therapy out of Anthroposophy)<br />
which was initially founded to unite members<br />
and organisations of the United Kingdom and aid<br />
voluntary registration of its health professionals, is<br />
unclear due to lack of direction and changed circumstances<br />
regarding the registration.<br />
Brigitte van Rooij, The Mount Camphill Community,<br />
Wadhurst<br />
Translation from English: Christian von Arnim<br />
40
Berichte | Reports<br />
Finnland<br />
Finnland gehört zu den nördlichsten Ländern Europas. Es<br />
leben ca. 5,3 Mill. Einwohner auf 338.000 Quadratkilometern<br />
und das Land ist somit eines der dünnsten besiedelten<br />
Länder Europas.<br />
Anfänge der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
Die anthroposophische Heilpädagogik hat sich hier in<br />
drei Wellen entwickelt. Die ersten Schritte wurden durch<br />
das Ehepaar Donner im Jahr 1928 unternommen. Aus<br />
unbekanntem Grund musste das Heim im Jahr 1932 aufgelöst<br />
werden. Ein neuer Anfang wurde durch das Ehepaar<br />
Berthold im Jahr 1936 gemacht, doch auch diese<br />
Einrichtung musste 1942, dieses Mal kriegsbedingt, wieder<br />
geschlossen werden. Die dritte und dann dauerhafte<br />
Verankerung der Heilpädagogik erfolgte 1956 durch<br />
die Heilpädagogin Carita Stenbäck mit der Begründung<br />
von Sylvia-koti in Hyvinkää, die im Jahre 1970 nach Lahti<br />
umzog. Heute gibt es 13 heilpädagogische und sozialtherapeutische<br />
Einrichtungen (Schulen, Berufsschule,<br />
Heime für Kinder und für Jugendliche und Erwachsene).<br />
Sie sind zerstreut hauptsächlich in der südlichen Hälfte<br />
des Landes. Die meisten Heime sind klein. Die ältesten,<br />
Sylvia-koti und Marjatta-koulu, sind die grössten, mit ca.<br />
50-80 Kindern und Jugendlichen.<br />
Die sozialpolitische und wirtschaftliche Situation<br />
Mit der Gründung und dem Wachstum von Sylvia-koti<br />
wurde es möglich, eine heilpädagogische Ausbildung<br />
anzubieten, die durch die Gründung der Marjatta-Schule<br />
in Helsinki 1972 mit einem zweiten heilpädagogischen<br />
Seminar ergänzt wurde. Seit der Änderung der Schulgesetze<br />
1999 besteht diese Möglichkeit nicht mehr, aber<br />
es konnte eine Grundausbildung unter dem heilpädagogischen<br />
Verein Finnland erhalten werden.<br />
Eine grosse Aufgabe waren in den letzten Jahren die<br />
Bemühungen um eine staatliche Anerkennung von<br />
heilpädagogischen Lehrern. Nach einer Konzeptionsphase<br />
in Abstimmung mit dem Schulministerium<br />
erwarteten wir die schriftliche Erlaubnis zur anerkannten<br />
heilpädagogischen Lehrer-Ausbildung in Kooperation<br />
mit der Snellman-Hochschule, was aber leider<br />
nicht gelang. Da demnächst in den heilpädagogischen<br />
Schulen und den sozialtherapeutischen Einrichtungen<br />
ein Generationenwechsel ansteht, besteht in diesen<br />
Bereichen ein hoher Bedarf an Fachkräften, während<br />
in den Schulheimen aufgrund der Inklusionsbestre-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Finland<br />
Finland is one of the northernmost – and most sparsely<br />
populated – countries in Europe: around 5.3 million<br />
people live here in a space of 338,000 square kilometres.<br />
The origins of anthroposophical curative<br />
education<br />
Anthroposophical curative education has developed<br />
in three stages. The first steps were taken in 1928 by<br />
Mr and Mrs Donner. For unknown reasons the home<br />
they started had to be closed down in 1932. Another<br />
couple, the Bertholds, then made a new beginning<br />
in 1936, but their centre also had to close down,<br />
this time because of the war. The third and permanent<br />
establishment of curative education occurred in 1956,<br />
thanks to the curative teacher Carita Stenbäck who<br />
founded Sylvia-koti in Hyvinkää, a centre that would<br />
move to Lahti in 1970. Today there are thirteen centres<br />
for curative education and social therapy (schools,<br />
vocational colleges and residential homes for children,<br />
adolescents and adults.) They are mostly scattered<br />
around the southern half of the country and most<br />
of them are quite small. The oldest centres, Sylvia-koti<br />
and Marjatta-koulu, are also the largest, providing care<br />
for 50 to 80 children and young people<br />
Finland’s socio-political and economic situation<br />
With the foundation and continuing growth of Sylviakoti<br />
the possibility arose for a training course in curative<br />
education to which a second training seminar was<br />
added when the Marjatta-School was founded in Helsinki<br />
in 1972. Since the laws on education were amended<br />
in 1999 this provision is no longer available, but<br />
the curative education association in Finland can still<br />
offer basic training.<br />
One of the important steps we took in recent years<br />
was to apply for curative teachers to gain state recognition.<br />
After a conceptual phase that was agreed with<br />
the board of education we expected to receive written<br />
permission to conduct a recognized curative teacher<br />
training in cooperation with the Snellman College, but<br />
unfortunately this did not happen. Because we are facing<br />
a generation change in our curative schools and<br />
social therapy centres, we urgently need specialist<br />
staff. The number of children attending our boarding<br />
schools, on the other hand, has dropped massively because<br />
of the inclusion policy. This involved a big reduction<br />
in incoming for our children’s homes.<br />
41
Berichte | Reports<br />
bungen immer weniger Kinder zu betreuen sind. Es ist<br />
für die Heime ein grosser wirtschaftlicher Verlust.<br />
Auch in der beruflichen Aus- und Weiterbildung führt<br />
die Inklusionsbewegung zu einem Rückgang der Schülerzahlen,<br />
indem die Sozialbeamten den weiteren Prozess<br />
steuern. Die freie Berufsschule Ristola-yhteisö war<br />
sogar von der Weiterbildungsliste gestrichen worden und<br />
es bestand keine Wahl mehr für die Jugendlichen, was<br />
gegen das Recht auf Selbstbestimmung verstösst und<br />
mithilfe von Anwälten eingefordert wird.<br />
Ähnliche Entwicklungen bestehen im Bereich des Wohnens,<br />
was auch hier zu wirtschaftlichen Engpässen führt.<br />
Insgesamt ist die Situation in Finnland ist sehr schwierig,<br />
was sich natürlich auch in der Behindertenhilfe spiegelt.<br />
In nächster Zeit steht eine Überarbeitung der Richtlinien<br />
unserer Arbeit im Hinblick auf die Zukunft an, um die<br />
nächsten Schritte angesichts der Flut von neuen Gesetzen<br />
und Reglements im Sozial- und Schulbereich planen<br />
zu können. Dabei sollen einerseits die Grundlagen unserer<br />
anthroposophischen Arbeit erhalten bleiben, um die<br />
Identität zu bewahren und andererseits die staatlichen<br />
Auflagen erfüllt werden, um wettbewerbsfähig zu sein.<br />
Bis August <strong>2016</strong> soll jede Schule nach staatlichen Lehrplanvorgaben<br />
einen eigenen Lehrplan entwickeln. Die<br />
heilpädagogischen Schulen haben aufgrund des Konzepts<br />
der Individualität bei der Formulierung von Lehrzielen<br />
und -wegen dabei gute Möglichkeiten, nach dem<br />
anthroposophischen Menschenbild zu arbeiten und die<br />
anthroposophische Pädagogik bewusst in die Zukunft zu<br />
tragen. Um im Umfeld Bewusstsein für unsere charakteristischen<br />
Konzepte zu wecken, bieten wir seit einigen<br />
Jahren monatlich im heilpädagogischen Verein öffentliche<br />
Arbeitsabende zur anthroposophischen Grundlagenarbeit<br />
an. Dabei konnten wir bemerken, wie wichtig die<br />
inhaltliche Arbeit ist, um Kraft zu gewinnen und bei der<br />
Flut von neuen Gesetzen und Regeln durchzuhalten und<br />
nicht die Identität zu verlieren.<br />
Entwicklungsmotive für die Zukunft<br />
Die Zusammenarbeit mit der Poliklinik und den Sozialbeamten<br />
ist eng und regelmässig. Die Psychologen<br />
schätzen die Zusammenarbeit mit den heilpädagogischen<br />
Einrichtungen sehr und sehen sie als wertvolle<br />
Bereicherung der Sonderpädagogik in Finnland. Um diesen<br />
guten Ruf zu halten, brauchen wir in den nächsten<br />
Jahren neue, begeisterte Heilpädagogen und Sozialtherapeuten.<br />
Wenn die grossen Aufgaben der Lehrplangestaltung<br />
bewältigt sind, können die Gespräche zu<br />
As a result of the inclusion movement pupil numbers in<br />
our vocational training and further training courses are<br />
also going down, now that the various authorities are<br />
taking control of this process. Our independent vocational<br />
college, Ristola-yhteisö, was even removed from<br />
the list of further training colleges, which means that<br />
young people no longer have that choice. This impinges<br />
on their right of self-determination and we are proceeding<br />
against this decision with the help of legal advisors.<br />
We see similar developments in the residential centres,<br />
leading to financial constraints there too. The economic<br />
situation in Finland is very difficult as it is and this is, of<br />
course, reflected in the work with people with disabilities.<br />
We need to revise our working guidelines shortly as we<br />
look towards the future, so that we can plan our next<br />
steps, seeing that the social and educational spheres<br />
are being flooded with new laws and regulations. We<br />
are determined to retain the foundations of our anthroposophical<br />
work and protect our identity while we<br />
do what we can to meet state requirements in order to<br />
remain competitive.<br />
By August <strong>2016</strong> each school has to draft its own curriculum<br />
in accordance with official directives. Because<br />
of their individuality principle the curative schools<br />
have the chance to formulate their aims and objectives,<br />
which are based on the anthroposophical image<br />
of the human being, and carry anthroposophical education<br />
into the future. The curative association has, for<br />
some years now, organized monthly open evenings to<br />
call attention to our particular approach and explain<br />
the basics of anthroposophy. We have realized how<br />
important this work is, how it gives us new strength to<br />
persevere in the face of all the new laws and regulations<br />
and to retain our identity.<br />
Developmental motifs<br />
We are in close and regular cooperation with the polyclinic<br />
and the social authorities. Psychologists appreciate<br />
working with the curative education centres<br />
and recognize the important contribution these centres<br />
make to special-needs education in Finland. If we<br />
want to keep our good reputation we need to continue<br />
the discussion of training questions and pool all<br />
our resources in Finland in order to achieve a state recognized<br />
qualification. We have some ideas, but they<br />
need to become more concrete and practicable. We are<br />
setting our hopes on an enthusiastic younger generation<br />
and we are seeing the first promising signs.<br />
42
Ausbildungsfragen weitergeführt werden, um alle Kräfte<br />
in ganz Finnland zu bündeln, um einen Weg zu einem<br />
staatlichen Abschluss zu finden. Dazu gibt es bereits<br />
Gedanken, die aber noch konkretisiert und praxistauglich<br />
gemacht werden müssen. Wir hoffen auf eine neue<br />
begeisterte Generation. Es sind schon Merkmale da.<br />
Leni Knutar, Suomen hoitopedagoginen yhdistys ry,<br />
Helsinki<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Frankreich<br />
France<br />
Theaterspiel | Theatre<br />
Es gibt insgesamt acht anthroposophisch geprägte heilpädagogische<br />
und sozialtherapeutische Einrichtungen<br />
in Frankreich. In drei Einrichtungen werden Kinder, Jugendliche<br />
und junge Erwachsene zwischen drei und fünfundzwanzig<br />
Jahren betreut. In fünf Organisationen leben<br />
Erwachsene, die über zwanzig Jahre alt sind.<br />
Die 205 Kinder werden von 149 Mitarbeitenden und<br />
etwa 165 Erwachsene von 107 Betreuerinnen und Betreuern<br />
in ihrem Alltag begleitet, sodass in Frankreich<br />
insgesamt 256 Mitarbeitende für 371 Kinder und Betreute<br />
da sind.<br />
Sozialpolitische und wirtschaftliche Einflüsse<br />
Im Laufe der letzten Jahre hat sich die französische Sozialpolitik<br />
zunehmend bürokratisiert, was zu mehr und<br />
vielfach aufgeblähten Verwaltungsabläufen führt. Es zeigen<br />
sich schon jetzt signifikante Folgen, wie beispielsweise<br />
Engpässe in den Budgets.<br />
Zurzeit sind die wichtigsten Fragen die folgenden Punkte:<br />
• Eine Lösung für die älteren Personen finden.<br />
• In allen Einrichtungen soll eine weiterführende Fortbildung<br />
etabliert werden, um die anthroposophisch fundierte<br />
heilpädagogische und sozialtherapeutische<br />
Fachkompetenz zu stärken. Vor allem beschäftigt uns<br />
die Bildung der Jugendlichen, Erwachsenen und Menschen,<br />
die mit einer psychischen Behinderung leben.<br />
• Es zeichnet sich schon jetzt ein Generationenwechsel<br />
bei den Erziehern, den Direktoren und den Mitgliedern<br />
des Verwaltungsrates ab. Dies gilt es wahrzunehmen<br />
und aufmerksam umzusetzen.<br />
• Wir stehen vor grossen Veränderungen und sehen die<br />
Herausforderung und Notwendigkeit, uns kompetent<br />
für die Zukunft zu positionieren.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
In France we have eight anthroposophically oriented<br />
centres for curative education and social therapy.<br />
Three of them take in children and young adults between<br />
the ages of three and 25 years. The other five<br />
organizations are for adults over twenty.<br />
There are altogether 149 caregivers supporting 205<br />
children with special needs in their daily lives and 107<br />
caregivers for 165 adults. In total 256 people are looking<br />
after 371 children and adults with special needs.<br />
Socio-political and economic influences<br />
French social policy has become increasingly bureaucratic<br />
in recent years and this has led to ever more and<br />
often excessive administrative procedures. This has<br />
far-reaching consequences which are becoming apparent<br />
now, for instance in reduced budgets.<br />
The following are the most urgent questions at present:<br />
• Finding a solution for the situation of the elderly.<br />
• Introducing further training in all institutions in order<br />
to strengthen the competences that are specific to anthroposophical<br />
curative education and social therapy.<br />
We are focusing particularly on the education of young<br />
people, adults and people with psychiatric disorders.<br />
• We are already observing the generational transition<br />
among our educators, managers and board members.<br />
This is a process that we need to be aware of and actively<br />
guide.<br />
• Last but not least, we are facing important changes<br />
generally and we see it as a particular challenge and<br />
necessity to position ourselves in a way that allows<br />
us to go competently towards the future.<br />
Magali Bourcart, Association le Champ de la Croix, Orbey<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
43
Berichte | Reports<br />
Georgien | Georgia<br />
In Georgien gibt es zwei spezielle Schulen für taubstumme<br />
und blinde Kinder, doch es existieren keine staatlichen<br />
Schulen für Kinder mit mentalen Störungen. Diese<br />
Kinder befinden sich in Tageszentren, die von NGOs gegründet<br />
wurden und heute staatlich finanziert sind. Insgesamt<br />
gibt es 34 Tageszentren für Kinder bis 18 Jahre<br />
(737). Für Menschen mit Behinderung die über 18 Jahre<br />
alt sind, gibt es 21 Tageszentren (507 Menschen).<br />
Drei Organisationen davon sind gemeinnützige, staatsunabhängige<br />
anthroposophische Initiativen:<br />
1. Das Zentrum für freie Pädagogik in Tbilissi betreut 95<br />
Kinder und Jugendliche im Alter von eins bis achtzehn<br />
Jahren mit einem ganzheitlichen, künstlerisch-therapeutischen<br />
Ansatz. Es betreibt eine Frühförderstelle, den<br />
heilpädagogischen Kindergarten Mseschina, die heilpädagogische<br />
Michaelschule und ein Tageszentrum. Zur<br />
beruflichen Vorbereitung gibt es das Artstudio (Mosaik)<br />
und unterschiedliche Werkstätten, im psycho-pädagogischen<br />
Rehabilitationszentrum finden ambulante Beratungen<br />
statt. Ausserdem besteht die Möglichkeit zur<br />
Ausbildung an einem Heilpädagogischen Seminar.<br />
2. Im Haus für Sozialtherapie leben 55 Menschen mit Behinderung,<br />
die in sieben Werkstätten beschäftigt sind,<br />
es gibt ein sozialtherapeutisches Seminar und den Verlag<br />
«Azmko», in dem anthroposophische Literatur in georgischer<br />
Sprache erscheint.<br />
3. Die Camphill-Gemeinschaft «Kedeli» befindet sich in<br />
einem malerischen Ort in Kachetien (Ostgeorgien). Hier<br />
wohnen 22 Benefiziare, Absolventen der Michaelschule,<br />
die in der Bäckerei oder in anderen Werkstätten arbeiten.<br />
Alle drei Einrichtungen stehen in aktiver Kooperation mit<br />
den Universitäten, Ministerien für Ausbildung und der<br />
Sozialen Fürsorge. Studierende der Fakultät für Psychologie<br />
machen in diesen Einrichtungen das professionelle<br />
Praktikum und es ist geplant, dass die Schülerinnen und<br />
Schüler der Waldorfschule hier ein soziales Praktikum<br />
absolvieren.<br />
Die sozialpolitische und wirtschaftliche Situation<br />
Im Jahr 1991 hatte Georgien wesentliche wirtschaftliche<br />
Schwierigkeiten. Es gab kein Gas, kein Strom, keine Heizung.<br />
Der öffentliche Transport funktionierte nicht. Für<br />
die sozialen Einrichtungen gab es überhaupt keine Finanzierung,<br />
nur die Hilfe von Freunden. Doch der grosse<br />
Enthusiasmus, der Wunsch zu arbeiten, die anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie zu entwickeln<br />
Michaelschule | Michael School<br />
Georgia has two special schools, one for deaf-mute<br />
children and one for blind children, but no state schools<br />
for children with learning disabilities. Such children attend<br />
day-centres which were originally founded by<br />
NGOs and are now state-funded. All in all there are 34<br />
day-centres for children up to the age of 18 (737) and<br />
21 day-centres for people with special needs who are<br />
older than 18 (507).<br />
Three of these centres are independent anthroposophical<br />
charities:<br />
1. The Centre for Independent Education in Tbilisi caters<br />
for 95 children and adolescents from one to eighteen<br />
years, applying a holistic and artistic-therapeutic<br />
approach. It includes an early years’ support centre, a<br />
kindergarten for special-needs children (Msechina), the<br />
Michael School for curative education and a day-centre.<br />
Vocational training is provided by the art studio (Mosaik)<br />
and various other workshops. A psychoeducational<br />
rehabilitation centre provides counselling and there is<br />
also a training seminar for curative teachers.<br />
2. 55 people with disabilities live in the Social Therapy<br />
House which has seven workshops. It includes a Social<br />
Therapy training course and ‹Azmko Press› which publishes<br />
anthroposophical books in the Georgian language.<br />
3. ‹Kedeli› is a Camphill community in the picturesque<br />
region of Kakheti (Eastern Georgia). The twenty-two<br />
adults with special needs who live here are former pupils<br />
of the Michael School. They work in the bakery and<br />
in other workshops.<br />
All three centres work in cooperation with the universities<br />
and the ministries of education and social welfare.<br />
Students of psychology find practical work placements in<br />
these centres and there are plans to make it possible for<br />
Waldorf pupils to do their social work experience there.<br />
44
Berichte | Reports<br />
und natürlich den Kindern zu helfen, war immer da. Am<br />
meisten betroffen waren die Kinder aus den armen, sozial<br />
ungeschützten Familien, für welche die Mahlzeiten in<br />
diesen Einrichtungen manchmal die einzige Möglichkeit<br />
war, Essen zu bekommen.<br />
Heute erhält jeder Leistungsempfänger vom Staat zehn<br />
Euro pro Monat. Von diesem Geld sollen die Gehälter für<br />
Pädagogen sowie alle andere Kosten der Schule gedeckt<br />
werden. Die Eltern können meist keinen Beitrag leisten,<br />
weil alle diese Familien arm sind.<br />
Entwicklungen und Netzwerkarbeit<br />
Ab 1991 und bis zum heutigen Tag ist die anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie in Georgien<br />
in Entstehung und ringt um die eigene Identität. Es ist<br />
grundsätzlich wichtig, in der schnell lebigen und modernen<br />
Welt die anthroposophischen Werte zu erhalten und<br />
doch allen Anforderungen der Zeit gerecht zu werden, die<br />
Ansprüche des Ministeriums für Ausbildung zu berücksichtigen<br />
und den eigenen Prinzipien treu zu bleiben. Erschwert<br />
wird dies dadurch, dass es in der georgischen<br />
Gesetzgebung keinen Begriff für eine alternative Pädagogik<br />
gibt und unsere Positionen immer wieder verdeutlicht<br />
werden müssen.<br />
Im Jahre 2011 wurde in Georgien ein Kongress für Menschen<br />
mit Behinderung durchgeführt. Im April <strong>2016</strong> hat<br />
die fünfte Internationale Konferenz für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie anlässlich des 25-jährigen Bestehens<br />
der Michaelschule in Tbilissi stattgefunden, an der<br />
Gäste aus der Schweiz, Deutschland, Russland, Ukraine,<br />
Armenien, der Türkei und Vertreter von Ministerien der<br />
Ausbildung und der Sozialen Fürsorge teilgenommen<br />
haben. Das Zentrum für freie Pädagogik und das Haus<br />
für Sozialtherapie sind Mitglieder des internationalen<br />
Projektes KRUG (Ausbildungsnetzwerk in Kirgisien, Russland,<br />
Ukraine, Georgien).<br />
Der Verein für seelenpflegebedürftige Menschen ist Mitglied<br />
des internationalen Kreises für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie. In Georgien konnten sich die Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie nur dank der Hilfe und finanziellen<br />
Unterstützung der Freunde aus Deutschland,<br />
der Schweiz und Belgien entwickeln, die bis heute fortgesetzt<br />
wird. Ohne Hilfe unserer Partnerorganisationen<br />
und den «Freunden der Erziehungskunst» würde unsere<br />
Arbeit nicht gelingen.<br />
Dr. Marina Shostak, Zentrum für Freie Pädagogik e.V., Tbilisi<br />
Übersetzung aus dem Deutschen: Margot Saar<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
The socio-political and economic situation<br />
In 1991 Georgia was facing considerable economic difficulties.<br />
There was no gas, electricity or heating and<br />
public transport was not working. Social institutions received<br />
no money at all but had to rely on help from<br />
friends. There has nevertheless always been great enthusiasm<br />
and the wish to work and to develop anthroposophical<br />
curative education and social therapy and, of<br />
course, the will to help the children with special needs.<br />
The situation was worst for children from poor, socially<br />
vulnerable families. The meals they were given in these<br />
centres were sometimes the only food they could get.<br />
Today, everyone who is entitled to public benefits receives<br />
ten Euros per month from the state. This money<br />
has to cover the teachers’ salaries and all other school<br />
expenses. Most parents are too poor to be able to pay<br />
school fees.<br />
Developments and networking<br />
Anthroposophical curative education and social therapy<br />
started in Georgia in 1991 and is still struggling to establish<br />
its own identity. In our fast-paced modern world<br />
it is very important to retain the anthroposophical values<br />
and remain faithful to our principles while trying<br />
to meet the needs of our time and to accommodate the<br />
demands of the ministry for education. This situation is<br />
not helped by the fact that Georgian legislation does<br />
not include the concept of alternative education and<br />
that we therefore keep having to explain our approach.<br />
In 2011 Georgia hosted a congress for people with disabilities.<br />
In April <strong>2016</strong> the fifth International Curative<br />
Education and Social Therapy Conference took place<br />
here in celebration of the 25th anniversary of the Michael<br />
School in Tbilisi. Guests from Switzerland, Germany,<br />
Russia, Ukraine, Armenia and Turkey attended the<br />
conference, as did representatives of the ministries for<br />
education and social welfare. The centre for independent<br />
education and the Social Therapy House are both<br />
members of the international KRUG project (a training<br />
network spanning Kirgizia, Russia, Ukraine, Georgia).<br />
The association for people with special needs is a member<br />
of the International Curative Education and Social<br />
Therapy Council. We owe it to the ongoing help and<br />
financial support from friends in Germany, Switzerland<br />
and Belgium that it was possible to develop curative<br />
education and social therapy in Georgia. Our work could<br />
not flourish without the help from our partner organizations<br />
and the Friends of Rudolf Steiner Education.<br />
45
Interview<br />
Interview Guranda Achelashvili<br />
Guranda Achelashvili, born 1986. Education: Psychology, management in the field of education. Workplace: Rehabilitation<br />
daycare centre for adults with problems of mental and physical development.<br />
Guranda Achelashvili is a student on the basic courses in social therapy run by the Association for People in<br />
Need of Special Care (Tbilisi, Georgia). She is married and has three children.<br />
Ich habe eine sehr positive Einstellung zur anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie.<br />
Diese Weltanschauung beantwortet viele Fragen, die<br />
sich mir stellen. Ich arbeite in einer Tagesstätte für<br />
Menschen mit Behinderungen und dort wurde mir<br />
empfohlen, den Grundkurs für Sozialtherapie zu besuchen,<br />
um mich besser zu qualifizieren.<br />
Die zukünftigen Aufgaben der Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie sind die Integration von Menschen<br />
mit Hilfebedarf, die Entwicklung ihrer Fähigkeiten<br />
und die Teilhabe am Arbeitsprozess, sodass sie<br />
Nützliches produzieren können. Ebenso geht es<br />
darum, die stereotypen Bilder über diese Menschen<br />
in der Gesellschaft zu verändern und aufzuzeigen,<br />
dass sie sich wie jeder andere Mensch<br />
auch entwickeln können.<br />
Ich bin Studierende an einem Grundkurs für Sozialtherapie.<br />
Die theoretischen, praktischen und künstlerischen<br />
Teile geben mir eine sehr gute Grundlage für<br />
meine eigene Arbeit mit Menschen mit Hilfebedarf.<br />
Es wäre ein Gewinn, andere Länder zu besuchen und<br />
dort die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen<br />
kennenzulernen. Es wäre auch hilfreich, dort an<br />
Kursen und Seminaren teilzunehmen. Das bedarf<br />
natürlich der Finanzierung und es wäre schön,<br />
wenn es eine Stiftung gäbe, die es Absolventen des<br />
Grundkurses ermöglicht, sich weiter zu entwickeln.<br />
In der Gesellschaft, in der ich lebe, muss noch vieles<br />
getan werden, um die soziale Einstellung gegenüber<br />
Menschen mit Hilfebedarf zu verändern. Es<br />
gibt Familien, die ihre behinderten Mitglieder verstecken,<br />
weil sie sich dafür schämen. Die Aufgabe<br />
der Heilpädagogik und Sozialtherapie ist es, diese<br />
Menschen zu unterstützen, damit sie echte Mitglieder<br />
unserer Gesellschaft werden können.<br />
I have a very positive attitude full of trust towards<br />
anthroposophical curative education and<br />
social therapy. This worldview clearly answers the<br />
questions I have.<br />
The future tasks of anthroposophical curative education<br />
and social therapy are the integration of<br />
people in need of special care, development of<br />
their abilities, engaging them in the work process<br />
so that they can make useful products,<br />
changing the social stereotypes of these people,<br />
showing that they can develop like any other<br />
human being.<br />
I am a student on the basic course in social therapy.<br />
The theoretical, practical and artistic parts of<br />
this course provide very good foundations for<br />
my independent work with people in need of<br />
special care. It would be very helpful for me to<br />
visit other countries and see the work of people<br />
with disabilities there.<br />
It would also be useful to participate in courses and<br />
workshops in other countries. This, of course, requires<br />
finance and it would be good if a foundation<br />
could be set up that would help graduates of<br />
the basic course in their further development.<br />
I work in a daycare centre for people with disabilities<br />
where it was suggested to me that I attend<br />
the basic courses in social therapy in order to<br />
raise my qualification level.<br />
In the society where I live, much has to be done in<br />
order to change social attitudes towards people in<br />
need of special care. There are families that hide<br />
their members with disabilities as they are ashamed<br />
of them. The task of anthroposophical curative education<br />
and social therapy is to enable these people<br />
to become full members of our society.<br />
Translation from English: Christian von Arnim<br />
46
Berichte | Reports<br />
Indien<br />
India<br />
Der Impuls der Heilpädagogik und Sozialtherapie existiert<br />
in Indien schon seit vielen Jahren. Vom ersten in<br />
England ausgebildeten heilpädagogischen Therapeuten<br />
bis zu den vielen heute existierenden Zentren ist es eine<br />
Reise mit ausserordentlichen Lern- und Entwicklungserfahrungen<br />
gewesen, sowohl aus der Perspektive des Einzelnen<br />
als auch der Gemeinschaft. Die Anthroposophie<br />
hat das Leben vieler Menschen berührt, andere sind<br />
immer noch auf der Suche, ihre Bedeutung zu verstehen.<br />
Spiritualität gehört als eine uralte Tradition zu Indien<br />
und die Anthroposophie bietet einen Weg, diese Spiritualität<br />
durch das Verständnis des eigenen inneren Wesens<br />
wieder zu entzünden.<br />
Heute hat Indien 13 etablierte Zentren, die im Bereich<br />
der Heilpädagogik und Sozialtherapie arbeiten, drei von<br />
ihnen ausschliesslich sozialtherapeutisch. Es gibt fast<br />
50-60 Menschen die hier tätig sind und Dienste für Menschen<br />
mit Behinderungen anbieten, u.a. Heilpädagogen,<br />
Sozialtherapeuten, anthroposophische Ärzte, Therapeuten<br />
für rhythmische Massage und Eurythmisten.<br />
Die Bewegung konzentriert sich eher in Südindien mit<br />
Chennai als dem Zentrum der Initiativen. Hier gibt es<br />
viele fortlaufende Aktivitäten auf diesem Arbeitsgebiet<br />
und eine grosse Anzahl ausgebildeter Heilpädagogen<br />
kommt aus dieser Region. Auch in den Städten Bangalore,<br />
Pune, Goa und Mumbai finden sich weitere heilpädagogische<br />
und sozialtherapeutische Zentren.<br />
Der Grundkurs für anthroposophische Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie startete 2005 in Bangalore. Er ist nun<br />
in seinem dritten Durchlauf und ein Keim für viele andere<br />
Initiativen geworden. Er bietet seinen Studierenden eine<br />
Ausbildung, die Gelegenheit gemeinsam zu studieren,<br />
gemeinsam zu wachsen und, am wichtigsten, den Impuls<br />
in die Welt zu tragen.<br />
In den letzten Jahren fand eine enorme Ausbreitung<br />
statt, besonders auf dem Gebiet der Heilpädagogik.<br />
Viele heilpädagogische und integrative Zentren sind eröffnet<br />
worden. Die Schulen verstehen, wie wichtig eine<br />
Ausbildung ist und regen ihre Mitarbeitenden zur Teilnahme<br />
an, sodass sie ein tieferes Verständnis der Arbeit<br />
und der Anthroposophie erlangen. Die meisten Personen<br />
werden im Grundkurs für anthroposophische Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie ausgebildet, der in der Gemeinschaft<br />
«Freunde des Camphill Indien» in Bangalore<br />
(Südindien) angeboten wird. Einige Kollegen haben ihre<br />
The Curative Education and Social Therapy impulse has<br />
existed in India for quite a few years. From the first<br />
Curative therapist trained in England many years ago<br />
to the many centres existing today, this journey has<br />
been one of exceptional learning and development,<br />
both from an individual as well as from a community-based<br />
perspective. Anthroposophy has touched the<br />
lives of many and others are still seeking to understand<br />
its meaning. Spirituality has been engrained in India<br />
as an ancient tradition and Anthroposophy has offered<br />
a path to reignite this spirituality by understanding<br />
one’s Inner Being as well as recognising the other as a<br />
Human Being.<br />
Today, India has 13 established Centres working across<br />
the field of Curative Education and Social Therapy,<br />
three of which are exclusively working with Social Therapy.<br />
There are between 50-60 people working in the<br />
field and offering services to people with disabilities;<br />
these include Curative Education Teachers, Social Therapy<br />
workers, Anthroposophical doctors, Rhythmical<br />
Massage Therapists and Eurythmists.<br />
The movement is concentrated more in southern India,<br />
with Chennai being the current hub of activity. There are<br />
many ongoing activities and opportunities in the area of<br />
work, and a large number of trained Curative Educators<br />
come from this region. The cities where Anthroposophical<br />
Curative Education and Social Therapy can be found<br />
are Chennai, Bangalore, Pune, Goa, Mumbai.<br />
The Foundation Course in Anthroposophical Curative<br />
Education and Social Therapy started in Bangalore in<br />
the year 2005. It has become the seed for many other<br />
initiatives. It offers its students training, an opportunity<br />
to study together, to grow together and most important,<br />
to take the impulse out into the world.<br />
The past few years have seen a tremendous growth<br />
in the field, especially in the field of Curative Education.<br />
Many Curative centres and Integrated Centres<br />
have opened. The schools understand the importance<br />
of Training and they encourage their staff to attend<br />
courses so that they get a deeper understanding of<br />
the work as well as of Anthroposophy. Most people<br />
are currently being trained through the Foundation<br />
Course in Anthroposophical Curative Education<br />
and Social Therapy, which is being offered at the Friends<br />
of Camphill India community based in Bangalore<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
47
Berichte | Reports<br />
Ausbildung in England und den USA absolviert und sind<br />
zurückgekehrt, um in diesem Bereich zu arbeiten. Es gibt<br />
auch ein Seminar für Waldorfpädagogik, das ein fundiertes<br />
Verständnis der Anthroposophie zusammen mit Aspekten<br />
der kindlichen Entwicklung und eine Einführung<br />
in die künstlerische Arbeit mit Kindern vermittelt. Viele<br />
Lehrer besuchen dieses Seminar, um ein besseres Verständnis<br />
der kindlichen Entwicklung zu erwerben.<br />
Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
sind heute im Hinblick auf die Inklusion eine wichtige<br />
Voraussetzung in Indien, denn es mangelt gegenüber<br />
Menschen mit Behinderungen noch immer an Akzeptanz.<br />
Die Pädagogik und die Lebensweise, die diese<br />
Einrichtungen bieten, eröffnen ihnen Möglichkeiten,<br />
akzeptiert und als Menschen behandelt zu werden.<br />
Der Ansatz fördert Fürsorge, Liebe, Gemeinsamkeit und<br />
Respekt in der Gesellschaft und behandelt jeden als<br />
gleichwertig. Heilpädagogik und Sozialtherapie sind<br />
notwendig, da sie Kindern und Erwachsenen Schönheit<br />
und Ruhe in einer Zeit bringen, in der die sozialen Systeme<br />
sich tiefgreifend verändern. Noch an traditionelle<br />
Anschauungen gebunden, wird die Gesellschaft immer<br />
korrupter und verliert ihre Werte und moralischen Vorstellungen.<br />
Indem Kindern ein rhythmisches, mit Farbe,<br />
Musik, Kunst und Heilung ausgefülltes Leben angeboten<br />
wird, geben wir ihnen die Möglichkeit, eine Kindheit zu<br />
erfahren, wie sie sein sollte.<br />
Wir haben jedoch immer noch Fragen, wie wir unser Wissen<br />
vertiefen können. Wie können wir uns selbst weiter<br />
entwickeln? Wie bekräftigen wir den Wert der Schulung in<br />
unserem Arbeitsfeld? Wie werden wir bessere Menschen?<br />
Die Hauptaufgabe in Indien ist derzeit die Gründung eines<br />
Verbandes für Heilpädagogik und Sozialtherapie. Dies ist<br />
schon viele Jahre lang ein Wunsch, aber leider ist es uns<br />
wegen der geografischen Standorte und Infrastruktur in<br />
Indien noch nicht gelungen. Wir streben trotzdem weiter<br />
und hoffen, dass wir bis Jahresende eine Gruppe zusammengebracht<br />
haben, die Interesse an einer gemeinsamen<br />
Arbeit und einer Verbandsgründung hat, um miteinander<br />
zu lernen und sich gegenseitig zu unterstützen. Dies ist<br />
ein wichtiger Schritt, da er die Möglichkeit bietet, Ressourcen<br />
und Wissen zu bündeln und sich in diesen Zeiten<br />
gegenseitig zur Seite zu stehen. Zudem erweitern wir die<br />
Ausbildungsmöglichkeiten und laden Lehrer und Kollegen<br />
aus aller Welt ein, um uns zu unterstützen.<br />
Die Bewegung der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in Indien ist noch im Keimstadium,<br />
wächst jedoch jeden Tag immer schneller mit der Unterstützung<br />
der geistigen Welt.<br />
48<br />
(South India). A few of the colleagues there have trained<br />
in England and the US and have returned to work<br />
in the field. There is also a Waldorf Education Seminar<br />
which provides a sound understanding of Anthroposophy<br />
along with the integral aspects of Child Development<br />
and introduction to artistic ways of working with<br />
children. Many teachers also attend this seminar to get<br />
a better understanding of child development.<br />
Anthroposophic Curative Education and Social Therapy<br />
is a crucial need in India today. Attitudes towards people<br />
with disabilities can still be quite non-inclusive. This<br />
education system and the way of life it offers opens up<br />
opportunities for marginalised persons to be accepted<br />
and treated as a Human Being. The approach promotes<br />
care, love, togetherness and respect into the broader<br />
society, treating everyone as equal. Curative Education<br />
and Social Therapy are needed as they bring beauty<br />
and calm to children and adults at a time when the social<br />
structure is undergoing deep changes. Whilst still<br />
bound by traditionalist views , society is yet becoming<br />
more corrupt and losing its values and morals. By offering<br />
children a rhythmical life filled with colour, music,<br />
art and healing, among others, we are allowing them<br />
the opportunity to experience childhood as it should be.<br />
But we still have questions as to how do we deepen<br />
our knowledge. How do we make it a path of self-development?<br />
How do we encourage the importance of<br />
training in our field of work? How do we become better<br />
Human Beings?<br />
The main task in India at the moment is the formation<br />
of an Association for Curative Education and Social<br />
Therapy. This has been a wish for many years, but unfortunately<br />
due to the logistics of communication and<br />
travel in India we have been unable to achieve this. But<br />
yet again, we strive and hope that by the end of this<br />
year, we will have a group of people who are interested<br />
to work and learn and support each other, and we will<br />
form a council. This is an important step as it will offer<br />
an opportunity to share resources, knowledge and<br />
support to each other in these times of need. We are<br />
also widening our possibilities for training and inviting<br />
teachers and colleagues from around the world<br />
to support us.<br />
The Anthroposophic Curative Education and Social<br />
Therapy movement in India is still in a nascent stage,<br />
but growing ever so rapidly every day with the support<br />
of the spiritual world.<br />
Liane da Gama, Atmavishwas, Goa<br />
Translation from English: Christian von Arnim
Philomena Heinel, Humanushaus (Schweiz)<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
49
Berichte | Reports<br />
Republik Irland<br />
In Irland arbeiten 16 Zentren im Rahmen der anthroposophischen<br />
Behindertenhilfe. Mit Ausnahme von einer<br />
einzigen Gemeinschaft arbeiten alle anderen unter dem<br />
Dachverband der Camphill-Bewegung in Irland. Mountshannon<br />
Camphill-Gemeinschaft in Clare ist von dieser<br />
rechtlichen Struktur unabhängig.<br />
Die Republik Irland ist sicher eines der letzten europäischen<br />
Länder, in dem die Umstellung des staatlichen<br />
Sicherungssystems vorgenommen wurde. Besonders in<br />
den letzten drei bis vier Jahren, in denen die Überprüfung<br />
und Registrierung der Einrichtungen begann, war<br />
die Einstellung von externen Vorgesetzten in einzelnen<br />
Gemeinschaften oder von staatlichen Organisatoren ein<br />
wesentliches Merkmal der Veränderung. Die Anzahl der<br />
partizipativen Hauskoordinatoren ist dramatisch gesunken<br />
– in letzter Zeit hat es jedoch erneutes Interesse gegeben.<br />
Die meisten dieser neuen Mitarbeitenden haben<br />
nur wenig Kenntnis der Grundlagen von Camphill bzw. der<br />
Anthroposophie, doch ohne deren Hilfe hätten viele der<br />
Institutionen diesen Prozess womöglich nicht überstanden.<br />
Das hat jedoch auf beiden Seiten sehr viel Toleranz<br />
und gegenseitiges Lernen verlangt: Was bedeutet es z.B.,<br />
dass eine Organisation ihre Organisationsstruktur auf der<br />
Dreigliederung begründet? Besonders wenn der Begriff<br />
einem grossen Teil der Beteiligten fremd ist. Das Positive<br />
ist, dass diese Polarität einen konstruktiven Dialog angeregt<br />
und neue Schulungsinitiativen ausgelöst hat.<br />
Die Camphill-Gemeinschaften decken einen breiten Bereich<br />
der Angebote ab, von traditionellen Dorfeinrichtungen<br />
mit acht oder neun Häusern, einer Farm und<br />
Werkstätten einerseits bis zu Gemeinschaften in einer<br />
städtischen Umgebung andererseits, wo die Häuser zwischen<br />
den anderen Gebäuden der Stadt verteilt sind, oft<br />
mit ihren eigenen Cafés. Im Gebiet von Kilkenny gibt es<br />
eine Vielzahl an kleinen Gemeinschaften – einige städtisch,<br />
einige ländlich, die als «Gemeinschaft der Gemeinschaften»<br />
zusammenkommen. Der Saal einer dieser<br />
Gemeinschaften wird regelmässig vom nationalen Sender<br />
RTE benutzt und empfängt internationale Musiker –<br />
ein echtes Beispiel von «umgekehrter Integration».<br />
Der Druck und die negativen Aspekte, die von grösserer<br />
Regierungskontrolle ausgehen, haben die Suche nach<br />
neuen Ansätzen in der Gemeinschaftsbildung angeregt,<br />
besonders das «co-housing»-Modell, mit dramatischen<br />
und spannenden Vorschlägen für Dörfer im alten Stil. Wir<br />
Kreative Arbeit | Creative work<br />
Republic of Ireland<br />
All the anthroposophical activity in Curative education<br />
and Social Therapy takes place in one of the 16<br />
Camphill Communities or the two day activity centres.<br />
All except one, work under the umbrella organisation<br />
of the Camphill Communities of Ireland. Mountshannon<br />
Camphill community in Clare, is independent of<br />
this legal structure.<br />
The republic of Ireland is one of the last European<br />
countries to be regulated in the realm of Social Care.<br />
Particularly in the last three to four years when inspections<br />
leading to registration of Communities have<br />
begun, the employment of managers of individual<br />
communities and national organisers has become a<br />
major feature of change. The number of life sharing<br />
house co-ordinators has dropped dramatically in the<br />
last ten years – however of late there has been renewed<br />
interest. Most of these new people have very limited<br />
background in either Camphill or Anthroposophy.<br />
Without their intervention it is unlikely that many of<br />
the places would have survived the registration process.<br />
On both sides, this has involved a very steep learning<br />
curve. What does it mean that an organisation<br />
bases its organisational structure on the Threefold Social<br />
Order, for example? Especially when a large proportion<br />
of those involved have never met the concept.<br />
The positive is that this polarity has stimulated a lot of<br />
productive dialogue and fired new training initiatives.<br />
The Camphill communities cover a wide range, from the<br />
traditional Village setting with eight or nine houses, a<br />
50
Berichte | Reports<br />
brauchen dringend einen anthroposophischen Arzt für<br />
einige unserer Gemeinschaften. Leider endete die letzte<br />
Kinderklasse in Ballytobin vor zwei Jahren, sodass es<br />
keine Heilpädagogik in der Republik mehr gibt, obwohl<br />
die Fachkenntnis weiter besteht.<br />
Trotz schlimmer Unterfinanzierung – eine Mutter sagte<br />
in einem parlamentarischen Ausschuss aus, man würde<br />
kein Zimmer mit Frühstück für die Summe bekommen,<br />
die die Behörden für Pflege rund um die Uhr für ihre<br />
schwer behinderte Tochter bezahlten! – gibt es eine sehr<br />
aktive Spendensammlungsgruppe unter den Eltern und<br />
viel Elternengagement im Registrierungsprozess.<br />
Camphill nimmt eine führende Rolle in der Organisation<br />
und Entwicklung des Impulses der sozialen Landwirtschaft<br />
in Irland ein, auch in der Unterstützung des biologisch-dynamischen<br />
Impulses.<br />
Einer der Tagesdienste ist ein integriertes künstlerisches<br />
Kollektiv und Kolleg, das viele positive öffentliche Aufmerksamkeit<br />
in der Presse und dem Fernsehen auf sich<br />
zieht und sowohl das Inland wie das Ausland viel bereist.<br />
In dieser kurzen Übersicht sei noch gesagt, dass viele<br />
Gemeinschaften aktiv in ihrer örtlichen Gemeinde engagiert<br />
sind und dort oft als ein wesentliches und lebendiges<br />
Element anerkannt werden – der soziale Zauber<br />
des Menschen mit Behinderung! Oft ist uns der schöpferische<br />
Funke bewusst, der sich zwischen den beiden<br />
scheinbar unvereinbaren Polaritäten von gesetzlicher<br />
Pflichterfüllung und dem Streben nach menschlicher Gemeinschaft<br />
entzündet!<br />
Tony Whittle, Camphill Jerpoint, Thomastown, County<br />
Kilkenny<br />
Übersetzung ins Deutsche: Christian von Arnim<br />
farm, and workshops on the one hand, to Communities<br />
in an urban setting where the houses are scattered in<br />
among the houses of the town, often with their own<br />
Cafes (two in the Kildare area). Around the Kilkenny area<br />
are a host of little communities – some urban, some<br />
rural, that come together as the ‹Community of Communities›.<br />
In one of them is a hall which is regularly used<br />
by the national broadcaster RTE, and hosts international<br />
musicians – a real example of ‹reverse integration›.<br />
The pressure and negative aspects of greater governmental<br />
control have stimulated the search for new<br />
approaches to community building, especially the ‹cohousing›<br />
model, with dramatic and exciting proposals<br />
for the old style village. We are sorely in need of an<br />
Anthroposophical Doctor for some of our places. Sadly<br />
the last children’s class in Ballytobin finished two years<br />
ago, so there is no longer Curative education in the<br />
Republic, though the expertise remains.<br />
Despite severe underfunding – one parent said to a<br />
parliamentary committee that you wouldn’t get Bed<br />
and Breakfast for the amount paid by the authorities<br />
for the 24 hour care of her very disabled daughter! –<br />
there is a very active parents fundraising group, and a<br />
lot of parental involvement in the Registration process.<br />
Camphill is taking a lead in the organisation and development<br />
of the Social Farming impulse in Ireland, as<br />
it does in the support of the biodynamic impulse. One<br />
of the day services is an integrated Arts collective and<br />
college which attracts a lot of positive publicity in the<br />
press and television and travels widely both nationally<br />
and internationally.<br />
In this short over-view, suffice it to say that many Communities<br />
are actively involved in their own local community<br />
and are often recognised as being a significant<br />
element in the vitality of that local community – the<br />
Social Magic of the person with special needs! Often<br />
we are aware of the spark of creativity flying between<br />
the two, apparently irreconcilable polarities, of statutory<br />
compliance and human community endeavour!<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
51
Berichte | Reports<br />
Israel<br />
Israel<br />
Die anthroposophische heilpädagogische Arbeit in Israel<br />
begann 1969 mit der Gründung von zwei kleinen Internaten:<br />
Beit Eliahu im Süden des Landes und Beit Uri im<br />
Norden. 47 Jahre später sind die aktiven Einrichtungen<br />
auf diesem Gebiet die folgenden:<br />
• Beit Uri, eine zusammengeschlossene Einrichtung in<br />
Afula mit 97 erwachsenen Bewohnern, fünf erwachsenen<br />
Tagesteilnehmern, 15 Internatsschülern und<br />
20 Tagesschülern.<br />
• Kfar Rafael (1981 gegründet), eine Dorfgemeinschaft in<br />
Be'er Sheva mit 52 Bewohnern, einige von ihnen ehemalige<br />
Schüler von Beit Eliahu.<br />
• Tuvia (1993 gegründet), eine Schulgemeinschaft für gefährdete<br />
Kinder und Jugendliche, innerhalb des Kibbuz<br />
Harduf, mit 60 Schülern im Alter von 6-18 Jahren.<br />
• Beit Elisha (1995 gegründet), eine sozialtherapeutische<br />
Gemeinschaft mit über 60 Bewohnern, innerhalb<br />
des Kibbuz Harduf und in der Umgebung.<br />
• Hadvir Hachadash (2003 gegründet), eine Tagesschule<br />
in Jerusalem mit 26 Schülern im Alter von 8-17 Jahren.<br />
Insgesamt ist die allgemeine Situation der heilpädagogischen<br />
Bewegung in Israel stabil mit verlässlicher öffentlicher<br />
und staatlicher Unterstützung. Es wird jedoch<br />
zunehmend schwierig, grössere Entwicklungen anzukurbeln,<br />
zu vollenden und neue Unternehmungen zu gründen.<br />
Einige bedeutende Herausforderungen in unserem<br />
Arbeitsfeld scheinen gegenwärtige zu sein:<br />
Ausbildung<br />
Die Gründergeneration hatte ihre berufliche Ausbildung<br />
und praktische Erfahrung in etablierten Zentren im Ausland.<br />
Im Lauf der Jahre hat es mehrere Versuche gegeben,<br />
Seminare in Israel zu gründen, gegenwärtig gibt es<br />
aber nur Einführungskurse vor Ort. Eine neue Unternehmung<br />
in Zusammenarbeit mit einem staatlichen Lehrerseminar<br />
in Jerusalem ist vor kurzem eingeleitet worden.<br />
Generationenwechsel<br />
Die Mehrheit der ursprünglichen Gründer erreichen nun<br />
das Pensionsalter oder sind schon darüber hinaus. Viele<br />
von ihnen bleiben eng verbunden, sind weiter involviert<br />
und leisten auf verschiedene Weise einen Beitrag, es ist<br />
The established anthroposophical curative work in Israel<br />
began in 1969 with the founding of two small<br />
boarding schools: Beit Eliahu in the south of the country<br />
and Beit Uri in the north. 47 years later, the active<br />
institutions in this field are the following:<br />
• Beit Uri, a combined institution in Afula with 97<br />
boarding adult residents, 5 day adults, 15 boarding<br />
pupils and 20 day pupils.<br />
• Kfar Rafael (est. 1981), a village community in Be'er<br />
Sheva with 52 residents, some of whom are former<br />
pupils of Beit Eliahu.<br />
• Tuvia (est. 1993), a school community for children<br />
and youngsters at risk, within Kibbutz Harduf, with<br />
60 pupils aged 6-18.<br />
• Beit Elisha (est. 1995), a social therapy community<br />
with over 60 residents, within Kibbutz Harduf and in<br />
the vicinity.<br />
• Hadvir Hachadash (est.2003), a day school in Jerusalem<br />
with 26 pupils aged 8-17.<br />
All in all, the general situation of the curative movement<br />
in Israel is stable with reliable public and state<br />
support. However, to generate and accomplish major<br />
developments and to establish new ventures seems<br />
to be increasingly difficult. Some current substantial<br />
challenges in our field of work seem to be:<br />
Training<br />
the founding generation had their professional training<br />
and practical experience in established centres<br />
abroad. Over the years there have been several attempts<br />
at establishing full seminars in Israel, but to<br />
date there are only introduction courses available locally.<br />
A new venture of collaboration with a state teachers'<br />
seminar in Jerusalem has recently been initiated.<br />
Generation change<br />
The majority of the original founders are now reaching<br />
pension age, or are already beyond it. Many of<br />
them remain close and continue their involvement<br />
and contribution in various ways, but it is not easy<br />
to find young responsible staff members who will be<br />
dedicated to this work as a mission for life. The lack<br />
52
Berichte | Reports<br />
jedoch nicht einfach, junge verantwortliche Mitarbeitende<br />
zu finden, die sich dieser Arbeit als Lebensaufgabe<br />
widmen wollen. Das Fehlen von ausreichenden örtlichen<br />
Ausbildungsgelegenheiten macht die Lage noch schwieriger,<br />
da wenige Personen – und noch viel weniger Familien<br />
– bereit sind, einige Jahre ins Ausland zu gehen;<br />
wenn sie es doch tun, kommen sie nicht immer zurück<br />
,um der Arbeit hier beizutreten.<br />
Unverbindliche Zusammenarbeit zwischen den<br />
Zentren<br />
Obwohl wir ein Bewusstsein voneinander haben und es<br />
viele warme persönliche Verbindungen gibt, besteht kein<br />
etablierter nationaler Verband der heilpädagogischen<br />
Zentren; in den letzten zwei Jahrzehnten hat es auch<br />
keine nationale Tagungen gegeben, wo Mitarbeitende<br />
sich hätten treffen und Gespräche führen können. Angeblich<br />
wegen begrenzter Zeit und Energie widmet sich<br />
jeder Platz voll seinen eigenen Herausforderungen vor<br />
Ort, darunter auch die Verbindung mit anderen anthroposophischen<br />
Initiativen in der Umgebung. Hoffentlich<br />
wird sich die landesweite Zusammenarbeit irgendwann<br />
fortsetzen und ihre unverzichtbare Rolle im Leben der<br />
Bewegung erfüllen.<br />
Zunehmende staatliche administrative und rechtliche<br />
Anforderungen<br />
Wie auch in anderen westlichen Ländern, macht der<br />
Staat Israel zunehmende regulative Auflagen in Bezug<br />
auf die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen, deren<br />
Rechte und Pflegebedingungen, geltend. Dies hat seine<br />
positiven Seiten, indem es uns auffordert, uns professioneller<br />
zu verhalten (im herkömmlichen Sinn), vorurteilsloser<br />
und mit der Welt verbundener zu sein. Gleichzeitig<br />
stehen wir vor der Herausforderung, nicht nur das lebendige<br />
Wesen unserer Lebens- und Arbeitsart zu erhalten,<br />
sondern auch zu lernen, wie wir es den mit uns arbeitenden<br />
staatlichen Beamten in einer Weise kommunizieren,<br />
dass es verständlich und nachvollziehbar wird. Es ist<br />
immer wieder eine bewegende Erfahrung, wie staatliche<br />
Beamte allmählich ihre Ansichten und Überzeugungen<br />
in der Zusammenarbeit ändern, eine warme und flexible<br />
Herzgesinnung mit Bezug auf unsere Arbeit bilden und<br />
keine Mühe scheuen, die «Formel» zu finden, die uns inof<br />
adequate local training opportunities adds to this<br />
difficulty, since fewer individuals – let alone families<br />
– are prepared to go abroad for a few years, and if<br />
they do, they do not necessarily come back to join the<br />
work here.<br />
(Lack of) inter-centre collaboration<br />
Though we are aware of each other and there are many<br />
warm personal connections, there is no established<br />
national association of curative centres; neither have<br />
there been, over the past two decades, any national<br />
conferences where staff members could have met and<br />
conversed. Apparently due to limited time and energy,<br />
each place is fully dedicated to its local challenges,<br />
including connections with other anthroposophical<br />
initiatives in their vicinity. Hopefully nationwide collaboration<br />
will eventually resume and fulfil its vital role<br />
in the life of the movement.<br />
Increasing state administrative and legal<br />
demands<br />
Similarly to other countries in the West, the state of<br />
Israel enforces more and more regulatory demands regarding<br />
disabled persons, their rights and care conditions.<br />
This has its positive sides, urging us to be more<br />
professional (in the usual meaning), open-minded<br />
and connected to the outer world. At the same time,<br />
we are therefore faced with the challenge not only<br />
to maintain the living essence of our way of life and<br />
work, but also to learn how to present it to the state<br />
officials working with us in such a way that they can<br />
relate to it and accept it, despite their understandable<br />
inability to fully comprehend it. It is moving to experience<br />
again and again how state officials gradually<br />
change their views and convictions during their work<br />
with us, form a warm and flexible heart-attitude to<br />
our way of life and go out of their way to find the<br />
‹formulas› that can accommodate us within the increasingly<br />
rigidifying ‹forest› of regulations. We are very<br />
grateful for this, though there is no certainty how long<br />
it will last.<br />
Security and inter-ethnic tensions<br />
Unfortunately peace in our region is not around the<br />
corner yet and each spell of warfare has an immediate<br />
and challenging effect on our daily life. From 2006 to<br />
2014 there were four major rounds of violence when<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
53
Berichte | Reports<br />
Foto: Raffaela Brambilla<br />
nerhalb eines sich zunehmend verfestigenden Systems<br />
unterbringen kann. Wir sind sehr dankbar dafür, obwohl<br />
es keine Sicherheit gibt, wie lange es andauern wird.<br />
Sicherheit und ethnische Spannungen<br />
Leider liegt der Frieden in unserer Region noch nicht<br />
gleich um die Ecke und jede Kriegsphase hat eine sofortige<br />
und herausfordernde Wirkung auf unser tägliches<br />
Leben. Von 2006 bis 2014 gab es vier grosse Runden<br />
der Gewalt, als mehrere Wochen lang Raketen und Bomben<br />
in der Umgebung unserer Einrichtungen abgeschossen<br />
wurden. Glücklicherweise wurde keines der Zentren<br />
direkt getroffen, aber diese Zwischenfälle verursachen<br />
tiefe Angst sowie erhebliche Mühsal, so z.B. die Einschränkung<br />
der täglichen Routine, Schwierigkeiten,<br />
Freiwillige aus dem Ausland anzuwerben und in einigen<br />
Fällen die Notwendigkeit, die Bewohner einige Wochen<br />
lang an sicherere Orte zu evakuieren. Hoffentlich wird<br />
sich ein Bewusstsein für die Sinnlosigkeit, mit Gewalt<br />
Probleme zu lösen, auch in unserer Region durchsetzen,<br />
so wie es in Europa vor 70 Jahren geschah.<br />
Wie jedoch schon erwähnt, ist die Gesamtlage der<br />
Zentren in Israel gut und erfolgreich. Wir sind dafür<br />
dankbar und freuen uns, wenn Menschen aus der Bewegung<br />
weltweit ihr berufliches Wissen und ihre Erkenntnisse<br />
mit uns teilen.<br />
rockets and bombs were fired around our centres for<br />
several weeks. Fortunately non of the centres suffered<br />
a direct hit , but these incidents cause deep anxiety as<br />
well as various considerable hardships such as limitations<br />
on daily routine, difficulty to recruit volunteers<br />
from abroad and in some cases the need to actually<br />
evacuate the population to quieter and safer places<br />
for a period of some weeks. Hopefully the awareness<br />
of the futility and absolute impracticality of violence<br />
as a means to solve problems will be recognised come<br />
in our area, as it was in Europe 70 years ago.<br />
However, as already mentioned, the overall situation<br />
of the Israeli centres is good and thriving. We are<br />
grateful for it and welcome people from around the<br />
worldwide movement to share with us their professional<br />
knowledge and insights.<br />
Yiftach Ben Shalom, Kfar Rafael<br />
Reuven Shaliv, Harduf<br />
Translation from English: Christian von Arnim<br />
54
Berichte | Reports<br />
Italien<br />
Italy<br />
In Italien gibt es acht heilpädagogische Einrichtungen<br />
und Initiativen, vier ambulante heilpädagogische Praxen,<br />
elf an Waldorfschulen angeschlossene heilpädagogische<br />
Gruppen und zwei Ausbildungsstätten.<br />
Die Heilpädagogik<br />
Infolge des Inklusionsgesetzes aus dem Jahr 1971 sind in<br />
Italien heilpädagogische Einrichtungen und Sonderklassen<br />
verboten. Nur einige kleinere Werkstätten und Arbeitsgruppen<br />
für behinderte Kinder in staatlichen oder privaten<br />
Schulen oder auch in Beratungszentren konnten weiterhin<br />
bestehen. Es gibt etwa elf Waldorfschulen in ganz Italien,<br />
die eine heilpädagogische Initiative begleiten, doch es besteht<br />
immer wieder die Gefahr, dass Anklage wegen der<br />
Führung «unerlaubter Sonderklassen» erhoben wird, wie<br />
jüngst an einer Mailänder Waldorfschule.<br />
Das Interesse für die anthroposophische Heilpädagogik<br />
wächst in den letzten Jahren kontinuierlich. Viele Studierende<br />
besuchen zurzeit die zwei anthroposophischen<br />
heilpädagogischen Seminare in Italien, zu den Tagungen<br />
melden sich Teilnehmende aus ganz Italien an und die<br />
Nachfrage für Beratungen ist stark gewachsen.<br />
Einen frischen Impuls hat die vor fünf Jahren neu gegründete<br />
«Associazione per la Pedagogia Curativa e<br />
Socioterapia Antroposofiche» (Gesellschaft für die Anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie in<br />
Italien) gebracht, um ein Netz zwischen allen schulischen<br />
heilpädagogischen Initiativen aufzubauen. Es<br />
wurde eine Koordinationsgruppe ins Leben gerufen, die<br />
sich jeden zweiten Monat trifft und die die gemeinsame<br />
Arbeit der heilpädagogischen und der soziotherapeutischen<br />
Institutionen unterstützt, indem regelmässige<br />
Tagungen und Weiterbildungen organisiert sowie Öffentlichkeitsarbeit<br />
betrieben werden.<br />
Ein wichtiges Element brachte kürzlich der Wissenschaftler<br />
Pietro Crispiani mit seinem Buch «Storia della pedagogia<br />
speciale» (Geschichte der Sonderpädagogik) ein,<br />
in dem neben der Biografie mehrerer wichtiger Pädagogen<br />
auch Karl König aufgeführt wird.<br />
Die Sozialtherapie<br />
Die anthroposophische Sozialtherapie wird in den kleinen<br />
Kreisen, in denen sie praktiziert wird, sehr ge-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
There are eight centres and initiatives for curative education<br />
in Italy, four day-care practices, eleven special<br />
needs groups that are affiliated to Waldorf schools,<br />
and two training centres.<br />
Curative education<br />
As a result of the 1971 inclusion act separate special<br />
needs classes or schools are not permitted in Italy. The<br />
only places that have survived are a few smaller workshops<br />
and work groups for children with disabilities in<br />
state or private schools or consultation centres. In the<br />
whole of Italy, there are around eleven Waldorf schools<br />
supporting curative education initiatives, but they are<br />
in constant danger of being sued for running “unauthorized<br />
special classes”, as happened recently at one<br />
of the Milan Waldorf Schools.<br />
And yet: interest in anthroposophical curative education<br />
has been growing continuously in recent years, the<br />
two training courses for curative teachers in Italy are<br />
well attended, interested people come from all over<br />
the country to attend specialist conferences and there<br />
is an ever growing demand for consultations.<br />
With the foundation, five years ago, of the Association<br />
for Anthroposophical Curative Education and Social<br />
Therapy in Italy (Associazione per la Pedagogia Curativa<br />
e Socioterapia Antroposofiche) new impulses were<br />
introduced to create a network of all special needs<br />
initiatives. A coordinating group was formed which<br />
meets bi-monthly and supports the joint efforts of the<br />
curative education and social therapy centres by organizing<br />
regular conferences and further training events<br />
as well as by promoting their public image.<br />
The scientist Pietro Crispiani made an important contribution<br />
recently in publishing a history of special<br />
needs education (Storia della pedagogia speciale)<br />
which includes biographies of Karl König and other<br />
important educationists.<br />
Social therapy<br />
Anthroposophical social therapy is highly valued in<br />
the small circles where it is practised, but nationally it<br />
is of little importance. The few social therapy centres<br />
in Italy are medium-sized or small. They have grown<br />
55
Berichte | Reports<br />
schätzt, doch auf nationalem Niveau hat sie nur eine<br />
minimale Bedeutung. Die wenigen sozialtherapeutischen<br />
Einrichtungen in Italien sind mittelgross bis klein.<br />
Sie sind langsam gewachsen und haben in der Regel<br />
kein Sonderdasein, das heisst, es ist ihnen gelungen,<br />
im Laufe der Zeit eine Anerkennung und die nötige Akkreditierung<br />
zu erhalten. In der Regel brauchen sie mehr<br />
ökonomische Unterstützung, um die Qualität der Arbeit<br />
zu gewährleisten und jede Einrichtung ist mit einer ständigen<br />
Suche nach Finanzen beschäftigt.<br />
In den letzten Jahren konnte mehr Kontakt und Austausch<br />
miteinander gewonnen werden.<br />
Gesellschaftliche Aspekte<br />
Information und Verbreitung durch Tagungen<br />
Die «Gesellschaft für Heilpädagogik und Soziotherapie<br />
in Italien» hat im Januar 2014 zusammen mit der SIMA<br />
(Gesellschaft anthroposophischer Ärzte in Italien) eine<br />
Tagung zum Thema: «Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
als Impulse für eine individuelle und soziale Verwandlung»<br />
veranstaltet. Diese Tagung wurde von etwa 200<br />
Menschen besucht und brachte einen neuen Impuls in<br />
der Beziehung und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen<br />
Einrichtungen.<br />
In April 2014 wurde dann am Institut für Allgemeine Pädagogik<br />
der Universität in Rom eine Tagung veranstaltet<br />
zum Thema «Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
nach 90 Jahren Erfahrung». Diese Tagung<br />
war ein wichtiger Meilenstein im Dialog mit der akademischen<br />
Welt und wurde von den Studierenden mit Interesse<br />
und grosser Aufmerksamkeit verfolgt. Trotzdem wird<br />
es noch ein weiter Weg sein, als qualifizierte Stimme in<br />
Fachkreisen gehört zu werden oder Ansprechpartner für<br />
die akademische Welt zu sein.<br />
Zurzeit stehen vor allem die sozialtherapeutischen Einrichtungen<br />
in Italien, möglichst auch mit nicht-anthroposophischen<br />
Einrichtungen, mit der Vorbereitung und<br />
Veranstaltung einer Tagung über und mit behinderten<br />
Menschen vor einer grossen Herausforderung.<br />
Wirkungen der anthroposophische Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
In Kreisen, die sich mit der Thematik von Behinderung<br />
beschäftigen, wurden gewisse sozialtherapeutische Impulse<br />
aufgenommen, doch es ist bisher nicht wirklich<br />
gelungen, das Spezifische des anthroposophischen<br />
Menschenbildes verständlich zu machen. Die kleinen sozialtherapeutischen<br />
Einrichtungen sind langsam stabiler<br />
Blick aus dem Fenster | A view out of the window<br />
slowly and have, over the years, acquired recognition<br />
and the obligatory accreditation. They usually need<br />
more financial support in order to guarantee quality<br />
provision and each centre is permanently and actively<br />
trying to raise funds.<br />
Contact and exchange between the institutions have<br />
grown in recent years.<br />
Information and dissemination through conferences<br />
In January 2014, the association for curative education<br />
and social therapy in Italy organized a conference<br />
in collaboration with SIMA (Italian society of physicians),<br />
entitled ‹Curative education and social therapy<br />
as impulses for individual and social change›. Around<br />
200 people attended this conference which gave fresh<br />
impetus to the relationship and cooperation between<br />
the various centres.<br />
In April 2014 a conference was held by the Institute for<br />
General Education at Rome University on the topic of<br />
‹90 years of experience in Anthroposophical Curative<br />
Education and Social Therapy›. This conference was an<br />
important milestone in our dialogue with academe and<br />
drew much interest from the students. Nevertheless,<br />
we are a long way from being perceived as a qualified<br />
voice in the field or from having our approach become<br />
a point of reference for the academic community.<br />
At present all social therapy centres in Italy, and possibly<br />
non-anthroposophical institutions too, are facing<br />
the challenge of preparing a conference on, and including,<br />
people with special needs.<br />
56
Berichte | Reports<br />
geworden, aber sie haben es nicht geschafft, den Funken<br />
für neue Initiativen zu bilden und für eine Verbreitung<br />
der Bewegung zu sorgen.<br />
Für die anthroposophische Bewegung in Italien, die<br />
gelegentlich mit Spannungen und internen Konflikten<br />
zu kämpfen hat, leisten die heilpädagogischen und<br />
sozialtherapeutischen Initiativen mit ihrem grundlegenden<br />
Prinzip der sozialen Arbeit einen stillen, aber<br />
wichtigen und dauerhaften Beitrag zur Lösung der<br />
Probleme und Schwierigkeiten.<br />
The effects of anthroposophical curative education<br />
and social therapy on society<br />
Certain aspectes of social therapy have been well received<br />
in circles that are concerned with the question<br />
of special needs, but it has so far not been possible to<br />
really demonstrate what is special about the anthroposophical<br />
image of the human being. The small social<br />
therapy centres are gradually gaining greater stability,<br />
but have been unable to spark interest in new initiatives<br />
or further the dissemination of the movement.<br />
Within the anthroposophical movement in Italy, which<br />
occasionally struggles with tensions or internal conflicts,<br />
the initiatives for curative education and social therapy<br />
with their fundamental social orientation, contribute in<br />
a modest but important and consistent way to the solving<br />
of problems and overcoming of difficulties.<br />
Raffaela Brambilla, Milano<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Interview Maria Giorgia Ramunni<br />
Maria Giorgia Ramunni (1989) finished her studies in Milan at the ‹Accademia di Belle<br />
Arti di Brera›.<br />
During her time at university she enrolled in a three-year training in Waldorf education<br />
and in 2015 she started the anthroposophical special needs and social therapy<br />
training in Verona. She is pursuing her artistic research and working in a curative education<br />
group in a Waldorf school of Milan.<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie sind für mich eine<br />
Lebensart. Sie sind Wege, das Leben zu betrachten<br />
und zu führen, die einem jeden Tag helfen, ein<br />
besserer Mensch zu werden und seine Grenzen<br />
zu überwinden. Sie sind eine Form von Selbsterziehung.<br />
Mit Rudolf Steiners meditativen Übungen<br />
lerne ich die Welt in einer objektiveren Weise<br />
wahrzunehmen und das Streben, das jedes Kind<br />
mit sich bringt, zu erkennen.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
First of all, in my opinion anthroposophical curative<br />
education and social therapy are a way of life.<br />
They represent special ways to see and live your<br />
life which help you every day to become a better<br />
person and to surpass your limits. They are a<br />
form of self-education. Thanks to Rudolf Steiner's<br />
meditative exercises, I am learning to perceive the<br />
world in a more objective way and in particular to<br />
acknowledge the quest that each child brings.<br />
57
Interview<br />
Mein persönliches Interesse an der Heilpädagogik<br />
begann während meiner Ausbildung zur Waldorflehrerin.<br />
Durch ein Praktikum in der heilpädagogischen<br />
Gruppe einer Waldorfschule in Mailand<br />
konnte ich die Grundlagen der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik vertiefen. Die beste Art, sich<br />
der Konstitution eines Kindes zu nähern, ist in sich<br />
einen inneren Raum zu schaffen. Anthroposophische<br />
Heilpädagogik erlaubt die Anwendung vieler<br />
Lehrmaterialien und fördert damit die natürlichen<br />
Prozesse des Kindes.<br />
Die Anerkennung des menschlichen Wesens sollte<br />
der wesentliche Aspekt von Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
sein: Aus einer solchen Sicht werden<br />
Schwierigkeiten nicht als Einschränkungen gesehen,<br />
sondern als Ausgangspunkt. Jeder hat das<br />
Recht so zu sein, wie er ist. Pädagogen sollten den<br />
Impuls aufgeben, die Kinder zu korrigieren und zu<br />
verändern. Ihre Rolle ist das gemeinsame Tun, die<br />
vom Kind benötigte Betreuung zu erkennen und<br />
anzubieten. Kinder haben somit die Gelegenheit,<br />
mit der Welt in Beziehung zu treten, dem anderen<br />
im täglichen Rhythmus und sogar in jeder kleinen<br />
bedeutungsvollen Tat zu begegnen.<br />
In Italien wäre die beste Unterstützung der Heilpädagogik<br />
die formelle Anerkennung durch die Behörden<br />
und den italienischen Staat. Es wäre sehr<br />
positiv, in der italienischen Bevölkerung allgemein<br />
grössere Sensibilität und mehr Interesse zu schaffen,<br />
aber besonders auch bei den Behörden und<br />
den Waldorf-Einrichtungen.<br />
The best way to receive each child and to come<br />
closer to its constitution is to create an inner<br />
space within me. Curative education allows me<br />
to use all the teaching materials in order to<br />
support the organic processes of the child. This<br />
aspect is really important.<br />
My personal interest in anthroposophical curative<br />
education began during my teacher training<br />
in Waldorf education. For my practice placement<br />
I picked a special needs group in a Waldorf<br />
school in Milan, one of the first schools in Italy<br />
to have hosted curative education groups which<br />
has done so for a long time. This joyful choice<br />
has given me the possibility to go deep into the<br />
matter, starting work as an assistant to the class<br />
teacher, a role for which I feel so thankful.<br />
The respect for the essence of each child should<br />
be the central aspect of a curative education<br />
path: in such a way difficulties are not seen as<br />
limits but as starting points. I think that everyone<br />
has the right to be as they are. Educators<br />
should give up the impulse of correcting<br />
and changing the children they have in front<br />
of them. Their role is that of “doing together”,<br />
of offering the care children need, of caressing<br />
their souls. Anthroposophical curative education<br />
gives us great help: the children have the opportunity<br />
to learn to relate to the world – encountering<br />
the other – through daily rhythm and<br />
even through every little act which becomes full<br />
of meaning.<br />
In Italy, the best support for anthroposophical curative<br />
education would be its formal recognition by<br />
the political authorities and the Italian state. This<br />
would be extremely positive in creating greater<br />
sensitivity and interest within the Italian population<br />
in general, but in particular among the authorities<br />
and also Waldorf institutions, helping them<br />
to become more aware of this kind of reality. Tr<br />
Tanslation from English: Christian von Arnim<br />
58
Berichte | Reports<br />
Kirgistan<br />
Kyrgyzstan<br />
Das Kinderzentrum Nadjeschda für Kinder mit Behinderungen<br />
wurde 1989, noch zu Zeiten der Sowjetunion, gegründet.<br />
Heute besteht das Kinderzentrum Ümüt-Nadjeschda<br />
aus einem Netzwerk verschiedener Einrichtungen:<br />
Eine Kindergartengruppe für Kinder mit schweren Behinderungen<br />
mit 15 Kindern, fünf inklusive Kindergartengruppen,<br />
in denen insgesamt 84 Kinder betreut werden,<br />
vier Schulgruppen (30 Kinder), eine Werkstufengruppe<br />
(9 Kinder), drei therapeutische Werkstätten (15 Kinder)<br />
und zwei Wohngruppen (30 Kinder).<br />
In einem heilpädagogischen Seminar befinden sich derzeit<br />
30 Studierende in Ausbildung.<br />
Nadjeschda ist darüber hinaus mit einem Netzwerk von<br />
Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderungen<br />
verbunden, die mit Unterstützung des Kinderzentrums<br />
oder durch ehemalige Eltern und Mitarbeiter<br />
aufgebaut wurden, wie beispielsweise die Lebensgemeinschaft<br />
Manas.<br />
Die Lage der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in Kirgistan<br />
Nach vielen Jahren grosser Schwierigkeiten ist das Kinderzentrum<br />
Ümüt-Nadjeschda ein Modellprojekt geworden.<br />
Rosa Otunbajeva, die als junge Politikerin 1989 die<br />
Gründung von Nadjeschda ermöglichte, hat in ihrer Funktion<br />
als UNESCO-Kommissarin der UdSSR die Aufnahme<br />
des Nadjeschda Zentrums in das UNESCO-Schulprojekt<br />
befürwortet. Dadurch wurde die kleine Nadjeschda<br />
Schule die erste Waldorfschule, die als «participating<br />
institution in the Unesco Associated Schools Project in<br />
Education for International Co-operation and Peace» aufgenommen<br />
wurde. So kam es, dass Kinder mit Behinderungen<br />
auch anderen Kindern in Kirgistan einen Zugang<br />
zur Waldorfpädagogik ermöglicht haben. Heute gibt es<br />
hier neben der staatlich anerkannten Ausbildung zum<br />
Heilpädagogen auch eine staatlich anerkannte Ausbildung<br />
zum Waldorflehrer und zur Waldorferzieherin.<br />
Trotz der offiziellen Anerkennung der Waldorfpädagogik<br />
und anthroposophischen Heilpädagogik durch den kirgisischen<br />
Staat geniessen die Einrichtungen keine finanzielle<br />
Unterstützung. So ist die gesamte Arbeit bis heute<br />
nur dank der Spenderinnen und Spender aus Kirgistan,<br />
dem Ausland und durch spezielle Projekte möglich.<br />
The Nadezhda centre for children with special needs<br />
was founded in 1989, when Kyrgyzstan was still part<br />
of the Soviet Union. Today, the Umut-Nadezhda<br />
children's centre consists of a network of different<br />
establishments:<br />
A kindergarten group for 15 children with severe disabilities,<br />
five inclusive kindergarten groups where 84<br />
children are supported, four school groups (30 children),<br />
one workshop group (9 children), three therapeutic<br />
workshops (15 children) and two residential groups<br />
(30 children).<br />
There is also a curative education seminar with currently<br />
30 students. Furthermore, Nadezhda is part of a<br />
network of centres for adults with learning disabilities<br />
(for instance the Manas community), which were set<br />
up with the assistance of the children's centre and of<br />
former parents and staff.<br />
The current situation of curative education<br />
and social therapy in Kyrgyzstan<br />
After many difficult years, the Umut-Nadezhda<br />
children's centre has grown into a model project.<br />
Rosa Otunbayeva who, as a young politician in 1989,<br />
enabled the founding of Nadezhda, used her position<br />
as UNESCO commissioner of the USSR to approve<br />
the inclusion of the Nadezhda centre in the UNESCO<br />
school project, thereby making the little Nadezhda<br />
school the first Steiner School to become a ‹participating<br />
institution› in the ‹UNESCO Associated Schools<br />
Project in Education for International Cooperation and<br />
Peace.› This is how it came about that children with<br />
special needs enabled access to Waldorf education for<br />
other children in Kyrgyzstan. Today there are several<br />
state-recognized Waldorf teacher and educator training<br />
courses as well as state-recognized curative education<br />
training.<br />
Although Waldorf education and anthroposophical<br />
curative education are now recognized by the state,<br />
the centres and communities do not receive state funding.<br />
This means that all the work we have done up<br />
until now has been made possible by donors in Kyrgyzstan<br />
and abroad and through specific projects.<br />
Over the last few years important developments and<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
59
Berichte | Reports<br />
Klassenspiel | Drama Production<br />
Zentrale Entwicklungen und Ereignisse der letzten<br />
Jahre waren der Ausbau des Beratungszentrums «Podero»,<br />
in dem Kinder und Eltern Hilfe finden können<br />
sowie der Aufbau des kulturellen und inklusiven Treffpunktes<br />
im Janusz Korczak Zentrum.<br />
Zukünftige Aufgaben<br />
Ein nächster Schritt besteht in der Entwicklung von Modellen<br />
zur Inklusion, die das Kinderzentrum Ümüt-Nadjeschda<br />
gemeinsam mit der Stiftung von Rosa Otunbajeva,<br />
die als Präsidentin von Kirgistan die UN-Konvention über<br />
die Rechte für Menschen mit Behinderungen unterschrieben<br />
hat, anstrebt.<br />
Fachlich beschäftigen uns vor allem Fragen zur individuellen<br />
Förderung und Wahrnehmung von Kindern mit<br />
mehrfachen Behinderungen und die Bearbeitung dieser<br />
Fragen mit den Studierenden im Seminar.<br />
Einen wichtigen Beitrag für die anthroposophische Bewegung<br />
sehen wir in der über viele Jahre gefestigten Erfahrung<br />
der Entstehung eines geistigen Raumes durch die<br />
gemeinsame und regelmässige Arbeit an der «Philosophie<br />
der Freiheit», der selbst in den zwei Bürgerkriegen nicht zerstört<br />
werden konnte.<br />
events include the expansion of the Podero Consultation<br />
Centre where children and parents can find help<br />
and support, and the founding of the Janusz Korczak<br />
Centre, an inclusive cultural institution.<br />
Tasks for the future<br />
The next step is to continue with the development of inclusion<br />
models, an endeavour that the Umut-Nadezhda<br />
Centre shares with the Foundation of Rosa Otunbayeva<br />
who, as Kyrgyzstan’s president, has signed the UN Convention<br />
on the Rights of Persons with Disabilities.<br />
Internally we are studying ways of perceiving and<br />
supporting the individual children with multiple disabilities<br />
and ways of working on the corresponding<br />
questions with the student teachers at the seminar.<br />
We see it as an important contribution to the anthroposophical<br />
movement that we have been able to consolidate<br />
our work over the years and to create, through<br />
our joint and regular work on the ‹Philosophy of Freedom›,<br />
a spiritual space that was strong enough to survive<br />
two civil wars.<br />
Igor Schälike, Kinderzentrum Ümüt-Nadjeshda, Bischkek<br />
Translation from German: Leonard Saar<br />
60
Berichte | Reports<br />
Libanon<br />
Lebanon<br />
Übersicht<br />
Libanon ist eine demokratische Republik am östlichen<br />
Mittelmeer mit einer geschätzten Bevölkerung von fünf<br />
Millionen, welche zahlreiche religiöse Gemeinschaften<br />
einschliesst. Das kulturelle und sprachliche Erbe des libanesischen<br />
Volks ist eine Mischung von einheimischen<br />
Elementen und ausländischen Kulturen, die im Laufe<br />
tausender von Jahren das Land und seine Menschen beherrscht<br />
haben.<br />
Der libanesische Zusammenhang<br />
Das soziale und politische Klima in Libanon stellt eine<br />
grosse Komplexität im Bildungsbereich dar, besonders<br />
in Bezug auf die Einführung neuer Programme. Das grösste<br />
Hindernis einer Entwicklung sind die fehlenden Mittel<br />
angesichts der ständigen politischen, ökologischen<br />
und gesundheitlichen Probleme. Zudem sind die Instabilität<br />
und Unsicherheit eine echte Bedrohung für das Land<br />
insgesamt. Diese Frage der Sicherheit hat eine grundlegende<br />
Wirkung auf unsere Kinder. Wie können wir die in<br />
unsicheren Bedingungen lebenden Schüler schützen? An<br />
erster Stelle, indem wir jeder Form von Aggression widerstehen<br />
und indem wir Liebe und Enthusiasmus betonen.<br />
Zweitens, indem wir die Pädagogen unterstützen, sowie<br />
sie sich in ihrem tiefen menschlichen Auftrag auf den<br />
Weg machen.<br />
Hintergrund von Step-Together<br />
Fehlende Regierungsvorschriften zur Sonderpädagogik<br />
haben es vielen Verbänden ermöglicht, mit einer ganzen<br />
Reihe von Methoden in Erscheinung zu treten. In der<br />
Step-Together-Schule wurden die anthroposophischen<br />
heilpädagogischen Methoden gewählt. Step-Together ist<br />
die erste und einzige Schule in Libanon, die dem Ansatz<br />
Rudolf Steiners folgt. Sie ist eine Non-Profit-Organisation,<br />
die zunächst Fista-Beirut genannt und von Dr. Wali<br />
Merhej 1993 gegründet wurde. Bis jetzt hat unser Verband<br />
über 200 Menschen mit besonderem Förderbedarf<br />
aufgenommen.<br />
Step-Together begann zunächst als Kindergarten und<br />
wuchs dann im Lauf der Jahre zu einer fest etablierten<br />
Schule und Berufsschule für alle Altersgruppen. Unser<br />
Lehrplan, der oft der wachsenden Anzahl der sonderpädagogischen<br />
Bedürfnisse angepasst wird, umfasst<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Overview<br />
Lebanon is a democratic republic in the Eastern Mediterranean<br />
with a population estimated at nearly 5 million,<br />
which includes numerous religious communities.<br />
The cultural and the linguistic heritage of the Lebanese<br />
people is a blend of both indigenous elements and foreign<br />
cultures that have come to rule the land and its<br />
people over the course of a thousand years.<br />
The Lebanese Context<br />
The social and the political climates in Lebanon present<br />
a major complexity in the educational field particularly<br />
for the initiation of new schemes. Due to constant political,<br />
environmental and health issues, lack of funds<br />
and resources remain the major barriers for our development,<br />
while instability and insecurity continue<br />
to be a solid threat for the country as a whole. From<br />
another angle, security being a fundamental necessity<br />
affects our children. How can we shield those students<br />
living in unsafe conditions as they do? Primarily,<br />
by withstanding any form of aggression, and above all<br />
by emphasizing love and enthusiasm. Secondarily, by<br />
supporting educators as they embark on their mission<br />
as a deeply human one.<br />
Step Together Background<br />
Strong deficits in government directives in relation to<br />
special education have allowed many associations to<br />
emerge, following a whole range of methodologies. At<br />
Step Together School, we have chosen the anthroposophical<br />
curative education methods. Step Together is<br />
the first and only school in Lebanon that follows the<br />
principles of Rudolf Steiner. It is a non-profit organization<br />
initially known as Fista-Beirut founded by Dr. Wali<br />
Merhej in 1993. To date, our association has enrolled<br />
over 200 individuals with special needs.<br />
Step Together started first as a kindergarten and grew<br />
over the years to become what it is today, a well-established<br />
school and vocational college for all ages. Our<br />
curricular model, often customized to match the current<br />
growing number of special needs, covers early<br />
intervention programmes to more developed craftbased<br />
programmes, which suits adults’ skills, too. Most<br />
of our students come from a poor socio-economic<br />
61
Berichte | Reports<br />
Frühförderkonzepte sowie mehrere handwerklich-basierte<br />
Programme, die auch für die Fähigkeiten von Erwachsenen<br />
passend sind. Die meisten Schüler kommen<br />
aus einer schlechten sozioökonomischen Situation und<br />
brauchen dringend unsere Hilfe. Mit der gemeinnützigen<br />
Arbeit leisten wir unsere Aufgabe mit Hingabe und Engagement.<br />
Wir haben das Vertrauen, dass die uns nachfolgenden<br />
Generationen diesen Geist übernehmen und<br />
sie die Fähigkeit zur weiteren Entwicklung mitbringen<br />
werden.<br />
Heilpädagogik in Step-Together<br />
Der Ansatz der anthroposophischen Heilpädagogik trat<br />
im Westen nach dem ersten Weltkrieg als eines der<br />
praktischen Felder der Anthroposophie auf und nach<br />
dem Brand des ersten Goetheanums hatte Rudolf erklärt:<br />
«Viel Arbeit und lange Jahre». Jetzt, wo wir an der<br />
Reihe sind nach einer dreissigjährigen Reise voller Unsicherheiten<br />
und Instabilität, sagen auch wir: «Viele, viele<br />
Leben, viel, viel Arbeit, aber immer, immer ein starker<br />
Wille». Mit dem Durchhaltevermögen des libanesischen<br />
Volks, seiner positiven Einstellung und Lebensverbundenheit<br />
haben die starken Kräfte des Gebens, Wachsens<br />
und der Pädagogik immer die Gefühle der Trauer,<br />
Angst und Unsicherheit überwunden. Es ist beachtenswert,<br />
dass die Betonung von menschlichen Werten, Gewissenhaftigkeit,<br />
Fürsorge und gegenseitigem Respekt<br />
es jedem Erzieher erlauben, die Herausforderungen und<br />
Schwierigkeiten zu überwinden: «Eine Kerze anzünden<br />
ist besser ,als die Dunkelheit zu verfluchen.»<br />
Heilpädagogisches Modell<br />
Die Heilpädagogik ist ein ganzheitliches Modell. Wir teilen<br />
Erkenntnisse und Erfahrungen und erwerben parallel<br />
dazu auch Werte der Bescheidenheit, die sich auf<br />
Menschlichkeit, Geduld, Toleranz und Respekt beziehen.<br />
Schüler mit Hilfebedarf sind tatsächlich unsere Engel<br />
und in schwierigen Lagen haben sich ihre reinen Seelen<br />
immer als unsere zauberhaften Retter erwiesen. Wir<br />
glauben an unserer Aufgabe, weil Step-Together mehr ist<br />
als ein Lehrplanprogramm: Es ist eine Lebensart-Initiative,<br />
die die geistigen Gemüter stärkt.<br />
Die Rolle des Heilpädagogen<br />
Beim Musizieren | Playing music<br />
Die Rolle des Heilpädagogen ist enorm. «Lehrer sind<br />
grosse Heiler», ein Wort, das in Libanon doppelt relevant<br />
ist. Aus diesem Grund schenken wir der Ausbildung<br />
grosse Aufmerksamkeit, von der alle Lehrer durch Arbackground<br />
and urgently need our support. Through<br />
charity work, we perform a fundamentally loyal mission<br />
that embodies devotion and commitment. We trust<br />
that our successive generations will inherit this beautiful<br />
spirit that will empower them to build, to form<br />
and to make a difference.<br />
Curative Education at Step Together<br />
The principles of curative education came to light in<br />
the West at a critical period of time, after the First<br />
World War, when ideas of anthroposophy resulting<br />
in practical manifestations became tangible and constructive.<br />
In fact, upon the burning down of the first<br />
Goetheanum, Rudolf Steiner commented: ‹much work<br />
and long years›. It is now our turn and despite a journey<br />
that stretches for 30 years and beyond across insecurity<br />
and instability, we say out loud ‹many, many<br />
lives, much, much work, but always, always a strong<br />
will›. With the perseverance of the Lebanese people,<br />
their positive mind sets and their attachment to life,<br />
the great powers to give, to grow and to educate have<br />
always overcome the feelings of grief, fear and insecurity.<br />
It is worth noting that the emphasis on human<br />
values, diligence, care and mutual respect allows every<br />
educator to overcome the challenges and the difficulties<br />
frequently exposed: ‹to light a candle is better<br />
than to curse the darkness.›<br />
Curative Education Model<br />
Curative Education is a holistic model. While we get<br />
involved in this special education by sharing insights<br />
and experiences, in parallel we also acquire humble<br />
62
Berichte | Reports<br />
beitstreffen, Vorträge und Seminare Nutzen ziehen. Eine<br />
strukturierte Ausbildung für Heilpädagogik begann 2006<br />
und wurde 2013 von der Heilpädagogischen Konferenz<br />
akkreditiert. Jedes Jahr arbeiten wir mit internationalen<br />
Ausbildern zusammen, um unsere heilpädagogische<br />
Lehrerausbildung weiter zu verbessern. Dadurch stärken<br />
wir die Fähigkeit der Pädagogen, sich selbst und<br />
den Menschen allgemein besser zu verstehen. Für das<br />
ausführlichere Studium der Anthroposophie wurden<br />
Schulungen für Teilgruppen mit dem Schwerpunkt der<br />
künstlerischen Praxis oder auch spezialisierte Schulungen,<br />
z.B. rhythmische Massage und Heileurythmie, eingerichtet.<br />
Wie geht es weiter?<br />
Mahatma Gandhi hat einmal gesagt, «die Zukunft hängt<br />
ab von dem, was wir in der Gegenwart tun». Diese Worte<br />
veranlassen uns dazu, das Beste aus uns herauszuholen<br />
und uns den kommenden Herausforderungen zu stellen.<br />
Libanon, dieses geliebte Land, leidet traurigerweise weiter<br />
unter der Last einer unendlichen Zahl von Hürden. Mit Mut,<br />
Eifer, Leidenschaft und der richtigen Vorstellung gewinnen<br />
wir die Stärke und Energie, unsere Ziele zu erreichen.<br />
Zu guter Letzt und in Anerkennung der Arbeit Rudolf<br />
Steiners freuen wir uns darauf, eine Auswahl seiner Zitate<br />
mit denjenigen zu teilen, sowohl im Libanon als<br />
auch im Mittleren Osten, die sonst keinen Zugang zu<br />
dieser Gabe hätten. Nachdem sie ins Arabische übersetzt<br />
worden sind, werden sie dann mit verschiedenen<br />
anderen Artikeln über die Heilpädagogik in unserer<br />
Jahreszeitschrift veröffentlicht.<br />
Unsere Aufgabe ist ohne Ende … und wäre ein Ende überhaupt<br />
möglich?<br />
Denn von jedem Berg, den wir erklimmen, öffnet sich ein<br />
neuer verlockender Horizont – ein neuer Ausblick und<br />
zugleich der Impuls neues zu entdecken und zu erobern.<br />
Reem Mouawad, FISTA Association, Mansourieh<br />
Übersetzung ins Deutsche: Christian von Arnim<br />
values related to humanity, patience, tolerance and<br />
respect. Special needs students are indeed our angels<br />
and during difficult circumstances, their pure souls always<br />
proved to be our magical saviours. We strongly<br />
believe in our mission because Step Together goes beyond<br />
the curricular programmes: it is a lifestyle initiative<br />
that strengthens the spiritual minds.<br />
Curative Educators’ Role<br />
The role of curative educators is enormous. ‹Teachers<br />
are great healers›, a saying which is twice as relevant<br />
in Lebanon. For this reason, we give a lot of attention<br />
to training by which all teachers benefit from intensive<br />
workshops, lectures and seminars. Structured training in<br />
curative education began in 2006 and was accredited<br />
by the curative council in 2013. Every year, we collaborate<br />
with international trainers to improve our teacher<br />
training in curative education. By doing this, we empower<br />
educators to become more competent at understanding<br />
themselves and the human being in general.<br />
To study anthroposophy in depth, training programmes<br />
organized for sub-groups were introduced with a focus<br />
on practicing arts such as painting for teachers; a more<br />
specialzed training that includes rhythmical massage<br />
and eurythmy therapy also started in 2015.<br />
What’s Next?<br />
Mahatma Gandhi once said, ‹the future depends on<br />
what we do in the present›. These words cannot but<br />
prompt us to bring out the best in ourselves and to<br />
face the challenges we encounter. Lebanon, this beloved<br />
country, sadly continues to suffer under the burden<br />
of an infinite number of obstacles. Armed with<br />
courage, eagerness, passion and a proper vision, we<br />
gain strength and energy to achieve our goals.<br />
Last but not least and in admiration to Rudolf Steiner’s<br />
work, we look forward to sharing with those who<br />
would otherwise have no access to his gifts, both in<br />
Lebanon and in the Middle East, a selection of one<br />
hundred quotes. After their translation into Arabic,<br />
these will be eventually published with various other<br />
articles on curative education in our annual magazine.<br />
Our mission has no end … and would it be possible<br />
to have one?<br />
For from every new hill we climb, another alluring horizon<br />
appears – a new vista and with it a new impulse<br />
to explore and conquer.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
63
Berichte | Reports<br />
Neuseeland<br />
Hohepa ist ein einzigartiger Dienstleister sowohl in Neuseeland<br />
als auch im anthroposophischen Umfeld. Es befindet<br />
es sich in den Jahren seines Bestehens in einem<br />
ständigen Prozess, ein Gleichgewicht zu finden zwischen<br />
seiner anthropsophischen Ausrichtung der Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie und der neuseeländischen Kultur<br />
mit deren spezifischen sozialen Umgebung. Es ist an vier<br />
weit voneinander entfernten Standorten tätig: Auckland,<br />
Hawkes Bay, Wellington und Christchurch.<br />
Ein neuseeländischer Zusammenhang<br />
Die zunehmend multikulturelle Bevölkerung von Neuseeland<br />
beträgt 4,5 Millionen, davon werden zwei Prozent<br />
als «intellektuell behindert» bezeichnet (Statistics NZ<br />
Disability Survey 2013).<br />
Hohepa ist die einzige Organisation in Neuseeland,<br />
die auf den Grundlagen der Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
arbeitet und ist deswegen einzigartig, weil<br />
es lange vor der Deinstitutionalisierungsbewegung der<br />
siebziger Jahre schon eine Alternative zu den komplexen<br />
Heimkonzepten bot.<br />
Der Keim von dem, was Hohepa werden sollte, wurde<br />
im Mai 1956 gepflanzt. Ein Jahr später wurde die Home<br />
School in Hawke's Bay an der Ostküste der Nordinsel<br />
eröffnet. Im Laufe der Jahre kamen noch eine Farm und<br />
eine Wohngemeinschaft für Erwachsene hinzu. 1965 öffnete<br />
eine Schule in Christchurch (an der Ostküste der Südinsel)<br />
die Türen, die sich später in eine Gemeinschaft für<br />
Erwachsene umwandelte. Hohepa Auckland im oberen<br />
Teil der Nordinsel wurde 1997 gegründet und unterstützt<br />
Erwachsene nach dem Schulabgang. Vor zwei Jahren<br />
startete eine kleine Gemeinschaft für Erwachsene an der<br />
Kapiti Küste an der Westküste der Nordinsel.<br />
Beziehung zur Anthroposophie<br />
Im Laufe der Zeit haben externe und interne Kräfte auf Hohepas<br />
Verhältnis zur Anthroposophie gewirkt. Es treten<br />
immer wiederkehrende Fragen für die Organisation auf:<br />
Was ist Anthroposophie? Wie kommt sie zum Ausdruck?<br />
Warum sollten wir sie pflegen? Brauchen wir sie noch?<br />
Durch die jüngsten organisatorischen Veränderungen sowohl<br />
auf regionaler als auch überregionaler Ebene zeigt<br />
sich starker und positiver Wille, mit diesen Fragen zu arbeiten.<br />
Sie führen zu einer bewussten Anerkennung der<br />
Kerngrundsätze der Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
und regen zur laufenden Entwicklung von Ausbildungs-<br />
New Zealand<br />
Hohepa is a unique provider in both a New Zealand<br />
and an Anthroposophical context. Over the years of<br />
its existence, it has continually navigated a balance<br />
working out of Anthroposophy delivering Curative<br />
Education and Social Therapy (CE and ST) that<br />
fits within New Zealand culture and its specific social<br />
environment. It operates in four locations with large<br />
distances between them: Auckland, Hawkes Bay, Wellington<br />
and Christchurch.<br />
A New Zealand Context<br />
New Zealand's population, which is becoming more<br />
and more multicultural, is currently 4.5 million, of<br />
which two percent are identified as having an intellectual<br />
disability (Statistics NZ disability survey 2013).<br />
Hohepa is the only organization working with the<br />
principles of Curative Education and Social Therapy in<br />
New Zealand. Hohepa was unique in that it offered<br />
an alternative to institutionalization, well before the<br />
deinstitutionalization movement started in the 70s.<br />
The seed of what has become Hohepa was first planted<br />
in May 1956. A year later, the Home School opened<br />
in Hawke's Bay on the east coast of the North<br />
Island; this was added to over some years to include<br />
a farm and residential community for adults. In<br />
1965 a school opened in Christchurch (on the east<br />
coast of the South Island), then evolved into an adult<br />
community. Hohepa Auckland, in the upper North Island,<br />
was established in 1997, supporting adults from<br />
school leaving age onwards. Two years ago, a new<br />
small adult community began on the Kapiti Coast, on<br />
the west coast of the North Island.<br />
Relationship with Anthroposophy<br />
Over time, external and internal forces have had an<br />
effect on Hohepa's relationship with Anthroposophy.<br />
The organisation has experienced recurring questions:<br />
what is Anthroposophy? How does it manifest? Why<br />
cultivate it? Do we still need it?<br />
Recent organisational changes at both regional and<br />
national levels have shown a strong and positive will<br />
towards working with these questions. They are leading<br />
to a conscious recognition of the core principles<br />
of CE and ST and the ongoing development of training<br />
programmes. The organisation as a national entity is<br />
64
Berichte | Reports<br />
programmen an. Die Organisation als überregionales<br />
Unternehmen sucht eine erneute Beziehung zur Anthroposophie,<br />
die eine Antwort auf die spezifischen Bedürfnisse<br />
und den spezifischen Charakter einer jeden Hohepa Region<br />
gibt. Diese Beziehung prägt das Wesen der Hohepa<br />
Arbeitspraktiken. Die Arbeit im Zusammenhang mit anderen<br />
anthroposophischen Initiativen in Neuseeland sowie<br />
international baut ein Netzwerk zwischen allen Beteiligten<br />
auf, die aktiv an der Entwicklung der Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie weltweit mitwirken.<br />
Veränderungen und Herausforderungen<br />
Hohepa wächst landesweit weiter. Als Organisation geht<br />
es auf Veränderungen in seiner Umgebung und sich ändernde<br />
Bedürfnisse ein. Es erlebt die wachsenden Erfordernisse<br />
von Kindern und Jugendlichen mit komplexen<br />
Bedürfnissen und herausforderndem Verhalten, das oft<br />
mit schwerem Trauma in der frühen Kindheit verbunden<br />
ist. Dies verlangt neue Ansätze mit schöpferischen therapeutischen<br />
Interventionen. Ausserdem werden die Menschen,<br />
mit denen wir arbeiten, älter und leben länger, was<br />
neue Aufgaben und Herausforderungen mit sich bringt.<br />
In dem Mass, wie sich der Bedarf an Dienstleistungen und<br />
Philosophien weiterentwickelt, so entwickelt sich auch<br />
die Organisation weiter. Alle Hohepa Regionen haben ihre<br />
eigenen Charakteristiken und erleben ihre eigenen Herausforderungen,<br />
die sie zu bewältigen versuchen und erhalten<br />
zugleich den anthroposophischen Impuls lebendig<br />
und aktuell. Die allgemeinen gegenwärtigen sozialpolitischen<br />
Herausforderungen bringen ihre eigenen Fragestellungen,<br />
von denen einige auch die Arbeit von Hohepa<br />
beeinflussen: Ein überhitzter Wohnungsmarkt im Norden,<br />
Dienstleistungen, die über ein breites geografisches Gebiet<br />
bereitgestellt werden müssen und eine schwierige<br />
nationale Transportinfrastruktur. Die Wirkung der jüngsten<br />
grossen Erdbeben in der südlichen Region haben<br />
einiges davon verschlimmert, mit Auswirkungen in den<br />
wirtschaftlichen und sozialen Bereichen im ganzen Land.<br />
Neuseelands Sozialdienstleistungssektor ist mit mehreren<br />
Pilotprojekten auf der Suche nach besseren Modellen,<br />
damit auf die vielfältigen Bedürfnisse eingegangen<br />
werden kann. Das schafft jedoch eine Dienstleistungslandschaft<br />
der Ungewissheit und Zersplitterung.<br />
Auf die Veränderungen eingehen<br />
Hohepa hat eine potenzielle Rolle, diese sich verändernde<br />
Umgebung mit seinem über 60 Jahre lang entwickelten Erfahrungsschatz<br />
zu navigieren. Es untersucht mit anderen<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
seeking a renewed relationship with Anthroposophy<br />
that responds to the specific needs and character of<br />
each Hohepa region. This relationship informs the essence<br />
of Hohepa work practices. Working in relationship<br />
with other Anthroposophical initiatives in New<br />
Zealand and also internationally, it is beginning to<br />
construct a network of all parties contributing actively<br />
to develop CE and ST worldwide.<br />
Changes and Challenges<br />
Hohepa continues to grow across the country. As an<br />
organism, it responds to a changing environment and<br />
changing needs. It is experiencing the growing demands<br />
of children and young people presenting with<br />
high and complex needs and related behaviour challenges,<br />
associated with severe early-life traumas. This<br />
requires new approaches with creative therapeutic interventions.<br />
Alongside this, the people we work with<br />
age and live longer, bringing new complexities as well<br />
as different needs.<br />
As human services requirements and philosophies<br />
evolve, so too does the organisation. All the Hohepa<br />
regions have developed their own characteristics<br />
and experience their own challenges, which they are<br />
striving to meet while keeping the Anthroposophical<br />
impulse alive and current. Wider socio-political challenges<br />
currently at play in New Zealand bring their<br />
own set of issues, some of which affect the work<br />
of Hohepa: an overheated housing market in the<br />
North, services being delivered over a wide geographic<br />
area, and a difficult national transport infrastructure.<br />
The effects of the recent major earthquakes in<br />
the southern region have compounded some of these,<br />
with flow on effects in the economic and social realms<br />
across the country. New Zealand’s human services sector<br />
is attempting to find better models to respond to<br />
this multitude of needs with a number of pilot projects.<br />
However, this is creating a service landscape of<br />
uncertainty and fragmentation.<br />
Responding to Change<br />
Hohepa has a potential role in navigating this changing<br />
environment with a wealth of experience built<br />
over 60 years. It is working with other providers to<br />
explore what constitutes a genuine quality of life.<br />
New living models are being developed together with<br />
families or natural support networks. Part of this involves<br />
close collaboration with local authorities. Ac-<br />
65
Berichte | Reports<br />
Typisch neuseeländische Schafe | Typical New Zealand sheep<br />
Anbietern die Frage, was echte Lebensqualität bedeutet.<br />
Neue Wohnmodelle werden zusammen mit Familien oder<br />
natürlichen sozialen Netzwerken entwickelt. Dies beinhaltet<br />
teilweise die Zusammenarbeit mit Kommunalbehörden.<br />
Aktive Gemeinschaftspartnerschaften werden mit<br />
Maori iwi (Stämme) und interkulturellen Gruppen gegründet.<br />
Hohepas Wissen wird auch über Sektor-spezifische<br />
Plattformen weitergegeben und macht einen Beitrag in<br />
der Überarbeitung der Gesetzgebung.<br />
Während es allgemein im sozialen Sektor in Neuseeland<br />
anerkannt wird, dass Hohepas Arbeit ihren Ursprung in<br />
Kernwerten hat, gibt es wenig Verständnis für die Anthroposophie,<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie. Die Herausforderung<br />
besteht darin, eine Antwort auf Neuseelands aktuelle<br />
sozial-politische Realität zu finden, in offener und aufrichtiger<br />
Arbeit mit dem, was das Besondere an Hohepa ist.<br />
tive community partnerships are being established<br />
with Maori iwi (tribes) and cross-cultural groups.<br />
Hohepa’s knowledge is also being shared through<br />
sector-specific platforms and is contributing to legislation<br />
review processes.<br />
While it is widely recognised in the human services<br />
sector of New Zealand that Hohepa’s work stems from<br />
core values, there is minimal understanding of Anthroposophy,<br />
and Curative Education and Social Therapy.<br />
The challenge is to respond to the needs of New<br />
Zealand’s current socio-political reality, working with<br />
Hohepa's special character openly and genuinely.<br />
Trisha Glover, Hohepa Auckland, Titirangi Waitakere<br />
Auckland<br />
Translation from English: Christof von Arnim<br />
66
Berichte | Reports<br />
Niederlande<br />
Netherlands<br />
In den Niederlanden gibt es ungefähr zwanzig Organisationen<br />
(Träger), die zusammen etwa 3.500 Menschen<br />
mit geistiger Behinderung begleiten, 7.000<br />
Mitarbeitende beschäftigen und mehr als 200 Millionen<br />
Euro umsetzen. Neben den grossen Trägern wie die<br />
Raphaëlstichting, De Seizoenen, Lievegoed und Intermetzo,<br />
die verschiedene Einrichtungen in einer weiten<br />
Region umfassen, gibt es mittelgrosse Träger wie Orion,<br />
OlmenEs, Christophorus und Urtica de Vijfsprong, die<br />
in einer Stadt oder kleineren Region tätig sind. Daneben<br />
existieren mehrere ortsgebundene Einrichtungen,<br />
wie Ilmarinen und Maartenhuis.<br />
Der Schwerpunkt liegt in Wohnheimen und Werkstätten<br />
für Erwachsene. Für Kinder gibt es einige spezialisierte<br />
Wohnheime, zwei Heilpädagogische Schulen und acht<br />
Kindertagesstätten. Ambulante Begleitung gibt es in einigen<br />
Städten in geringem Umfang.<br />
Die grosse Ausbreitung der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />
Bewegung in den letzten Jahrzehnten<br />
hat sich angesichts der nationalen Politik (die weniger<br />
Kosten und weniger Plätze will) in den letzten Jahren<br />
nicht weiter durchsetzen können. Durch Änderungen in<br />
der Gesetzgebung sind Menschen mit leichter Behinderung<br />
auf ihre regionalen oder kommunalen Behörden<br />
angewiesen. Das hat zur Folge, dass die traditionellen<br />
Einrichtungen vor allem Menschen mit schwerer und<br />
schwerster geistigen Behinderung betreuen. Der Pflegesatz<br />
(Tarif) für einen betreuten Menschen senkt sich jährlich<br />
um ein bis zwei Prozent, beträgt aber immerhin für<br />
eine vollständige Pflege im Durchschnitt etwa 50.000 bis<br />
60.000 Euro pro Jahr.<br />
Bemerkenswert ist, dass im letzten Jahrzehnt verschiedene<br />
anthroposophische Organisationen ihre Selbständigkeit<br />
verloren haben, da sie Insolvenz anmelden mussten<br />
(wie das Zonnehuizen in Zeist) oder gezwungen waren, zu<br />
fusionieren. Dabei sind verschiedene Organisationen von<br />
einem nicht-anthroposophischen Träger übernommen<br />
worden. So wurden De Zonnehuizen zum Teil von der jugendpsychiatrischen<br />
Organisation Intermetzo und zum<br />
Teil von der Krankenhausfirma MC-Gruppe, Christophorus<br />
von Amerpoort, übernommen. Die Ursachen liegen, wie<br />
verschieden sie auch aussehen, überhaupt nicht darin,<br />
dass Eltern sich abwenden oder Mitarbeitende weggehen,<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
The twenty or so organizations (providers) in the<br />
Netherlands support ca. 3500 people with special<br />
needs, employ 7000 staff and have a turnover of more<br />
than 200 million Euros. Apart from the big providers<br />
such as the Raphaëlstichting, De Seizoenen, Lievegoed<br />
and Intermetzo, which include a number of centres<br />
across a wider region, there are medium-sized providers<br />
such as Orion, OlmenEs, Christophorus and Urtica<br />
de Vijfsprong, which are active in towns or smaller<br />
regions. Additionally there are several localized centres<br />
such as Ilmarinen and Maartenhuis.<br />
Most centres consist of residential homes and workshops<br />
for adults. For children there are a few specialized<br />
homes, two curative education schools and eight daycare<br />
centres. A limited degree of individual support at<br />
home is available in some towns.<br />
The original expansion of the curative education and<br />
social therapy movement has come to a standstill in recent<br />
decades because of the political development (that<br />
seeks to cut costs and reduce places). Because the law<br />
has changed, people with minor disabilities now depend<br />
on their regional or local authorities. As a result of this<br />
the traditional centres now mainly look after people with<br />
severe to very severe intellectual disabilities. The money<br />
available for full time care is going down by one to two<br />
per cent every year, but nevertheless still amounts to<br />
50,000 to 60,000 Euros per person on average.<br />
Various anthroposophical organizations have lost their independent<br />
status in the last decade because they went<br />
into administration (for instance the Zonnehuizen in Zeist)<br />
or were forced to merge. As part of this process some of<br />
them were taken over by non-anthroposophical providers.<br />
De Zonnehuizen, for instance, was taken over partly by Intermetzo,<br />
an organization for adolescent psychiatry, and<br />
partly by the hospital network MC-Group, and Christophorus<br />
has merged with Amenpoort. This development<br />
was not caused by lack of parental support or coworkers<br />
leaving, but by the growing financial problems. The new<br />
providers respect the organizations’ anthroposophical<br />
foundation and promote it as far as possible.<br />
The curative education and social therapy movement is<br />
doing quite well in the Netherlands because the people<br />
67
Berichte | Reports<br />
sondern dass finanzielle Probleme entstanden sind. Die<br />
neuen Träger respektieren die anthroposophische Grundlage<br />
und fördern sie weitgehend.<br />
Um die heilpädagogische und sozialtherapeutische Bewegung<br />
in den Niederlanden steht es immerhin insofern<br />
gut, dass die betreuten Menschen zufrieden sind, Eltern<br />
positiv gestimmt und Mitarbeitende engagiert sind, sodass<br />
es dadurch eine grosse Kontinuität in den anthroposophisch<br />
ausgerichteten Aktivitäten der Begleitung<br />
und Betreuung gibt.<br />
Ausbildung<br />
Nach mehr als vierzig Jahren, in denen die gemeinsame<br />
nationale Ausbildung auf Grundlage einer Zusammenarbeit<br />
aller Einrichtungen gut funktioniert hat, geht<br />
die eigenständige, staatlich anerkannte Ausbildung für<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie in <strong>2016</strong> zu Ende. Die<br />
Struktur des letzten Jahrzehnts, in der eine staatliche<br />
Fachhochschule die Diplomierung legitimierte, konnte<br />
aus gesetzlichen Gründen nicht bestehen bleiben.<br />
Damit verlieren die anthroposophischen Einrichtungen<br />
ihren eigenen, inhaltlich wie methodisch einzigartigen<br />
Studiengang. Jede Einrichtung soll nun in der eigenen<br />
Region eine Lösung bzw. einen Anschluss an eine reguläre<br />
Fachhochschule finden. Viele Institutionen haben<br />
daneben ein grosses Angebot an fachspezifischen und<br />
sozialtherapeutischen Kursen entwickelt, durch die die<br />
(neuen) Mitarbeitenden besseren Anschluss an die berufliche<br />
Aufgabe finden können.<br />
Forschung<br />
Der Bernard Lievegoed Lehrstuhl an der Freien Universität<br />
Amsterdam ist 2015 nach zehn Jahren beendet worden,<br />
doch es wird versucht, in diesem Jahr einen neuen<br />
zu gründen. Der Lehrstuhl hat ein neues Qualitätsinstrument<br />
auf der Grundlage von genauer Wahrnehmung<br />
in der Praxis und objektiver Beschreibung von realen Situationen<br />
aus teilnehmender Beobachtung entwickelt.<br />
Dieses Instrument hat in den Niederlanden ein grosses<br />
allgemeines Echo gefunden. Weiterhin sind neben Büchern<br />
über die methodische Begleitung mehrfachbehinderter<br />
Kinder und verhaltensauffälliger Erwachsener<br />
Publikationen über die Klientenkonferenz erschienen.<br />
In 2014 hat die Raphaelstichting den national anercared<br />
for within this movement are happy, their parents<br />
are supportive and staff members are devoted to their<br />
work – all of which helps to maintain a continuity of care<br />
and anthroposophically oriented activities.<br />
Training<br />
Although the joint national training, in which all centres<br />
cooperate, has worked well for more than forty years, the<br />
independent, state-recognized training in curative education<br />
and social therapy will come to an end in <strong>2016</strong>.<br />
The way the training was run in the last ten years, imbedded<br />
in a state college and leading to a state diploma,<br />
was discontinued for legal reasons. This means that<br />
the anthroposophical organizations lose their own unique<br />
study course and methods. It is now up to each centre<br />
to find its own solution regionally or attach itself to<br />
a mainstream specialist training provider. Many centres<br />
have developed a wide range of specialist courses in social<br />
therapy that will help new staff members to connect<br />
better with their work.<br />
Research<br />
After ten years, the Bernard Lievegoed chair at Amsterdam<br />
Independent University has come to an end, but<br />
attempts are being made to establish a new professoral<br />
chair this year. This chair has made it possible to develop<br />
a new quality tool based on the close observation<br />
and objective description of real situations, which met<br />
with great interest in the Netherlands. As well as books<br />
on ways of supporting children with multiple disabilities<br />
and adults with challenging behaviours, there has<br />
also been a publication on client studies. In 2014 the<br />
Raphaelstichting (Raphael Foundation) received the national<br />
Han Nakken Award for its publication on the effectiveness<br />
of physical heat therapy in children with<br />
multiple disabilities.<br />
Umbrella organization<br />
Ten years ago the former national umbrella organization<br />
(HPV) joined forces with other anthroposophical organizations<br />
(of physicians, therapists, health centres) and is<br />
now called NVAZ. The financial basis, which is provided<br />
mostly by the curative education and social therapy centres,<br />
has shrunk to a quarter of its original size because<br />
68
kannten Han Nakken Preis bekommen für ihre Publikation<br />
über die Effektivität von körperlicher Wärmetherapie<br />
bei Kindern mit mehrfacher Behinderung.<br />
Dachverband<br />
Der einstige nationale Dachverband (HPV) hat sich vor<br />
einem Jahrzehnt mit anderen anthroposophischen Verbänden<br />
(von Ärzten, Therapeuten, Gesundheitszentren)<br />
zusammengeschlossen unter dem Namen NVAZ. Die<br />
finanzielle Grundlage, die vor allem von den heilpädagogischen<br />
und sozialtherapeutischen Einrichtungen geschaffen<br />
wird, ist in den letzten Jahren zu einem Viertel<br />
geschrumpft, weil ein Solidaritätsbeitrag offenbar nicht<br />
selbstverständlich ist. Der Dachverband hat jetzt eine<br />
Projekt-Struktur und unterstützt Initiativen und Projekte,<br />
die von den Einrichtungen selbst gewollt und getragen<br />
werden. Projekte gibt es z.B. für Methodisierung der Sozialtherapie<br />
und für (ambulante) Altenpflege.<br />
Öffentlichkeit<br />
In der Öffentlichkeit hat die anthroposophische Behindertenhilfe<br />
einen guten Ruf, obwohl die finanziellen<br />
Schwierigkeiten das Image beeinträchtigt haben. Die<br />
gesellschaftliche Teilhabe wächst, indem zum Beispiel<br />
nicht nur mit Kommunen, sondern auch mit interessierten<br />
Firmen gut zusammengearbeitet wird (z.B. im<br />
Tulpenhandel, Weinbau, Anwaltschaft, Gastronomie, Bestattung,<br />
Camping). Produkte aus Werkstätten werden<br />
manchmal mit Hilfe von Designexperten vergebessert<br />
und (online) angeboten.<br />
Windmühlenbäckerei | Windmill Bakery<br />
the paying of a solidarity fee is not necessarily seen as<br />
acceptable. The umbrella organization now supports initiatives<br />
and projects that the centres want and carry out<br />
themselves. One of the current projects aims to describe<br />
the methodology of social therapy and individual homecare<br />
for the elderly.<br />
Public image<br />
Although its public image has suffered somewhat due to<br />
its financial difficulties, the anthroposophical work with<br />
people with disabilities has generally a good name in<br />
the Netherlands. Participation in society is growing due<br />
to the good cooperation with local authorities and with<br />
enterprises that show an interest (tulip trade, viticulture,<br />
advocacy, catering industry, funeral services, camping).<br />
The workshop products are occasionally improved with<br />
the help of expert designers and offered for sale online.<br />
Pim Blomaard, Raphaelstichting, Schoorl<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
69
Berichte | Reports<br />
Norwegen<br />
Die insgesamt dreizehn selbständigen anthroposophischen<br />
Einrichtungen für seelenpflegebedürftige<br />
Menschen in Norwegen haben sich in dem Verbund «Sosialterapeutisk<br />
forbund» zusammengeschlossen. Es gibt<br />
vier heilpädagogische Schulen mit etwa 119 Schülerinnen<br />
und Schülern, sechs Camphill-Gemeinschaften mit<br />
insgesamt 320 Einwohnern (120 «Dörfler») und fünf sozialtherapeutische<br />
Einrichtungen, in denen ca. 88 Menschen<br />
begleitet werden.<br />
Dieses Jahr feiert Camphill Norwegen das Jubiläum des<br />
50-jährigen Bestehens, denn einen Tag nach Pfingsten<br />
1966 haben Margit Engel, Trygve Thornes, Ivan und<br />
Phyllis Jacobsen auf dem Bauernhof Bakke das erste<br />
Feld gepflügt. Damit war der Grundstein für das Dorf Vidaråsen<br />
Landsby gelegt.<br />
Ein offizielles Gesicht in der Öffentlichkeit erhält unsere<br />
Arbeit durch die nationale Zeitschrift «LandsByLiv».<br />
Verbands- und Netzwerkarbeit<br />
Alle zwei Jahre wird eine nationale Fachtagung veranstaltet,<br />
ebenso nehmen wir zweijährlich an der Nordischen<br />
Fachtagung in Järna/Schweden teil, die vom «Nordisk<br />
forbund for helsepedagogikk og sosialterapi» veranstaltet<br />
wird. Der NFLS veranstaltet auch die Tagung Nordisk<br />
Allkunstverk für die BewohnerInnen und SchülerInnen<br />
aller nordischen Einrichtungen.<br />
Aktuelle Entwicklungen<br />
Seit 2012 besteht die Möglichkeit eines staatlich anerkannten<br />
Bachelorstudiums für Sozialpädagogik an der<br />
Rudolf Steiner Hochschule in Oslo. Wir sind sehr stolz<br />
über die ersten 18 Studierenden, die dieses Jahr ihr Zertifikat<br />
in den Händen hielten.<br />
Die Arbeit des Verbandes war in den letzten Jahren vor<br />
allem geprägt von der Konzeption und dem Start des Studiums<br />
für Sozialpädagogik. Das zentrale Interesse dieser<br />
Ausbildung besteht darin, den anthroposophischen Impuls<br />
zu erhalten und weiterzuentwickeln sowie den formellen<br />
Anforderungen des Staates und den Kommunen<br />
gerecht zu werden.<br />
2013 wurde in Norwegen das Übereinkommen über die<br />
Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert.<br />
Die Erfüllung der kommunalen Rahmenbedingungen<br />
in der praktischen Arbeit nimmt viel Kraft in Anspruch.<br />
Kompetenz- und Dokumentationsanforderungen steigen<br />
Norway<br />
Norway has thirteen independent anthroposophical<br />
centres for people with special needs; all of them are<br />
members of the Norwegian social therapy association,<br />
Sosialterapeutisk forbund. There are four special<br />
needs schools with a total of 119 pupils, six Camphill<br />
communities with 320 residents in total, 120 of whom<br />
have special needs, and five social therapy centres<br />
where around 88 people are being cared for.<br />
Camphill Norway is celebrating its 50th anniversary<br />
this year: it was on the day after Whitsun 1966 that<br />
Margit Engel, Trygve Thornes and Ivan and Phyllis Jacobsen<br />
ploughed the first field on their farm, Bakke,<br />
laying the foundation, as it were, for the Vidaråsen<br />
Landsby village community. LandsByLiv, our national<br />
journal, is the official organ that makes our work<br />
known to a wider public.<br />
Association and networking<br />
Every two years we organize a national specialist conference<br />
and we ourselves take part, also biennially, in<br />
the Nordic Specialist Conference in Järna, Sweden,<br />
which is organized by the Nordisk forbund for helsepedagogikk<br />
og sosialterapi, an association that is also<br />
responsible for the Nordisk Allkunstverk, a conference<br />
for the residents and pupils of all special needs centres<br />
in the Nordic countries.<br />
Current developments<br />
In 2012 a state-recognized Bachelor degree course in<br />
Special Needs Education was set up at the Rudolf Steiner<br />
College in Oslo. We are very proud of the first eighteen<br />
students who graduated this year.<br />
The work of the association has, in recent years, focused<br />
mainly on creating and introducing this course.<br />
The main objective of this training is to retain and<br />
promote the anthroposophical impulse whilst meeting<br />
the formal requirements set by the state and the<br />
local authorities.<br />
In 2013 Norway ratified the Convention on the Rights<br />
of Persons with Disabilities. Implementing the necessary<br />
conditions in our daily practice is taking up a great<br />
deal of energy. The amount of expertise and documentation<br />
expected keeps growing and it is an enormous<br />
challenge for us to bring these criteria together with<br />
our own quality standards. We nevertheless see this<br />
70
stetig an und es ist eine grosse Herausforderung, diese<br />
Kriterien mit unserem Qualitätssystem in Einklang zu<br />
bringen. Dennoch sehen wir darin eine Chance, denn so<br />
kann Dokumentation Bewusstsein fördern, Beobachtung<br />
schulen und wir können schnell sehen, was in unserer<br />
Arbeit funktioniert und was nicht gut geht.<br />
Die Heilpädagogischen Waldorfschulen haben in den<br />
letzten Jahren vor allem um das Gesetz der freien Schulen<br />
gekämpft. Alle vier Schulen pflegen auf unterschiedliche<br />
Art eine gute Zusammenarbeit mit den lokalen Schulbehörden.<br />
Sie geniessen Anerkennung für die Qualität der<br />
pädagogischen Arbeit und die Behörden erkennen den<br />
grossen Bedarf für unsere heilpädagogischen Schulen.<br />
Mehr und mehr wird eingesehen, dass durch die ideologiegeprägte<br />
und undifferenzierte Integrationsbewegung<br />
der letzten dreissig Jahren die schwächsten unter den<br />
Schülern getroffen werden. Das gab den heilpädagogischen<br />
Schulen einen Zustrom an Bewerbern und den vier<br />
Schulen grösseren pädagogischen Handlungsraum.<br />
Die Camphill-Gemeinschaften erhalten ihre Finanzierung<br />
direkt aus dem Staatsbudget und geniessen somit einen<br />
Sonderstatus unter den anthroposophischen Einrichtungen,<br />
während die Schulen und sonstigen Lebensgemeinschaften<br />
sich bei den Kommunen bewerben müssen, wo<br />
Qualität dem Preis gegenüber steht.<br />
Insgesamt geniessen die anthroposophischen Einrichtungen<br />
eine hohe Anerkennung von Seiten der Angehörigen<br />
und Bewohnern.<br />
Beitrag für die anthroposophische Bewegung<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Dorfleben in Norwegen| Village life in Norway<br />
Das Anthroposophische Menschenbild ist unser wichtigstes<br />
Werkzeug, doch unser Einflussbereich ist sehr<br />
klein und es gibt nur wenige aktiv Mitwirkende. Bestenfalls<br />
wird unsere Arbeit als spannend erlebt und das<br />
anthroposophische Menschenbild ist von Interesse,<br />
jedoch möchten viele sich nicht uneingeschränkt offen<br />
und lernend einbringen.<br />
Es stellt sich die Frage, ob unseren Einrichtungen eine<br />
positive Weiterentwicklung, trotz des Gegenwindes und<br />
der Bürokratisierung, einer lebendigen Bewegung gelingt.<br />
Und weiter: Gibt es eine anthroposophische Bewegung?<br />
Wie sieht diese dann aus? Welche Richtung<br />
nimmt diese Bewegung? Braucht es Erneuerung – oder<br />
bedarf es der Vertiefung und Forschung? Was macht den<br />
stärksten Eindruck, wenn man ganz frisch und neugierig<br />
zum ersten Mal auf die Anthroposophie trifft? Ist es<br />
die Theorie oder sind es die Menschen mit ihrer lebendig-praktizierten<br />
Weltanschauung? Was geschieht zwias<br />
an opportunity, because the process of documenting<br />
enhances our awareness and observation skills and we<br />
find out sooner what works well and what doesn’t.<br />
In recent years the special needs Waldorf schools have<br />
had to fight hard for legal status as independent schools.<br />
All four schools try, each in their own way, to maintain a<br />
good relationship with their local authorities. The quality<br />
of our education is being recognized and the authorities<br />
acknowledge that the need for our schools is great.<br />
They also realize increasingly that the weakest pupils<br />
who have suffered most from the ideology-based, undifferentiated<br />
integration movement of the last thirty<br />
years. As a result we now receive more applications for<br />
our special needs schools and the four schools have been<br />
granted greater educational freedom.<br />
The Camphill communities are state-funded which<br />
gives them a special status among the anthroposophical<br />
centres, because our schools and other residential<br />
communities are required to apply for<br />
funding to the local authorities where cost considerations<br />
take priority over quality.<br />
On the whole, the anthroposophical centres are highly<br />
appreciated by relatives and residents.<br />
Contributions to the anthroposophical movement<br />
The anthroposophical image of the human being is our<br />
most important tool, but we have very little influence<br />
and only few people choose to take an active interest.<br />
People may find our work and our approach appealing,<br />
but they rarely feel called upon to commit themselves<br />
to it openly or to deepen their knowledge of it.<br />
Will our institutions be able to move forward in a positive<br />
way and retain their vitality despite all the opposi-<br />
71
Berichte | Reports<br />
schen Mitarbeitenden und Bewohnern? Handelt es sich<br />
vielleicht eher darum, nicht Teil einer Bewegung zu sein,<br />
sondern um eine innere, persönliche Verbundenheit mit<br />
dem, was ich tue – also selbst in Bewegung zu sein?<br />
Was braucht der einzelne Mitarbeitende, um sich persönlich<br />
mit dem anderen Menschen und dem anthroposophischen<br />
Menschenbild zu verbinden? Wie können wir<br />
die Anthroposophie auf neue Weise vermitteln, wie beleben<br />
wir genau diese Art und Weise zu leben? Wir werden<br />
von aussen unter Druck gesetzt mit Gesetzen und<br />
Regeln, aber das muss nicht unbedingt Stagnation bedeuten.<br />
Von innen heraus können wir das zur Bewusstwerdung<br />
in unserer Arbeit nutzen und zur Gestaltung<br />
eines würdigen Lebens nutzen. Für alle.<br />
Birka-Ruth Schmidt-Bäumler, Granly Stiftelse, Lena<br />
Übersetzung aus dem Deutschen: Margot Saar<br />
tion and growing bureaucracy? – This is one question,<br />
and there are more: Is there an anthroposophical movement?<br />
What is it like? Which way is it going? Is renewal<br />
what it needs most, or does it need deepening and reflection?<br />
What impresses people most when they come<br />
fresh to anthroposophy? Is it the underlying theory or<br />
the people who live and practise anthroposophy? What<br />
happens between care-providers and care-receivers?<br />
Could it be that being part of a movement is less important<br />
than connecting with one’s work personally – or in<br />
other words – than being in motion oneself?<br />
What do we each need in order to connect with others<br />
and with anthroposophy? How can we convey anthroposophy<br />
in a new way and bring it to life? We experience<br />
much outside pressure through laws and regulations,<br />
but we must not let that paralyze us. We can make the<br />
best of the situation by developing greater awareness<br />
and creating a dignified life – for all of us.<br />
Interview Friederike Linger<br />
Frederike Linger, 29, lives and works in Norway and studies social therapy at the<br />
Rudolf Steiner College in Oslo, Norway.<br />
Ich finde es sinnvoll, wie wir mit den Menschen arbeiten.<br />
Das drückt sich in den Tätigkeiten aus,<br />
aber auch im Menschenbild. Die Anerkennung des<br />
gesunden Wesenskerns jedes Menschen, die Reinkarnation<br />
und dass jeder seine Aufgabe hat, sind<br />
wichtige Werte für mich. Ich habe viel gelernt von<br />
den Menschen mit Behinderung. Auch die Themen<br />
Landwirtschaft, Sinnesstimulierung, Ernährung und<br />
Pflege sind mir wichtig.<br />
The way we work with people in the realm of anthroposophic<br />
social therapy makes sense to me.<br />
It is expressed in the activities, but also in the<br />
understanding of the human being. The recognition<br />
of the healthy core of each human being, of<br />
reincarnation and of the fact that everyone has a<br />
task – these are important values for me. I have<br />
learned so much from people with disabilities.<br />
Agriculture, sensory stimulation, nourishment and<br />
care are also important topics for me.<br />
72
Interview<br />
Während eines Praktikums auf einem biodynamischen<br />
Hof in Norwegen entdeckte ich erste Bücher von R.<br />
Steiner. Bei meiner späteren Arbeit in sozialtherapeutischen<br />
Wohngemeinschaften habe ich die Atmosphäre<br />
genossen, besonders das Vertrauen und<br />
dass ich Verantwortung übernehmen durfte. Meine<br />
Neugierde auf die sozialtherapeutische Arbeit<br />
wurde geweckt, deswegen wollte ich mehr lernen<br />
und habe mit dem Studium an der Rudolf Steiner<br />
Hochschule in Oslo begonnen.<br />
Beim Schreiben meiner Bachelor Arbeit fiel mir auf,<br />
dass es wenig norwegische Literatur mit anthroposophischem<br />
Hintergrund zum Thema Behinderung und<br />
Demenz gibt. Auch in den Schriften Steiners habe<br />
ich nichts dazu gefunden, was möglicherweise an der<br />
heutigen Aktualität dieses Themas liegt. Deswegen<br />
denke ich, dass die Demenz eines von vielen Themen<br />
ist, mit denen wir uns auseinander setzen müssen.<br />
Ich wünsche mir, dass es immer mehr Menschen gibt,<br />
die die anthroposophischen und fachlichen Werte<br />
und das Wissen mit mir teilen, ja mittragen. Es sollte<br />
mehr Austausch zwischen den Einrichtungen stattfinden.<br />
Fachlich und menschlich gesehen ist mein<br />
Studium enorm bereichernd, deswegen sollte es von<br />
den Einrichtungen gefördert werden. Andere Elemente<br />
sind Offenheit, Humor, Kreativität und Struktur.<br />
Die Orte an denen wir arbeiten, sollten Orte des Vorbildes<br />
für Vertrauen und Wärme sein. In unserer<br />
Zeit brauchen wir diese Qualitäten als Gegenbewegung<br />
zu Kontrolle (Vertrauen) und der digitalen<br />
Welt (Wärme). Vertrauen, wie ich es erlebt habe, hat<br />
meine Motivation geweckt.<br />
Sozialtherapie sollte eine Brücke zwischen der Gesellschaft<br />
und dem Individuum mit Behinderung bilden.<br />
Es besteht eine grosse Gefahr der Isolation von<br />
Menschen mit Behinderung und dabei haben sie so<br />
viele Qualitäten, die die Welt farbiger machen.<br />
I first discovered books by Rudolf Steiner during<br />
a practicum on a biodynamic farm in Norway.<br />
Later, in my work in social therapeutic communities,<br />
I enjoyed the atmosphere – especially the<br />
trust and the fact that I was allowed to take on<br />
responsibility. My curiosity regarding social therapeutic<br />
work was awakened; I wanted to learn<br />
more, so I began studying at the Rudolf Steiner<br />
College in Oslo.<br />
While writing my bachelor’s thesis, I noticed the<br />
lack of Norwegian anthroposophic literature on<br />
the topic of disability and dementia. I also found<br />
nothing in Steiner’s writings that touches on the<br />
current importance of this topic. For this reason,<br />
I believe that dementia is one of the many topics<br />
we need to address today.<br />
My wish is for more and more people to share anthroposophic<br />
values and knowledge on the subject<br />
with me – to help carry them into the future.<br />
There should be more exchange between the<br />
various institutions. My course of study is enormously<br />
enriching, both topically and humanly,<br />
and should really be supported by the institutions.<br />
Other elements are openness, humour, creativity<br />
and structure.<br />
The places where we work should be havens of<br />
trust and warmth. We need these qualities in our<br />
time to counteract control (trust) and the digital<br />
world (warmth). My experience of trust awakened<br />
my motivation.<br />
Social therapy should be a bridge between society<br />
and the individual with a disability. The danger of<br />
isolation for people with disabilities is great, and<br />
yet they have so many qualities that make the<br />
world more colourful.<br />
Translation from German: Tascha Babitsch<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
73
Berichte | Reports<br />
Nordamerika<br />
Das gesamte Nordamerika und Hawaii bilden eine Region.<br />
Die Entfernung von Küste zu Küste in Nordamerika<br />
ist fast so weit wie von der nordamerikanischen Ostküste<br />
nach Irland, was uns natürlich eine beträchtliche Grösse<br />
und Vielfältigkeit verleiht. Es gibt etwa 25 Initiativen in<br />
unseren Regionen, deren Grössenordnung von grösseren<br />
Gemeinschaften wie Camphill Village USA, einer Gemeinschaft<br />
mit etwa 300 Menschen, bis zum Zusammenleben<br />
in Einzelfamilien reicht. Die Mehrzahl unserer Organisationen<br />
sind Gemeinschaften in denen etwa 50 Menschen<br />
zusammenleben. Die meisten Gemeinschaften sind<br />
ländlich geprägt, obgleich es auch einige erfolgreiche<br />
städtische Initiativen gibt. Es gibt eine wachsende Anzahl<br />
erfolgreicher Bestrebungen mit Tagesprogrammen,<br />
Möglichkeiten des unabhängigen Wohnens und mit Mitarbeitern<br />
«besetzten» Wohnhäuser, das Modell der lebensteilenden<br />
Gemeinschaft verschiedener Menschen<br />
mit und ohne Hilfebedarf, die zusammenleben und das<br />
tägliche Leben mit allen anfallenden Aufgaben teilen,<br />
bleibt jedoch die Norm in der Mehrheit unserer Plätze.<br />
In der gesamten Region sind die Camphill-Gemeinschaften<br />
sowohl historisch als auch gegenwärtig die best etablierten<br />
Einrichtungen, doch es gibt auch einige andere<br />
anthroposophisch-orientierte Gemeinschaften in Nordamerika.<br />
Die Nordamerikanische Konferenz für Anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie (NAC), ein<br />
Verband von Organisationen, die aus dem anthroposophischen<br />
Impuls in der Heilpädagogik, Jugendberatung<br />
und Sozialtherapie arbeiten, ist direkt mit der internationalen<br />
Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
(KHS) verbunden. Die NAK wurde 2001 mit der Aufgabe<br />
gegründet, die Kommunikation und Zusammenarbeit<br />
zwischen und die Entwicklung von anthroposophischstrebenden<br />
Gemeinschaften und Haushalten zu fördern<br />
und zu vermitteln.<br />
Organisatorisches Streben und organisatorische<br />
Fragen<br />
Ein Thema der NAC betrifft die Frage der Verbindung und<br />
Stärkung unserer Region mit der Internationalen Konferenz<br />
und wie die Mitglieder an den einzelnen Orten<br />
unterstützt werden können, sich selbst und ihren Platz<br />
innerhalb dieser zu erkennen – einer Organisation, die<br />
manchmal als sehr weit entfernt von diesem Kontinent<br />
empfunden werden kann. Bisher haben wir mit der Frage<br />
so gearbeitet, dass wir Berichte über die Arbeit der Kon-<br />
Freude | Joy<br />
North America<br />
All of North America and Hawaii makes up one region.<br />
The distance across North America is nearly the<br />
same as from North America's eastern coast to Ireland,<br />
which, of course, makes us enormus and diverse. There<br />
are about 25 initiatives in our regions which range<br />
in size from larger communities, like Camphill Village<br />
USA, a community of about 300 people, to small<br />
single family lifesharing homes. The majority of our<br />
organizations are lifesharing communities of 50 or so<br />
people. Our communities are mostly rural and agricultural<br />
though there are several, thriving urban initiatives.<br />
Explorations in and successful endeavors with day<br />
programs, independent housing options and ‹staffed›<br />
residences are increasing yet a lifesharing model in<br />
which a community of diverse people, both with and<br />
without recognized special needs, live together and<br />
share in all aspects of daily life and tasks, is still the<br />
norm in the majority of our places.<br />
Across the region, both historically and at present,<br />
the Camphill Communities are the most established.<br />
There are several other anthroposophically-based<br />
lifesharing communities in North America that are<br />
not Camphills. The North American Council for Anthroposophic<br />
Curative Education and Social Therapy<br />
(NAC), an association of organizations working<br />
out of the anthroposophical impulse in curative<br />
education, youth guidance and social therapy, provides<br />
a direct link to the International Council for<br />
Curative Education and Social Therapy (ICEST). The<br />
NAC was established in 2001 with a mission to support<br />
and facilitate communication and cooperation<br />
74
Berichte | Reports<br />
ferenz in NAC-Rundbriefen veröffentlicht haben, ein<br />
Delegierter an den Klausurtagungen teilnimmt, die Mitglieder<br />
dazu anregen, an den internationalen Tagungen<br />
in Dornach teilzunehmen und diese Aktivitäten finanziell<br />
unterstützen. Eine neuere Entwicklung, von der wir<br />
erwarten, dass sie unsere Vernetzung stärken wird, ist<br />
dass Jan Goeschel von der Camphill-Special-School und<br />
der Camphill-Akademie eine leitende Rolle in der KHS<br />
übernehmen wird. Obwohl Jan enorm viel in unserer Region<br />
trägt, freuen wir uns darüber und damit auf die grössere<br />
Verbindung, die dadurch hergestellt werden kann.<br />
Wirtschaftliche Grundlagen<br />
Ein anderer wesentlicher Aspekt unserer Organisationen<br />
sind die finanziellen Strukturen, die über die beiden<br />
Länder und ihre Staaten und Provinzen hinweg sehr verschieden<br />
sind. Es ist jedoch möglich, etwas zu generalisieren.<br />
In Kanada werden Organisationen in grösserem<br />
Umfang durch die Behörden gefördert. Zwar gibt es Spendensammlungen<br />
durch Einzelpersonen oder private Zuwendungen,<br />
sie stellen jedoch keinen grossen Anteil des<br />
Jahreseinkommens dar. In den USA gibt es in den meisten<br />
Gemeinschaften wesentliche Bemühungen, durch Zuwendungen<br />
und Einzelspenden Mittel einzubringen und<br />
die Tatsache, dass die meisten Spenden von der Steuer<br />
absetzbar sind, ist dabei eine Hilfe. Die meisten, wenn<br />
auch nicht alle Gemeinschaften, decken die Kapitalkosten<br />
durch solche Bemühungen der Mittelbeschaffung<br />
und die meisten verwenden auch Spenden, um jedes Jahr<br />
ein ausgeglichenes Betriebsbudget zu erreichen.<br />
Aktuelle Trends<br />
Regulatorischer Handlungsrahmen<br />
Staatliche Förderung bringt von aussen auferlegte Bestimmungen<br />
mit sich, die uns Anlass geben, uns selbst<br />
neu zu überdenken. Können wir sowohl Dienstleister als<br />
auch intentionale Gemeinschaften sein? Kann die traditionelle<br />
Weise des Zusammenarbeitens und -lebens,<br />
oft ohne Beschäftigungsstatus, weiter ein realistische<br />
Möglichkeit sein, zumal die Menschen, die auf uns zukommen,<br />
zunehmende Herausforderungen mitbringen?<br />
Was ist das Wesentliche, dem wir treu bleiben müssen,<br />
damit unsere grundlegenden Bestrebungen ungefährdet<br />
bleiben? Können wir unsere geistigen Grundlagen genug<br />
vertiefen, dass sie uns in einer sich verhärtenden Zeit<br />
standhaft halten?<br />
Die kanadischen Gemeinschaften sind schon länger mit<br />
diesen Fragen konfrontiert als diejenigen in den USA.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
among, and the development of, Anthroposophically<br />
striving lifesharing communities and households.<br />
Organizational Strivings and Questions<br />
One of the questions the NAC carries is how to<br />
strengthen our region's connection to the International<br />
Council and to how to support the members of<br />
individual places in recognizing themselves and their<br />
place within the wider circle of ICEST -- an organization<br />
that can sometimes feel very far away from this<br />
continent. So far we have worked with that question<br />
by publishing reports on the work of ICEST in the NAC's<br />
newsletters, by having an NAC delegate to ICEST, by<br />
encouraging members of the NAC to attend the biannual<br />
International conference in Dornach and by<br />
providing financial support for these pursuits. A recent<br />
development that we expect will greatly strengthen<br />
our inter-connectedness is that Jan Goeschel, from<br />
Camphill Special School and Camphill Academy, will<br />
be taking on a leadership role with ICEST. Though Jan<br />
carries a tremendous amount in our region, we are<br />
very pleased that he will now take on this new role<br />
and we look forward to the increased connection this<br />
will bring about.<br />
Economic Foundations<br />
Another aspect of our organizations that is relevant,<br />
especially in relationship to some current trends, is our<br />
financial structures. Financial structures vary greatly<br />
across the two countries and across the States and<br />
Provinces however some generalizations can be made.<br />
In Canada organizations are more fully supported<br />
through governmental agencies. Fundraising efforts<br />
through individuals or private grants do happen but<br />
are not a large percentage of annual income. In the<br />
US significant effort is put in by most communities to<br />
raise funds through grants and individual donations<br />
and the fact that most donations are tax-deductible<br />
is helpful in this pursuit. Most if not all communities<br />
cover the costs of capital improvements through these<br />
fund-raising efforts and most also use donations to<br />
reach a balanced operating budget each year.<br />
Current Trends<br />
Regulatory Confines<br />
With State funding comes externally imposed regulation.<br />
This regulation causes us to re-think ourselves. Can<br />
75
Berichte | Reports<br />
Camphill Ontario hat sich wegen Konflikten zwischen<br />
seiner ursprünglichen, traditionellen Camphill-Struktur<br />
und der Regierung von Ontario in grösserem Ausmass<br />
umgewandelt: Die Mitarbeiter erhalten nun ein Gehalt<br />
und viele von ihnen wohnen nicht mehr in der Gemeinschaft,<br />
der Schwerpunkt liegt zunehmend darauf, die<br />
Menschen mit Behinderungen in ihrer eigenen Wohnung<br />
zu unterstützen und mit ihnen eine Gemeinschaft<br />
im Rahmen einer unabhängigen Lebensweise innerhalb<br />
eines grösseren sozialen Zusammenhangs zu bilden,<br />
ein personenbezogener Ansatz und personenbezogene<br />
Ausbildungsstruktur wird verfolgt und keine Mitarbeiter<br />
sitzen im Vorstand. Trotz dieser Veränderungen hat<br />
Camphill Ontario ein dynamisches Selbstgefühl. Es ist<br />
der Überzeugung, dass es weiterhin Träger des Camphill-Ethos<br />
ist, dieses Ethos jedoch auf eine für die traditionelle<br />
Form des Camphill-Dorfs untypische Weise<br />
vertritt. Die Cascadia Society und Glenora Farm (Ita<br />
Wegman Assoc.) in Britisch-Kolumbien und das Maison<br />
Emanuel in Quebec haben Wege gefunden, auf denen<br />
sie innerhalb der von den Behörden festgelegten Grenzen<br />
arbeiten und gleichzeitig mit ihrem lebensteilenden<br />
Modell fortfahren können.<br />
In den USA hat die Bundesregierung neue Bestimmungen<br />
über den Zugriff der Staaten auf Medicaid-Waiver-<br />
Gelder erlassen, die es Einzelpersonen ermöglichen,<br />
langfristige Dienstleistungen und Unterstützung zu<br />
Hause und in der Gemeinde zu erhalten. Die neuen<br />
Vorschriften bekamen 2014 ihre endgültige Form. Die<br />
Staaten, die diese Gelder erhalten und verteilen, mussten<br />
ihre Pläne vorlegen und haben Zeit bis 2019, um<br />
sie vollständig umzusetzen. Einige unserer Gemeinschaften<br />
sind schon bzw. werden unmittelbar davon<br />
betroffen sein. Diese Entwicklung in den auf Medicaid-<br />
Waiver-Gelder bezogenen Vorschriften ist ein Weckruf an<br />
die sozialtherapeutische Bewegung in den USA. Es ist<br />
deutlich geworden, dass wir nicht genug an der zu dieser<br />
Entwicklung führenden Diskussion beteiligt waren<br />
und versuchen, dies jetzt nachzuholen. CANA hat eine<br />
Arbeitsgruppe eingerichtet, die mögliche Auswirkung<br />
dieser Vorschriften untersuchen soll.<br />
In dem Ausmass, wie wir unseren Platz in diesem<br />
grossen Gespräch einnehmen, beleuchten wir möglicherweise<br />
auch das Gute, das geschehen kann, wenn<br />
Menschen bestrebt sind, für das Wohl der anderen zu<br />
arbeiten, im Vertrauen, dass ihre eigenen Bedürfnisse<br />
auch abgedeckt werden.<br />
we be 'service providers' and also intentional communities?<br />
Can the traditional way of living and working<br />
together, often without employment status, continue<br />
to be a viable option, especially as the people we have<br />
coming toward us carry increasing challenges? What<br />
is the essential that we must remain true to for our<br />
fundamental strivings to be uncompromised? Can we<br />
deepen our spiritual foundations enough so that they<br />
keep us steadfast and open in a hardening time?<br />
The Canadian communities have faced these questions<br />
for longer than those in the US. Camphill Ontario,<br />
through conflicts between its original, traditional<br />
Camphill structure and the Government of Ontario,<br />
has made some major shifts: coworkers are now salaried<br />
and many do not live within the community;<br />
focus is increasingly on supporting persons with<br />
disabilities in their own homes, and on building community<br />
with them in the general context of independent<br />
living within the larger social environment; a<br />
person-directed approach and training structure is<br />
followed, and no coworkers are on the board of directors.<br />
Despite these major shifts Camphill Ontario feels<br />
itself to be vibrant. They are confident that they are<br />
carriers of the Camphill ethos but that they carry out<br />
that ethos in a manner atypical of Camphill's traditional<br />
village form. The Cascadia Society and Glenora<br />
Farm (Ita Wegman Assoc.) in British Columbia and<br />
Maison Emanuel in Quebec have found ways of working<br />
within governmental confines while continuing<br />
with the lifesharing model.<br />
In the US the federal government has issued new regulations<br />
concerning access, by the states, to federal<br />
Medicaid Waiver funding for individuals to receive<br />
home and community-based long-term services and<br />
supports. The new rules took their final form in 2014.<br />
The states, who receive and distribute these funds,<br />
were required to submit transition plans and have 5<br />
years, until 2019, to complete implementation. Some<br />
of our communities are now, or will be, directly affected.<br />
These developments in the rules related to Medicaid<br />
Waiver funding have been a wake-up call to the<br />
social therapy movement in the US. There has been a<br />
recognition that we have not been sufficiently involved<br />
with the discussions that led to these policy developments<br />
and we are now trying to catch up. CANA<br />
has formed a task force to look into the potential impact<br />
of these rules.<br />
76
Berichte | Reports<br />
Die Camphill-Akademie<br />
Mit der Gründung des Kollegiums der Camphill-Akademie<br />
im Mai 2013 wurde ein in der nordamerikanischen<br />
Camphill-Bewegung eingebetteter Dachverband für<br />
Pädagogik und Forschung gegründet. Diese Organisation,<br />
die noch am Anfang ihrer Entwicklung steht, hat die<br />
Möglichkeit, die Qualität der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />
Arbeit in der Region zu vertiefen und<br />
die Forschung, Innovation und Entwicklung von Zukunftsperspektiven,<br />
die gleichzeitig aktuell und tief in der Anthroposophie<br />
verwurzelt sind, zu unterstützen. Ziel der<br />
Akademie ist es, einen Weg des transformativen Lernens<br />
zu vermitteln, der es dem einzelnen Menschen ermöglicht,<br />
sein Potenzial zu entfalten und einen Beitrag zur<br />
Heilung des Menschen, der Gesellschaft und der Erde zu<br />
leisten. Ausser der Erfahrung innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft<br />
besuchen die Studierenden auch andere Gemeinschaften<br />
und treffen sich regelmässig zu Klausuren.<br />
Diese gemeinsame Arbeit vertieft die Verbundenheit,<br />
das Verständnis und die Kraft unter denen, die unsere<br />
Bewegung in die Zukunft tragen.<br />
Beiträge zur anthroposophischen Bewegung<br />
Die Anthroposophie bildet die Grundlage unserer Arbeit.<br />
Viele Menschen aus der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />
Bewegung spielen wichtige Rollen in<br />
der anthroposophischen Gesellschaft und der Freien<br />
Hochschule für Geisteswissenschaft, viele andere wirken<br />
unterstützend. Unsere Beiträge zur Bewegung sind<br />
vielseitig: Wir fördern das Verhältnis mit Partnerorganisationen,<br />
wir unterhalten eine öffentlich zugängliche<br />
anthroposophische Bibliothek, wir bieten öffentliche<br />
Kurse in den Geisteswissenschaften und Arbeitsgruppen<br />
über Rudolf Steiners Hauptbücher, etliche von uns<br />
sind aktive Mitglieder der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft,<br />
noch mehr sind tätig in oder leiten unsere<br />
örtlichen Zweige, einige von uns sind Mitglieder der<br />
Camphill-Gemeinschaft und unterstützen so die Pflege<br />
der Anthroposophie in der Welt, fördern die Camphill-<br />
Ideale und bieten Kraft für die Fortführung der Arbeit von<br />
intentionalen Gemeinschaften.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
As we take our place within the greater conversation<br />
we may also bring a spotlight on the good that may<br />
come when people strive to work for the benefit of<br />
others while trusting that their own individual needs<br />
will be also be met.<br />
The Camphill Academy<br />
With the founding of the Collegium of the Camphill<br />
Academy in May 2013, an umbrella organization for<br />
education and research embedded within the North<br />
American Camphill Movement was established. This<br />
organization, which is still in the early stages of its development,<br />
has the potential to significantly enhance<br />
and deepen the quality of the curative educational and<br />
social therapeutic work in the region and to support<br />
research, innovation and the development of future<br />
perspective that are at the same time contemporary<br />
and deeply rooted in anthroposophy. The Academy<br />
aims to provide a path of transformative learning that<br />
allows individuals to unfold their potential to contribute<br />
to the healing of the human being, society and<br />
the earth. Aside from the experience within one's own<br />
community, students visit other communities and join<br />
together periodically for retreats. This work together<br />
deepens bonds, understanding and strength among<br />
those who may carry our movement into the future.<br />
Contributions to the Anthroposophical Movement<br />
Anthroposophy is the foundation of our work. Many<br />
individuals out of the curative education and social<br />
therapy movement play significant roles with the Anthroposophical<br />
Movement and the School of Spiritual<br />
Science while many others carry supporting roles.<br />
Our contributions to the movement are varied: we<br />
promote relationship with sister organizations, we<br />
maintain a publicly available anthroposophical library,<br />
we offer public courses in the arts and study groups of<br />
R. Steiner's primary books, many of us are active members<br />
of the School of Spiritual Science, many more of<br />
us are active, or are leaders, in our local branches, some<br />
of us are Camphill Community Members and thereby<br />
support the cultivation of anthroposophy in the world,<br />
promote Camphill ideals and offer strength to the<br />
continuation of intentional community work.<br />
Kimberly Dorn, Plowshare Farm, Greenfield<br />
Translation from English: Christian von Arnim<br />
77
Interview<br />
Interview Siphamandla Qwabe<br />
Siphamandla Qwabe (28) was born in Cape Town and grew up in Hermanus, South Africa.<br />
He is currently completing his BA in Human Development from Prescott College in conjunction<br />
with the Diploma in Curative Education from the Camphill Academy. He has also<br />
joined Beaver Run’s high school faculty as the class 11 class teacher.<br />
Meine Beziehung zur anthroposophischen Heilpädagogik<br />
wird am besten mit den Worten von Jim Rohn ausgedrückt:<br />
Was immer wir an Gutem aufbauen, baut<br />
am Ende uns selbst auf.<br />
Meine Begegnung mit der anthroposophische Heilpädagogik<br />
kam zu einer Zeit, in der ich an einem Scheideweg<br />
stand. Als junger Mann hatte ich keinen festen<br />
Plan, ausser dem Wunsch, materielle Güter zu erwerben.<br />
Das Schicksal hatte jedoch eine deutlich andere<br />
Vorstellung für mein Leben. Damals war ich noch nicht<br />
klug genug, das zu verstehen. Kierkegaards Worte:<br />
«Das Leben kann nur rückwärts verstanden werden»,<br />
treffen in meinem Fall gewiss zu. Vor etwa acht Jahren<br />
traf ich eine Frau, die mich mit der Camphill-Bewegung<br />
(und Anthroposophie) bekannt machte und ich wollte<br />
diese Arbeit drei Monate lang erleben, um danach<br />
meine gut durchdachten materialistischen Ziele weiterzuverfolgen.<br />
Seitdem ist mein Leben ein Abenteuer<br />
mit zahllosen bereichernden Herausforderungen und<br />
lebensverändernden Erfahrungen.<br />
Die anthroposophische Heilpädagogik wird immer noch<br />
grösstenteils missverstanden, wenigstens im Bildungssektor.<br />
Ich glaube jedoch, dass sie innovativ ist und in<br />
den vergangenen zehn Jahren erkannten das auch andere<br />
pädagogische Richtungen. Kein Kind sollte quantifiziert<br />
und in eine Schublade eingeordnet werden.<br />
Anthroposophische Gemeinschaften (Camphill insbesondere)<br />
sollten untersuchen, wie die Anforderungen der<br />
Arbeit mit dem Anspruch des Einzelnen auf ein tragfähiges<br />
Leben zu vereinbaren sind. Ich glaube, wir müssen<br />
unsere Organisationen umstrukturieren, ohne das<br />
Wesentliche und die grundlegenden Werte unserer<br />
einmaligen Art der Gemeinschaftsbildung zu verlieren.<br />
Ich fühle mich aufgefordert, meine Arbeit zu teilen und<br />
möchte mich als Heilpädagoge aktiv weiterentwickeln,<br />
sodass ich meine Aufgabe im Bereich der Pädagogik<br />
besser erfüllen kann. Und ich möchte als einen Beitrag<br />
für die Gesellschaft an einer wesensgemässen Erziehung<br />
mitwirken.<br />
Übersetzung aus dem Englischen: Christian von Arnim<br />
78<br />
My relationship to anthroposophical curative education<br />
is best articulated in the following words by Jim Rohn:<br />
Whatever good things we build end up building us.<br />
My initiation into anthroposophical curative education<br />
came at a time when I was at a crossroads.<br />
As a young man fresh out of school, I had no definite<br />
plan beyond the desire of acquiring material<br />
possessions, but destiny had a clear, life-altering<br />
idea for my life. However, at that particular time I<br />
did not have the wisdom to comprehend this. Kierkegaard<br />
once said: “Life can only be understood<br />
backwards.” This has certainly been true in my<br />
case. About eight years ago, I met a women who<br />
introduced me to Camphill (and anthroposophy). I<br />
joined Camphill with the prospect of experiencing<br />
this work for three months and then proceeding to<br />
pursue my well mapped-out materialistic pursuits.<br />
Since then, my life has been an adventure filled<br />
with innumerable, enriching challenges and lifealtering<br />
experiences.<br />
Anthroposophical curative education is still mostly<br />
misunderstood, at least in the mainstream education<br />
sector. However, I believe such curative education<br />
to be innovative, and in the past ten years alone<br />
mainstream education has begun to recognise and<br />
notice the significant contribution that this curative<br />
education makes. No child should be quantified<br />
and be made to fit into a box.<br />
Anthroposophical communities (Camphill in particular)<br />
need to examine how the demands of work<br />
can be balanced with the individual’s needs for a<br />
sustainable life. I think we need to restructure our<br />
organisations without losing the essence of our<br />
model of community and the fundamental values<br />
of our unique way of building community.<br />
I feel called upon to share my work and actively<br />
continue the process of developing myself as<br />
a special needs teacher so as to better serve and<br />
fulfill my purpose in the realm of education. And,<br />
unquestionably, my role in the quest of educating<br />
the child organically is in itself an offering to society<br />
at large.
Berichte | Reports<br />
Mit den Wiener Philharmonikern | With the Wiener Philharmonics<br />
Österreich<br />
Im Jahr 1884 begann Rudolf Steiner eine Tätigkeit<br />
als Erzieher im Hause des Baumwollimporteurs Ladislaus<br />
Specht in Wien. Es gelang ihm, das «Sorgenkind»<br />
der Familie, Otto Specht, der für nicht<br />
bildungsfähig gehalten wurde, zum Besuch des Gymnasiums<br />
vorzubereiten und um später das Medizinstudium<br />
zu absolvieren. Im Hause Specht erfuhr<br />
Rudolf Steiner so sein grundlegendes heilpädagogisch-therapeutisches<br />
Studium und Praktikum.<br />
Somit kann behauptet werden, dass die anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie ihren<br />
weltbedeutenden Anfang in Wien begonnen hat.<br />
Diese praktischen heilpädagogischen Erfahrungen<br />
des jungen Rudolf Steiners, verbunden mit seinen<br />
grundlegenden erkenntnistheoretischen Arbeiten<br />
einer goetheanistisch-phänomenologischen Betrachtungsweise,<br />
bilden die geistigen Keime, die<br />
dann im Jahre 1924 als Frucht in Form des Heilpädagogischen<br />
Kurses die anthroposophische heilpädagogische<br />
Weltbewegung impulsierte.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Austria<br />
In 1884 Rudolf Steiner began to work as a private<br />
teacher in the home of the cotton merchant Ladislaus<br />
Specht in Vienna. He managed to prepare<br />
Otto Specht, the family’s ‹problem child›, previously<br />
thought to be uneducable, for grammar school<br />
and even for his subsequent medical studies. It was<br />
in the Specht home, therefore, that Rudolf Steiner<br />
received his training and first practical experience<br />
of curative education and therapy.<br />
Anthroposophical curative education and social<br />
therapy can therefore be said to have originated in<br />
Vienna. The practical experience the young Rudolf<br />
Steiner gained there, in conjunction with his fundamental<br />
epistemological studies based on Goethean-phenomenological<br />
observation, formed the<br />
seed from which, in 1924, the Curative Education<br />
Course could grow and inspire a worldwide anthroposophical<br />
movement for curative education.<br />
All this started in Vienna, and this is why Austria<br />
boasts a range of anthroposophical curative educa-<br />
79
Berichte | Reports<br />
Das alles hat in Wien seinen Ausgang genommen und<br />
insofern ist es erklärlich, dass Österreich heute über<br />
ein ansehnliches Spektrum an anthroposophischen<br />
heilpädagogischen Einrichtungen verfügt. Die anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie ist 90<br />
Jahre nach dem Heilpädagogischen Kurs von Rudolf<br />
Steiner in Österreich etabliert und anerkannt.<br />
Drei heilpädagogische Schulen, neun sozialtherapeutische<br />
Einrichtungen, zwei Ausbildungsstätten<br />
und ein Elternverein arbeiten unter dem österreichischen<br />
Dachverband PlatO – Plattform anthroposophischer<br />
therapeutischer Organisationen. PlatO ist<br />
das Bindeglied zur Konferenz für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie in der Medizinischen Sektion der Freien<br />
Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum<br />
in Dornach/Schweiz.<br />
Einige anthroposophisch orientiert arbeitende Initiativen,<br />
die nicht dem Dachverband PlatO beigetreten<br />
sind, stehen in einem guten Verhältnis zu den anderen<br />
Einrichtungen. Die beiden Rudolf-Steiner-Seminare<br />
für Heilpädagogik und Sozialtherapie in Breitenfurt<br />
bei Wien und in Graz bilden SozialbetreuerInnen für<br />
die Begleitung von Menschen mit Behinderung bzw.<br />
SozialtherapeutInnen und HeilpädagogInnen für alle<br />
Institutionen aus. Die Einrichtungen gedeihen und<br />
wirken positiv anregend auf das Umfeld.<br />
Die drei Schulen haben jede für sich ein eigenes Profil<br />
entwickelt, aber alle auf der Grundlage der Waldorfpädagogik.<br />
Das sind die Karl Schubert Schulen in Wien, in<br />
Graz und die Paracelsus Schule Salzburg.<br />
Die verschiedenen sozialtherapeutischen Einrichtungen,<br />
von denen die Mehrzahl an biologisch-dynamischen<br />
Bauernhöfe angegliedert sind, verteilen sich auf<br />
Kärnten, Steiermark, Niederösterreich, Oberösterreich<br />
und Salzburg. Es werden insgesamt ca. 500 seelenpflegebedürftige<br />
Menschen in diesen Organisationen<br />
betreut. Weil hier eine Beschreibung der einzelnen Institutionen<br />
den Rahmen sprengen würde, weise ich auf<br />
einen ausführlichen historischen Bericht von Frau Ulrike<br />
Wenniger hin, den sie 2014 verfasst hat und der in<br />
der Zeitschrift «Wegweiser Anthroposophie» publiziert<br />
wurde. Darin finden sich eine schöne Beschreibung und<br />
Charakterisierung der einzelnen Initiativen und auch<br />
eine Erwähnung der einzelnen Persönlichkeiten, die<br />
tatkräftigt für die Impulse gesorgt haben.<br />
tion centres today. Ninety years after Rudolf Steiner<br />
presented the Curative Education Course, anthroposophical<br />
Curative Education and Social Therapy<br />
are established and recognized in Austria.<br />
Three schools offering curative education, nine<br />
social therapy centres, two training centres and a<br />
parents’ association are all members of the umbrella<br />
organization PlatO – Platform for anthroposophical<br />
therapeutic Organizations. PlatO is<br />
Austria’s link to the Curative Education and Social<br />
Therapy Council, which is part of the Medical Section<br />
of the School of Spiritual Science at the Goetheanum<br />
in Dornach, Switzerland.<br />
The anthroposophically oriented initiatives which<br />
are not PlatO members have a good relationship<br />
with the other centres. The two Rudolf Steiner training<br />
seminars for Curative Education and Social<br />
Therapy, one in Breitenfurt near Vienna and the<br />
other in Graz, train social care workers to support<br />
people with special needs as well as social therapists<br />
and curative teachers to work in any of our institutions.<br />
These centres are thriving and have a positive<br />
and inspirational effect on their environment.<br />
The three schools – the Karl Schubert Schools in Vienna<br />
and Graz and the Paracelsus School in Salzburg<br />
– have developed their own individual identity, but<br />
they are all based on Waldorf Education.<br />
The various social therapy centres, most of which are<br />
attached to biodynamic farms, are spread out across<br />
Carinthia, Styria, Lower Austria, Upper Austria and<br />
Salzburg. Around 500 people with special needs are<br />
being looked after in these organizations.<br />
In recent years, the anthroposophical curative education<br />
and social therapy movement in Austria has<br />
worked on the following issues:<br />
• In 2008 a monitoring committee was formed in Austria<br />
for the implementation of the UN Convention<br />
on the Rights of People with Disabilities. The<br />
question of inclusion was also taken up by the government<br />
of Lower Austria and discussed within<br />
the various institutions.<br />
• In the Vienna area and in Lower Austria two growing<br />
centres, LebensArt and the village community in<br />
Breitenfurt, are receiving positive feedback and<br />
support from the authorities. Anthroposophical<br />
80
Berichte | Reports<br />
In den letzten Jahren hat sich die anthroposophische<br />
heilpädagogische und sozialtherapeutische Bewegung<br />
in Österreich mit folgenden Themen auseinandergesetzt:<br />
• 2008 hat sich der Österreichische-Monitoring-Ausschuss<br />
zur Umsetzung der UN-BRK konstituiert. Die Inklusionsthematik<br />
wurde auch von der NÖ Landesregierung<br />
aufgegriffen, ebenso in den Institutionen<br />
thematisiert.<br />
• Im Raum Wien und Niederösterreich wird das Wachstum<br />
der Einrichtungen LebensArt und Dorfgemeinschaft<br />
Breitenfurt von den Behörden positiv bewertet und<br />
unterstützt. Die anthroposophische Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie ist in NÖ sehr anerkannt und geniesst<br />
teilweise Modellcharakter. Die wirtschaftliche<br />
Unterstützung ist in NÖ im Vergleich zu anderen Bundesländern<br />
wie Kärnten und Steiermark sehr stabil.<br />
Alle laufenden Kosten sind durch staatliche Subventionen<br />
gedeckt. Die Dorfgemeinschaft wurde bei der<br />
letzten Baustufe wesentlich vom Land unterstützt.<br />
• Folgende fachliche Fragen haben uns in den letzten<br />
Jahren intensiv beschäftigt: Der Paradigmenwechsel<br />
von der Integration zur Inklusion, individuelle (persönliche)<br />
Zukunftsplanung und selbstbestimmtes<br />
Leben, Unterstützte Kommunikation, Aufbau von<br />
Selbstvertretungen, medizinische Versorgung für<br />
Menschen mit Behinderung und Krisenintervention.<br />
• Unser Beitrag: Verknüpfung von zeitgemässer anthroposophischer<br />
Sozialtherapie und Ausbildung. Verbreitung<br />
des Impulses an junge Menschen durch viele<br />
PraktikantInnen eines Freiwilligen Sozialen Jahres,<br />
Auszubildende und Schulpraktikanten.<br />
curative education and social therapy are recognized<br />
in Lower Austria to the extent that they<br />
are sometimes presented as exemplary. Unlike in<br />
other states, such as Carinthia and Styria, financial<br />
support in Lower Austria is very reliable: all running<br />
costs are covered by state funding and the<br />
village community received state support for its<br />
most recent building project.<br />
• The following topics have been particularly relevant<br />
in recent years: the paradigm shift from integration<br />
to inclusion, individual (personal) planning<br />
for the future and self-determined living, facilitated<br />
communication, establishing self-advocacies,<br />
medical care for people with disabilities and crisis<br />
intervention.<br />
• Our contribution: combining modern anthroposophical<br />
social therapy and training. Spreading the<br />
impulse to young people via the many volunteers,<br />
students and pupils on work experience.<br />
Michael Mullan, Dorfgemeinschaft Breitenfurt,<br />
Breitenfurt b. Wien<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
81
Berichte | Reports<br />
Pakistan<br />
Als Shahida und Hellmut Hannessen vor 16 Jahren die<br />
Entscheidung trafen, den Impuls der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie nach Pakistan<br />
zu tragen, konnten sie noch nicht ahnen, welche<br />
weitreichende Folgen sich aus dieser Entscheidung<br />
ergeben würden! Beide leben inzwischen aus persönlichen<br />
Gründen wieder in Deutschland, nachdem sie<br />
über zehn Jahre massgeblich und leitend den Aufbau in<br />
Lahore vorangebracht haben.<br />
Das Leben in Roshni<br />
In Roshni leben heute ungefähr dreissig erwachsene<br />
Menschen mit Assistenzbedarf in zwei grossen Häusern,<br />
die mit deutscher Unterstützung für diesen Zweck gebaut<br />
wurden und die auch die Werkstätten und einen kleinen<br />
Saal beherbergen. Das Anwesen befindet sich in einem<br />
noch ländlichen, aber schon locker bebauten Vorstadtgebiet<br />
von Lahore. Zu jeder Seite der in Pakistan üblichen<br />
Mauer zur Sicherung des Grundstücks grenzt eine<br />
Moschee. Zuweilen wird man morgens nicht nur vom Ruf<br />
des Muezzin, sondern auch von einem Löwen geweckt,<br />
den sich einer der Nachbarn als Haustier hält.<br />
Das Leben innerhalb dieser Mauern folgt seinem eigenen<br />
Gang, bei dem sich die vom Islam geprägte pakistanische<br />
Kultur und heilpädagogisch-sozialtherapeutische<br />
Traditionen die Hand reichen.<br />
Ein vielseitiger Ort<br />
Während die am Ort lebenden Mitarbeitenden und PraktikantInnen<br />
ihre Zeit mit den Bewohnern auch am Wochenende<br />
und nach Feierabend teilen, gibt es etliche, die mit<br />
Kleinbussen aus dem ganzen Stadtgebiet kommen und<br />
abends wieder nach Hause fahren. Nicht selten kommt<br />
eine Schar von Kindern aus der benachbarten Waldorfschule,<br />
um in Garten oder Landbau mitzuarbeiten. Dieser<br />
spielt eine wichtige Rolle: Er wendet sich der Beziehung<br />
und Pflege der Natur zu, bietet Arbeitsplätze und trägt zur<br />
Versorgung der in Roshni lebenden Menschen bei. Man<br />
wird dort neben zwei Kühen, die allerdings ganz anders<br />
aussehen als in Europa, auch einige Wasserbüffel finden.<br />
Sie werden morgens und abends von Hand gemolken.<br />
Das Futter wird mit dem Eselwagen aus der Umgebung<br />
geholt. Wasserbüffel sind in Pakistan sehr verbreitet und<br />
ihre Besitzer führen sie, wenn irgend möglich, einmal am<br />
Tag zum Wasser, wo sie wohlig baden.<br />
Pakistan<br />
When, sixteen years ago, Shahida and Hellmut Hannessen<br />
decided to carry the anthroposophical curative education<br />
and social therapy impulse to Pakistan they had no idea<br />
what far-reaching consequences their decision would<br />
have! Although they have returned to Germany again for<br />
personal reasons, they were instrumental in promoting<br />
and leading the project in Lahore for more than ten years.<br />
Life at Roshni<br />
Today around thirty adults with special needs live at<br />
Roshni, in two big houses which were purpose-built<br />
with help from Germany and which also include workshops<br />
and a small hall. They are located in a suburban<br />
part of Lahore that is still relatively rural but is gradually<br />
becoming built up. On each side of the wall that<br />
surrounds the premises – a common safety precaution<br />
in Pakistan – stands a mosque. At times, not only<br />
the call of the muezzin wakes us in the morning but<br />
also the roaring of the lion that is kept as a pet by one<br />
of the neighbours. Life within these walls has its own<br />
rhythms, uniting the Islamic Pakistani culture with the<br />
traditions of curative education and social therapy.<br />
A multifaceted place<br />
While the staff members and co-workers who live here<br />
also spend time with the residents during weekends<br />
and after working hours, there are many who come<br />
in small buses from all over the city and return home<br />
in the evening. Quite often a group of children comes<br />
over from the nearby Waldorf school to help in the<br />
garden or on the fields. Agriculture is an important<br />
aspect of the community: it involves caring for nature,<br />
provides jobs and supplies everyone at Roshni with<br />
food. Apart from two cows – they look very different<br />
from European cows – there are also a few water buffalos.<br />
They are milked by hand every morning and evening<br />
and their food is fetched by donkey-cart from the<br />
surrounding area. Water buffalos are quite common in<br />
Pakistan. Their owners lead them to the water once a<br />
day and let them indulge in a bath.<br />
The bakery is another important workplace. Germanstyle<br />
bread is being baked here and the products are<br />
also delivered to various organic health-food shops in<br />
Lahore – a courageous enterprise seeing that Pakistani<br />
people are used to eating ‹roti›, a flatbread which they<br />
use instead of cutlery.<br />
82
Eine weitere wichtige Werkstatt ist die Bäckerei, die<br />
Brote nach deutschem Rezept bäckt. Einige Bioläden<br />
in Lahore werden mit den Produkten beliefert. Dies ist<br />
ein mutiger Ansatz, da in der Regel in Pakistan Roti gegessen<br />
wird, ein Fladenbrot, das man gewöhnlich statt<br />
Besteck verwendet.<br />
Fortbildung und Beratung<br />
Im Namen der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
war ich in den vergangenen zwei Jahren vier<br />
Mal für gut eine Woche dort, um die Arbeit wahrzunehmen,<br />
zu beraten und zu impulsieren. Besonders interessant<br />
ist der Dialog zwischen den Ansätzen aus dem<br />
islamisch-pakistanischen Kulturkreis und den anthroposophisch<br />
inspirierten Konzepten. Unter der Überschrift<br />
«Grundelemente und Qualitäten» werden die<br />
Seminartage begonnen und beendet. Themen sind humanistische<br />
Fragen, wie beispielsweise der Stellenwert<br />
von Interesse, Mitgefühl und Mitleid oder Liebe. Zudem<br />
wird an der Aussagekraft und den Motiven der Behinderung<br />
im Rahmen des jeweiligen Menschenbilds gearbeitet.<br />
Daneben spielen Märchen und Erzählungen<br />
aus dem pakistanischen Umkreis eine wichtige Rolle,<br />
die teils durch Carolin Dackweiler mit Elementen des<br />
Theaters aufgegriffen, erlebbar gemacht und vertieft<br />
werden. So wird es demnächst ein kleines Theaterstück<br />
geben, das von den Mitarbeitenden aufgeführt wird.<br />
Weitere Entwicklung und Wachstum<br />
Die Arbeit in Roshni entwickelt sich und wächst stetig.<br />
Die Werkstätten suchen nach guten Absatzwegen<br />
für ihre Produkte und entwickeln diese weiter. Eventuell<br />
ist sogar an eine deutliche Vergrösserung gedacht.<br />
Auch ein weiteres Wohnhaus ist in Planung. Durch die<br />
intensive und regelmässige Arbeit mit dem Kollegium<br />
arbeiten wir daran, die äussere Entwicklung von innen<br />
zu unterbauen und zu impulsieren.<br />
So lebt, was nicht zuletzt auch mit Hilfe und Unterstützung<br />
der Zukunftsstiftung Entwicklung der GLS Gemeinschaftsbank<br />
und der Freunde der Erziehungskunst<br />
Rudolf Steiners begonnen wurde.<br />
Michael Dackweiler zu Besuch in Pakistan | Michael on a visit to Pakistan<br />
Further training and consulting<br />
I have visited Roshni four times in the last two years<br />
on behalf of the Curative Education and Social Therapy<br />
Council, staying about a week each time. My aim on<br />
these visits has been to gain an impression of the life<br />
here as well as acting as a consultant and bringing fresh<br />
impulses. What is particularly interesting is the dialogue<br />
between Pakistani Islamic culture and anthroposophically<br />
inspired concepts. We begin and end our seminars<br />
with a session entitled ‹Basic Elements and Qualities›.<br />
We work on humanistic questions such as the value<br />
of interest, compassion and love, and on the meaning<br />
and motifs of disability within the different views of the<br />
human being. Folk tales from Pakistan play an important<br />
part in our seminars. Carolin Dackweiler dramatizes<br />
them to provide a deepened experience and a small play<br />
will soon be performed by staff members.<br />
Development and growth<br />
The work at Roshni is progressing steadily. The workshops<br />
are trying to find a suitable market for their products<br />
and are even planning to expand. Plans are also<br />
underway for more housing. By working intensively and<br />
regularly with the staff we try to strengthen the outer<br />
development from within and bring new impulses.<br />
What was once started with the help of the GLS Bank’s<br />
‹Foundation for the Future› and the Friends of Rudolf<br />
Steiner Education has become a living organism.<br />
Michael Dackweiler, iona-werkstatt, Deckenpfronn<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
83
Berichte | Reports<br />
San Christoferus in Lima<br />
Peru<br />
Peru<br />
Peru liegt im Zentrum Südamerikas und grenzt im Westen<br />
an den pazifischen Ozean, sodass es drei gut definierte<br />
Regionen gibt: die wüstenartige Küste, die Gebirgskette<br />
der Anden und den tropischen Regenwald.<br />
In den letzten drei Jahren hat sich die ökonomische Situation<br />
im Land aufgrund der weltweiten Finanzkrise<br />
verschärft, da Perus Wirtschaft sehr exportabhängig ist.<br />
Insbesondere bei der Ausfuhr von Edelmetallen sind die<br />
Preise massiv gefallen.<br />
Dies hat zur Folge, dass der Staatshaushalt starke Einbussen<br />
verzeichnet, was wiederum deutliche Auswirkungen<br />
auf die Investitionen im Bildungsbereich zur Folge hat.<br />
In sozialer Hinsicht prallen extreme Unterschiede aufeinander.<br />
Vor allem in den Randzonen der Hauptstadt<br />
Lima, woher unsere Schüler kommen, herrscht eine<br />
grosse Armut.<br />
San Cristoferus ist eine von verschiedenen Institutionen<br />
in Lima, die auf Initiative von Wolfgang Spitteler<br />
gegründet wurden. Es ist das einzige «Sonderschulzentrum»<br />
in ganz Peru, das nach anthroposophischheilpädagogischen<br />
Richtlinien arbeitet. Da in Peru<br />
eine spezielle Ausbildung für Heilpädagogik erforderlich<br />
ist, sind an der Schule fünf heilpädagogisch<br />
ausgebildete Lehrer tätig. Alle Fachkräfte haben ihre<br />
anthroposophisch-heilpädagogische Qualifikation durch<br />
die Teilnahme an internationalen Kongressen im Aus-<br />
Peru lies in the centre of South America and has<br />
its west coast on the Pacific Ocean. The country is<br />
split into three well defined regions: The desert-like<br />
coast line, The Andes mountain range and the tropical<br />
rain forest.<br />
Peru’s economy is heavily dependent on export, and<br />
due to the global financial crisis, the economic situation<br />
has been deteriorating and the prices of precious<br />
metals have dropped drastically. The national budget<br />
has been adversely affected by this development and<br />
this has had a huge impact on investment in the education<br />
system.<br />
Socially speaking, we see massive differences in the<br />
quality of life around the country. The suburbs of Lima,<br />
where our children come from, are poverty-stricken.<br />
San Cristoferus is one of several centres in Lima that<br />
were founded by Wolfgang Spitteler, and it is the only<br />
anthroposophical special needs school in all of Peru.<br />
Because one needs specialist training to teach in special-needs<br />
schools in Peru, San Cristoferus employs<br />
five such qualified teachers. All specialist staff received<br />
their anthroposophical qualifications in curative<br />
education by attending international professional<br />
development congresses in Peru or in neighbouring<br />
countries such as Ecuador, Columbia or Argentina. We<br />
have many guests from other institutions and centres<br />
84
Berichte | Reports<br />
land absolviert (Ecuador, Kolumbien, Argentinien,<br />
Peru), nicht zuletzt sind die vielen Gespräche mit eingeladenen<br />
Gästen und Besuchern immer wieder aufschlussreich<br />
und ein bedeutender Lernfaktor.<br />
San Cristoferus praktiziert seit nunmehr dreissig Jahren<br />
Heilpädagogik auf der Grundlage einer privaten Körperschaft.<br />
Die Zahl der Schülerinnen und Schüler soll in den<br />
kommenden Jahren erhöht werden, da eine Kapazität<br />
von vierzig Plätzen besteht, zurzeit jedoch nur dreissig<br />
davon besetzt sind. Deswegen suchen wir nach Wegen,<br />
unseren Dozentinnen und Dozenten zur Erlangung einer<br />
Qualifikation die Teilnahme an Bildungsmassnahmen in<br />
Südamerika zu ermöglichen, was nicht einfach ist, da die<br />
wirtschaftliche Situation der pädagogischen Fachkräfte<br />
es in der Regel nicht erlaubt, zu Ausbildungszwecken<br />
eine längere Zeit ins Ausland zu reisen.<br />
Die Kinder und Jugendlichen von San Christoferus stammen<br />
aus verschiedenen Armenvierteln Limas. 95% unserer<br />
Schülerinnen und Schüler werden durch Voll- oder<br />
Teilstipendien unterstützt, da die Eltern sehr arm sind.<br />
Zusätzlich erhalten wir eine Förderung von einigen Paten<br />
aus Deutschland, der Schweiz und Italien. Insgesamt<br />
kann damit jedoch nicht das erforderliche Budget abgedeckt<br />
werden. Der Staat stellt uns angesichts unseres<br />
privaten Status keinerlei Subventionen zur Verfügung.<br />
Heilpädagogik basiert in Peru auf einer Sonder-Vereinbarung<br />
mit dem Ministerium für Bildung und kann<br />
offiziell als Projektversuch umgesetzt werden. Die letzten<br />
Regierungen haben an einer Bildungsreform gearbeitet,<br />
jedoch ohne Kontinuität, da jede Regierung<br />
während ihrer Amtszeit die Reform nach ihren eigenen<br />
Kriterien gestaltet hat. Aufgrund dieser Brüche und<br />
Erneuerungen war die Gestaltung eines nachhaltigen<br />
Curriculums nicht möglich.<br />
around the world who bring us new ideas and techniques<br />
and make sure we never stop learning.<br />
San Cristoferus has practised curative education on a<br />
private basis for over 30 years. Over the next year, we<br />
plan to increase the number of students at our centre.<br />
We have the resources and capacity for 40 students,<br />
but only have 30 at present. This being the case, we are<br />
currently searching for ways for our teachers to attend<br />
courses in South America, so they can get qualifications.<br />
This is not easy, as the teachers’ current financial<br />
situation does not allow them to attend more intensive,<br />
time consuming training courses in other countries.<br />
Our children and young people come from various deprived<br />
parts of Lima. Because all the parents are very<br />
poor, 95% of our students are financially supported<br />
by either full time or part time grants. In addition, we<br />
receive donations from sponsors in Germany, Switzerland<br />
and Italy. Unfortunately, this still does not cover<br />
all our costs, and, because of our private status, the<br />
state refuses us any subsidies.<br />
Curative education in Peru is based upon a special<br />
agreement with the ministry of education, and is allowed<br />
to be implemented as an educational experiment<br />
project. Because of their differing ideas and<br />
impulses, previous governments working on educational<br />
reform failed to achieve any noticeable continuity.<br />
This lack of progression and the constant<br />
changes have meant that it has been impossible for<br />
us to achieve a sustainable curriculum.<br />
Victor Cordova, Colegio San Christoferus, Lima<br />
Translawtion from German: Leonard Saar<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
85
Berichte | Reports<br />
Portugal<br />
Portugal<br />
Portugal ist das Land, das vor 500 Jahren im Vertrag<br />
von Tordesilhas mit päpstlicher Genehmigung die<br />
ganze Welt mit seinem Nachbarn Spanien teilte. Doch<br />
zur Zeit sieht diese ehemahlige Weltmacht wegen der<br />
vorerst aussichtslosen Wirtschaftskrise ihre jüngere<br />
Generation emigrieren.<br />
So leben im Land zehn Millionen Einwohner, vier Millionen<br />
Portugiesen sind seit den sechziger Jahren ausgewandert<br />
über die ganze Welt.<br />
Die Anthroposophische Gesellschaft zählt etwa fünfzig (!)<br />
Mitglieder, darunter etwa zwanzig aktive, meist verbunden<br />
mit heilpädagogischen oder Waldorf-Initiativen.<br />
Es gibt zwei Einrichtungen für Sozialtherapie, beide im<br />
gebirgigen Innenland, beide Mitglied der spanischportugiesischen<br />
Föderation für Heilpädagogik und Sozialtherapie:<br />
ASTA (Associação SocioTerapêutica de<br />
Almeida) und Casa de Santa Isabel. Zusammen mit Institutionen<br />
aus Spanien werden jährlich abwechselnd Mitarbeiter-<br />
und Bewohnerkongresse organisiert.<br />
Wir dürfen uns in Portugal über staatliche finanzielle<br />
Unterstützung freuen, doch wie überall ist die Kehrseite<br />
der Medaille eine zunehmende Kontrolle und<br />
Reglementierung.<br />
Bewegung<br />
Die ältere Institution, Casa de Santa Isabel (1981), rückte<br />
vor einigen Jahren in die öffentliche Aufmerksamkeit<br />
wegen des Brandes eines Wohnhauses. Dieses Ereignis<br />
hat viel Bewegung gebracht. Kamen bis dahin viele<br />
(freiwillige) Mitarbeiter aus Mitteleuropa, so erschienen<br />
jetzt Menschen aus dem Land selbst und wollten sich als<br />
Mitarbeiter engagieren. Zudem war jahrelang schon die<br />
Rede von der Etablierung einer Ausbildung. Die Pläne<br />
konnten nun verwirklicht werden.<br />
In dieser Zeit spitzte sich auch die Wirtschaftskrise zu.<br />
Wir haben den Eindruck, dass diese, neben Arbeitslosigkeit,<br />
auch Bewusstsein bringt zu Sinnfragen, die<br />
dann wiederum Türen öffnen können, die vorher nicht<br />
im Blickfeld waren.<br />
Die andere Institution, ASTA (2000), in einer immer dünner<br />
besiedelten ländlichen Gegend, hat eine sehr aktive<br />
Rolle übernommen in der sozio-kulturellen Wiederbelebung<br />
der Region. Das Gemeinschaftsleben mit den betreuten<br />
Menschen erweckt die kleinen Granithäuser<br />
eines sonst aussterbenden Dorfes zu neuem Leben.<br />
Portugal is the country which 500 years ago, in the<br />
Treaty of Tordesillas and with papal permission, divided<br />
up the whole world between itself and its neighbour,<br />
Spain. Now the former global power is seeing its<br />
younger generation emigrate as a result of a seemingly<br />
hopeless economic crisis.<br />
The country has ten million inhabitants. Since the sixties,<br />
four million Portuguese have emigrated, spreading<br />
out across the world.<br />
The Anthroposophical Society has around fifty (!)<br />
members, twenty of whom are active, mostly in connection<br />
with initiatives for the provision of curative<br />
or Waldorf education.<br />
There are two social therapy centres, both situated<br />
in the mountainous interior of the country and<br />
both members of the Spanish-Portuguese Federation<br />
for Curative Education and Social Therapy<br />
(ASTA – Associação SocioTerapêutica de Almeida)<br />
and Casa de Santa Isabel.<br />
Together with centres in Spain they take it in turns to<br />
organize congresses for staff and residents.<br />
We are lucky to receive state funding in Portugal but,<br />
as everywhere else, the downside is that we have to<br />
put up with ever more monitoring and regulation.<br />
Progress<br />
Casa de Santa Isabel, the older of the two centres<br />
(1981), was in the news some years ago when one of<br />
the residential houses was destroyed by fire. This event<br />
has stimulated some progress. While, up to that time,<br />
many volunteers came from Central Europe, people<br />
now arrive from Portugal, keen to give active support.<br />
There also had been talk for years of setting up a training<br />
and these plans could now be put into action.<br />
At that time the economic crisis was also escalating.<br />
We have the impression that this crisis, as well as the<br />
unemployment, make people more aware of the question<br />
of what is meaningful and this awareness can<br />
then open doors that had not been visible before.<br />
The other centre, ASTA (2000), which is situated in<br />
a less populated rural area, has assumed an active<br />
role in the socio-cultural reenlivening of the region.<br />
Living in a community with the people we care for<br />
brings new life to the small granite houses in a village<br />
that would otherwise be deserted.<br />
86
Berichte | Reports<br />
Inklusion<br />
Die Inklusionspolitik hat dazu geführt, dass wir keine<br />
Kinder mehr betreuen dürfen. Sie sollen alle in die «normalen»<br />
Schulen gehen. Als Siebzehnjährige stehen sie<br />
dann wieder hier an der Tür, um teilzunehmen an unserer<br />
speziellen Berufsausbildung für junge Erwachsene<br />
mit einem Entwicklungsproblem; leider ist dann vielfach<br />
zu dem ursprünglichen Problem noch ein Minderwertigkeitskomplex<br />
dazugekommen. Sie stellen, oft geprägt<br />
von Aussichtslosigkeit und unstrukturierten sozialen<br />
Hintergründen, mit ihren Smartphones und ihrer Tabakabhängigkeit<br />
wieder ganz neue Herausforderungen dar.<br />
Nächste Schritte<br />
Die heranwachsende Mitarbeitergeneration ist offen für<br />
die anthroposophische Praxis. Auch im Rahmen der erwähnten<br />
Ausbildung zeigen die jungen Mitarbeitenden<br />
Interesse an Hintergründen. Es ist überraschenderweise<br />
kein prinzipielles Problem für sie, Steinertexte zu<br />
studieren. Aber bekanntlich ist für junge Leute die Auseinandersetzung<br />
mit dem christlichen Hintergrund der<br />
Anthroposophie nicht einfach.<br />
Aus Sicht der Antroposophischen Bewegung als Ganzes<br />
sieht man die grosse Bedeutung der Waldorfpädagogik<br />
und der Heilpädagogik/Sozialtherapie im<br />
Lande. In die portugiesische Anthroposophische Gesellschaft<br />
treten jährlich vielleicht zwei neue Mitglieder<br />
ein, neue Ausbildungen können mit dreissig bis<br />
fünfzig Interessierten pro Jahr rechnen. Die Praxis,<br />
also die Tätigkeit, zu der die heilpädagogische und sozialtherapeutische<br />
Arbeit einlädt, bietet den Zugang<br />
zur spirituellen Vertiefung. Es ist vermutlich auch in<br />
diesem Sinne zu verstehen, dass Wolfgang Schad in<br />
seinem Buch «Der periphere Blick» vorschlägt: «Im<br />
Steinerschen Gesamtwerk ersetze man überall das<br />
Wort ‹Geist› durch ‹Tätigkeit›. Es passt immer.»<br />
Es ist an der Zeit, dass die Pioniergeneration und die<br />
jungen Mitarbeitenden den Generationswechsel jetzt<br />
in Tätigkeit und mit Geistesgegenwart gestalten.<br />
Mit einem Gruss aus der Peripherie Europas,<br />
Inclusion<br />
As a result of the inclusion policy we are no longer<br />
allowed to look after children, because they are all expected<br />
to attend ‹normal› schools. When they turn seventeen<br />
they come back to us and want to take part<br />
in our vocational training for young adults with developmental<br />
problems; unfortunately they have by then<br />
often acquired an inferiority complex in addition to<br />
their orgininal difficulties. Their sense of hopelessness<br />
and their unstructured social background, connected<br />
with a smart phone habit and tobacco addiction, now<br />
present entirely new challenges.<br />
The next steps<br />
The new generation of staff members is open to the<br />
anthroposophical approach. Even those who are still<br />
in training show an interest in its origins. Surprisingly<br />
they don’t have a problem in principle with reading<br />
texts by Rudolf Steiner. What they do find more difficult<br />
is the Christian foundation of anthroposophy.<br />
The anthroposophical movement in Portugal is aware<br />
of the great importance of Waldorf education and<br />
curative education/social therapy for this country.<br />
The Anthroposophical Society in Portugal gains<br />
about two new members per year, while the new<br />
training courses expect about thirty to fifty new students<br />
every year. The practical activity that curative<br />
education and social therapy invite us to take upon<br />
us paves the way for spiritual deepening. This is probably<br />
what Wolfgang Schad meant when he wrote,<br />
‹You can replace the word ‘spirit’ by ‘activity’ anywhere<br />
in Rudolf Steiner’s work. It will always make<br />
sense.› It is time that the pioneering generation and<br />
the young care workers start to shape the change of<br />
generations actively and consciously.<br />
With warm greetings from the European periphery,<br />
Bert ten Brinke, Casa de Santa Isabel, São Romão-<br />
Seia Translation from German: Margot Saar<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
87
Berichte | Reports<br />
Rumänien<br />
Romania<br />
Heilpädagogische Arbeit existiert seit 1991 in Rumänien<br />
und sie erfolgt in vier Zentren: Simeria Veche, Bukarest,<br />
Cluj-Napoca und Vulca, in denen insgesamt<br />
270 Leistungsberechtigte von über 130 Personen versorgt<br />
werden. Unglücklicherweise erweist sich die politische<br />
und wirtschaftliche Situation in Rumänien als<br />
ungünstig. Weit davon entfernt, Alternativen wie die<br />
heilpädagogische Erziehung zu unterstützen, werden<br />
diese von den rumänischen Behörden eher toleriert,<br />
so dass sie nur knapp überleben können.<br />
Nur das Zentrum in Simeria hat den Status einer unabhängigen,<br />
rechtmässig legitimierten Institution<br />
und damit die Freiheit, die gesetzlichen Vorschriften<br />
zu implementieren. Die Zentren in Bukarest, Cluj und<br />
Vulcan sind noch immer mit staatlichen Schulen verbunden<br />
und damit kaum in der Lage, die spezifischen<br />
heilpädagogischen Aktivitäten so durchzuführen, wie<br />
man dies sollte. Stattdessen muss mit dem System<br />
darum gekämpft werden, die Rechte der Menschen<br />
mit Beeinträchtigungen umzusetzen.<br />
Die Förderschulen kämpfen um ihre Existenz und<br />
«jagen» geradezu nach Schülern, um die Stellen der<br />
Mitarbeiterschaft zu erhalten. So hat beispielsweise<br />
vor einigen Jahren der damalige Leiter von Cluj sich<br />
selbst als Eurythmielehrer eingestellt, damit er etwas<br />
zusätzliches Geld verdienen konnte.<br />
Ein weiteres trauriges Phänomen besteht darin, dass<br />
der Staat versucht, die von ihren Eltern verlassenen<br />
Kindern in der Nähe ihrer Herkunftsfamilie zu platzieren.<br />
Dies führt zu häufigen Umzügen der Kinder von<br />
einer Institution in die andere – den oft armen Familien<br />
folgend – die das Kind aufgegeben haben, ohne an<br />
weiterem Kontakt interessiert zu sein.<br />
Auch wenn die Heilpädagogik die einzige alternative<br />
Erziehungsmethode mit staatlicher Anerkennung<br />
und Finanzierung darstellt, erklären die meisten Behörden<br />
–, inoffiziell, aber deutlich – dass Kinder mit<br />
schweren geistigen Behinderungen nicht in die Schule<br />
gehörten. Sie sind sich zwar der Forderungen der UN-<br />
Konvention bewusst, aber geben nur vor, diese umzusetzen<br />
und berauben auf diese Weise die Kinder und<br />
Erwachsenen mit Behinderungen ihrer Grundrechte.<br />
Leider besteht eine kommunistische Mentalität fort,<br />
es fehlen Verständnis und guter Wille.<br />
Curative Education has been undertaken in Romania<br />
since 1991 and today, it continues to exist in four<br />
centres: Simeria Veche, Bucharest, Cluj-Napoca and<br />
Vulcan, where a total of approximately 270 beneficiaries<br />
are being taken care of by over 130 people.<br />
Unfortunately, the political and economic situation<br />
is not very favourable in Romania. Far from actually<br />
supporting alternatives like Curative Education, the<br />
Romanian authorities are merely tolerating them, barely<br />
allowing them to survive.<br />
The centre in Simeria is the only one registered as an<br />
independent legal entity and hence has more freedom<br />
in implementing legal provisions ; by contrast,<br />
Bucharest, Cluj and Vulcan centres are still affiliated<br />
to state schools and barely managing to run the<br />
specific Curative Education activities the way they<br />
should be implemented. These centres instead find<br />
themselves fighting the system in order to uphold<br />
the rights of people with disabilities.<br />
With a decreasing number of special schools, there<br />
is a continuous ‹hunt› for beneficiaries so that these<br />
schools can enroll sufficient numbers of children to<br />
justify their existence and maintain staffing levels.<br />
In Cluj, for example, some years ago the principal at<br />
the time also hired himself as eurythmy teacher –<br />
without having had any Curative Education training<br />
whatsoever– to be able to earn some extra money.<br />
Another sad phenomenon results from the State<br />
formally trying to place the children who have been<br />
abandoned by their parents geographically closer<br />
to their biological family; the children often end up<br />
being moved from one institution to another, following<br />
the usually very poor families who have no<br />
interest in reconnecting with the children. In Cluj<br />
alone, we have lost five children this way over the<br />
past few years.<br />
Although Curative Education is the only alternative<br />
special education method officially recognized and<br />
financed by the state, most policy makers and authorities<br />
still (unofficially but clearly ) declare that<br />
severely mentally disabled children should not go<br />
to school. They are aware of the stipulations of the<br />
UN Convention but they only pretend to implement<br />
them, thus depriving children and adults with disabilities<br />
of their fundamental rights. Sadly, a communist<br />
88
Berichte | Reports<br />
In dieser Situation folgten wir unserem natürlichen Instinkt,<br />
uns unmittelbar an die Menschen zu wenden, in<br />
die Beziehungen mit der Gemeinde zu investieren und<br />
zu zeigen, dass Kinder mit Beeinträchtigungen nicht<br />
nur Unterstützung brauchen, sondern auch eine Ressource<br />
für ihre Umgebung darstellen können. Zwar hat<br />
sich die rumänische heilpädagogische Föderation gemeinsam<br />
mit anderen NGOs darum bemüht, einen Paradigmenwechsel<br />
im Hinblick auf Menschen mit einer<br />
Behinderung herbeizuführen, doch bisher stellt sich<br />
dies als ein nutzloser Kampf mit dem System heraus.<br />
Daher besteht unsere einzige Chance darin, Veränderungen<br />
auf der ‹Graswurzelebene› mit den Menschen<br />
in unserer Nachbarschaft anzuregen. Die Gemeinde<br />
reagierte auf erstaunliche Weise. Hier einige Beispiele:<br />
Gemeinsam mit Freiwilligen haben die Kinder von Cluj<br />
eine Mahlzeit für 120 obdachlose Menschen zubereitet.<br />
Mit unseren Freunden und Partnern zusammen organisierten<br />
wir fünf Wohltätigkeitskonzerte, eines von<br />
diesen erbrachte die Gelder, um einen Spielplatz für<br />
Roma-Kinder zu bauen, die in der Umgebung von Cluj<br />
leben. Die Kinder der Einrichtung stellten auch Spielzeuge<br />
für Kinder her, die an Krebs leiden.<br />
All diese Aktionen wurden zu einem Magnet für die Gemeinde,<br />
die danach dürstete, sich zu engagieren und<br />
etwas Sinnvolles zu tun. Die Medien wurden auf uns<br />
aufmerksam, sie zeigten und unterstützten unsere Aktionen.<br />
In Cluj werden wir regelmässig von den Medien<br />
aufgesucht, wenn sie Expertenmeinungen zu einem<br />
Thema in Verbindung mit Behinderung suchen. Dies gibt<br />
uns die Gelegenheit, die Werte der heilpädagogischen<br />
Erziehung herauszustellen und den Paradigmenwechsel<br />
zu unterstützen. Auf diese Weise wurde die Hans Spalinger<br />
Assoziation Cluj zu einem Partner einer nationalen<br />
Fernsehtalkshow des TVR Cluj, welche sich mit sozialen<br />
und pädagogischen Themen befasst, mit dem Thema<br />
Beeinträchtigung und mit NGOs. Diese Show trägt den<br />
Namen Fara Prejudacati (Ohne Vorurteil), die auch drei<br />
Reporter mit Down Syndrom beschäftigt.<br />
Das gegenwärtig drängendste Problem besteht darin,<br />
dass unsere Klienten 18 Jahre alt werden, was bedeutet,<br />
dass der Staat sie nicht weiter unterstützt. Daher<br />
konzentrieren wir uns darauf, eine kurzfristige gesetzliche<br />
Lösung zu finden, sodass der Staat weiterhin<br />
heilpädagogische und sozialtherapeutische Aktivitäten<br />
für unsere Betreuten finanziert. Langfristig haben<br />
wir den Plan, ein Zentrum in Cluj zu begründen. Für<br />
diesen Zweck ist es uns gelungen, ein erhebliches<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
mentality, lack of understanding and lack of good<br />
will are still very much present.<br />
In this situation, our natural instinct has been to turn<br />
to the people, to invest in the relationship with the<br />
community and show that disabled children are not<br />
just persons requiring assistance, but can also be constitute<br />
a resource for their community. Although the<br />
Romanian Curative Education Federation, together<br />
with other NGOs, is very much involved in trying to<br />
bring about a paradigm shift regarding perceptions of<br />
disability, so far this has turned out to be a pointless<br />
battle with the system. Thus our only chance is to stimulate<br />
change at the grassroots level, with the people<br />
around us. And the community has reacted amazingly.<br />
In dieser Situation folgten wir unserem natürlichen Instinkt,<br />
uns unmittelbar an die Menschen zu wenden, in<br />
die Beziehungen mit der Gemeinde zu investieren und<br />
zu zeigen, dass Kinder mit Beeinträchtigungen nicht<br />
nur Unterstützung brauchen, sondern auch eine Ressource<br />
für ihre Umgebung darstellen können. Zwar hat<br />
sich die Rumänische heilpädagogische Föderation, gemeinsam<br />
mit anderen<br />
Just to give a few examples, the children from Cluj,<br />
together with volunteers, have cooked meals for 120<br />
homeless people. Together with our friends and partners,<br />
we have also organized five charity concerts, one<br />
of them to successfully fundraise for the construction<br />
of a playground for Roma children living near Cluj.<br />
The children have also handcrafted toys for children<br />
suffering from cancer.<br />
All these activities worked like a magnet for the community<br />
which was very keen to get involved and do<br />
something meaningful. The media, too, showed an interest<br />
and presented and promoted our actions. In Cluj,<br />
we are now contacted by the media every time they<br />
need a specialist’s opinion on disability, which gives<br />
us the opportunity to promote the values of Curative<br />
Education and support the paradigm shift. This is how<br />
the Hans Spalinger Association Cluj got to be partner<br />
in a nation-wide TV talk show at TVR Cluj, which<br />
addresses social, educational, disability and NGO issues.<br />
The TV show is called Fara Prejudecati (Without Prejudice)<br />
and includes, amongst its staff, three reporters<br />
with Down syndrome.<br />
The most urgent problem right now is that most of<br />
our beneficiaries are turning 18 and the state will no<br />
longer support them after they have reached this age.<br />
Thus right now we are working on finding a shortterm<br />
legal solution so that the state can continue to<br />
89
Berichte | Reports<br />
Stück Land in Jucu, einem Dorf in der Nähe von Cluj,<br />
zu erwerben. Hier helfen uns ‚Habitat for Humanity‘<br />
und andere Sponsoren dabei, eine Gemeinschaft<br />
mit Familienhäusern, einer Schule, Werkstätten und<br />
einem Garten zu errichten.<br />
Gleichzeitig konzentrieren wir uns auf die Ausbildung<br />
unserer Mitarbeiter. Mehr und mehr Menschen, die<br />
enttäuscht von der üblichen Arbeit mit behinderten<br />
Menschen sind, interessieren sich für die heilpädagogischen<br />
Methoden und fragen nach Ausbildungskursen.<br />
Gleichzeitig brauchen und wollen Menschen, die schon<br />
lange im Bereich der Heilpädagogik arbeiten, Fortbildungen<br />
und Gelegenheiten, sich weiter zu entwickeln.<br />
Daher hat die Heilpädagogische Föderation in diesem<br />
Jahr eine dreijährige Ausbildung begonnen, die sich<br />
von den Camphill-Programmen inspirieren lässt.<br />
Auch wenn wir sehr darüber frustriert sind, wie der<br />
rumänische Staat die Rechte von Menschen mit besonderen<br />
Bedürfnissen weiterhin ignoriert, bleiben<br />
wir positiv und zuversichtlich, dass unser Kampf nicht<br />
vergebens ist, und dass wir es Schritt für Schritt und<br />
mit der Unterstützung der Gemeinde schaffen werden,<br />
den Bedürfnissen von Kindern mit Behinderungen<br />
mehr und mehr zu entsprechen.<br />
fund Curative Education and Social Therapy activities<br />
for our beneficiaries. Our long-term plan is to set up a<br />
centre with various services in Cluj. As a first step, we<br />
have managed to obtain a substantive piece of land in<br />
Jucu, a village near Cluj, where Habitat for Humanity<br />
and other sponsors will help us build a community<br />
with family houses, a school, workshops, and a garden.<br />
At the same time, we are focusing on training our staff.<br />
There are increasing numbers of people who, disappointed<br />
with traditional ways of working with disability,<br />
are interested in Curative Education methods and<br />
are asking for training courses. Meanwhile, those who<br />
have been working in Curative Education for a long<br />
time need and want further training and development.<br />
Therefore, this year the Curative Education Federation<br />
has launched a three-year training programme, taking<br />
inspiration from Camphill programmes.<br />
Even though we are very frustrated with the way the<br />
state of Romania continues to ignore the rights of<br />
people in need of special care, we remain positive and<br />
confident that our struggle is not in vain and that, step<br />
by step, and with the support of the community, we<br />
will manage to increasingly meet the needs of children<br />
with disabilities.<br />
Ovidiu Damian, Asociatia Hans Spalinger Filiala Cluj-<br />
Napoca, Rumänische Vereinigung für Heilpädagogik,<br />
Cluj-Napoca<br />
Translation from English: Bernhard Schmalenbach<br />
90
Liebelei | Flirt<br />
Russland<br />
Die Heilpädagogik und Sozialtherapie begann ihre Entwicklung<br />
in Russland zum Beginn der neunziger Jahre<br />
des vorigen Jahrhunderts. Die erste praktische Arbeit mit<br />
Kindern im Schulalter entstand in Irkutsk durch eine kleine<br />
Elterngruppe, die eine Alternative zu den geschlossenen<br />
Heimschulen suchte, die zu dieser Zeit für Kinder mit<br />
schweren Behinderungen üblich waren.<br />
Im Laufe der darauffolgenden Jahre änderte sich die<br />
Anzahl der Institutionen, die auf den Grundlagen der<br />
Heilpädagogik von Rudolf Steiner arbeiteten, erheblich.<br />
Heute beläuft sich diese Anzahl auf dreissig Organisationen,<br />
die ihre Arbeit mit Vorschul-, Schulkindern und mit<br />
Erwachsenen durchführen. Darunter sind zwei Sozialdörfer<br />
für Erwachsene (Irkutsk), zwei Camphill-Gemeinschaften<br />
für Erwachsene (Leningrader und Smolensker<br />
Gebiet), sieben Sozialzentren für Jugendliche und Erwachsene<br />
(Moskau, Werchneyvinsk, Rjasan, Irkutsk,<br />
Jekaterinburg, Rostov-am-Don), elf Schulen und Schulgruppen<br />
(Moskau, Sankt Petersburg, Jekaterinburg,<br />
Tscheboksary, Rostov-am-Don, Rjasan, Irkutsk, Keme-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Russia<br />
Curative education and social therapy were first introduced<br />
in Russia in the early 1990s. The work with<br />
children of school age started in Irkutsk, initiated by a<br />
small group of parents who were looking for an alternative<br />
to the closed institutions where children with<br />
severe disabilities used to live at that time.<br />
In the years that followed the number of institutions<br />
working on the basis of Rudolf Steiner’s curative education<br />
has changed considerably. Today we have thirty<br />
organizations working with children of pre-school<br />
and school age and with adults. These include two social<br />
therapy villages for adults (Irkutsk), two Camphill<br />
communities for adults (Leningrad and Smolensk regions),<br />
seven social centres for young people and adults<br />
(Moscow, Verkh-Neyvinsky, Ryazan, Irkutsk, Yekaterinburg,<br />
Rostov-on-Don), eleven schools and small classes<br />
(Moscow, St Petersburg, Yekaterinburg, Cheboksary,<br />
Rostov-on-Don, Ryazan, Irkutsk, Kemerovo, Samara),<br />
four pre-school groups (Moscow, Ryasan, Samara) and<br />
four training seminars (training centres and training<br />
91
Berichte | Reports<br />
rowo, Samara), vier Vorschulgruppen (Moskau, Rjasan,<br />
Samara) und vier Seminare (Ausbildungszentren, Lehrgänge)<br />
für Heilpädagogen und Sozialtherapeuten.<br />
Fast alle Organisationen sind privat, manche von ihnen<br />
arbeiten auch mit staatlichen Strukturen, einige geniessen<br />
eine staatliche Anerkennung.<br />
Zusammenarbeit und Netzwerkarbeit<br />
Nach der ersten russischen Konferenz für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie 1995 fanden inzwischen<br />
dreizehn Konferenzen dieser Art statt, eine weitere in<br />
diesem Juni. Im Jahr 2006 wurde an einer der Konferenzen<br />
eine «Gemeinschaft der Heilpädagogen und Sozialtherapeuten<br />
in Russland» gegründet. Seit dieser<br />
Zeit wird Russland als ein Mitglied in der Konferenz für<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie in Dornach vertreten<br />
sowie in der internationalen heilpädagogischen und<br />
sozialtherapeutischen Bewegung.<br />
Im Laufe dieser Jahre wurden von unseren Organisationen<br />
und Repräsentanten die Interessen und Rechte der<br />
Menschen mit Behinderungen auf verschiedenen Ebenen<br />
(regional und kommunal) in der Öffentlichkeit vertreten.<br />
Dies geschah durch die Arbeit in den kommunalen<br />
Verwaltungsorganen, die Teilnahme an der Erarbeitung<br />
und Zusammenfassung der methodischen Konzeptionen,<br />
durch Vorträge an Tagungen, Seminaren und Veröffentlichungen.<br />
Die Gemeinschaft der Heilpädagogen<br />
und Sozialtherapeuten initiierte in Russland den ersten<br />
Kongress «In der Begegnung leben» (Moskau 2010), welcher<br />
gerade vor der Ratifizierung der UN-Konvention über<br />
die Rechte der Menschen mit Behinderungen stattfand.<br />
Im Jahr 2012 wurde in Jekaterinburg ein weiterer Begegnungskongress<br />
in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium<br />
für soziale Entwicklung durchgeführt.<br />
Öffentliches Interesse<br />
Die Heilpädagogik und Sozialtherapie in Russland ist<br />
heute ein signifikantes kulturelles und professionelles<br />
Phänomen. Offiziell ist die Heilpädagogik nicht<br />
staatlich anerkannt, allerdings wird ihre praktische<br />
Tätigkeit begrüsst. Sie geniesst eine verdiente Achtung<br />
unter den Eltern der behinderten Menschen und<br />
unter Kollegen, die im Bereich der Sonderpädagogik<br />
und Rehabilitation tätig sind. Die Zusammenarbeit der<br />
heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Organisationen<br />
hat verschiedene Formen im sozialen Umfeld.<br />
Darunter sind auch gemeinsame Projekte in verschiedenen<br />
Richtungen zu verzeichnen.<br />
courses) for curative teachers and social therapists.<br />
Almost all of these organizations are private, some<br />
have implemented state structures and some are<br />
state-recognized.<br />
Cooperation and networking<br />
Since the first Russian Conference for Curative Education<br />
and Social Therapy in 1995, thirteen other conferences<br />
have taken place, most recently in June this<br />
year. During the 2006 conference the ‹Federation of<br />
Curative Teachers and Social Therapists in Russia› was<br />
founded and Russia has since then been represented in<br />
the Curative Education and Social Therapy Council in<br />
Dornach and become part of the international curative<br />
education and social therapy movement.<br />
In all these years our organizations and representatives<br />
have publically represented the interests and rights<br />
of people with disabilities at various levels (regionally<br />
and locally): by working with the local administrative<br />
bodies, taking part in developing and documenting<br />
methodologies, giving lectures at conferences and seminars<br />
and through publications. The Federation of<br />
Curative Teachers and Social Therapists initiated the<br />
first ‹Living in the Encounter› Congress in Russia (Moscow<br />
2010) – just before the UN Convention on the<br />
Rights of Persons with Disabilities was ratified. In 2012<br />
another ‹Encounter› congress was organized in Yekaterinburg<br />
in close cooperation with the Ministry for<br />
Social Development.<br />
Public interest<br />
Today, curative education and social therapy are an<br />
important cultural and professional phenomenon in<br />
Russia. While curative education is not state-recognized,<br />
the work being done in its centres is seen as positive:<br />
it is appreciated by the parents of those with<br />
special needs and by colleagues from the field of special-needs<br />
education and rehabilitation. The curative<br />
education and social therapy organizations work together<br />
in various forms within the social sphere, for<br />
instance by taking on joint projects.<br />
Cooperation between the training centres in Moscow<br />
and Verkh-Neyvinsky and their respective universities<br />
has turned out to be particularly successful. The students<br />
can gain practical work experience in the curative<br />
education and social therapy organizations and<br />
there are camps for volunteering students. Some of<br />
our experienced colleagues are offering short univer-<br />
92
Berichte | Reports<br />
Besonders erfolgreich entwickelt sich die Zusammenarbeit<br />
der zwei Ausbildungsstätten in Moskau und<br />
Werchneyvinsk mit den jeweiligen staatlichen Universitäten.<br />
Es findet eine praktische Arbeit für Studierende in<br />
heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Organisationen<br />
statt und es werden Camps für freiwillige Studenten<br />
durchgeführt. Einige unserer erfahrenen Kollegen<br />
bieten kleinere Kurse über die anthroposophische Heilpädagogik<br />
in den Universitäten an, welche die jungen<br />
Studierenden auf den Bereich der heilpädagogischen<br />
und sozialtherapeutischen Arbeit aufmerksam machen.<br />
In den letzten zehn Jahren hat sich die Heilpädagogik<br />
immer mehr in den inklusiven Schulen ausgebreitet. Heute<br />
gibt es in jeder Waldorfschule einen Heilpädagogen, der<br />
für die Kinder mit Lernschwierigkeiten Hilfe leisten kann.<br />
Wenn zu Beginn ihrer Entwicklung in Russland die Heilpädagogik<br />
auf die Arbeit mit schwerbehinderten Kindern<br />
gerichtet war, so ist sie unter heutigen Bedingungen der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung immer mehr auch eine Methode<br />
für Kinder mit sozialen Problemen, Verhaltensstörungen<br />
und verschiedenen Formen des Autismusspektrums.<br />
Zukünftige Herausforderungen<br />
Wir müssen wachsam die sich ständig verändernde Welt<br />
betrachten, mit ihr einen Einklang suchen und dabei<br />
uns selbst treu bleiben. Wir suchen neue Formen für die<br />
Selbstverwirklichung, lernen die vorhandenen Erfahrungen<br />
mit den neuen Ideen der modernen Zeit zu verbinden.<br />
Diese Fragen bewegen uns heute, und deshalb<br />
stellen wir sie immer wieder zur Diskussion.<br />
Zu einem bedeutenden Ereignis der letzten drei Jahre<br />
wurde die Neuauflage des Heilpädagogischen Kurses mit<br />
der neuen Übersetzung auf Russisch. Das war das gemeinsame<br />
Projekt der drei Länder Georgien, Ukraine und Russland.<br />
Auch in dieser regionalen Zusammenarbeit sehen wir<br />
neue Chancen für die Entwicklung der Grundlagen anthroposophischer<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie.<br />
sity courses in anthroposophical curative education,<br />
raising awareness among the students of the way we<br />
work in curative education and social therapy.<br />
Curative education has become more important in the<br />
inclusive schools over the last ten years. Every Waldorf<br />
school now employs a curative teacher who can support<br />
children with learning difficulties.<br />
While, at the beginning of its development in Russia,<br />
curative education used to focus more on children<br />
with severe disabilities, it is now, in today’s society,<br />
increasingly applied in the work with children who<br />
present with social or behavioural problems or autism<br />
spectrum disorders.<br />
Future challenges<br />
We need to be awake to the constant changes in our<br />
world. It is important that we stay in tune with these<br />
changes while remaining faithful to ourselves at the<br />
same time. We are looking for new forms of self-realization<br />
and we are learning to bring our experiences<br />
together with the new ideas that are emerging.<br />
These are the questions with which we are concerned<br />
today and which we therefore keep bringing up<br />
for discussion.<br />
One of the important events in the last three years was<br />
that a new Russian translation of the Curative Education<br />
Course was published as a joint project of three<br />
countries: Georgia, Ukraine and Russia. Working together<br />
as regions is for us also a new way of consolidating<br />
the foundations of anthroposophical curative<br />
education and social therapy.<br />
Dr. Tamara Isaeva, St. Georg Schule, Moskau<br />
Translation from the German: Margot Saar<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
93
Berichte | Reports<br />
Schottland<br />
Schottland ist eines der vier Länder, die zusammen das<br />
Vereinigte Königreich bilden, die anderen sind England,<br />
Wales und Nordirland. Es ist ein schönes Land, das das<br />
nördliche Drittel von Grossbritannien ausmacht, mit<br />
einer zerklüfteten Küste, sandigen Stränden, atemberaubenden<br />
Bergen und vielen alten Burgen. Es gibt viel<br />
Granit, der auch die ganz besondere Qualität des Lichtes,<br />
die man in Schottland erfahren kann, beeinflusst.<br />
Da das Land nur eine Bevölkerung von 5,3 Millionen hat,<br />
sind viele Dörfer und kleine Städte für europäische Verhältnisse<br />
weit abgelegen.<br />
In Schottland arbeiten 15 Zentren im Rahmen der anthroposophischen<br />
Behindertenhilfe. Die meisten Einrichtungen<br />
bieten Wohnplätze, auch mit selbstständiger<br />
Lebensführung, Tagesstätten, Werkstätten und/oder<br />
Pädagogik und eine Reihe von Therapien an. Das kleinste<br />
Zentrum bietet Hilfen für zehn Menschen mit Hilfebedarf,<br />
das grösste betreut 120 Menschen. In den fünf<br />
Einrichtungen von Garvald Edinburgh in und in der Umgebung<br />
von Edinburgh finden erwachsene Menschen mit<br />
Behinderung Unterstützung. Die Camphill-Bewegung, in<br />
Schottland vor 75 Jahren gegründet, hat zehn Zentren,<br />
die sich hauptsächlich im Nordosten von Schottland<br />
und Mittelschottland befinden und ein Zentrum im Südwesten<br />
von Schottland. Zwei dieser Zentren bieten Pädagogik<br />
für junge Kinder und Kinder im Schulalter an, drei<br />
Plätze arbeiten mit jungen Erwachsenen, die anderen<br />
mit Erwachsenen.<br />
Die Regierungsvorschriften für die Behindertenhilfe sind<br />
in Schottland sehr streng. Obwohl dies den Eindruck erwecken<br />
könnte, dass dadurch die Arbeit eingeschränkt<br />
wird, haben alle Zentren konstruktiv mit diesen Vorschriften<br />
gearbeitet und anerkannt, dass sie auch einen<br />
Beitrag zur Verbesserung der Betreuungsqualität leisten<br />
können. Der anthroposophische Ansatz im Bereich der<br />
Behindertenhilfe kommt am deutlichsten durch das Feiern<br />
der Jahresfeste und die Pflege einer ästhetischen<br />
Umwelt zum Ausdruck. Da seit 2014 leider nicht mehr<br />
die Möglichkeit zum Bachelorabschluss in Heilpädagogik/Sozialpädagogik<br />
besteht, gibt es gegenwärtig keine<br />
schottlandweite Ausbildung, die ein ausführliches Studium<br />
des anthroposophischen Ansatzes und Menschenverständnisses<br />
anbietet. Die Grundkurse für die vielen<br />
Freiwilligen, die jedes Jahr in die Zentren kommen, befassen<br />
sich jedoch mit den Grundlagen.<br />
Nichts ist so beständig wie der Wandel | There is nothing permanent except change<br />
Scotland<br />
Scotland is one of the four countries that form the United<br />
Kingdom, the other countries being England, Wales<br />
and Northern Ireland. It is a beautiful country covering<br />
the northern third of Great Britain with rugged coast<br />
lines, sandy beaches, spectacular mountains and hills<br />
and plenty of old castles. There is much granite which<br />
contributes to the very special quality of light one can<br />
experience in Scotland. As the country has only a population<br />
of 5.3 million many villages and small towns are<br />
quite remote by European standards.<br />
Scotland has 15 centres working with anthroposophic<br />
social care. Most centres offer residential places including<br />
independent living, day placements, workshops and/or<br />
education and a range of therapies. The smallest centre<br />
offers support to 10 people with special needs while the<br />
largest centre provides support to 120 people with special<br />
needs. Garvald Edinburgh has 5 centres in and around<br />
Edinburgh. These centres provide support to adults with<br />
special needs. The Camphill movement, founded in Scotland<br />
over 75 years ago, has 10 centres mainly in North<br />
East and Central Scotland and one in the South West of<br />
Scotland. Two of these centres offer education to young<br />
children and school age children, three places work with<br />
young adults and the others work with adults.<br />
Government regulations for social care are very strict<br />
in Scotland. Although this can appear to be limiting for<br />
94
Berichte | Reports<br />
Die schottischen Einrichtungen haben, wie auch die anderen<br />
Zentren in Grossbritannien, Schwierigkeiten im<br />
Umgang mit der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />
Terminologie, die wörtlich aus dem Deutschen<br />
übersetzt ist. Es sind Begriffe, die wenig oder eine verwirrende<br />
Bedeutung in der englischen Sprache haben. Es ist<br />
vielfach versucht worden, andere Begriffe zu suchen und<br />
der neue Begriff, der gegenwärtig für die Beschreibung<br />
unserer Arbeit verwendet wird, lautet Sozialpädagogik.<br />
Es gibt Hoffnung, dass Schottland den sozialpädagogischen<br />
Ansatz in der Behindertenhilfe zukünftig allgemein<br />
übernehmen wird. Obwohl dieser Begriff noch nicht<br />
so allgemein bekannt ist, sind Garvald und Camphill hier<br />
als Markennamen bekannt, die hochwertige Betreuung,<br />
Pädagogik und Therapie für Kinder und Erwachsene mit<br />
Hilfebedarf anbieten.<br />
Zwei wichtige Impulse sind in Schottland angesiedelt:<br />
Camphill School Aberdeen beherbergt das ursprüngliche<br />
Karl-König-Archiv, in dem alle Originale von Königs<br />
vielen Vorträgen und Büchern, die einen Beitrag zum<br />
Verständnis der Anthroposophie leisten, seit Jahrzehnten<br />
untergebracht worden sind. Schottland veranstaltet<br />
auch die New-Lanark-Tagung, die im Dorf stattfindet, wo<br />
Robert Owen im 18. Jahrhudert mit seinen neuen sozialen<br />
Wohlfahrtsimpulsen arbeitete. Die New-Lanark-Tagung<br />
ist eine inklusive Tagung für Gemeinschaftsbildung<br />
und soziale Erneuerung. Seit 2002 wird diese zweijährlich<br />
stattfindende Tagung von Garvald, Camphill Schottland<br />
und der Camphill Familie und Freunde veranstaltet;<br />
Teilnehmer sind Menschen mit und ohne besonderem<br />
Hilfebedarf aus Grossbritannien, Irland und von weiter<br />
entfernt. Das diesjährige Thema lautet: Die Welt durch<br />
Selbstentfaltung bilden.<br />
Abschliessend sei gesagt, dass die Bewegung der anthroposophischen<br />
Behindertenhilfe in Schottland<br />
versucht, den gesellschaftlichen und staatlichen Bedürfnissen<br />
und Erfordernissen in einer sich ständig verändernden<br />
Welt besondere Aufmerksamkeit zu schenken.<br />
Wir versuchen, darauf in schöpferischer und flexibler<br />
Weise einzugehen, ohne unsere Werte und das, wofür<br />
wir eintreten, zu kompromittieren. Heraklit fasst gut zusammen,<br />
wie wir in Schottland, aber vielleicht auch wir<br />
alle, auf Änderungen reagieren sollten: «Nichts ist so beständig<br />
wie der Wechsel.»<br />
Angela Ralph, Camphill School Aberdeen, Aberdeen<br />
Übersetzung aus dem Deutschen: Christian von Arnim<br />
the work, all centres have worked positively with these<br />
regulations and recognised that they can contribute to<br />
the enhancement of the quality of care they provide. The<br />
anthroposophical approach to social care is most evident<br />
through the celebration of festivals and the care and<br />
beauty of the environment. As the BA in Curative Education/Social<br />
Pedagogy unfortunately ended in 2014 there<br />
is currently no Scotland wide training that offers in depth<br />
study of the anthroposophic approach and understanding<br />
of the human being. However the foundation courses for<br />
the many volunteers that come each year to the centres<br />
briefly touch on these anthroposophical concepts.<br />
Scotland, together with the other centres in the UK, has<br />
struggled with the terminology of curative education<br />
and social therapy which is literally translated from the<br />
German. These are words that appear to have little and<br />
confusing meaning in the English language. Many attempts<br />
have been made to look for othear words and<br />
the current new term to describe the work is Social Pedagogy.<br />
There is hope that Scotland will adopt the Social<br />
Pedagogy approach generally in Social care in the future.<br />
While this concept is not so widely known yet, Garvald<br />
and Camphill are known as brand names within social<br />
care that provide high quality care, education and therapy<br />
for children and adults with special needs.<br />
Two significant impulses are situated in Scotland: Camphill<br />
School Aberdeen houses the original Karl König archive<br />
where all the originals of König’s many lectures<br />
and books, contributing to the understanding of anthroposophy,<br />
have been kept for decades. Scotland is also<br />
hosting the New Lanark conference which takes place<br />
in the heritage village where Robert Owen worked with<br />
his new social welfare impulses in the 18th century.<br />
The New Lanark conference is an inclusive conference<br />
on community building and social renewal. Since 2002<br />
this biannual conference has been organised by Garvald,<br />
Camphill Scotland and the Camphill Family and friends;<br />
it is attended by people with and without special needs<br />
from the UK, Ireland and further afield. This year’s theme<br />
is: Shaping our world through Self Expression.<br />
In conclusion I would like to say that the anthroposophical<br />
social care movement in Scotland tries to stay alert to<br />
societal and governmental needs and requirements in this<br />
constantly changing world. We try to respond to this in<br />
creative and flexible ways without compromising our values<br />
and what we stand for. Heraclitus’ words summarise<br />
well what we in Scotland, and may be all of us, have to<br />
respond to: ‹There is nothing permanent except change›.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
95
Berichte | Reports<br />
Schweden<br />
Värna heisst unser Verband, der fast alle heilpädagogischen<br />
und sozialtherapeutischen Einrichtungen in<br />
Schweden umfasst. Värna besteht aus 36 Mitgliedsorganisationen,<br />
die gemeinsam Betreuung, Schulbildung,<br />
Arbeit und betreutes Wohnen für fast 1000 Menschen<br />
mit Behinderungen anbieten. Es gibt etwa 2000 Mitarbeitende<br />
und die Einrichtungen sind um Järna und im<br />
Gebiet von Stockholm konzentriert. Im restlichen Land<br />
sind sie weniger dicht vertreten.<br />
In den letzten drei Jahren hat Värna daran gearbeitet,<br />
sich mit Einzelpersonen und Organisationen zu vernetzen.<br />
2014 nahm Värna am grössten politischen Ereignis<br />
des Jahres teil, Almedalen, und veranstaltete eine<br />
Tagung zum Thema: «Ein Perspektivwechsel und neue<br />
adäquate Führungsmassnahmen verbessern die Lebensqualität<br />
im Fürsorgebereich». Die Tagung befasste<br />
sich mit der Frage, wie Weisheit, gutes Urteilsvermögen<br />
und praktisches Wissen einen Beitrag zur Erfahrung<br />
eines Qualitätswechsels in der täglichen Tätigkeit leisten<br />
können. Solche Gedanken sind fast unsichtbar in<br />
der öffentlichen Diskussion in Schweden. Davor sass<br />
Värna als Vergleichsgruppe im Schwedischen Nationalausschuss<br />
für Gesundheit und Sozialwesen und nahm<br />
Stellung zur Frage über «das erforderliche Wissen und<br />
die erforderlichen Fähigkeiten von Mitarbeitern, die<br />
Menschen mit Behinderungen Unterstützung, Dienstleistungen<br />
und Betreuung (laut Gesetz) anbieten»<br />
(SOSFS 2014:2). Kurz danach wurde das Schwedische<br />
Ausbildungszentrum für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
zugelassen. Es hatte die vom Schwedischen<br />
Nationalausschuss für Gesundheit und Sozialwesen<br />
verlangten Anforderungen erfüllt.<br />
2015 veröffentlichte Värna ein Buch von Christhild<br />
Ritter über den drei- und viergliedrigen Menschen,<br />
«Människan – inte bara en kropp» (Der Mensch –<br />
nicht nur ein Leib). Ein weiteres Buch über den Begriff<br />
des Geistes in der westlichen philosophischen Tradition<br />
wird 2017 veröffentlicht.<br />
Värna hat auch daran gearbeitet, seine sieben Leitgedanken,<br />
die vor einigen Jahren formuliert und verabschiedet<br />
wurden, zu realisieren. Diese Leitgedanken<br />
sind nicht nur grundlegendes Arbeitsmaterial für die<br />
Einrichtungen, sondern zielen darauf ab, die Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in einer umfassenden und<br />
verständlichen Weise der allgemeinen Öffentlichkeit in<br />
Schweden zugänglich zu machen.<br />
Sweden<br />
Värna is the name of our association that includes<br />
almost all of the Curative pedagogic and Social therapeutic<br />
institutions in Sweden. Värna consists of 36<br />
member organisations and together they offer care,<br />
schooling, work and sheltered living to almost 1000<br />
persons with disabilities. There are about 2000 coworkers<br />
and the institutions are situated in a cluster<br />
around Järna, in the Stockholm area, gradually thinning<br />
out into the rest of the country.<br />
Over the past three years Värna has been busy networking<br />
with individuals and organisations. In 2014, Värna<br />
participated in the major political event of the year,<br />
Almedalen, and held a conference on the theme: ‹A<br />
change of perspective and new adequate governance<br />
arrangements enhance the quality of life within the<br />
field of care.› The conference dealt with the question<br />
how wisdom, good judgement and practical knowledge<br />
can contribute to an experienced change of<br />
quality in daily activities. Such notions are practically<br />
invisible in the public debate in Sweden. Prior to this<br />
occasion Värna was included in the Swedish National<br />
Board of Health and Welfare as a reference group, giving<br />
its views on ‹the necessary knowledge and skills<br />
required of staff who give support, service and care<br />
(according to law) to persons with disabilities› (SOSFS<br />
2014: 2). Shortly afterwards, the Swedish Curative Pedagogic<br />
and Social Therapeutic training centre was<br />
approved as meeting the requirements that the Swedish<br />
National Board of Health and Welfare requested.<br />
In 2015 Värna published a book about the three- and<br />
four folded human being, by Christhild Ritter ‹Människan<br />
– inte bara en kropp› (The human being – not<br />
only a body). There is another book waiting to be published<br />
in 2017 about the concept of Spirit in Western<br />
philosophical tradition.<br />
Värna has also been working to implement its seven<br />
core values, which were formed and agreed upon several<br />
years ago. These core values, apart from being the<br />
basic working material for the institutions in Värna,<br />
are aimed to present curative pedagogy and social<br />
therapy in a comprehensive and understandable way<br />
to the general public in Sweden.<br />
To facilitate this process, Värna has arrived at the decision<br />
to certify its member organisations through PGS (Participatory<br />
Guarantee System). The process is now on its way<br />
and is approved by the members of Värna. The purpose<br />
96
Um diese Prozess voranzutreiben, entschloss sich<br />
Värna, seine Mitgliedsorganisationen durch die PGS<br />
(Partizipative Garantiesysteme) zu zertifizieren. Der<br />
Prozess ist jetzt im Gang und ist von den Värna-Mitgliedern<br />
genehmigt worden. Die Zertifizierung soll ein<br />
Qualitätssiegel bereitstellen, das nachweist, dass unsere<br />
Einrichtungen anthroposophische Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie anbieten. Dies ist notwendig, da<br />
kleine Non-Profit-Bewegungen wie die unsere durch<br />
das Hervortreten von Wagniskapitalgesellschaften<br />
im Gesundheits- und Fürsorgebereich herausgefordert<br />
werden. Diese oft transnationalen Gesellschaften<br />
profilieren sich nun im wachsenden privatisierten<br />
Markt in Schweden und besitzen Können, Ressourcen<br />
und Rechtskenntnisse, die auf unfaire Weise Non-Profit-<br />
und ideenbasierte Initiativen ausstechen können.<br />
Es ist äusserst wichtig, dass wir darstellen können,<br />
worum es uns geht und die Kernwerte zu vermitteln.<br />
Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
ist nun eine «Marke», die es zu schützen gilt und die<br />
wir entwickeln und pflegen müssen, wenn wir weiterhin<br />
einen gesellschaftlichen Beitrag leisten wollen.<br />
Am Anfang dieses Jahres hatte Värna 40 Mitgliedsorganisationen<br />
unter seinen Fittichen, aber eine Meinungsverschiedenheit<br />
über eine Stellungnahme des<br />
Värna-Vorstandes über die Methode der gestützten<br />
Kommunikation veranlasste vier Mitglieder, Värna zu<br />
verlassen. Die von Värna für die Medien herausgegebene<br />
Stellungnahme bezog sich auf eine kritische Rundfunksendung<br />
über die gestützte Kommunikation und<br />
die anthroposophischen Einrichtungen. Das Thema der<br />
gestützten Kommunikation wird in der schwedischen<br />
Bewegung schon lange kontrovers diskutiert. In dieser<br />
Stellungnahme empfahl der Verband seinen Mitgliedern,<br />
sich in der Arbeit mit dieser Methode an die<br />
Richtlinien des Schwedischen Nationalausschusses für<br />
Gesundheit und Sozialwesen zu halten. Värna stellte<br />
auch fest, dass die gestützte Kommunikation keine Methode<br />
ist, über die Rudolf Steiner gesprochen hat und<br />
dass sie nie in seinen Büchern erwähnt worden ist –<br />
daher ist sie keine traditionelle anthroposophische Methode,<br />
wie viele Menschen zu glauben scheinen.<br />
Paula Hämäläinen-Karlström and Anders Rosenberg,<br />
Värna, Järna<br />
Übersetzung aus dem Deutschen: Christian von Arnim<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Erster Spatenstich | Groundbreaking Ceremony<br />
of certification is to give a seal of quality, verifying that<br />
our institutions do supply anthroposophical curative pedagogy<br />
and social therapy. This is necessary since small<br />
non-profit movements like ours are being challenged by<br />
the emergence of venture capital business organisations<br />
in the field of health and care. These often transnational<br />
companies are now making their mark on the growing<br />
privatized market in Sweden and they do have skills,<br />
resources and legal knowledge that can unfairly outrival<br />
non-profit and idea-based initiatives. It is of utmost importance<br />
that we can present what we are about and the<br />
core values we embrace. We have a ‹trade mark› to protect<br />
and we need to develop and nurture it if we want to continue<br />
to make a contribution to our society.<br />
At the beginning of the year, Värna had 40 member organisations<br />
in its fold, but due to a disagreement over<br />
a statement issued by the board of Värna, relating to<br />
the method Facilitated Communication, four members<br />
decided to leave Värna. Three of them were already<br />
close to each other and were represented by one leading<br />
board member. The statement to the media issued<br />
by Värna related to a critical radio programme<br />
about FC and the anthroposophical institutions. FC has<br />
for a long time been a source of disagreement in the<br />
movement in Sweden causing strong reactions both in<br />
favour and against. The statement from Värna recommended<br />
to its members to adhere to the guidelines<br />
of the Swedish National Board of Health and Welfare<br />
when working with this method. Värna also declared<br />
that FC is not a method that Rudolf Steiner spoke<br />
about and that it has never been mentioned in his<br />
books – hence it is not a traditional anthroposophical<br />
method as many people seem to think it is.<br />
97
Berichte | Reports<br />
Schweiz<br />
In den Anfängen ihrer Entstehung pflegten die anthroposophischen<br />
Einrichtungen in der Schweiz nur spärlichen<br />
Kontakt untereinander, so wurde mit Blick auf Deutschland<br />
und Holland 1962 der Verband für anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie gegründet, um eine<br />
Plattform für den nationalen Austausch zu ermöglichen.<br />
Heute sind im Verband 40 Institutionen assoziiert, mit etwa<br />
240 Internats- und 500 Sonderschulplätzen. Zusätzlich bieten<br />
sozialtherapeutische Einrichtungen rund 1300 Wohnund<br />
Arbeitsplätze für erwachsene Menschen mit einer<br />
Behinderung an, davon sind 100 Wohn- und Arbeitsplätze<br />
für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung.<br />
An zwei eng mit dem Verband arbeitenden Höheren Fachschulen<br />
auf anthroposophischer Basis (HFHS Dornach und<br />
hfs-L/és-L Lausanne) kann die eidgenössisch anerkannte<br />
Ausbildung in Sozialpädagogik abgeschlossen werden.<br />
Wichtige Entwicklungen der letzten Jahre<br />
Seit vielen Jahren arbeitet der Verband an der Umsetzung<br />
der Leitziele Autonomie, Selbstbestimmung und<br />
Teilhabe von Menschen mit Unterstützungsbedarf. Die<br />
Suche nach geeigneten Formen lässt ihn seit 15 Jahren<br />
immer wieder Neues ausprobieren, wie inklusive Tagungen<br />
für Menschen mit Unterstützungsbedarf, Angehörige<br />
und Mitarbeitende sowie jährliche Treffen für BewohnerInnen<br />
aus den Institutionen mit aktuellen Themen, Tanz<br />
und Musik. In der Fachkommission Erwachsene des Verbandes<br />
sind Vertreter der BewohnerInnen ordentlich gewählte<br />
Kommissionsmitglieder.<br />
Seit die Schweiz das Übereinkommen über die Rechte<br />
von Menschen mit Behinderungen im Jahre 2014 ratifiziert<br />
hat, erlebt diese Entwicklung einen neuen Impuls.<br />
Ein Vorfall von Gewalt in einer anthroposophischen Institution,<br />
flankiert von grossem medialen Interesse, führte<br />
2002 im vahs zur Begründung einer Fachstelle für Gewaltprävention,<br />
in deren Folge sich die Mitgliedseinrichtungen<br />
verpflichteten, in den Institutionen Präventions- und<br />
Meldestellen im Umgang mit Gewalt und sexuellen<br />
Grenzverletzungen einzurichten. Die Prävention ist heute<br />
strukturell verankert, es ist jedoch eine kontinuierliche<br />
fortlaufende Arbeit in und mit den Institutionen wichtig.<br />
Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche<br />
Aspekte<br />
Anthroposophische Einrichtungen geniessen in der<br />
Schweizer Öffentlichkeit ein positives Ansehen und ste-<br />
Switzerland<br />
In their early years the anthroposophical special needs<br />
centres in Switzerland had little contact with each<br />
other which is why, in 1962, the Swiss association for<br />
anthroposophical curative education and social therapy<br />
was founded, inspired by the German and Dutch<br />
example, as a platform for national cooperation.<br />
The association has now 40 member organizations,<br />
which offer around 240 places in boarding schools<br />
and 500 in special schools. The social therapy centres<br />
provide around 1300 places to live and work for adults<br />
with special needs, with a hundred of these places<br />
being reserved for people with a psychiatric disorder.<br />
Two colleges which work closely with the association<br />
on an anthroposophical basis (HFHS Dornach and<br />
hfs-L Lausanne) offer students the possibility to gain a<br />
state-recognized qualification in social education.<br />
Important recent developments<br />
For some years it has been the association’s goal to<br />
promote autonomy, self-determination and participation<br />
for people with special needs. In its search for appropriate<br />
ways of achieving this, the association has<br />
been trying out ever new approaches in the last fifteen<br />
years, such as inclusive conferences for people with<br />
special needs, relatives and carers as well as annual<br />
meetings with topical themes, dancing and music for<br />
the residents at the various centres. The association’s<br />
specialist commission for adults also has elected members<br />
representing the residents.<br />
Since Switzerland’s ratification of the Convention on<br />
the Rights of Persons with Disabilities in 2014 this development<br />
has received new impulses.<br />
In 2002, a case of violence in an anthroposophical<br />
institution that drew great media interest led to<br />
the foundation of a ‹vahs› specialist commission for<br />
the prevention of violence. All member organizations<br />
have agreed to set up special prevention and reporting<br />
bureaus to deal with violence and sexual boundary<br />
violations. Prevention is now an integral part of all organizations,<br />
but it is important to continue working on<br />
this topic with the various centres.<br />
Social, political and economic aspects<br />
Anthroposophical institutions have a good name in<br />
Switzerland and have become a byword for high stan-<br />
98
Berichte | Reports<br />
Philomena Heinel, Humanushaus (Schweiz)<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
99
Berichte | Reports<br />
hen für qualitativ gute Arbeit. Sie sind wirtschaftlich den<br />
nichtanthroposophischen Institutionen gleichgestellt.<br />
Doch durch die Kantonalisierung nimmt der Spardruck<br />
auf soziale Einrichtungen zu, was bspw. zu Einbussen im<br />
Bereich der Therapien führt.<br />
Ebenso unterliegen die Vorgaben für die Qualitätsentwicklung-<br />
und Sicherung den Kantonen, was die Institutionen<br />
mit dem anthroposophischen Verfahren «Wege zur Qualität»<br />
vor grosse Herausforderungen stellt, da der damit verbundene<br />
finanzielle Aufwand nicht mehr refinanziert wird.<br />
Umso mehr ist die Vernetzung mit den Branchen- und<br />
Berufsverbänden sowie mit den anthroposophischen<br />
Ausbildungen wichtig.<br />
Obwohl die eidgenössische Anerkennung der zwei Ausbildungsgänge<br />
zur Sozialpädagogik für Nachwuchskräfte<br />
sorgt, ist es für die Einrichtungen nicht immer einfach,<br />
Mitarbeitende mit einer anthroposophisch fundierten<br />
Qualifikation zu finden.<br />
Kantonal sehr unterschiedlich sind die Auswirkungen<br />
der Integrationsbewegung von SonderschülerInnen in<br />
die Regelschule. In einigen Kantonen werden Sonderschulangebote<br />
weiter ausgebaut, in anderen werden<br />
Schulen geschlossen, wovon eine erste anthroposophische<br />
Sonderschule im Sommer <strong>2016</strong> betroffen ist.<br />
Erschwerend kommt hinzu, dass in der Schweiz die Lehrpersonen<br />
in Sonderschulen seit einigen Jahren einen<br />
Hochschulabschluss benötigen. Da keine entsprechende anthroposophische<br />
Ausbildung existiert, werden Fortbildungsangebote<br />
ausgeschrieben, wie bspw. der Einführungskurs<br />
in anthroposophischer Heilpädagogik, den der vahs zusammen<br />
mit der Ausbildungsstätte in Dornach anbietet.<br />
Die Dichte an kantonalen Regelungen für Institutionen<br />
nimmt allgemein zu und die neuen Systeme zur individuellen<br />
Bedarfs- und Leistungserfassung führen zu Einschränkungen<br />
in der Gestaltungsfreiheit der Einrichtungen.<br />
Aktuelle Fragestellungen in der Verbandstätigkeit<br />
Immer stärker in den Fokus rücken die Begleitung, Betreuung<br />
und Pflege von älteren Menschen mit einer<br />
Behinderung, wozu insbesondere die Zunahme an betreuten<br />
Menschen mit demenziellen Erkrankungen zählt.<br />
Die anthroposophische Sozialpsychiatrie als Teil der<br />
Sozialtherapie ist innerhalb der anthroposophischen<br />
Institutionen in der Schweiz ein Wachstumsbereich.<br />
Seit drei Jahren befasst sich eine Arbeitsgruppe mit<br />
Grundlagenarbeit und ermöglicht Weiterbildungen zu<br />
psychiatrischen Krankheitsbildern.<br />
dards. Economically they are on a par with non-anthroposophical<br />
institutions.<br />
Because the country is divided into cantons, there is growing<br />
pressure on social institutions to save money, leading<br />
to shortages when it comes to the provision of therapies.<br />
The fact that the standards of quality development and<br />
quality assurance are also determined by the cantons constitutes<br />
a great challenge for the institutions that work<br />
with the anthroposophical ‹Ways to Quality› procedure,<br />
because the costs this involves are no longer covered.<br />
It is therefore the more important to increase the networking<br />
with the professional associations and with<br />
the anthroposophical training providers.<br />
Although there is a steady influx of new care professionals<br />
thanks to the two state-recognized social education<br />
training courses, it is not always easy to find<br />
enough staff with anthroposophical qualifications.<br />
There are great cantonal differences when it comes to<br />
the integration of children with special needs into regular<br />
schools. Some cantons increase the number of<br />
special school places while others close down entire<br />
schools – as happened this summer with the first anthroposophical<br />
special school.<br />
What makes the situation more difficult is that teachers<br />
in special schools in Switzerland now need a university<br />
degree. Because there is no comparable anthroposophical<br />
training, further training courses are offered such<br />
as for instance the introductory course into anthroposophical<br />
curative education that is provided by vahs in<br />
collaboration with the Dornach training centre.<br />
Generally, canton-imposed regulations are on the increase<br />
and the new protocols for determining individual<br />
needs and services provided is limiting freedom of<br />
choice in our centres.<br />
Topical issues for the association<br />
Questions regarding the support and care for elderly<br />
people with disabilities – including people suffering<br />
from dementia – are becoming more pressing.<br />
Anthroposophical social psychiatry, as a part of social<br />
therapy, is a growing domain within the anthroposophical<br />
centres in Switzerland. In the last three years a specialist<br />
work group has begun to focus on fundamental work<br />
and is offering further training on psychiatric disorders.<br />
In order to bridge the gap created by the demands<br />
of the inclusion concept, cooperation between the<br />
fields of education and curative education is being<br />
continually developed.<br />
100
Berichte | Reports<br />
Um die von der Idee der Inklusion geforderte Aufteilung<br />
in Normalschule und Sonderschule zu überwinden,<br />
wird die Zusammenarbeit der Fachbereiche Heilpädagogik<br />
und Pädagogik permanent weiter entwickelt.<br />
Beitrag zur Entwicklung der anthroposophischen<br />
Bewegung<br />
Neben einer guten Vernetzung innerhalb der Berufsverbände<br />
und Behinderten-Organisationen ist uns die<br />
Zusammenarbeit mit der anthroposophischen Bewegung<br />
wichtig, zum einen über den Verband durch die<br />
Konferenz der anthroposophischen Arbeitsfelder der<br />
Schweiz, zum andern durch die Mitarbeit in der Konferenz<br />
für Heilpädagogik und Sozialtherapie. Weiterhin<br />
soll die Mitarbeit an einer Vielzahl von lokalen und<br />
regionalen Aktivitäten gewährleistet werden, die von<br />
den Institutionen und Schulen ausgehen.<br />
Contribution to the development of the anthroposophical<br />
movement<br />
Apart from the networking within the association and<br />
the special needs centres, much value is placed on<br />
cooperating with the anthroposophical movement.<br />
This happens, on the one hand, via the association<br />
through the Anthroposophical Fields of Work Council<br />
in Switzerland, on the other hand by working with<br />
the Curative Education and Social Therapy Council.<br />
Over and above that, we aim to join in with the local<br />
and regional activities of schools and institutions.<br />
Matthias Spalinger and Renata Fischer, vahs Schweiz<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Interview Lukas Hermanek<br />
Lukas Hermanek, 25, is completing his training as a social educator at HFHS in<br />
Dornach and at Buechehof Lostorf.<br />
Ich besuchte bis zur zwölften Klasse die Waldorfschule.<br />
Jetzt befasse ich mich im Rahmen meiner praxisintegrierten<br />
Ausbildung zum Sozialpädagogen<br />
an der HFHS mit Interesse aktiv mit der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie und<br />
ich erlebe ein grosses Feld, in das ich immer weiter<br />
vorstosse. Ich arbeite in einer Wohngruppe für seelenpflegebedürftige<br />
Menschen in einer anthroposophisch<br />
orientierten Institution.<br />
Seit meiner Schulzeit beschäftige ich mich mit der<br />
ganzheitlichen Sichtweise der Anthroposophie.<br />
Ich arbeitete über drei Jahre in der biologischdynamischen<br />
Landwirtschaft und studierte deren<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
I attended Waldorf school through the 12th grade.<br />
Now, within the framework of my practice-oriented<br />
training as a social educator at HFHS, I am<br />
actively interested in anthroposophic curative<br />
education and social therapy and experience it<br />
as a broad field in which I continue to advance.<br />
I work in a group residence for people with developmental<br />
disabilities in an anthroposophically<br />
oriented institution.<br />
I have studied the holistic perspective of anthroposophy<br />
since my school days. I worked<br />
in and studied the basics of biodynamic agriculture<br />
for over three years. When I decided to<br />
101
Interview<br />
Grundlagen. Bei der Entscheidung zum Wechsel in<br />
die soziale Arbeit war für mich klar, dass ich meine<br />
Ausbildung mit einem anthroposophischen Hintergrund<br />
machen will.<br />
Es ist wichtig, dass anthroposophische Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie offen für Neues bleiben und sich<br />
mit den Bedürfnissen der Menschen und dem Weltgeschehen<br />
entwickeln, um nicht an Aktualität zu<br />
verlieren. Heilpädagogik und Sozialtherapie haben<br />
auch einen Bildungsauftrag und können dadurch<br />
Einfluss nehmen.<br />
Das Wichtigste ist ein Umfeld, das sich mit der Anthroposophie<br />
befasst und Menschen, die weiter denken<br />
und zusammen etwas erreichen wollen. Aktuell<br />
finde ich genau das in meiner Ausbildung an der<br />
HFHS. Danach könnte ich mir vorstellen, dass mir<br />
Vorträge und Literatur eine gute Unterstützung<br />
sind, um mich weiter mit der Anthroposophie auseinanderzusetzen.<br />
Der Umgang mit dem aktuellen Geschehen, damit wir<br />
den Bezug zur Spiritualität nicht verlieren, als Gemeinschaft<br />
nicht auseinanderfallen und uns nicht im<br />
Übermass vom Materialismus verlieren, sind essentielle<br />
Themen.<br />
Die Anthroposophie gibt Erklärungen für viele Fragen,<br />
die Menschen in meinem Umfeld bewegen. Sie<br />
bietet die Chance zur Mitwirkung und ermöglicht<br />
es, ergänzende Sichtweisen zu gewinnen und somit<br />
eine allgemeine Entwicklung anzustossen.<br />
Ich höre immer wieder Ansichten, die auf der Grundlage<br />
der Anthroposophie formuliert werden, welche<br />
für mich zu wenig Freiraum lassen und nicht<br />
stimmig sind. Daher ist mir sehr wichtig, dass den<br />
Menschen, welche sich mit Anthroposophie beschäftigen<br />
und ihre Ansichten darauf aufbauen, ein<br />
individueller Freiraum zugestanden wird. Das erlaubt<br />
es, sich ohne Vorurteile und aus Eigenmotivation<br />
heraus mit einem Thema zu befassen und einen<br />
persönlichen Zugang zur Anthroposophie zu finden.<br />
switch to social work, it was clear that I would<br />
undertake a training based in anthroposophy.<br />
It is important that anthroposophic curative education<br />
and social therapy remain open to new<br />
ideas and develop along with people’s needs and<br />
world events, so as to remain relevant. Curative<br />
education and social therapy have the task of<br />
education, which enabled them to be an influence<br />
in this area.<br />
The most important thing is an environment<br />
that is engaged in anthroposophy and<br />
people who think further and want to achieve<br />
something together. I currently have precisely this<br />
in my training at HFHS. After I finish, I imagine<br />
that lectures and literature will be of help to me<br />
in continuing to work with anthroposophy.<br />
Dealing with current events so that we don’t lose<br />
our connection to spirituality, fall apart as a community,<br />
or lose ourselves in an excess of materialism<br />
is essential.<br />
Anthroposophy gives explanatory approaches<br />
for many questions that are relevant to people<br />
around me. It offers the opportunity to contribute<br />
and enables us to gain additional perspectives,<br />
thereby stimulating general development.<br />
I often hear opinions based on anthroposophy<br />
that are too narrow for me and don’t feel right.<br />
Therefore, it is important to me that people who<br />
are active in anthroposophy and build their opinions<br />
based on it are allowed individual freedom.<br />
This enables us to occupy ourselves with a topic<br />
without prejudice and of our own motivation, and<br />
to find a personal connection to anthroposophy.<br />
Translation from German: Tascha Babitsch<br />
102
Spanien<br />
Der Keim der anthroposophischen Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie in Spanien entstand vor 36 Jahren. Seitdem<br />
ist vieles passiert, aber innerhalb der knapp vier<br />
Jahrzehnte ist die Bewegung nicht sehr gewachsen.<br />
Heute gibt es insgesamt drei Einrichtungen in ganz Spanien,<br />
zwei im Landkreis Madrid und eine in Teneriffa:<br />
In der Asociación San Juan in Teneriffa arbeiten 40 Erwachsene<br />
in verschiedenen Werkstätten, in einem<br />
Wohnhaus leben acht zu betreuende Menschen.<br />
Die Asociación Tobias in Collado Villalba (Madrid) begleitet<br />
16 Erwachsene, die in zwei Wohnhäusern leben und<br />
in verschiedenen Werkstätten arbeiten.<br />
Einen inklusiven Ansatz verfolgt die Escuela Waldorf Artabán<br />
in Galapagar (Madrid) mit der Beschulung von seelenpflegebedürftigen<br />
Kindern in ihren Schulklassen.<br />
Seit einigen Jahren werden in Spanien Einrichtungen für<br />
erwachsene Menschen mit Behinderungen staatlich unterstützt.<br />
Das gibt den Initiativen eine finanzielle Grundlage,<br />
sodass sich der Fokus vermehrt der Arbeit auf<br />
inhaltliche Fragen richten kann. Doch diese Unterstützung<br />
ist lange nicht ausreichend, um alle Ausgaben zu<br />
bezahlen. Die Gehälter sind zu niedrig, das höchste Gehalt<br />
liegt bei ca. 1300 Euro, das niedrigste bei 670 Euro<br />
monatlich. Künstlerische Angebote, wie Eurythmie, Theater,<br />
Malerei, können aus diesen Budgets nicht bestritten<br />
werden und es muss nach alternativen Finanzierungsmöglichkeiten<br />
gesucht werden. Das grösste Problem<br />
für alle Einrichtungen jedoch ist es, Fachkräfte mit einer<br />
grundständigen anthroposophischen Ausbildung zu finden,<br />
die sich engagieren und einbringen wollen.<br />
Deswegen wurde 2010 eine Ausbildung in Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie auf Teneriffa implementiert<br />
und seit 2015 besteht die Möglichkeit, ein in Spanien<br />
anerkanntes Diplom zu erhalten. Die Ausbildung findet<br />
in den Räumlichkeiten der Asociación San Juán,<br />
Adeje statt. Organisation und Leitung obliegt Fidel Ortega<br />
Dueñas, Natividad Moreno Rivilla und Angelines<br />
Martínez Cuenca.<br />
Angelines Martínez Cuenca, Casas de Haro<br />
Übersetzung aus dem Deutschen: Margot Saar<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Fiesta | Celebration<br />
Spain<br />
The seed of anthroposophical curative education and<br />
social therapy was planted 36 years ago. Much has<br />
happened since then, but the movement has not<br />
grown so very much in those almost four decades. We<br />
have three centres in Spain today, two of them in the<br />
greater Madrid area and one on Tenerife:<br />
Forty adults are working in various workshops in the<br />
Asociación San Juan on Tenerife, with eight of them<br />
sharing a family home.<br />
The Asociación Tobias in Collado Villalba (Madrid) supports<br />
sixteen adults who live in two houses and work<br />
in various workshops.<br />
Artabán Waldorf School in Galapagar (Madrid) includes<br />
children with special needs in its regular school classes.<br />
In Spain, the centres for adults with disabilities have<br />
received state funding for some years now. While<br />
this gives them a financial basis which allows them<br />
to focus more on their key objectives, it is not nearly<br />
enough to cover all expenses. The salaries are too low,<br />
ranging from 670 to 1300 Euros per month at most. On<br />
this budget, it is not possible to offer artistic activities<br />
such as eurythmy, drama or painting, and other sources<br />
of funding need to be found. The biggest problem<br />
for all centres is to find qualified and committed staff<br />
with a profound knowledge of anthroposophy.<br />
This is the reason why, in 2010, a curative education<br />
and social therapy training was introduced on Tenerife<br />
and, since 2015, graduates receive a diploma that is<br />
state-recognized in Spain. The training, which uses the<br />
premises of the Asociación San Juán in Adeje, is organized<br />
and led by Fidel Ortega Dueñas, Natividad Moreno<br />
Rivilla and Angelines Martínez Cuenca.<br />
103
Berichte | Reports<br />
Thailand<br />
Thailand<br />
Ist es möglich, dass mein Kind in eine Waldorfschule<br />
integriert wird?<br />
Mit dieser Frage wurde der Samen der Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in Thailand gesät. Seit der Gründung<br />
der ersten Waldorfschule «Panyotai» vor 20 Jahren werden<br />
Kinder mit Hilfebedarf integriert in verschiedenen<br />
Schulgemeinschaften.<br />
Es gibt zwölf Initiativen, deren Arbeit von der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie inspiriert<br />
wird. Dazu zählen integrative Bildungsprojekte, heilpädagogische<br />
Schulen und Beratungsangebote für Eltern behinderter<br />
Kinder. Im Bereich der Sozialtherapie konnte<br />
sich das Saori Weaving Project in Nonthaburi mit seinen<br />
Webereiprodukten etablieren. In Saraburi und Bangkok<br />
wurden Lebensgemeinschaften für Jugendliche und Erwachsene<br />
gegründet. Auch auf dem Gebiet der Aus- und<br />
Weiterbildung gibt es inzwischen ein differenziertes Programm<br />
qualifizierter Seminare, Workshops, Kurs- und<br />
Beratungsangebote für alle im medizinisch-therapeutischen<br />
und heilpädagogischen Bereich Tätigen.<br />
Die zentrale Entwicklung der letzten drei Jahre<br />
Der Impuls der anthroposophischen Heilpädagogik ist<br />
inzwischen in vielen Regionen des Landes bekannt und<br />
regt die Verbreitung des Fachwissens in unterschiedlichen<br />
Gesellschaftsschichten an. Dabei hat das IPMT (International<br />
Postgraduate Medical Training) eine wichtige<br />
Rolle als Fortbildung für alle Berufsgruppen gespielt. Es<br />
ist ein zentraler Ort für vertiefendes Wissen, Treffen, Teilen<br />
und der gegenseitigen Inspiration. Auch der Erfolg<br />
der integrativen Programme in staatlichen Schulen für<br />
behinderte Menschen hat das Fachwissen allgemein<br />
zugänglich gemacht und ist ein Gewinn für die Familien,<br />
die in abgelegenen Gegenden oder in Armut leben.<br />
Hinzu kommt die neue Generation von im Ausland ausgebildeten<br />
Heilpädagogen oder Kunsttherapeuten, die<br />
frische Impulse mitbringen und ihre Kenntnisse weitergeben.<br />
Es gibt ein wachsendes Interesse für sozialtherapeutische<br />
Gemeinschaftskonzepte oder alternative<br />
Formen für Erwachsenenweiterbildung.<br />
Vor allem aber hat der «Congress for people with special<br />
needs» (In der Begegnung leben) vielen Eltern, Pflegern<br />
Is it possible for my child to be integrated<br />
into a Waldorf school?<br />
With this question, the seed of curative education and<br />
social therapy in Thailand was sown. Since the foundation<br />
of the first Waldorf school, ‹Panyotai›, 20 years<br />
ago, children in need of special care have been integrated<br />
in various school communities.<br />
There are twelve initiatives whose work is inspired by<br />
anthroposophic curative education and social therapy.<br />
They include integrative education projects, curative<br />
education schools, and a range of services for<br />
the parents of children with disabilities. In the field of<br />
social therapy, the Saori Weaving Project was able to<br />
establish itself in Nonthaburi. Lifesharing communities<br />
with youth and adults were founded in Saraburi<br />
and Bangkok. In terms of training and continuing education,<br />
there is currently also a varied programme of<br />
certified seminars, workshops, courses and services for<br />
anyone active in the medical, therapeutic and curative<br />
education fields.<br />
Central development in the last three years<br />
The impulse of anthroposophic curative education<br />
is now familiar in many regions of the country, stimulating<br />
the spread of knowledge of the subject in<br />
different social classes. The IPMT (International Postgraduate<br />
Medical Training) has played an important<br />
role in this as continuing training for all professional<br />
groups. It is a central location for deepening knowledge,<br />
for meeting, exchange, and mutual inspiration.<br />
The success of integrative programmes in public<br />
schools for people with disabilities has also brought<br />
knowledge of the subject to the general population<br />
and is of benefit to families living in remote areas or in<br />
poverty. In addition, there is a new generation of teachers<br />
trained outside the country as curative educators<br />
or art therapists, who are bringing fresh impulses and<br />
passing on their knowledge. There is growing interest<br />
in social therapeutic community concepts and alternative<br />
forms of adult education.<br />
Most importantly, the ‹Congress for people with special<br />
needs› (Living in the Encounter) has opened the<br />
104
Berichte | Reports<br />
und Freiwilligen die Augen geöffnet. Er ist gelebte Sozialtherapie<br />
in Aktion, in Alltagssituationen. Er hat uns dazu<br />
angeregt, uns zu treffen und zu kooperieren mit vielen<br />
nicht-anthroposophischen Organisationen für Erwachsene<br />
mit Hilfebedarf.<br />
Die wichtigsten Fragen sind derzeit: Wie können wir mehr<br />
Personal und interessierte professionelle Mitarbeitende<br />
finden? Wie könnte die Forschung unserer Arbeit effektiver<br />
werden? Drei Forschungsgruppen sollte es geben:<br />
Pflege zu Hause mit Eltern; integrierte Schulprogramme;<br />
Krankenhaus- und medizinische Pflege.<br />
Die Position der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in Thailand<br />
Mitten in der seit über zehn Jahren andauernden politischen<br />
Krise sind wir nach wie vor dabei, eine Lösung für<br />
den Konflikt zu finden und die grosse Wunde unter den<br />
Thais mit unterschiedlichen politischen Standpunkten<br />
zu heilen. Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
haben uns einen Sinn für Gemeinschaft zurückgegeben<br />
und die Möglichkeit zur Reflektion der Haltung<br />
zu einem Leben, das Verschiedenheit akzeptiert. So genannte<br />
«Probleme» wurden zu «Herausforderungen für<br />
innovatives Handeln».<br />
Die Haltung zu Behinderung als Krankheit hat sich geändert,<br />
nicht nur aufgrund des Gleichheitskonzepts des<br />
Menschen aus der politischen Perspektive, sondern<br />
auch durch den Impuls der Heilpädagogik, der uns dabei<br />
hilft, diese besonderen Konditionen als «Teil des Wesens<br />
eines Menschen» zu sehen. Er führt uns zurück zur primären<br />
Frage nach «Rhythmus im Leben». Es beinhaltet<br />
die Heilung aller Menschen, was auch einen gesundenden<br />
Effekt auf die Gesellschaft hat. In Thailand fragen<br />
nun viele Menschen in besseren Kreisen nach Veränderung.<br />
Die Bewegung, an der wir arbeiten, ist Teil dieser<br />
Veränderung des Bewusstseins, auch durch die Begegnung<br />
mit Menschen mit Behinderung.<br />
Die nächsten Schritte<br />
Neben einer Teilzeit-Ausbildung für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie in Kooperation mit der Medizinischen<br />
Sektion, Goetheanum, sind zukünftig jährliche Treffen<br />
mit allen Organisationen zur gegenseitigen Inspiration,<br />
Kooperation und Weiterentwicklung der ganzen<br />
Bewegung geplant.<br />
Nach 20 Jahren der Waldorferziehung in Thailand ist die<br />
junge Pflanze der Heilpädagogik (und später der Sozialeyes<br />
of many parents, caregivers and volunteers. It is<br />
lived social therapy in action, in daily life situations.<br />
It inspired us to meet and to cooperate with many<br />
non-anthroposophic organizations for adults with<br />
special needs.<br />
Currently, the most important questions are: How can<br />
we find more staff and interested professional co-workers?<br />
How can we more effectively research our work?<br />
There should be three research groups: Home care with<br />
parents, integrated school programmes, and hospital<br />
and medical care.<br />
The position of anthroposophic curative education<br />
and social therapy in Thailand<br />
In the midst of the already ten-year-long political<br />
crisis, we continue to look for solutions to the<br />
conflict and ways to heal the great wounds of Thai<br />
people with differing political views. Anthroposophic<br />
curative education and social therapy have given us<br />
back a sense of community, and the possibility to develop<br />
an attitude toward life that accepts differences.<br />
So-called ‹problems› become ‹challenges calling for<br />
innovative action›.<br />
The attitude toward disability as an illness has changed<br />
– not only because of the concept of human equality<br />
from a political perspective, but also through<br />
the impulse of curative education, which helps us to<br />
see these special conditions as ‹a part of a person’s<br />
being›. It leads us back to the prime question regarding<br />
‹rhythm in life›. It contains healing for all human<br />
beings, which also has a healing effect on society. In<br />
Thailand, many people in better circles are now asking<br />
for change. The movement we are working on is a part<br />
of this change in consciousness, in part due to the encounter<br />
with people with disabilities.<br />
The next steps<br />
In addition to part-time training courses in curative<br />
education and social therapy in cooperation with<br />
the Medical Section of the Goetheanum, future yearly<br />
meetings with all organizations are planned for mutual<br />
inspiration, cooperation and further development of<br />
the entire movement.<br />
After twenty years of Waldorf education in Thailand,<br />
the tender young plant of curative education (and<br />
later social therapy) has continued to grow. Initiatives<br />
are carried out and finished, while new ones are<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
105
Foto: Thomas Kraus<br />
Kongress «In der Begegnung Leben» | Congress ‹Living in the Encounter› 2014<br />
therapie) kontinuierlich gewachsen. Initiativen wurden<br />
durchgeführt und beendet, zur gleichen Zeit aber formierten<br />
sich neue. Die Gesellschaft hat sich aufgrund<br />
der Fortschritte in der Kommunikationstechnologie stark<br />
verändert, Menschen kommen einfacher und schneller<br />
an Informationen heran und damit weitet sich auch die<br />
Zahl der Kinder mit Hilfebedarf.<br />
Es gilt, Entwicklung zuzulassen und der Zeit zu erlauben,<br />
Wunden zu heilen und den Wachstumsprozess zu fördern.<br />
So, wie der junge autistische Mann, der den Begegnungskongress<br />
in Bangkok besuchte und in diesen drei<br />
Tagen kein Wort sprach, am letzten Tag aber zum Podium<br />
kam und zu allen Teilnehmenden sagte: «Ich kämpfe,<br />
aber ich verliere nie das Vertrauen in mich selbst.»<br />
being formed. Society has changed drastically due<br />
to progress in communication technology – people<br />
have much easier and quicker access to information,<br />
and the number of children in need of special care<br />
is also growing.<br />
It is important to allow development and the time for<br />
wounds to heal and to support the growth process.<br />
And like the young autistic man said, who attended<br />
the Encounter Conference in Bangkok and spoke not<br />
a word throughout the three days, but then came to<br />
the podium on the last day before all of the participants:<br />
‹I am fighting, but I never lose faith in myself.›<br />
Anchana Soontornpitag, Tonrak Foundation for Children<br />
with Special Needs, Bangkok<br />
Translation from English: Tascha Babitsch<br />
106
Berichte | Reports<br />
Tschechien<br />
Czech Republic<br />
In Tschechien wirkt seit 1992 der Verein für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie, der aktuell elf Mitglieder hat (Bereiche:<br />
Ausbildung in Heilpädagogik und Sozialtherapie,<br />
Waldorf-Sonderschule, sechs Tages-Werkstätten, drei<br />
Lebensgemeinschaften), weitere Initiativen sind im Entstehen.<br />
Der Verein ist seit Beginn Mitglied von ECCE. Die<br />
Vereinsmitglieder treffen sich regelmässig bei einem von<br />
den Mitgliedern, um die aktuellen Probleme zu besprechen,<br />
entweder zur gemeinsamen fachlichen Arbeit oder<br />
zur Zusammenarbeit an gemeinsamen Projekten.<br />
Die Gründerin des Vereins, Dr. Anezka Janatova, ist auch<br />
Gründerin der Ausbildung in anthroposophischer Heilpädagogik,<br />
Sozialkunst und -therapie, der «Akademie<br />
für Sozialkunst Tabor». Diese ist ein von der Konferenz<br />
für Heilpädagogik und Sozialtherapie in Dornach anerkanntes<br />
Studium. Die Ausbildungsstätte arbeitet bei verschiedenen<br />
Veranstaltungen eng mit der tschechischen<br />
Anthroposophischen Gesellschaft zusammen. Absolventen<br />
der Akademie gründeten ganz neue Initiativen auf<br />
der Grundlage anthroposophischer Heilpädagogik, Pädagogik,<br />
Kunst- und Sozialtherapie (acht davon sind Mitglieder<br />
des heilpädagogischen Vereins).<br />
Die Akademie für Sozialkunst Tabor beschränkt sich<br />
nicht nur auf die fachliche Aufgabe der Ausbildung, sondern<br />
arbeitet auf dem Gebiet der (anthroposophischen)<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie an verschiedenen<br />
Ausbildungs-Projekten mit – mit der Palacky Universität<br />
im Gebiet innovativer Ausbildung, mit der Assotiation<br />
tschechischer Waldorfschulen, mit dem Verein für biologisch-dynamische<br />
Landwirtschaft Přemysl oder an internationalen<br />
Projekten (z.B. CESTE-NET oder IPMT).<br />
Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
in Tschechien<br />
Da Heilpädagogik und auch Sozialtherapie in der tschechischen<br />
Sozialarbeit keine gängigen Begriffe sind (historisch<br />
ist hier «<strong>Spezial</strong>pädagogik» etabliert, die sich<br />
aber nicht mit therapeutischen Aspekten der Pädagogik<br />
beschäftigt), repräsentiert die Akademie für Sozialkunst<br />
Tabor mit ihrem Ausbildungs-Programm ein ganz neues<br />
Paradigma, welches vorläufig nur vereinzelt in Fachkrei-<br />
The Curative Education and Social Therapy Association<br />
in the Czech Republic has been active since 1992, and<br />
currently has 11 members (a training course in curative<br />
education and social therapy, a Steiner-Waldorf<br />
special needs school, six day-placement workshops<br />
and three residential communities); more initiatives<br />
are currently being developed. Since the beginning,<br />
the Association has been a member of the ECCE. The<br />
members meet regularly at one of the member organizations<br />
in order to discuss either topical issues in the<br />
field or their cooperation on shared projects.<br />
Dr Anezka Janatova, the founder of the association,<br />
also founded the Tabor Academy for Social Art, which<br />
provides training in anthroposophical curative education<br />
and social therapy and is recognized by the Curative<br />
Education and Social Therapy Council in Dornach. The<br />
Academy works closely with the Czech Anthroposophical<br />
Society. Academy graduates have established new<br />
initiatives based on anthroposophical curative education,<br />
education, art therapy and social therapy (eight of<br />
them are members of curative education association).<br />
The Tabor Academy for Social Art is not restricted to<br />
a regular curriculum but is involved with various training<br />
projects in the field of (anthroposophical) curative<br />
education and social therapy: for instance, by working<br />
with the Palacky University on innovative training,<br />
with the association of Czech Waldorf schools, the<br />
biodynamic farming association in Přemysl and international<br />
projects such as CESTE-NET or IPMT.<br />
Anthroposophical curative education and social<br />
therapy in the Czech Republic<br />
Since the terms ‹curative education› and ‹social therapy›<br />
are not widely known or used in the Czech Republic<br />
(historically, the term used is ‹special education› which<br />
leaves out the therapeutic aspects of education), the<br />
Tabor Academy for Social Art with its study courses<br />
represents a whole new paradigm that is at present<br />
only tentatively discussed among experts and hardly<br />
recognized by Czech society. Its aim over the coming<br />
years will be to strengthen these social and educatio-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
107
Berichte | Reports<br />
sen diskutiert wird, in der tschechischen Gesellschaft<br />
ist es jedoch fast unbekannt. Das Ziel dieser Bemühungen<br />
wird sein, diese Impulse in der Sozialarbeit und im<br />
Schulwesen in den folgenden Jahren zu verstärken, mehrere<br />
Initiativen zu gründen und zu entwickeln, um als<br />
letzten Schritt mit staatlichen Organen ins Gespräch zu<br />
kommen und die Anerkennung der Heilpädagogik als eigenständiges<br />
Gebiet zu gewinnen.<br />
Was die mit der Heilpädagogik zusammenhängenden<br />
Gebiete betrifft, so hat sich die anthroposophische medizinische<br />
Bewegung in den letzten Jahren verstärkt.<br />
2011 wurde der Verein für anthroposophische Medizin<br />
gegründet, der die Verantwortung für eine medizinische<br />
Ausbildung übernahm (International Postgraduate Medical<br />
Training der Medizinischen Sektion, IPMT) und seit<br />
2012/13 ein eigenes Wochenend-Fachstudium – die<br />
«MUDr. Brabinek Akademie» – organisiert. Nicht zuletzt<br />
ist auch die 2013 entstandene Ausbildung in biodynamischer<br />
Landwirtschaft – die «MUDr. Kampelik Agroakademie»<br />
– zu erwähnen. Die Agroakademie wurde von<br />
einem ehemaligen Student und Lektor der Akademie<br />
Tabor gegründet und auch das IPMT wird vor allem durch<br />
ehemalige Studenten der Akademie Tabor organisatorisch<br />
und auch künstlerisch begleitet.<br />
Da die Verbesserungen in der Sozialarbeit und der Zugang<br />
für Menschen mit Hilfebedarf nach dem Jahr 1990<br />
nur allmählich vorwärts kommen, werden die meisten<br />
Menschen bis heute vor allem in staatlichen Institutionen<br />
versorgt. Durch gesellschaftliche Unkenntnis der<br />
Problematik werden die nichtstaatlichen Einrichtungen<br />
auch finanziell nur begrenzt unterstützt. Erst seit<br />
2007 gilt in Tschechien ein Gesetz für Sozialdienste,<br />
das als Grundlage für grössere und mehr konzeptionelle<br />
Änderungen im Sozialgebiet dienen könnte. Dieses<br />
Gesetz regelt vor allem Standards in der Sozialen Arbeit,<br />
ihre verschiedenen Methoden, die Ausbildungsansprüche<br />
für Sozialarbeiter und Sonderpädagogen<br />
sowie die finanziellen Mittel für die Menschen mit Hilfebedarf.<br />
Trotz dieses Gesetzes sowie der UN-Konvention<br />
über die Rechte von Menschen mit Behinderung<br />
(in Tschechien gültig seit 2011) oder Bemühungen von<br />
nichtstaatlichen Organisationen, ist die Tendenz weiterhin<br />
wachsend, die Menschen mit Hilfebedarf in Institutionen<br />
unterzubringen. Die institutionelle Pflege<br />
betrifft hierbei nicht nur Erwachsene, sondern auch<br />
Das Christgeburtsspiel | Shepherd‘s Play<br />
nal impulses and to establish more initiatives, so that<br />
it will eventually be possible to enter into a dialogue<br />
with the government and gain recognition for curative<br />
education as an autonomous field.<br />
As far as other areas associated with curative education<br />
are concerned, the anthroposophical medical<br />
movement has gathered momentum in recent years.<br />
Founded in 2011, the Anthroposophical Medical Association<br />
has assumed responsibility for providing<br />
training courses (The Medical Section’s ‹International<br />
Postgraduate Medical Training” or IPMT). Since<br />
2012/2013 it has also been organizing its own weekend<br />
courses (MUDr. Brabinek Akademie). Last but not<br />
least, in 2013 the MUDr. Brabinek Agroakademie opened<br />
its training in biodynamic farming. The Agroakademie<br />
was founded by a teacher (and former student)<br />
of the Tabor Academy and much of the organisation<br />
and artistic work at the IPMT is also provided by former<br />
Tabor-Academy students.<br />
Because the quality of social care and its availability<br />
to people with special needs have only made slow<br />
progress since 1990, most people are still being looked<br />
after in state-run institutions. The lack of information<br />
and the general unawareness in society mean that independent<br />
social care centres only receive limited funding.<br />
It was not until 2007 that the Czech Republic<br />
introduced a Social Service Act that constituted the<br />
foundation for possible changes in the field of social<br />
108
Berichte | Reports<br />
kleine Kinder (Säuglinge). Dabei erleidet die Idee der<br />
Inklusion Angriffe nicht nur aus Politik und Gesellschaft,<br />
sondern auch aus fachlichen Kreisen.<br />
Zukünftige Aufgaben<br />
Die grössten allgemeinen Aufgaben für die Sozialarbeit<br />
in Tschechien sind somit:<br />
1. die Ausbildung von neuen Sozialarbeitern und Sonderpädagogen<br />
– sie werden nicht nur fachlich, sondern<br />
auch menschlich ausgebildet, und<br />
2. die gesellschaftliche und politische Aufklärung im<br />
Zusammenhang mit den Vorteilen und dem Sinn von<br />
individualisierter Sozial-Pflege und einem inklusiven<br />
Schulwesen.<br />
In diesem Sinne stimmen in Tschechien die Aufgaben<br />
der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
überein mit den Aufgaben der tschechischen Sozialarbeit<br />
im Allgemein – der Verein für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie repräsentiert den praktischen Teil der Arbeit,<br />
die Akademie für Sozialkunst Tabor setzt sich für die<br />
Ausbildung zur «Menschheit» ein und für die Unterstützung<br />
der Persönlichkeiten, die für diese gesellschaftlichen<br />
Änderungen etwas Kreatives machen wollen.<br />
Katerina Matošková, Academy for Social Art, Prag<br />
Übersetzung aus dem Deutschen: Leonard Saar<br />
care. First and foremost, the Social Service Act regulates<br />
the standards in social care, the methods used,<br />
the training requirements for social care workers and<br />
special needs teachers and the financial provision for<br />
people with special needs.<br />
Despite the Social Service Act, the UN Convention on<br />
the Rights of Persons with Disabilities (ratified by the<br />
Czech Republic in 2011) and the efforts of independent<br />
organizations, there is still a tendency to institutionalize<br />
people with special needs, including children<br />
and infants. The concept of inclusion is not only criticized<br />
by politicians and society in general but even<br />
among social care professionals.<br />
Tasks for the future<br />
The most important tasks in the field of social care in<br />
the Czech Republic are therefore:<br />
1. Training in social care and special needs education<br />
that does not only convey expert knowledge but also a<br />
more humane approach.<br />
2. Societal and political education regarding the advantages<br />
and meaning of individualized social care<br />
and inclusive schooling.<br />
One can say that, in the Czech Republic, the tasks of<br />
anthroposophical curative education and social therapy<br />
coincide with those of the social care sector in<br />
general. The Curative Education and Social Therapy<br />
Association represents the practical side of the work<br />
and the Tabor Academy for Social Art is committed<br />
to more ‹humanity› and to the support of individuals<br />
who are willing to contribute in creative ways to<br />
facilitate the necessary changes in society.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
109
Konzentration beim Malen | Concentration<br />
Ukraine<br />
Die Ukraine erlebt gerade schwierige Zeiten. Seit drei<br />
Jahren herrscht in den Teilen von Donetzk und Lugansk<br />
Krieg und über eine Millionen Menschen sind auf der<br />
Flucht. Sie sind auf der Suche nach einem ruhigen und<br />
sicheren Ort in der Ukraine. Auch ökonomisch geht es<br />
dem Land nicht gut, die Wirtschaft erlebt kein Wachstum,<br />
das heisst, dass die meisten Menschen an der Grenze<br />
der Armut leben. Zwar versucht die Regierung neue Reformen<br />
auf den Weg zu bringen, doch es ist noch nicht<br />
sichtbar, wo sie hinführen werden. Der Wunsch, das<br />
Land zu verändern, ist bei den Menschen gross und vor<br />
allem besteht der Wunsch, in einem Land ohne Korruption<br />
zu leben, in dem das Recht regiert und nicht die Gier.<br />
Seit zwanzig Jahren existiert und entwickelt sich in der<br />
Ukraine die Anthroposophische Heilpädagogik. In dieser<br />
Zeit wurden heilpädagogische Klassen in der Waldorfschule<br />
«Stupeni» (Odessa) eingerichtet, in Charkow arbeitet die<br />
Heilpädagogische Schule «Phönix» mit einem daran angeschlossenen<br />
Kindergarten und in Kiew wurde das Heilpädagogische<br />
Centrum «Sonyatschne podvirja» aufgebaut. Ein<br />
berufsbegleitender Bildungsgang bietet Studierenden seit<br />
Ukraine<br />
Ukraine is experiencing very difficult times. For three<br />
years there has been war in Donetsk and Luhansk and<br />
more than a million people are fleeing their homes in<br />
search of a more peaceful and safer part of the country.<br />
The economic situation is also dire: the lack of economic<br />
growth means that most people live very close to<br />
the poverty line. While the government is trying to introduce<br />
reforms it is impossible to gauge what will happen<br />
as a result. People are longing for change, wishing<br />
above all to live in a country where there is no corruption,<br />
and where lawfulness prevails rather than greed.<br />
Anthroposophical curative education has existed and<br />
been developed in Ukraine for twenty years now. During<br />
that time curative education classes have been<br />
introduced at the Stupeni Waldorf School in Odessa,<br />
a special needs school (Phoenix) with an integrated<br />
kindergarten was founded in Kharkiv, and a Curative<br />
Education Centre (Sonyatschne podvirja) was set up<br />
in Kiev. A curative teacher training seminar opened in<br />
2000, offering a three-year part-time course. Many of<br />
the graduates from this course now work in non-an-<br />
110
Berichte | Reports<br />
dem Jahr 2000 im Heilpädagogischen Seminar eine dreijährige<br />
fundierte berufsbegleitende Ausbildung. Viele Seminarabsolventen<br />
arbeiten in nicht-anthroposophischen<br />
Einrichtungen oder haben private Praxen. In diesem Jahr<br />
haben wir 25 Studierende am Seminar, alle haben bereits<br />
einen Hochschulabschluss und wollen sich intensiv mit<br />
der anthroposophischen Heilpädagogik auseinandersetzten<br />
und verbinden, damit sie den Kindern mit besonderen<br />
Bedürfnissen besser helfen können. Es sind Erzieher, Logopäden,<br />
Waldorflehrer und Psychologen.<br />
Anthroposophische Einrichtungen bekommen keine finanzielle<br />
Unterstützung vom Staat und können nur durch<br />
Elternbeiträge und durch die Unterstützung der Sponsoren<br />
im In- und Ausland bestehen. Diese Organisationen<br />
haben einen guten Ruf, sowohl bei den Eltern als auch<br />
bei den Mitarbeitenden und in Fachkreisen. Die Zeit und<br />
die Situation stellt die anthroposophische Heilpädagogik<br />
vor neue Herausforderungen. Dazu gehören:<br />
• Hilfe für Kinder mit Traumata<br />
• Ausbildung von Sozialtherapeuten und die Eröffnung<br />
von sozialtherapeutischen Einrichtungen<br />
• Arbeit mit herausfordernden Kindern<br />
• Die Frage der Inklusion und die Begleitung der Kinder<br />
mit besonderen Bedürfnissen in den Staatsschulen.<br />
Viele Früchte bringt die Arbeit mit den anthroposophischen<br />
Einrichtungen in Georgien, Kirgisistan, Russland,<br />
Ukraine, Moldawien, Armenien und Bulgarien.<br />
Valeriya Medvedeva, Schule ‹Phönix›, Charkow<br />
throposophical institutions or in private practice. This<br />
year the course has 25 students who all have previous<br />
academic qualifications. They wish to study anthroposophical<br />
curative education in order to be better able<br />
to help children with special needs. They are educators,<br />
speech therapists, Waldorf teachers and psychologists.<br />
Anthroposophical institutions are not state-funded<br />
and they therefore depend on contributions from<br />
parents and on the support of sponsors at home and<br />
abroad. They are known for the quality of what they<br />
provide and they are appreciated by parents, co-workers<br />
and professionals in the field. Our times and the<br />
situation today present new challenges for anthroposophical<br />
curative education. They include:<br />
• Supporting traumatized children,<br />
• The need for social therapy training courses and centres,<br />
• Working with challenging behaviours in children<br />
• The inclusion of and support for children with special<br />
needs in state schools.<br />
The cooperation with the anthroposophical centres in<br />
Georgia, Kyrgyzstan, Russia, Ukraine, Moldova, Armenia<br />
and Bulgaria is proving very fruitful indeed.<br />
Valeriya Medvedeva, Schule ‹Phönix›, Charkow<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Interview Yuliia Bieliaieva<br />
Yuliia Bieliaieva, 25, lives in Kiev, Ukraine, and is a special education teacher<br />
and speech pathologist. She is studying at the Curative Education<br />
Seminar and working at the ‹Sonyatschne Podvirya› (Sonnenhof) curative<br />
education centre.<br />
Anthroposophische Heilpädagogik gibt meiner<br />
Arbeit Bedeutung. Ich kann mir nicht vorstellen,<br />
wie man ohne diese Kenntnisse qualitativ mit<br />
behinderten Menschen arbeiten kann. Alles,<br />
was wir im Heilpädagogischen Seminar lernen,<br />
ist für mich einleuchtend, auch wenn manches<br />
nicht leicht zu verstehen ist.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Anthroposophic curative education gives my<br />
work meaning. I cannot imagine how anyone<br />
can work qualitatively with people with disabilities<br />
without this understanding. Everything<br />
we learn in the Curative Education Seminar<br />
makes sense to me, even if some of it is not<br />
easy to understand.<br />
111
Interview<br />
Mich interessierten immer Menschen mit Beeinträchtigungen.<br />
Ich hatte viele Fragen, wie: Hat meine<br />
logopädische Arbeit einen Sinn, wenn das Kind<br />
niemals sprechen wird? Ich hatte das Gefühl, dass<br />
ich das Richtige tue, aber ich wollte mehr von<br />
diesen Menschen erfahren, ihre Welt besser verstehen<br />
und wie ich sie individuell und zielgerichtet<br />
fördern könnte. Bereits im ersten Studienjahr<br />
begann ich die Arbeit mit behinderten Kindern<br />
und lernte später im heilpädagogischen Zentrum<br />
«Sonnenhof» die Arbeit mit schwerstbehinderten<br />
Kindern kennen. Ich war beeindruckt, wie glücklich<br />
sie sind, denn in dem staatlichen Internat, in dem<br />
ich vorher gearbeitet hatte, erlebte ich eine ganz<br />
andere Atmosphäre und ein anderes Verhältnis<br />
zu den Kindern erlebt. Das Lernen im Seminar ist<br />
eines der wichtigsten Ereignisse sowohl in meinem<br />
beruflichen als auch im Privatleben.<br />
Ich möchte, dass in der Ukraine anthroposophische<br />
heilpädagogische Einrichtungen nicht nur für Kinder,<br />
sondern auch für Jugendliche und ältere Leute<br />
entstehen. Das ist mein Traum und Ziel.<br />
Das Wichtigste ist bei der Arbeit mit beeinträchtigten<br />
Kindern die persönliche Entwicklung des/der<br />
PädagogIn. Je mehr ich mich entwickle, umso mehr<br />
verstehe ich, dass ich das Kind nur eine Etappe in<br />
seinem Leben begleiten kann. Es ist sehr wichtig,<br />
sich geistig und professionell weiter zu bilden.<br />
Die Gesellschaft soll die Menschen unabhängig von<br />
einer Behinderung akzeptieren. Nur so ist der<br />
Mensch seinen Namen als Mensch wert. Heilpädagogik<br />
und Anthroposophie können dabei<br />
helfen und ich habe den Wunsch, dass viel mehr<br />
Menschen sie kennen lernen. Je mehr sich ein<br />
Mensch in die Anthroposophie vertieft, umso<br />
mehr erkennt er die Welt, versteht und akzeptiert<br />
die Welt und die Menschen und seine Liebe zu<br />
allem und zu allen wächst.<br />
I have always been interested in people with<br />
disabilities. I had many questions, such as: Does<br />
my work as a speech pathologist have any<br />
meaning if the child will never learn to speak? I<br />
had the feeling that I was doing the right thing,<br />
but I wanted to understand more about these<br />
people and their world, and how I could support<br />
them individually and purposefully. In my<br />
first year of studies I immediately began work<br />
with children with disabilities, and later became<br />
familiar with working with children with severe<br />
disabilities at the curative education centre,<br />
‹Sonnenhof›. I was impressed with how happy<br />
they are, as I had experienced a very different<br />
atmosphere and relationship to the children in a<br />
government boarding school where I had worked<br />
previously.<br />
My studies at the Seminar are one of the most<br />
important events in my life, both professionally<br />
and personally.<br />
I would like for there to be anthroposophic curative<br />
education institutions in the Ukraine not only<br />
for children, but also for youth and older people.<br />
This is my dream and my goal.<br />
In working with children with disabilities, the<br />
most important thing is the teacher’s development.<br />
The more I develop, the more I understand<br />
that I can only accompany the children for a<br />
stage of their life. Continuing to grow both spiritually<br />
and professionally is extremely important.<br />
Society should accept people regardless of their<br />
ability or disability. Only then do we earn our title<br />
of human beings. Curative education and anthroposophy<br />
can help with this, and I hope that many<br />
more people will learn about it. The more we immerse<br />
ourselves in anthroposophy, the more we<br />
can recognize the world, the more we can understand<br />
and accept the world and human beings,<br />
and the more our love for all beings grows.<br />
Translation from German: Tascha Babitsch<br />
112
Vietnam<br />
Vietnam liegt angrenzend an Kambodscha, Laos und<br />
China in Südostasien und hat 91,7 Mio. Einwohner.<br />
Das Land war bis 1954 unter französischer Kolonialherrschaft<br />
und hat als erste Nation eine Kolonialmacht<br />
besiegt. Nachdem die Franzosen Vietnam verlassen hatten,<br />
begann der amerikanische Krieg, der sich bis 1975<br />
fortsetzte. In diesem Krieg wurden 75,7 Mio. Liter Agent<br />
Orange über das Land gesprüht. Heute ist Vietnam eine<br />
sozialistische Republik. Seit den frühen neunziger Jahren<br />
hat sich das Land sehr schnell und stabil entwickelt und<br />
ist durch seine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung<br />
einer der «Tiger» Südostasiens geworden.<br />
Der Eurasien Verband, der von Ha Vinh Tho, seiner Frau<br />
Lisi und anderen Mitgliedern hauptsächlich aus der<br />
Camphill-Bewegung gegründet wurde, begann mit seiner<br />
heilpädagogischen Arbeit Mitte der neunziger Jahre<br />
in Vietnam und wird seitdem von der 2007 gegründeten<br />
Eurasien Stiftung unterstützt und gestärkt. Die Stiftungsziele<br />
beinhalten die Förderung der Entwicklung und sozialen<br />
Integration von seelisch und körperlich behinderten<br />
Kindern und Erwachsenen, die in Vietnam und – soweit<br />
dies die Mittel der Stiftung erlauben – in Nachbarländern<br />
leben, und das Bestreben, ihre Würde und Rechte<br />
anzuerkennen und zu respektieren.<br />
Unsere Vision ist es, soziale und humanitäre Arbeit mit<br />
nachhaltiger Entwicklung und Ökologie zu verbinden und<br />
innovative soziale Gemeinschaften, die nach ethischen<br />
und geistigen Werten arbeiten, zu fördern.<br />
Obwohl die meisten Mitglieder in Eurasien aus der Camphill-Bewegung<br />
kommen und eine tiefe Verbindung mit<br />
der anthroposophischen und Waldorf-Bewegung besteht,<br />
ist es uns sehr bewusst, dass dieser Ansatz kontextualisiert<br />
werden muss, damit er relevant für die kulturelle,<br />
wirtschaftliche und politische Lage im Land ist.<br />
Als wir mit der Arbeit anfingen, war das Land noch sehr<br />
arm und versuchte sich politisch von den Folgen der langen<br />
Kriege zu erholen. Die Lage von mit Behinderung lebenden<br />
Menschen war so schrecklich prekär, dass wir<br />
erst das Bewusstsein für ihre Situation schaffen und Anerkennung,<br />
Respekt, Würde und Rechte für sie anstreben<br />
mussten. Selbst Grundbedürfnissen wie Nahrungsmittel<br />
und Unterkunft oder das Recht auf Bildung wurde nicht<br />
nachgekommen. Wir mussten uns immer wieder die Frage<br />
stellen: Was wird am meisten gebraucht? Was ist nützlich?<br />
Was ist in dieser besonderen Situation relevant?<br />
«Die friedvolle Bambusfamilie» | ‹The Peaceful Bamboo Family›<br />
Vietnam<br />
Vietnam is situated in South East Asia, bordering on<br />
Cambodia, Laos and China, with 91.7mio inhabitants.<br />
The country was under French colonization rule until<br />
1954 and was the first colonized nation to defeat a<br />
colonial power. After the French left Vietnam, the<br />
American War started and continued until 1975. During<br />
this war 75.7mio litres of Agent Orange were<br />
sprayed over the country. Today Vietnam is a socialist<br />
republic. Since the beginning of the 1990s the country<br />
has seen a very rapid and steady development and<br />
has become one of South East Asian ‹tigers›, in terms<br />
of accelerated economic development.<br />
Eurasia Association, which was founded by Ha Vinh<br />
Tho, his wife Lisi and other members mostly coming<br />
from the Camphill movement, started its work in special<br />
education in Vietnam in the mid-1990s and has<br />
since been supported and strengthened by the Eurasia<br />
Foundation, founded in 2007. The goals of the<br />
foundation are to foster the development and social<br />
integration of mentally and physically disabled children<br />
and adults living in Vietnam, and – within the<br />
resources of the Foundation in other neighbouring<br />
countries – and to strive for recognition of and respect<br />
for their dignity and rights.<br />
Our vision is to combine social and humanitarian work<br />
with sustainable development and ecology, and to<br />
promote innovative social communities working to<br />
ethical and spiritual values.<br />
Even though most of our members in Eurasia come<br />
from the Camphill movement and have a deep connection<br />
to the anthroposophical and Waldorf movement,<br />
we have been very much aware of the necessity to con-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
113
Berichte | Reports<br />
Im Laufe der Jahre richtete Eurasien in Hue fünf Förderklassen<br />
in Grundschulen der Stadt ein, gründete drei Förderschulen<br />
für Kinder mit schweren Behinderungen, eine<br />
grosse Anzahl Berufsbildungszentren und ein Altenheim.<br />
Von Anfang an veranstalteten wir auch Schulungsveranstaltungen<br />
und ein einjähriges Seminar für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie an der Universität Hue. Unsere<br />
Partner sind die Regierung, religiöse Organisationen und<br />
örtliche NGOs.<br />
Eurasien ist ein Pionier im Bereich der Heilpädagogik<br />
in der Provinz Thua Thien Hue und der Stadt Hue. Der<br />
Verband ist offiziell als NGO von den Kommunalbehörden<br />
anerkannt und viele Verträge und Absichtserklärungen<br />
sind mit örtlichen Partnern unterschrieben<br />
worden. Örtliche und überregionale Medien haben<br />
mehrfach über seine Errungenschaften berichtet und<br />
ausgezeichnete Arbeitsverhältnisse sind mit Familien,<br />
Fachkräften und den staatlichen Stellen geschaffen<br />
worden. In solchen Zusammenhängen musste der<br />
anthroposophische Ansatz in einer feinfühligen und<br />
pragmatischen Weise eingebracht werden, da wir eine<br />
echte Gesinnungsveränderung herbeiführen wollten,<br />
um das Leben für Menschen mit Behinderungen und<br />
ihre Familien zu verbessern – nicht einzig für einige<br />
Kinder –, und um das Bewusstsein zu schärfen und<br />
neue Lösungen vorzustellen, darunter auch allgemeingesellschaftliche<br />
ökologische Impulse.<br />
Dieser Ansatz hat uns fest in die örtliche Gesellschaft<br />
integriert und uns 2009 die Möglichkeit gegeben, eine<br />
erste unabhängige Lebens- und berufliche Ausbildungsgemeinschaft<br />
zu gründen, «Die friedvolle Bambusfamilie»<br />
(Tinh Truc Gia: TTG), die auf der Camphill-Idee<br />
aufbaut. 2012 sind wir der Camphill-Bewegung beigetreten.<br />
Die Gemeinschaft hat auch einen biologisch-dynamischen<br />
Garten und integrierten Waldorfkindergarten.<br />
Weiter haben wir das Eurasien-Bildungsinstitut für<br />
Glück und Wohlbefinden (ELI) gegründet. In den letzten<br />
20 Jahren sind alle Schlüsselfächer, die normalerweise<br />
in Camphill-Seminaren behandelt werden, dort angeboten<br />
worden. Viele Ausbilder von «Camphill International»<br />
haben uns unterstützt. Etwa 60 Studierende<br />
besuchen den Ausbildungskurs.<br />
Alle diese Projekte bauen auf dem Glauben auf, dass das<br />
menschliche Gut der Schlüssel zum Erfolg ist und dass<br />
der innere Wandel am Anfang eines jeglichen sozialen<br />
Wandels steht. Von Anfang an war die Entwicklung von<br />
kompetenten lokalen Mitarbeitern durch solide Schulung<br />
und fundiertes Coaching und Mentoring eine Priorität. In<br />
textualize this approach and make it relevant for the<br />
cultural, economic and political situation in the country.<br />
When we started our work, the country was still very<br />
poor and politically, trying to recover from the aftermath<br />
of the long wars. The situation for people living<br />
with disabilities was so terribly precarious that we first<br />
had to raise awareness for their situation and strive for<br />
their recognition, respect, dignity and rights. Even the<br />
basic needs, like food and shelter or the right to education,<br />
were not met. We constantly had to ask ourselves<br />
the questions: What is most needed? What is useful?<br />
What is relevant in this particular situation and time?<br />
Over the years Eurasia in Hue set up five primary<br />
schools in city special classes, three special schools<br />
for children with severe disabilities, a great number<br />
of vocational training centres and one home for the<br />
elderly. From the start we have also held 2-3 training<br />
events annually and a one-year course at Hue University<br />
on special education and social therapy. Our<br />
partners are the government, religious organizations<br />
and local NGOs.<br />
Eurasia has been a pioneer in the field of special education<br />
in the Thua Thien Hue Province, as well as in<br />
Hue City. The association has been granted official<br />
NGO status by the local authorities, and many agreements<br />
and memoranda of understanding have been<br />
signed with a number of local partners. Local and national<br />
media have reported on many occasions on its<br />
achievements, and excellent work relationships have<br />
been created with families, professionals and government<br />
agencies. In these contexts the anthroposophical<br />
approach had to be introduced in a subtle and pragmatic<br />
way as we wanted to bring about a true change<br />
of attitude and improve the lives for people with disabilities<br />
and their families, not only to a few children,<br />
but to raise awareness and introduce new solutions,<br />
including ecological impulses to society at large.<br />
This approach has given us a solid integration into the<br />
local society and enabled us in 2009 to create a first<br />
independent living and vocational training community,<br />
‹The Peaceful Bamboo Family› (Tinh Truc Gia: TTG),<br />
built on the Camphill model. We joined the Camphill<br />
movement in 2012. The also has a bio-dynamic garden<br />
and an integrated Waldorf kindergarten.<br />
Furthermore we have created the Eurasia Learning<br />
Institute for Happiness and Wellbeing (ELI). All the<br />
key subjects usually covered in Camphill seminars<br />
have been offered there over the past 20 years. Many<br />
114
Berichte | Reports<br />
unserer Schulung bringen wir das Beste aus beiden Welten<br />
zusammen: Westlich effiziente Führung und Technik,<br />
anthroposophisch fundierte Kenntnisse und Erfahrung<br />
kombiniert mit östlicher kontemplativer innerer Arbeit.<br />
Da Dr. Ha Vinh Tho im Bruttonationalglück-Zentrum<br />
(GNH) in Bhutan arbeitet, bringen wir auch das GNH in<br />
unsere verschiedene Aktivitäten und Projekte ein. Eurasien<br />
hat eine starke Kerngruppe höchst kompetenter<br />
vietnamesischer Mitarbeiter, von denen mehrere in Camphill-Einrichtungen<br />
in der Schweiz, Frankreich oder den<br />
USA studiert oder dort ein Praktikum absolviert haben.<br />
Einige haben eine volle Camphill-Ausbildung hinter sich<br />
und können deshalb ELI-Ausbilder sein.<br />
Wir sind jedoch noch in grossem Ausmass Pioniere und<br />
brauchen solide Unterstützung, auf finanzieller Ebene<br />
ebenso wie durch ein starkes Netzwerk in Vietnam und<br />
im Ausland. Die TTG wird nicht von der Regierung gefördert<br />
und muss soziales Unternehmertum entwickeln,<br />
und die Eurasien-Stiftung muss Spenden für ihre Betriebskosten<br />
sammeln.<br />
Eine Waldorfkindergarten-Bewegung ist in den Anfängen<br />
in Saigon und Hanoi und das Interesse an der biologischdynamischen<br />
Landwirtschaft wächst auch. Eine neue Generation<br />
von jungen Vietnamesen ist auf der Suche nach<br />
Alternativen in der Pädagogik, Ökologie und Wirtschaft.<br />
Wir würden uns sehr über eine Zusammenarbeit freuen<br />
und bieten die TTG als ein perfektes Zentrum für die<br />
praktische Ausbildung in der Entwicklung der biologischdynamischen<br />
Landwirtschaft, des Waldorfkindergartens,<br />
der Heilpädagogik, der Sozialtherapie und des sozialen<br />
Unternehmertums in Vietnam an.<br />
Der nächsten Schritt ist die Weiterentwicklung von ELI,<br />
dem Eurasien-Bildungsinstitut. Der Aufbau von Netzwerken<br />
mit lokalen ähnlich gesinnten NGOs, aber auch<br />
mit ähnlichen Initiativen in der Region, Thailand, Malaysia<br />
und den Philippinen ist für TTG und ELI unerlässlich.<br />
Wir suchen Hilfe, damit wir alle diese Initiativen<br />
weiterentwickeln können.<br />
Lisi Ha Vinh, Eurasia Foundation and Association,<br />
Palézieux-Gare (CH)<br />
Übersetzung aus dem Deutschen: Christian von Arnim<br />
trainers from ‹Camphill International› have come to<br />
support our work. About 60 students are attending<br />
each training course.<br />
All these projects are based on the belief that human<br />
resources are the key to success, and that inner transformation<br />
is the beginning of any social transformation.<br />
Since the very beginning, developing competent<br />
local staff through adequate training, coaching and<br />
mentoring has been a priority. In our training, we<br />
combine the best of both worlds: Western managerial<br />
and technical efficiency, knowledge and experience<br />
through Anthroposophy combined with Eastern<br />
contemplative inner work. As Dr Ha Vinh tho works<br />
in Bhutan at the Gross National Happiness Center we<br />
also introduce GNH in our various activities and projects.<br />
Eurasia has a strong core group of highly competent<br />
Vietnamese co-workers, who have proven their<br />
capabilities over the years. Several of them have studied,<br />
or did internships, in Camphills in Switzerland,<br />
France or the US. Some have completed a full Camphill<br />
training and are therefore able to be ELI trainers.<br />
But as we are still very much pioneers in this field in<br />
Vietnam, we need solid support, as much financially as<br />
through a strong network in Vietnam and abroad. TTG<br />
receives no support from the government and needs<br />
to develop social entrepreneurship, and Eurasia Foundation<br />
needs to fundraise for its running costs.<br />
There is a Waldorfkindergarten movement starting in<br />
Saigon and Hanoi, and interest in biodynamics is also<br />
constantly growing. A new generation of young Vietnamese<br />
is looking for alternatives in education, ecology<br />
and business. We are very happy to collaborate and<br />
offer TTG as a perfect practical training centre for the<br />
development of biodynamic agriculture, Waldorfkindergarten,<br />
special education, social therapy and social<br />
entrepreneurship in Vietnam.<br />
Our next steps are clearly the further development of<br />
ELI, the Eurasia Learning Institute. Building up networks<br />
with local like-minded NGOs, but also with similar initiatives<br />
in the region, Thailand, Malaysia, Philippines is<br />
essential for TTG and ELI. We are looking for support in<br />
order to further develop all these initiatives.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
115
Berichte | Reports<br />
«In der Begegnung leben»<br />
Europäische Kongresse für Menschen mit Behinderungen<br />
Von Thomas Kraus<br />
Ich möchte allen danken, die diesen Impuls unterstützt haben. Ich<br />
werde darauf verzichten, Namen zu nennen, weil ich niemanden<br />
unerwähnt lassen oder gar vergessen möchte. Jede Persönlichkeit<br />
fühle sich angesprochen, die aktiv zum Gelingen beigetragen hat,<br />
auch diejenigen, die nicht mehr unter uns weilen!<br />
Vor zwanzig Jahren begannen in Berlin die Vorbereitungen<br />
zu einem ersten Kongress für Menschen mit Behinderungen.<br />
Das war kein leichtes Unternehmen. Es<br />
liessen sich kaum behindertengerechte Unterkünfte finden,<br />
selbst die Kongresszentren waren misstrauisch: Behinderte<br />
in solch grosser Anzahl würden doch bestimmt<br />
Schäden verursachen. Überhaupt, warum sollte man<br />
ausgerechnet für diesen Personenkreis einen Kongress<br />
durchführen, denn die meisten würden doch sowieso<br />
davon nichts mitbekommen. Dies in Frage zu stellen war<br />
ein Motiv, es dennoch zu wagen. Menschen mit Behinderungen<br />
Fachveranstaltungen zu ermöglichen, bei denen<br />
nicht über sie debattiert wird, sondern sie selbst die<br />
massgeblichen Sprecher sind, das war und ist bis heute<br />
ein Novum. Die angestrebten 300 Teilnehmenden konnten<br />
zum vorgesehenen Anmeldeschluss nicht erreicht<br />
werden. Lediglich 10% hatten sich bis dahin registriert.<br />
Die Nachfrage in den Lebensgemeinschaften und Einrichtungen<br />
auch über Deutschland hinaus ergab, dass man<br />
es für ziemlich gewagt hielt, seine «Betreuten» in eine<br />
Grossstadt reisen und an einem Kongress teilnehmen zu<br />
lassen. Die Sorge vor negativen Einflüssen war gross.<br />
Trotzdem wurde die Idee nicht aufgegeben und es gelang,<br />
1998 den ersten Europäischen Kongress mit 500<br />
Menschen in Berlin durchzuführen. Das war die Wende.<br />
Beispielsweise durch einen erkenntnistheoretischen Vortrag,<br />
der den Teilnehmenden zu mehr Selbstbewusstsein<br />
verhalf. Oder abends beim Buffet, als die ersten Besucher<br />
ihre gefüllten Teller denjenigen reichten, die dazu nicht<br />
selbständig in der Lage waren. Leute, die bisher nur Wiesen<br />
und Schafe gesehen hatten, staunten nicht schlecht<br />
über die Flugzeuge bei einer Exkursion zum Berliner Flughafen.<br />
Die Eindrücke dieses Begegnungsfestes waren so<br />
stark und die Forderung der Mitwirkenden so eindeutig,<br />
dass der Kongressimpuls fortgesetzt werden musste!<br />
Fast wäre dies jedoch gescheitert, da sich niemand fand,<br />
‹Living in the Encounter›<br />
European Congresses for People with Special<br />
Needs<br />
By Thomas Kraus<br />
I would like to thank everyone who has supported this impulse.<br />
So as to be certain that I am not forgetting anyone, I<br />
will avoid naming names. I direct these words personally to<br />
all who have taken an active part in this success, whether<br />
living or no longer with us!<br />
Twenty years ago, preparations began in Berlin for<br />
the first congress for people with disabilities. It was<br />
not an easy undertaking. It was almost impossible to<br />
find accessible lodgings, and even the conference centres<br />
were wary: Large numbers of people with disabilities<br />
were sure to cause damage. And why would<br />
we even want to hold a congress for this particular<br />
group of people, when most of them wouldn’t even<br />
get anything out of it? One of our motivations for<br />
daring to do so was to challenge this question. Enabling<br />
people with disabilities to attend congresses at<br />
which they are not the subject of debate but are rather<br />
the speakers themselves – this was, and still is, a novelty.<br />
The goal of 300 participants was not reached by the<br />
chosen registration deadline: only 10% had registered<br />
by that time. Inquiries in the lifesharing communities<br />
and institutions in Germany revealed that sending<br />
their ‹villagers› to a large city to take part in a conference<br />
was seen as rather risky. There was great fear of<br />
negative influences.<br />
Nevertheless, we did not give up, and in 1998 we were<br />
able to successfully hold the first European Congress<br />
in Berlin with 500 participants. This was the turning<br />
point. Perhaps it was the cognitive science lecture,<br />
which helped participants achieve more self-confidence.<br />
Or the evening buffet, where the first visitors<br />
handed their full plates to those who were not able to<br />
serve themselves. People who had never seen anything<br />
but fields and sheep were amazed at the airplanes on<br />
an excursion to the Berlin airport. The impressions<br />
from this festival of encounters were so strong and the<br />
demand from participants so clear that the congress<br />
impulse simply had to continue!<br />
However, this was very nearly a failure when we were<br />
unable to find anyone to take up the task after the first<br />
congress. So I took on the responsibility for the impul-<br />
116
Kongress in Russland 2012<br />
der diese Aufgabe nach dem ersten Kongress übernehmen<br />
wollte. Daraufhin habe ich die Verantwortung für den<br />
Impuls übernommen und alle nachfolgenden Kongresse<br />
in meiner Freizeit initiiert und mit organisiert. Der Prozess<br />
war in den zwanzig Jahren immer derselbe: Ich versuche<br />
einen Menschen zu finden, der sich von der Kongressidee<br />
begeistern lässt und das Risiko und den Arbeitsaufwand<br />
nicht scheut. Erst danach stellt sich die Aufgabe, ein Organisationsteam<br />
zu bilden und einen Rechtsträger zu finden.<br />
Dies ist bis heute ein organischer Prozess geblieben.<br />
Denn nach jedem Kongress löst sich die betreffende Gruppe<br />
auf und der Impuls findet neue Unterstützer.<br />
Welcher Ort wäre geeigneter für einen zweiten Europäischen<br />
Kongress als Dornach? Dort nahmen alle zwei Jahre<br />
die Mitarbeiter an grossen Tagungen teil, die «Bewohner»<br />
hingegen blieben zuhause. Es war ein grandioser «Brückenbau»<br />
2001mit 600 Teilnehmenden. Nie zuvor und nie<br />
mehr danach waren so viele von ihnen im Grossen Saal<br />
versammelt. Die Aufführung von Goethes Märchen, aufgeteilt<br />
in mehrere Teile und Länder, war ein genialer Zusammenklang.<br />
Dieser führte zum ersten Kongressableger in<br />
Skandinavien, das «Nordische Allkunstwerk».<br />
2005 konnte dann in Prag bereits der dritte Kongress<br />
durchgeführt werden, in einer der schönsten Städte<br />
Mitteleuropas, wohin jedes Jahr Millionen Menschen<br />
unterwegs sind. Ganz Prag war erleuchtet durch die<br />
600 orangenen Mützen. Die Atmosphäre war sehr<br />
herzlich und die Teilnehmer kamen jetzt sogar schon<br />
aus den USA und aus Indien.<br />
In Den Haag fand dann 2008 mit 700 Mitwirkenden der<br />
grösste Kongress statt. Die Nachfrage war noch höher,<br />
aber eine grössere Anzahl war damals nicht zu bewältigen.<br />
Dort sollte der «Gezeitenwechsel» im Sozialen<br />
eingeläutet werden. Gewaltig war die Bewegung, als<br />
beim dritten Akkord einer E-Gitarre fast der ganze Saal<br />
aufstand und zur Bühne stürmte. Alle tanzten, natürlich<br />
auch die Rollstuhlfahrer, und oben auf der Bühne<br />
so viele, wie diese eben fassen konnte. Selbst dabei<br />
ist nichts passiert, übrigens auch ein Merkmal dieser<br />
Kongresse! Zum Schluss wurde eine Resolution verfasst<br />
und eine Überraschung verkündet: Der nächste Austragungsort<br />
stand bereits fest.<br />
Durch die Erfahrungen und den grossen Andrang beschloss<br />
ich zu dieser Zeit, neben den «Europäischen<br />
Kongressen» auch dafür zu sorgen, dass der Impuls<br />
überall in der Welt zur Erscheinung kommen kann. Seit<br />
2009 geschieht dies in der oben beschriebenen Weise<br />
und mit der Besonderheit, dass sich diese fast ausse<br />
and have initiatied and co-organized all of the congresses<br />
since in my free time. Throughout the twenty<br />
years, the process has been the same: I attempt to find<br />
people who are excited by the idea of the congress and<br />
who are not afraid of the risk or the amount of work<br />
involved. Then, we build an organization team and find<br />
a legal entity. This remains an organic process today,<br />
as the group in question is dissolved after each conference<br />
and the impulse finds new supporters.<br />
What could be a more suitable place for a second European<br />
Congress than Dornach? Every second year,<br />
co-workers attended a large conference there; the ‹villagers›,<br />
on the other hand, stayed home. So we held a grandiose<br />
‹bridge building› in 2001, with 600 participants.<br />
There had never been so many of them gathered in the<br />
Great Hall and have never been since. The performance of<br />
Goethe’s fairytale, divided into multiple parts and countries,<br />
created a brilliant harmony. This led to the first conference<br />
in Scandinavia, the ‹Nordisk Allkunstverk ›.<br />
The third congress was held in 2005 in Prague, one of<br />
the most beautiful cities in Central Europe, visited by<br />
millions of people each year. All of Prague was brightened<br />
by the 600 orange caps. The atmosphere was very<br />
warmhearted, and this time some participants came<br />
all the way from the USA and India.<br />
The largest congress yet, with 700 participants, took<br />
place in The Hague in 2008. The demand was even<br />
greater, but we were unable to cope with a larger<br />
number of attendees. There, the ‹the tide is turning of›<br />
was heralded in the social realm: The movement was<br />
tremendous as, by the third chord of the electric guitar,<br />
almost the entire hall stood up and stormed the<br />
Foto: Thomas Kraus<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
117
Berichte | Reports<br />
schliesslich in sogenannten Schwellenländern, zumindest<br />
was die Versorgungssituation von Menschen mit<br />
Behinderung anbelangt, verwirklichen lassen.<br />
2011 wurde der fünfte Europäische Kongress in Wien<br />
dem 150. Geburtstag Rudolf Steiners gewidmet. War<br />
das ein Augenschmaus im kaiserlichen Saal, als sich<br />
650 festlich gekleidete Damen und Herren aus aller<br />
Welt wienerwalzernd übers Parkett bewegten. Oder die<br />
Gesprächskultur bei der Podiumsdiskussion mit kurz<br />
zuvor ausgesuchten Teilnehmenden aus Deutschland,<br />
Israel und Brasilien.<br />
Vier Jahre später reisten wir nach Brüssel und bereicherten<br />
den «Palast der Schönen Künste» mit einem<br />
neuen Kunstwerk, der Sozialkunst. Nebenbei hatte<br />
sich auf Teneriffa noch ein spanisch-portugiesischer<br />
Kongressableger gebildet. 2018 soll dann der siebte<br />
Brückenpfeiler errichtet und das 20-jährige Jubiläum<br />
«In der Begegnung leben» gefeiert werden. Die nächste<br />
Herausforderung wird jedoch vorher die Weiterentwicklung<br />
des Impulses im nächsten Jahr sein. Nach<br />
fünf Jahren Vorarbeit wird der erste Weltkongress in<br />
Russland stattfinden, zu dem 1000 Menschen aus der<br />
ganzen Welt erwartet werden.<br />
Der Kongressimpuls ist kontinuierlich gewachsen,<br />
gewandert und mittlerweile zu einer Bewegung geworden.<br />
Gleich geblieben ist hingegen, dass es<br />
sich um einen Impuls handelt, der unbezahlt und<br />
in keine Rechtsform gegossen ist und von der freien<br />
Initiativkraft des einzelnen lebt. Diese Kongresse<br />
kräftigen nicht nur die Mitwirkenden, sondern auch<br />
deren Begleiter, die Organisationen und die globale<br />
sozialtherapeutische Gemeinschaft. Davon kann das<br />
goldene Kongressbuch erzählen und manch einer<br />
persönlich. Hier wird Behinderung zur Befähigung<br />
gewandelt, um das Zwischenmenschliche in der<br />
Welt zu verbessern. Hoffentlich finden sich weiterhin<br />
Menschen, die sich davon begeistern lassen «in<br />
der Begegnung zu leben» und die dann einen neuen<br />
Kongress realisieren. Ich helfe Ihnen gerne dabei!<br />
Thomas Kraus | www.socialartist.events<br />
Übersetzung aus dem Deutschen: Tascha Babitsch<br />
stage. Everyone danced, including, of course, those in<br />
wheelchairs, with as many on stage as could fit. Even<br />
then, there were no damages or injuries, which is characteristic<br />
of these congresses es! At the end, a resolution<br />
was composed and a surprise was revealed: The<br />
next conference venue was already booked.<br />
Based on these experiences and the great demand, I decided<br />
at this time to ensure that, in addition to the ‹European<br />
Congresses›, this impulse will be able to bear fruit<br />
all over the world. New congresses have now been taking<br />
place since 2009 as described above, and it is particularly<br />
interesting to note that they have been realized almost<br />
exclusively in so called developing countries, given the<br />
lack of support there for people with disabilities.<br />
In 2011, the fifth European Congress took place in Vienna,<br />
dedicated to the 150th birthday of Rudolf Steiner.<br />
What a feast for the eyes, when 650 festively dressed<br />
ladies and gentlemen from all over the world took to the<br />
ballroom floor for a Viennese waltz! And the art of conversation<br />
in the podium discussion with spontaneously<br />
chosen participants from Germany, Israel and Brazil.<br />
Four years later, we travelled to Brussels and enriched<br />
the ‹Centre For Fine Arts (Bozar)› with a new work of<br />
art: social art. Meanwhile a Spanish and Portuguesespeaking<br />
Congress took place on Teneriffe. The seventh<br />
pillar of this particular bridge will be built somewhere<br />
in 2018, and there we will celebrate the 20-year anniversary<br />
of ‹Living in the Encounter›. But the next challenge<br />
comes earlier: the next step of this impulse in the<br />
coming year. After five years of preparation, the first<br />
World Congress will take place in Russia, and 1000 participants<br />
from all over the world are expected to attend.<br />
The congress impulse has grown continuously, spread,<br />
and become a movement. What has remained the<br />
same is that this is an impulse that is unpaid and not<br />
tied to any legal form, which stays alive thanks to the<br />
power of individual free initiative. These congresses<br />
strengthen not only the participants, but also those<br />
who accompany them, the organizations, and the global<br />
social therapeutic community. This is attested to<br />
by the ‹Golden Congress Book›, as well as by individuals.<br />
Here, disability is transformed into empowerment,<br />
in order to improve human relationships in the world.<br />
We hope that there will continue to be people who are<br />
excited about ‹Living in the Encounter›, who will realize<br />
a new congress. I will be happy to support them!<br />
118
Berichte | Reports<br />
Matthias Pleger in Den Haag<br />
«In der Begegnung leben»<br />
Ein Rückblick von Matthias Pleger<br />
‹Living in the Encounter›<br />
A review from Matthias Pleger<br />
Ich wohne in einer Einrichtung in Hauteroda, das liegt<br />
zwischen Erfurt und Weimar im Bundesland Thüringen.<br />
Dort hat mich jemand angesprochen, ob ich Lust darauf<br />
hätte, mit nach Berlin zum ersten Kongress «In der<br />
Begegnung leben» zu fahren, was ich nach langer Überlegung<br />
gemacht habe. Mit voller Begeisterung kam ich<br />
zurück und kümmerte mich nach diesem Kongress auch<br />
teilweise für die anderen Bewohner der Einrichtung<br />
darum weiterzumachen. Zum nächsten Kongress habe<br />
ich dann eine Bewohnergruppe begleitet. Später wurde<br />
ich sogar von der Initiativgruppe eingeladen, den Kongress<br />
mitzugestalten. Für Den Haag habe ich mit Hilfe<br />
einen Vortrag vorbereitet und in Wien selber einen Workshop<br />
geleitet. Durch die Vorbereitung und Gestaltung<br />
der Kongresse in den europäischen Ländern habe ich<br />
gelernt und gesehen, wie die Menschen in Europa kommunizieren.<br />
Es war gar nicht immer einfach. Nicht wegen<br />
der Sprache, sondern dass jedes Land eine andere Art<br />
hatte, wie es den Kongress machen wollte. Aber für mich<br />
war das Ergebnis wichtig und was dadurch entstanden<br />
ist. Und wenn ich so zurückblicke auf meine zehn Jahre<br />
Kongressarbeit, was ich nächstes Jahr haben werde, war<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
I live in an institution in Hauteroda, which lies in the<br />
province of Thüringen between Erfurt and Weimar.<br />
There, I was asked if I would like to travel to Berlin for<br />
the first ‹Living in the Encounter› congress, and after<br />
much consideration, I decided to go. I returned full of<br />
enthusiasm after this congress and set about continuing<br />
this with others in the community. I accompanied<br />
a group from the community to the next congress,<br />
and was later even invited by the initiative group to<br />
help organize the congress. I prepared for The Hague<br />
with the help of a presentation, and led a workshop<br />
in Vienna. Through preparing and organizing the congresses<br />
in the different European countries, I learned<br />
and saw how people in Europe communicate. It was<br />
not always easy. Not because of the language, but because<br />
each country had its own ideas about how the<br />
congress should be. But for me, what was important<br />
was the result, and what was created because of it.<br />
And when I look back on my years of work on these<br />
congresses – it will be ten next year – each congress<br />
was something special. And also unique. Not only the<br />
people who made it happen, but the venues also had<br />
119
Berichte | Reports<br />
jeder Kongress etwas Besonderes. Und auch einzigartig.<br />
Nicht nur die Menschen, die es gemacht haben, sondern<br />
auch die Veranstaltungsorte hatten ihren Reiz (z.B. die<br />
Sehenswürdigkeit etc.). Ich denke mit Dankbarkeit an<br />
die Zeit zurück. An das, was hinter mir liegt und hoffe,<br />
dass es weiter geht.<br />
Warum der Kongress für mich wichtig ist<br />
Der Kongress ist wichtig für mich, da sich Menschen in<br />
besonderen Lebenslagen dort treffen können und zwar<br />
in ganz Europa und in der Welt und somit Grenzen überwunden<br />
werden. Ich finde es auch wichtig für mich, dass<br />
ich mit anderen zusammenkomme, deswegen ist dieser<br />
Kongress sehr wichtig und notwendig für mich. Wichtig<br />
ist auch, dass diese Veranstaltungen für MENSCHEN mit<br />
besonderen Bedürfnissen am Leben bleiben. Da kann<br />
ich mein Schicksal mit anderen Menschen teilen, die<br />
auch so ein Schicksal haben. Es ist wichtig, dass es diesen<br />
Kongress für BewohnerInnen sowie BegleiterInnen<br />
gibt. Ich muss aber dabei sagen, er ist für die BewohnerInnen<br />
wichtiger als für Begleitende, da es ein Kongress<br />
ist für Menschen, die ein Handicap haben. Das wird leider<br />
manchmal falsch gesehen und ich möchte nochmal<br />
darum bitten. Es ist ein Kongress für Menschen in besonderen<br />
Lebenslagen nicht für irgendwelche BegleiterInnen.<br />
Und dass es ein Kongress ist, der eine Besonderheit<br />
ist. Nämlich kein «normaler Kongress, sondern auf diese<br />
Menschen ausgerichtet ist» und für diese Personen bestimmt<br />
ist. Nicht für Mitarbeitende, Ärzte, Krankenpfleger,<br />
Lehrer etc. Und dass wir dort unsere alten und<br />
neuen Freunde wieder sehen können. Würde es diesen<br />
Kongress nicht geben, würden wir in unseren Einrichtungen<br />
vereinsamen bildlich gesehen. Und es würden keine<br />
Begegnungen mehr stattfinden, was in der heutigen Zeit<br />
wichtig ist, da viele Menschen in grossen Städten vereinsamen<br />
und krank werden. Ich habe mich sehr verändert<br />
und ein starkes Selbstbewusstsein bekommen in der Arbeit<br />
und bei dem, was ich so mache. Ich halte von der<br />
Initiative sehr viel und hoffe, dass sie weiter am Leben<br />
bleibt. Bis dann in der «Begegnung leben».<br />
Zwei Briefe geschrieben im Mai <strong>2016</strong> von einem, der alle Europäischen<br />
Kongresse mitgemacht hat und dem diese sehr viel für<br />
sein Leben bedeuten.<br />
Mit lieben Grüssen von der Mecklenburgischen Seenplatte und<br />
aus Wildkuhl<br />
Euer Matthias Pleger<br />
their attractions (the sights, etc.). I look back on this<br />
time with gratitude, at what lies behind me, and I hope<br />
that it continues.<br />
Why the congress is important to me<br />
The congress is important for me because people in<br />
unique circumstances can meet there, all over Europe<br />
and the world, and can transcend boundaries. It is also<br />
important to me to come together with others – that<br />
is why this congress is very important and necessary<br />
for me. It is also important that these events continue<br />
for HUMAN BEINGS with special needs. There, I<br />
can share my story with other people who have similar<br />
destinies. This congress is important for villagers<br />
and the co-workers who accompany them. But I have<br />
to say that it is more important for the villagers than<br />
those who accompany them, because it is a congress<br />
for people who have a disability. Unfortunately, it is<br />
not always seen that way, and I want to repeat this. It<br />
is a congress for people in unique life circumstances,<br />
not for the people who accompany them. And that it<br />
is a congress that is unique. It is not a ‹normal congress,<br />
but is geared toward these people› and meant<br />
for these people. Not for co-workers, physicians, nurses,<br />
teachers, etc. And it’s for us to see our old and new<br />
friends again. If this congress didn’t exist, we would<br />
metaphorically grow lonely in our institutions. And<br />
there would be no more meetings, which are important<br />
these days, as many people in large cities become<br />
lonely and sick. I have changed a lot and gained selfconfidence<br />
in my work and everything that I do. I think<br />
the initiative is very important and hope it continues.<br />
Until then, ‹live in the encounter›.<br />
Two letters written in May, <strong>2016</strong> by someone who participated<br />
in all of the European congresses and to whom they hold<br />
great meaning for his life.<br />
With warm greetings from the Mecklenburg Lake District and<br />
from Wildkuhl<br />
Matthias Pleger<br />
Translation from German: Tascha Babitsch<br />
120
Berichte | Reports<br />
Weltweite Kongresse<br />
«In der Begegnung leben»<br />
Von Thomas Kraus<br />
Europa<br />
2009: Erster Balkankongress in Belgrad/Serbien<br />
«Ich bin biologisches Material,<br />
Ein Nichts auf Beinen,<br />
Ein weisses Blatt Papier,<br />
Auf dem Ihr schreibt.<br />
Ich bin von Gott gebracht,<br />
Aber nicht vollendet,<br />
Ihr müsst mich vollenden wie Gott»<br />
Ein Teilnehmer aus Mazedonien liest sein Gedicht vor<br />
und blickt erwartungsvoll in die Zuhörerschaft. Auf dem<br />
Podium sitzen fünf Persönlichkeiten mit Behinderungen<br />
und berichten von ihren Lebenserfahrungen aus einer<br />
Region, die noch immer als Krisenherd bezeichnet wird.<br />
Ein denkwürdiger Augenblick zu Beginn des ersten Kongresses<br />
dieser Art auf dem Balkan. Der Stellvertreter des<br />
Belgrader Bürgermeisters begrüsst die 160 Teilnehmenden<br />
aus zehn Ländern in einem repräsentativen Parlamentsgebäude.<br />
Mehrere Fernsehstationen übertragen<br />
die Eröffnungsfeier. In 25 Medien wird über den Kongress<br />
berichtet. Das ist bedeutsam für ein Land, in dem<br />
es noch Grosseinrichtungen gibt, in denen Menschen<br />
aufgrund ihrer Behinderung mitunter fixiert vor sich hin<br />
vegetieren müssen.<br />
Zehn Jahre nach der jüngsten Bombardierung Serbiens<br />
kommt die grösste Teilnehmergruppe aus Albanien.<br />
Als Nation durch den Kosovo verfeindet, hier individuell<br />
befreundet, das ist konkrete Friedensarbeit. Im Plenum<br />
wird erklärt, dass es zukünftig keine Veranstaltung<br />
zum Thema Behinderung mehr ohne die Beteiligung<br />
der Betreffenden geben darf! Es gibt einen Ausflug zur<br />
Grabstätte Titos, eine Bootsfahrt auf der Donau und ein<br />
opulentes Abendessen. Alles unentgeltlich mithilfe des<br />
Organisationstalents des Vaters einer schwerstbehinderten<br />
Tochter organisiert, der in Belgrad ein innovatives<br />
Tageszentrum aufgebaut hat. Er erzählt, dass er mit der<br />
Kongressidee überall auf offene Herzen gestossen ist.<br />
Der Abschluss findet in einem renommierten Theater in<br />
Belgrad statt. Ausschliesslich von Teilnehmenden wird<br />
in höchst professioneller Weise «Die fünfstöckige Torte»<br />
aufgeführt. Danach gibt es sie dann zum Reinbeissen<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Kongress in Serbien 2009<br />
Worldwide Congresses<br />
‹Living in the Encounter›<br />
By Thomas Kraus<br />
Europe<br />
2009: First Balkan Congress, in Belgrade, Serbia<br />
I am biological material,<br />
a nothing on legs,<br />
a white sheet of paper,<br />
on which you write.<br />
I was brought by God,<br />
but not finished;<br />
You must finish me, like God.<br />
A participant from Macedonia reads his poem and<br />
looks expectantly at his audience. Five individuals with<br />
disabilities sit on the podium and describe their life<br />
experiences in a region that is still identified as a crisis<br />
point. A memorable moment at the beginning of the<br />
first congress of this kind in the Balkans. A representative<br />
of the mayor of Belgrade greets the 160 participants<br />
from ten countries in a prestigious parliament<br />
building. Multiple television stations are broadcasting<br />
the opening ceremony. The congress is reported in 25<br />
media outlets. This is significant for a country where<br />
there are still mass institutions in which people are<br />
forced to simply vegetate because of their disabilities.<br />
Ten years after the most recent bombing of Serbia, the<br />
largest group of participants comes from Albania. Na-<br />
121
Berichte | Reports<br />
im Foyer. Ein Konditormeister hat sie gespendet. Manch<br />
schmerzhafter Abschied wird auf diese Weise versüsst.<br />
Nicht nur die Berufsgruppe der «Defektologen» zeigt sich<br />
vom Erleben tief bewegt. Der Kongressimpuls hat auf<br />
dem Balkan eine neue Blüte bekommen.<br />
2010: Erster Russischer Kongress in Moskau<br />
Trotz der zwei Jahre Vorbereitung ist der erste Kongress<br />
ungewiss: «Russland brennt» – so die täglichen Schlagzeilen.<br />
Moskau liegt seit Wochen unter dunklem Rauch<br />
begraben, Vögel fallen tot vom Himmel! Zur Kongresseröffnung<br />
strahlt die Sonne und 200 Teilnehmende kommen<br />
aus dem ganzen Land, aus Weissrussland, Serbien,<br />
Deutschland und Holland. Es gibt wundervolle russische<br />
Musik, Ansprachen von Universitätsprofessoren und UN-<br />
Vertretern, von Sozialministern und natürlich von den Teilnehmenden<br />
selbst. Sie unternehmen einen Ausflug zum<br />
roten Platz und in den Kreml, während im Kongresszentrum<br />
ein runder Tisch mit 50 «Fachleuten» durchgeführt<br />
wird. Er dient der Ratifizierung der UN-Konvention über<br />
die Rechte der Menschen mit Behinderungen. Das Sozialministerium<br />
hatte die Organisatoren um eine Stellungnahme<br />
gebeten. Die denkwürdigsten Beiträge kommen<br />
selbstverständlich von den Betroffenen selbst. Haben<br />
sie möglicherweise zur Unterzeichnung beigetragen, die<br />
kurz danach erfolgte? Hoffnungsgestärkt für den oft sehr<br />
schwierigen Lebensalltag gehen die Teilnehmenden auseinander.<br />
Die russische Seele kam hier zum Vorschein.<br />
2012: Zweiter Russischer Kongress in Jekaterinburg<br />
Zwei Jahre später geht es in den mittleren Ural nach Jekaterinburg,<br />
an die Grenze zwischen Europa und Asien<br />
in die viertgrösste Stadt des riesigen Landes. Die Einladung<br />
läuft als Fernsehspot zur besten Sendezeit und ist<br />
auf den elektrischen Werbeflächen in der ganzen Stadt<br />
sichtbar. Aus 25 Städten kommen 370 Teilnehmende,<br />
manche von ihnen sind aus dem östlichsten Landesteil<br />
mehrere Tage mit der transsibirischen Eisenbahn unterwegs<br />
gewesen, um ein Balalaikakonzert zu geben. Die<br />
Schirmherrschaft übernimmt der «Petersburger Dialog»,<br />
ein auf Regierungsebene angesiedeltes deutsch-russisches<br />
Forum zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Es zeigt<br />
sich eine unerwartet hohe Unterstützungsbereitschaft<br />
der Ministerien, Kirchen, Universitäten, Organisationen<br />
der Zivilgesellschaft, Firmen und zahlreicher Privatpersonen.<br />
Etwa 100 Studenten und 50 junge Soldaten werden<br />
zur Unterstützung der Teilnehmer eingesetzt. Das städtische<br />
Kulturzentrum wird zum Tagungsort und parallel<br />
Kongress in Russland 2012<br />
tional enemies due to Kosovo, becoming friends here<br />
on an individual level; this is peace work in practice. In<br />
the plenum, it is stated that in the future, events on<br />
the topic of disability will no longer be allowed without<br />
the participation of those with disabilities! There<br />
is an excursion to the gravesite of Tito, a boat ride on<br />
the Danube, and an opulent dinner. All free of charge<br />
thanks to the organizational talent of the father of a<br />
severely disabled daughter, a man who runs an innovative<br />
day centre in Belgrade. He tells us that the idea<br />
of the congress was met everywhere with open hearts.<br />
The closing takes place in a famous theatre in Belgrade.<br />
‹The Five-Tiered Cake› is performed exclusively and<br />
professionally by participants, followed by five-layer<br />
cake for all in the foyer, donated by a master baker.<br />
This sweetens a painful farewell. Not only the group of<br />
professional ‹defectologists› shows that they are deeply<br />
moved. The congress impulse has blossomed anew<br />
in the Balkans.<br />
2010: First Russian congress, in Moscow<br />
Despite two years of preparation, the first congress is<br />
uncertain: ‹Russia is burning› say the daily headlines.<br />
Moscow has lain buried under dark clouds of smoke<br />
for weeks; dead birds are falling from the sky! But the<br />
sun shines for the congress opening, and 200 participants<br />
attend from all over the country, as well as<br />
Belarus, Serbia, Germany and the Netherlands. There is<br />
wonderful Russian music, speeches by university professors<br />
and UN representatives, by Ministers of Social<br />
Affairs, and of course by the participants themselves.<br />
They undertake an excursion to Red Square and to the<br />
122
Berichte | Reports<br />
sogar eine Fachmesse veranstaltet. Der Programmablauf<br />
besteht aus nicht enden wollenden Darbietungen<br />
in Form von Vorträgen, Musik, Akrobatik und Tanz. Jeder<br />
will für die Teilnehmenden etwas zum Gelingen des Gesamten<br />
beitragen. Für sie ist der Kongress ein ausserordentliches<br />
Erlebnis, denn ihr Lebensalltag ist voll von<br />
Schwierigkeiten und Hindernissen. Es wird berichtet,<br />
dass sich die Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen<br />
nach dem Ereignis wesentlich verbessert hat. Deshalb<br />
gibt es für die Zukunft grosse Pläne: Im September<br />
2017 wird dort der erste Weltkongress stattfinden.<br />
Asien<br />
2011: Erster Kaukasuskongress in Tiflis/Georgien<br />
Exakt neun Monate benötigte der Kongressimpuls in Tiflis<br />
bis zu seiner praktischen Umsetzung. In einer Region, in<br />
der die Lebensbedingung für einen Grossteil der Bevölkerung<br />
insbesondere aber für Menschen mit Behinderungen<br />
ziemlich hart ist. 160 Menschen aus Georgien,<br />
Armenien, Aserbaidschan, Ukraine und aus Deutschland<br />
nehmen teil. Neben Parlamentsmitgliedern, dem UN-Vertreter<br />
für Menschenrechtsangelegenheiten im Kaukasus<br />
ist auch die Gattin des Staatspräsidenten mit ihren vier<br />
Leibwächtern zur Eröffnung gekommen. Viele Fernsehkanäle<br />
berichten deshalb mit Sondersendungen. Eine<br />
finanzielle Unterstützung bleibt hingegen aus. Die wäre<br />
sehr hilfreich gewesen, denn nur Stunden zuvor steigt<br />
der einzige Sponsor aus. Zudem geht ein Schreiben des<br />
Kongresszentrums ein, um die Veranstaltung abzusagen.<br />
Die Nachforschung ergibt, dass es sich um eine Fälschung<br />
handelt! Davon bekommen die anreisenden Teilnehmer<br />
nichts mit und der Kongress kann reibungslos durchgeführt<br />
werden. Neben Theaterstücken, Musikaufführungen<br />
und Workshops bleibt vor allem der gemeinsame Busausflug<br />
zur Klosteranlage «Mzcheta» in Erinnerung, eine der<br />
bedeutendsten Kulturstätten Georgiens. Der runde Tisch<br />
mit Teilnehmenden, Eltern und Mitarbeitenden aus 27<br />
Nichtregierungsorganisationen soll zu einer Verstärkung<br />
der Zusammenarbeit führen. Vier Jahre später gibt es<br />
dann ein Wiedersehen im Nachbarland.<br />
2015: Zweiter Kaukasuskongress in Jerewan/Armenien<br />
Lange war es ungewiss ob es weitergehen würde. Der<br />
Kongressimpuls stösst in Armenien zunächst auf breite<br />
Ablehnung. Bis heute werden Menschen mit Behinderungen,<br />
vor allem, wenn es sich nicht um physische Beeinträchtigungen<br />
handelt, ausgegrenzt. Und dies, obwohl<br />
die Erdbebenkatastrophe 1988 eine deutliche Zunahme<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Kongress in Georgien 2011<br />
Kremlin, while a round table with 50 ‹experts› is conducted<br />
in the congress centre. It serves to ratify the UN<br />
Convention on the Rights of People with Disabilities.<br />
The Ministry of Social Affairs had asked the organizers<br />
for a statement. The most memorable contributions, of<br />
course, come from those with disabilities themselves.<br />
Did they possibly contribute to the signing that shortly<br />
followed? Strengthened with hope for their often very<br />
difficult daily life, the participants part. The Russian<br />
soul has made an appearance here.<br />
2012: Second Russian congress, in Yekaterinburg<br />
Two years later, we go to Yekaterinburg in the central<br />
Urals, on the border between Europe and Asia, the<br />
fourth-largest city in this enormous country. The invitation<br />
has a prime time television spot and can be seen<br />
on electric advertising panels all over the city. 370 participants<br />
come from 25 cities; some of them have travelled<br />
for several days on the Trans-Siberian Railway<br />
from eastern Russia to give a balalaika concert. The<br />
congress takes place under the patronage of the ‹Petersburg<br />
Dialogue›, a governmental German-Russian<br />
forum for strengthening civil society. There is an unexpectedly<br />
high level of support from Government Ministries,<br />
churches, universities, civil society organizations,<br />
corporations, and many private individuals. Around<br />
100 students and 50 young soldiers are deployed to<br />
support the participants. The city’s cultural centre becomes<br />
the congress venue, and even organizes a parallel<br />
fair dedicated to disability. The programme consists<br />
of an almost-never-ending series of offerings in the<br />
form of presentations, music, acrobatics and dance.<br />
123
Berichte | Reports<br />
Thailand 2012<br />
von Behinderungen nach sich zog. Nach intensiver Überzeugungsarbeit<br />
sind dann die wichtigsten Organisationen<br />
des Landes beteiligt. Mit 120 Teilnehmenden aus<br />
der Gegend, aus Georgien, Russland, Deutschland, Holland,<br />
Norwegen und Frankreich, nehmen Menschen mit<br />
unterschiedlichen Behinderungen teil. Die Begegnung<br />
ermöglicht, dass auch zwischen ihnen die Barrieren abgebaut<br />
werden. Die von den Teilnehmenden dargebotene<br />
Volksmusik ist sehr eindrücklich. Vor allem während<br />
des Ausflugs zum berühmten Felsenkloster «Geghard».<br />
Die sakrale Atmosphäre der Steinkirchen aus dem 12.<br />
Jahrhundert und die christlichen Gesänge bleiben unvergesslich.<br />
Ebenso die durch die Erdbeben zerrissene<br />
Landschaft. Hoffentlich halten die Vertreter des Erziehungs-<br />
und Sozialministeriums ihr beim Kongress geäussertes<br />
Versprechen, in Zukunft mehr für Menschen mit<br />
Behinderungen in Armenien tun zu wollen!<br />
2012: Erster Kongress in Bangkok/Thailand<br />
Nordöstlich von Bangkok von Hügeln und Tropenwäldern<br />
umgeben, findet der erste Kongress mit 111 Teilnehmenden<br />
statt. Zwei Monate zuvor wurde ein Grossteil dieser<br />
Gegend überflutet. Für die meisten Eltern ist es nicht<br />
leicht, ihre Kinder alleine loszuschicken, weshalb einige<br />
von ihnen lieber gleich mitfahren. Der Kongress wird<br />
feierlich nach buddhistischer Tradition mit einer «Willkommensfeier<br />
für die Seele» eröffnet. Jeder bekommt<br />
einen mit guten Wünschen verbunden Blumenkranz und<br />
weisse Glücksfäden umgehängt. Eine asiatische Kniegeige,<br />
Zither und Holzxylophon untermalen diese Zere-<br />
Everyone wants to contribute something to the success<br />
of the whole for the participants. For them, the<br />
congress is an extraordinary experience – their daily<br />
life is full of difficulties and obstacles. It has been reported<br />
that cooperation with government posts has<br />
improved significantly since the event. Consequently,<br />
there are major plans for the future: The First World<br />
Congress will take place there in September, 2017.<br />
Asia<br />
2011: First Caucasus congress, in Tbilisi, Georgia<br />
In a region in which living conditions are hard for the<br />
majority of the population, but especially for people<br />
with disabilities, the congress impulse in Tbilisi required<br />
exactly nine months to be realized. 160 people<br />
from Georgia, Armenia, Azerbaijan, the Ukraine and<br />
Germany participate. In addition to members of parliament<br />
and the UN representative for Human Rights<br />
Issues in the Caucasus, the wife of the President and<br />
her four bodyguards are present at the opening. For<br />
this reason, many television channels broadcast special<br />
programmes on the congress. Financial support,<br />
on the other hand, is missing. It would have been<br />
very helpful, as the sole sponsor drops out only hours<br />
before the congress. In addition, we receive a letter<br />
from the congress centre cancelling the event.<br />
This is shown, upon further inquiry, to be a forgery!<br />
But the arriving participants don’t notice any of<br />
this, and the congress runs smoothly. In addition<br />
124
Berichte | Reports<br />
monie. Des Nachts verharren die Temperaturen deutlich<br />
über der 25 Gradmarke und lassen kaum Schlaf finden.<br />
Die Moskitos tun ihr übriges. Trotzdem weckt uns ziemlich<br />
früh, die Sonne ist kaum aufgegangen, zarter Flötenklang<br />
zum gemeinsamen Yoga auf der Wiese. Am<br />
Nachmittag kann man dann seine Beweglichkeit in den<br />
Workshops diesbezüglich noch steigern oder aber Thaiboxen<br />
erlernen. Zur Abkühlung stürzen sich ganz Mutige<br />
beim Ausflug in die seichten Fluten eines Wildbaches.<br />
Trotz der Temperatur von über 35 Grad wollen die Kleider<br />
bei dieser Luftfeuchtigkeit einfach nicht trocknen. Der<br />
kulturelle Abend ist sicher einer der Höhepunkte dieses<br />
Kongresses. Die Teilnehmenden, ganz in Thaiseide gehüllt,<br />
singen nach Herzenslust, tanzen beschwingt und<br />
zeigen ihre Eurythmie. Die anwesenden Eltern sind ausser<br />
Rand und Band. So hatten sie ihre erwachsenen Kinder<br />
noch nie erlebt. Die observierenden Studierenden<br />
werten ihre Forschungsergebnisse aus und beschliessen,<br />
ihr bisher erlerntes pädagogisches Konzept zu verwerfen.<br />
Der Kongress endet mit dem Versprechen, sich<br />
alle zwei Jahre irgendwo anders zu treffen. Nun gedeiht<br />
der Impuls auch im «Land des Lächelns».<br />
2014: Zweiter Kongress in Rayong/Thailand<br />
Das Versprechen wird eingelöst und von einem wachsenden<br />
Netzwerk unterstützt. Nun kommen schon mehr als<br />
160 Teilnehmende aus dem ganzen Land. Vermehrt auch<br />
wieder Eltern, weshalb für sie eine Parallelveranstaltung<br />
organisiert wird. Der Kongress findet in einer Anlage überwiegend<br />
unter freiem Himmel statt. Während des von Teilnehmenden<br />
dargebotenen Eurythmiemärchens hört man<br />
als Untermalung das Meer rauschen. Inhaltlich geht es<br />
dabei um die Situation eines Menschen, dem die langsame<br />
Befreiung aus dem eigenen Käfig gelingt. Diejenigen,<br />
die schon zum wiederholten Male dabei sind, äussern<br />
sich mutiger und teilen im Abschlussplenum mit (Zitate):<br />
• Wichtig waren mir die Erfahrungen mit der Natur, dem<br />
Meer und dem Himmel.<br />
• Bei den meisten anderen Veranstaltungen, die ich kenne,<br />
tragen die Menschen Masken. Hier sind sie sie selbst.<br />
• Ich sehe die Eltern jetzt neu. Ich habe die Liebe zwischen<br />
ihnen und den Kindern früher niemals so gesehen.<br />
• Ich wollte anfangs nicht dazu gehören und jetzt habe ich<br />
so viele Freunde gefunden.<br />
• Ihr müsst aktiv werden, wer weiss wie lange ihr noch lebt!<br />
• Ich wünsche es mir, für andere Menschen zur Freude<br />
Musik zu machen und in einem Tempel spielen zu können.<br />
Auch die Eltern äussern sich:<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Armenien 2015<br />
to plays, musical performances and workshops, the<br />
group bus excursion to the ‹Mzcheta› cloister, one of<br />
the most important cultural sites in Georgia, stands<br />
out in my memory. The round table with participants,<br />
parents, and co-workers from 27 NGOs is intended to<br />
strengthen cooperation. Four years later, we will see<br />
each other again in a neighbouring country.<br />
2015: Second Caucasus congress, Yerevan, Armenia<br />
For a long time, it was unclear whether it would continue.<br />
The congress impulse in Armenia was initially<br />
met with rejection. People with disabilities there continue<br />
to be ostracized, particularly when the disabilities<br />
are not physical, despite the fact that the<br />
earthquake catastrophe in 1988 caused a significant<br />
increase in disabilities. Finally, after intensive persuasion,<br />
the most important organizations in the country<br />
are on board. 120 people with various disabilities from<br />
the region and from Georgia, Russia, Germany, the<br />
Netherlands, Norway and France participate. The encounter<br />
allows them to break down barriers between<br />
them, especially during the excursion to the famous<br />
cliff monastery, ‹Geghard›. The sacred atmosphere of<br />
the 12th century stone church and the Christian singing<br />
is unforgettable, as is the landscape, broken by<br />
the earthquake. Hopefully, the representatives from<br />
the Education and Human Affairs Ministry will fulfil<br />
their promises made at the congress to do more for<br />
people with disabilities in Armenia!<br />
125
Berichte | Reports<br />
• Ich habe mein Kind noch nie so selbstbewusst, hoffnungsvoll<br />
und aufgeschlossen erlebt.<br />
• Mein Kind ist in vier Tagen erwachsen geworden.<br />
• Ich habe erkannt, wie viel Potenzial die Kinder haben.<br />
• Dieser Kongress ist ein Seelen- und Geisterwecker.<br />
Und zum Schluss die professionellen Begleiter:<br />
• Nie habe ich so viel Entwicklung in so kurzer Zeit gesehen.<br />
• Ich muss meine ganze berufliche Sichtweise und meine<br />
Handlungen ändern.<br />
• Ich werde alle Urteile gegenüber Menschen mit Behinderungen<br />
ablegen.<br />
• Ich habe noch nie eine solche Menschlichkeit erlebt.<br />
Der Kongress ist auf besondere Weise ein Friedensdienst,<br />
denn nur 15 Stunden nach dem Ende wird in<br />
Thailand das Kriegsrecht ausgerufen. Panzer stehen in<br />
den Strassen und Soldaten schwitzen in voller Kampfmontur<br />
bei 40 Grad im Schatten. Der dritte Kongress<br />
findet im Juli <strong>2016</strong> in Khon Kaen, der grössten Universitätsstadt<br />
im Nordosten des Landes statt.<br />
Südamerika<br />
2009: Erster Kongress in Rio de Janeiro/Brasilien<br />
Im Gegensatz zu Nordamerika, der einzigen Region, in<br />
der es bisher trotz mehrfacher Versuche nicht gelang<br />
einen Kongress zu veranstalten, gedeiht der Impuls im<br />
Süden prächtig. Begonnen hatte er dadurch, dass eine<br />
Gruppe aus Brasilien sich zu spät für «In der Begegnung<br />
leben» in Den Haag anmeldete und wegen Überfüllung<br />
nicht teilnehmen konnte. Kurzerhand richtet sich der<br />
Kongressimpuls nach Brasilien und zwar nach Rio de Janeiro.<br />
Dort nehmen 150 Menschen aus 14 verschiedenen<br />
Einrichtungen teil. Viele von ihnen sind noch nie alleine<br />
unterwegs gewesen. Manche kommen aus den riesigen<br />
Favelas von Sao Paulo, die überwiegende Mehrheit lebt<br />
unter sehr schwierigen Bedingungen. Der gemeinsame<br />
Ausflug in den Regenwald ist hier einer der Höhepunkte.<br />
Kaum vorstellbar, dass einige der Teilnehmenden dorthin<br />
zum ersten Mal gelangen, obwohl sie nur fünf Kilometer<br />
entfernt wohnen. Die Rast gestaltet sich inmitten<br />
von kleptomanischen und vor allem flinken Affen sehr<br />
unterhaltsam. Die Stimmung ist stets ausgelassen und<br />
der Programmablauf sehr abwechslungsreich. Ein Jahr<br />
später gibt es bereits ein Wiedersehen.<br />
2012: First congress, in Bangkok, Thailand<br />
The first congress takes place to the northeast of Bangkok,<br />
surrounded by hills and tropical forests, with 111<br />
participants. Only two months before, a large part of this<br />
land was flooded. It is not easy for most of the parents to<br />
send their children off alone, so many of them prefer to<br />
come with them. The congress opens festively according<br />
to the Buddhist tradition with a ‹welcoming celebration<br />
for the soul›. Everyone receives a wreath of flowers<br />
bound with good wishes and is draped with white luck<br />
threads. The ceremony is accompanied by an Asian viola,<br />
a zither, and a xylophone. Night temperatures hover<br />
around 25°C [82°F] and make sleep almost impossible.<br />
The mosquitoes do the rest. Still, we are awakened quite<br />
early, just at sunrise, by the sound of a flute, for communal<br />
yoga in the field. We can continue to increase<br />
our flexibility in the afternoon workshop, or learn Thai<br />
boxing. To cool off, the brave ones jump into the shallow<br />
waters of a raging creek. Despite temperatures of over<br />
35°C [95°F], our clothes never quite dry in this humidity.<br />
The cultural evening is definitely one of the high<br />
points of the congress. The participants, draped in Thai<br />
silk, sing from their hearts, dance with exhilaration, and<br />
show their eurythmy. The parents present go wild. They<br />
had never experienced their adult children like this. The<br />
observing students evaluate their research findings and<br />
decide to throw out the pedagogical concepts they had<br />
learned previously. The congress ends with the promise<br />
to meet every two years in a different venue. The impulse<br />
is now thriving in the ‹land of smiles›.<br />
2014: Second congress, in Rayong, Thailand<br />
The promise is kept and supported by a growing network.<br />
This time, more than 160 participants attend<br />
from all over the country, and even more parents,<br />
which leads to the organization of a parallel event for<br />
them. The congress takes place in a compound and<br />
primarily outdoors. The participants’ performance of<br />
a fairytale in eurythmy is accompanied by the sound<br />
of the ocean. The story tells of a human being who is<br />
slowly able to become free of a cage. Those who have<br />
been here before are braver in expressing themselves<br />
and speaking up in the plenum (quotations):<br />
• The experiences of nature, the ocean and the sky<br />
were important to me.<br />
• In most other events that I know of, people wear<br />
masks. Here, they are themselves.<br />
126
Berichte | Reports<br />
Brasilien 2009<br />
2010: Zweiter Kongress in Sao Paulo/Brasilien<br />
Ein Bewohner einer Lebensgemeinschaft in Deutschland<br />
hatte von dem Kongress in Brasilien gehört und daraufhin<br />
seine Familie so lange drangsaliert, bis er das Flugticket<br />
dorthin in der Tasche hatte. Er bewies dabei ein<br />
gehöriges Potential an Raffinesse und an «emotionaler<br />
Intelligenz». Zuvor hatte er noch nie ein Flugzeug von<br />
innen gesehen, begann sich aber zunehmend für das<br />
ferne Land, für dessen Frauen und den Fussball zu interessieren.<br />
Nun steht er im feinen Sand, lässt sich das<br />
warme Atlantikwasser um die Füsse spülen und schüttelt<br />
weise den Kopf: «Verrückt ist es hier, verrückt, total verrückt<br />
– verrückt schön!» Gerade ist er dem deutschen Novemberwetter<br />
entflohen. Während es zuhause schneit,<br />
hat er hier bereits Kokosmilch getrunken, eine Kobra<br />
gestreichelt und erfahren, wie behinderte Menschen in<br />
einer 20 Millionenstadt leben. Irgendwie hat er sich auch<br />
schon ein bisschen verliebt. Natürlich in eine hübsche<br />
Brasilianerin, die bei Special Olympics Medaillen gewonnen<br />
hat. Glücklicherweise kann er gut tanzen, das ist vor<br />
Ort wichtig für eine gediegene Beziehung. Da ist dann<br />
auch diese komische Fremdsprache kein Problem mehr,<br />
denn man versteht sich ja sowieso!<br />
Von den 100 Kongressteilnehmenden ist etwa ein<br />
Drittel bereits beim ersten Kongress dabei gewesen.<br />
Das Thema und das Programm haben sie selbst vorbereitet.<br />
Man versammelt sich im Stadtzentrum von<br />
Sao Paulo und fährt dann mit dem grossen Bus einige<br />
Stunden durch den atlantischen Regenwald an die<br />
• see parents in a new way now. I never saw the love<br />
between them and their children in this way.<br />
• I didn’t want to be a part of this at first, and now I<br />
have found so many friends!<br />
• You have to become active – who knows how long<br />
you’ll still be alive!<br />
• I wish that I might be able to make music for the joy<br />
of others and to play in a temple.<br />
The parents express themselves as well:<br />
• have never experienced my child so self-confident,<br />
hopeful and outgoing.<br />
• My child grew up in four days.<br />
• I realized how much potential our children still have.<br />
• This congress is an awakener of soul and spirit.<br />
And finally the professional caregivers:<br />
• I have never seen so much development in such a<br />
short time.<br />
• I have to change my entire professional perspective<br />
and activity.<br />
• I am going to discard all of my prejudices about people<br />
with disabilities.<br />
• I have never experienced such humanity.<br />
In a special way, the congress is a peace service, for<br />
only 15 hours after it ends, martial law is declared in<br />
Thailand. The streets are full of tanks, and soldiers in<br />
full combat gear sweat at 40°C [104°F] in the shade.<br />
The third congress will take place in July, <strong>2016</strong>, in Khon<br />
Kaen, the largest university town in the northeast of<br />
the country.<br />
South America<br />
2009: First congress, in Rio de Janeiro, Brazil<br />
In contrast to North America, the only continent where<br />
multiple attempts to organize a congress have failed,<br />
the impulse thrives wonderfully in the south. It began<br />
when a group from Brazil registered too late for ‹Living<br />
in the Encounter› in The Hague and was unable to attend<br />
because it was already full. Without further ado,<br />
the congress impulse is directed toward Brazil, specifically<br />
Rio de Janeiro. There, 150 people from 14 different<br />
institutions participate. Many of them have never<br />
travelled alone before. Some come from the enormous<br />
favelas in Sao Paolo and the vast majority live under<br />
very difficult conditions. The group excursion to the<br />
rain forest is one of the high points. It is almost im-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
127
Berichte | Reports<br />
Brasilien 2012<br />
Küste. Der Veranstaltungsort bietet alle Annehmlichkeiten,<br />
Swimmingpool, Bücherei, frei zugängliches Internet<br />
und diverse Sportmöglichkeiten. Unter der Obhut<br />
eines Sicherheitsdienstes kann man im Meer baden,<br />
am Strand spazieren oder einfach nur im Sand spielen.<br />
Es gibt Kurse zur Meeresbiologie und über die Rechte<br />
von Menschen mit Behinderungen. Die Fröhlichkeit und<br />
Leichtigkeit dieses Kongresses werden natürlich vom<br />
brasilianischen Klima und der Mentalität begünstigt.<br />
Das Interview vor der Fernsehkamera absolviert der Gast<br />
aus dem fernen Deutschland souverän. Ihm scheint es<br />
vorrangig wichtig zu sein, den Daheimgebliebenen via<br />
Bildschirm zu übermitteln, dass er doch die Absicht<br />
hegt, wohlbehalten zurückzukehren! Die heimische Kultur<br />
verteidigt er ebenso bravourös. Die Brasilianer zeigen<br />
sich jedenfalls mächtig beeindruckt. Beethovens<br />
«Ode an die Freude» als Blockflötensolo war schlechthin<br />
der Renner des Abschlussabends.<br />
Das Wechselbad seiner Gefühle hingegen bekommt er<br />
nicht immer alleine in den Griff.<br />
2012: Dritter Kongress in Sao Paulo/Brasilien<br />
Was in europäischen Gemeinschaften kaum vorstellbar<br />
ist, gelingt in Sao Paulo mit Leichtigkeit. Seit dem ersten<br />
possible to imagine that some of the participants are<br />
visiting it for the first time, when they live only five<br />
kilometres away. The break takes place surrounded by<br />
very nimble kleptomaniac monkeys and is very entertaining.<br />
The mood is always jolly, and the programme<br />
very diverse. Only one year later, there is already another<br />
meeting.<br />
2010: Second congress, in Sao Paolo, Brazil<br />
One villager from a lifesharing community in Germany<br />
had heard of the congress in Brazil and immediately<br />
began pressuring his family until he had a plane ticket<br />
to Brazil in his pocket. In the process, he showed<br />
a true potential for subtlety and emotional intelligence.<br />
He had never seen the inside of an airplane before,<br />
but increasingly began to develop interest in the<br />
distant country, its women, and its football [soccer].<br />
Now he stands in the fine sand, lets the warm water<br />
of the Atlantic wash around his feet, and shakes his<br />
head wisely: ‹It is crazy here, crazy, totally crazy – crazy<br />
beautiful!› He has just escaped the German November<br />
weather. While it snows at home, he has already<br />
drunk coconut water, caressed a cobra and experienced<br />
how people with disabilities live in a city of 20 mil-<br />
128
Berichte | Reports<br />
Kongress, also mittlerweile seit sieben Jahren, finden regelmässige<br />
monatliche Treffen mit bis zu 70 Menschen<br />
mit Behinderungen in dieser Megacity statt, um den<br />
Kongressimpuls weiterzuentwickeln. Sie entwerfen ihr<br />
Programm, suchen sich die Themen aus und überlegen,<br />
wie sie die nötigen Finanzmittel für ihren nächsten Kongress<br />
auftreiben können. Deshalb kann bereits der dritte<br />
Kongress mit 120 Teilnehmenden stattfinden. Sogar<br />
eine Gruppe aus Argentinien hat sich dorthin auf den<br />
Weg gemacht. Zur Eröffnung wird «umgekehrte Inklusion»<br />
praktiziert. Der Kongress inkludiert mehrere hundert<br />
Feriengäste, die sich von der Stimmung des Geschehens<br />
sichtlich gerührt zeigen. Für die Tanzgruppe der Rollstuhlfahrer<br />
gibt es stehende Ovationen, dasselbe auch<br />
für die Models bei der Modenschau. Die Argentinier sind<br />
enthusiasmiert und tragen den Impuls nach Hause.<br />
2014: Vierter Kongress in Buenos Aires/Argentinien<br />
Im Abschlussplenum des vierten südamerikanischen<br />
Kongresses fassen Teilnehmende ihre Eindrücke der vergangenen<br />
Tage zusammen:<br />
«Schönheit, Harmonie, Brüderlichkeit, Zusammenarbeit,<br />
Frieden, Überwindung und Glück». Inmitten der<br />
Natur am Rande von Buenos Aires begegnen sich 70<br />
Teilnehmende aus Brasilien, Kolumbien, Argentinien<br />
und Deutschland zum Thema Freundschaft. Per Videokonferenz<br />
wird ein zeitgleiches Treffen in Sao Paulo dazu<br />
geschaltet. Der Jubel ist enorm, als die Daheimgebliebenen<br />
im projizierten Grossbild erscheinen. Die Stimmung<br />
mit simplen Worten zu beschreiben wäre vermessen,<br />
man muss sie einfach erleben. Die Begegnungen haben<br />
eine Tiefe und Reife, wie man sie sonst so oft vermisst.<br />
Auch wenn es vereinzelt viel Anstrengung erfordert, sind<br />
alle bei den Aktivitäten dabei. Es gibt Naturbetrachtungen,<br />
Rundgespräche, Leder-, Filz- und Malwerkstätten,<br />
Eurythmie und Bewegungsspiele und natürlich Musik<br />
und Tanz. Morgens im Plenum erzählt mancher zum ersten<br />
Mal seine leidvolle Biografie. Es herrscht eine therapeutisch<br />
wirkende Atmosphäre. Hier begegnen sich<br />
Menschen «mit besonderen Qualitäten», wie es eine<br />
Teilnehmerin formuliert. Am abendlichen Lagerfeuer,<br />
unter einem wundervollen argentinischen Sternenhimmel,<br />
wird so manche Begegnung vertieft. Dieses Leuchtfeuer<br />
gilt es weiter zu tragen!<br />
<strong>2016</strong>: Fünfter Kongress in Cali/Kolumbien<br />
Ebenso viele Menschen aus denselben Ländern wie in<br />
Argentinien sind nun auf 1000 Meter Meereshöhe in<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
lion. And somehow, he has fallen a little in love. With a<br />
pretty Brazilian, of course, who has won medals at the<br />
Special Olympics. Luckily, he is a good dancer – this is<br />
crucial to a solid relationship here. Then, this strange<br />
foreign language is no longer a problem – they understand<br />
each other anyhow!<br />
Of the 100 congress participants, about one-third already<br />
attended the first congress. They prepared the<br />
theme and the programme themselves. We gather in<br />
the city centre of Sao Paolo and drive several hours<br />
through the Atlantic rainforest to the coast in a large<br />
bus. The event venue offers every amenity – swimming<br />
pool, library, free internet and a variety of sports.<br />
Under the custody of the security service, we can swim<br />
in the sea, wander along the beach or simply play in<br />
the sand. There are marine biology courses and courses<br />
on rights for people with disabilities. The merriment<br />
and lightness of this congress are naturally aided by<br />
the Brazilian climate and mentality. The guest from distant<br />
Germany completes a television interview with<br />
aplomb. It appears of primary importance to him to<br />
assure those left at home that he is still planning to<br />
return safe and sound! He defends his own culture just<br />
as bravely. The Brazilians seem powerfully impressed,<br />
in any case. The highlight of the closing evening was<br />
certainly Beethoven’s Ode to Joy as a recorder solo.<br />
However, he isn’t always able to manage the emotional<br />
roller coaster alone.<br />
2012: Third congress, in Sao Paolo, Brazil<br />
What is barely imaginable in European communities<br />
finds easy success in Sao Paolo. Since the first congress—now<br />
seven years ago—regular monthly meetings<br />
of up to 70 people with disabilities take place in<br />
this megacity in order to further develop the congress<br />
impulse. They design a programme, search for themes,<br />
and consider where they might find the necessary<br />
financing for the next congress. Because of this,<br />
the third congress, with 120 participants, is already<br />
able to take place. A group from Argentina has even<br />
made its way here. At the opening, ‹reverse inclusion›<br />
is practiced: the congress includes several hundred vacationers,<br />
who are visibly moved by the mood of the<br />
event. There are standing ovations for the wheelchair<br />
dance group, as well as for the fashion show models.<br />
The Argentineans are enthusiastic and carry the impulse<br />
home with them.<br />
129
Berichte | Reports<br />
Kolumbien <strong>2016</strong><br />
die Anden gereist. Das Feriendomizil rühmt die Teilnehmenden<br />
bei der Abreise als beste Besuchergruppe. Was<br />
haben sich da für Persönlichkeiten versammelt? Gleich<br />
zu Beginn erklärt ein junger Mann mit Down-Syndrom<br />
den Anwesenden nicht ohne Stolz: «Ich bin behindert»!<br />
Ist das der oft beschworene Paradigmenwechsel? Viele<br />
wollen über ihr Leben erzählen. Man gewinnt den Eindruck,<br />
hier haben sie endlich Zuhörer gefunden. Selbst<br />
die Vorstellung der Institutionen wird schnell persönlich.<br />
Statt über die Einrichtung zu sprechen, erzählt man lieber<br />
etwas über sich selbst, frei nach dem Motto: Ich bin<br />
das Projekt! Das Kongressthema lautet Kommunikation.<br />
Welch ein Happening, als sich die Leute, mit Joghurtbechern<br />
und Paketschnüren bewaffnet, Telefone basteln<br />
und sie dann ausprobieren. Alle kommunizieren miteinander,<br />
selbst die Tauben und die Stummen. Nicht nur<br />
miteinander, sondern auch mit der Natur und dem Himmel.<br />
Sie erläutern, wie sie mit Bäumen und Tieren kommunizieren<br />
– und mit Gott. Im Gesprächskreis berichten<br />
von acht Teilnehmern drei über ihre spirituellen Konversationen<br />
mit Verstorbenen und Engeln. «Man stellt<br />
ihnen Fragen und wartet auf die Antworten, die sich in<br />
Gedanken mitteilen», so einer, dessen Vater nur einige<br />
Wochen zuvor verstorben war. «Die Toten wollen kommu-<br />
2014: Fourth congress, in Buenos Aires, Argentina<br />
At the closing plenum of the fourth South American<br />
congress, participants summarize their impressions<br />
from the last few days:<br />
‹Beauty, harmony, brotherhood/sisterhood, collaboration,<br />
peace, overcoming difficulty, and happiness.›<br />
Surrounded by nature at the outskirts of Buenos Aires,<br />
70 participants from Brazil, Colombia, Argentina and<br />
Germany meet under the banner of friendship. A simultaneous<br />
meeting in Sao Paolo is conducted via videoconference.<br />
There is much rejoicing as those left<br />
at home appear on the big screen. It would be presumptuous<br />
to try to describe the atmosphere in simple<br />
words – you’d just have to experience it. The encounters<br />
have a depth and maturity that is otherwise so<br />
often missing. Even when it is very difficult for some<br />
individuals, everyone takes part in all of the activities.<br />
There are nature studies; round table discussions; leather,<br />
felt and painting workshops; eurythmy and movement<br />
games; and of course music and dancing. In<br />
the morning plenum, some tell their painful stories<br />
for the first time. The atmosphere is therapeutic. Here,<br />
human beings with ‹special qualities›, as one participant<br />
put it, are meeting each other. At the evening<br />
campfire, under a wondrous Argentinean starry sky,<br />
some of these encounters deepen. This fire is worth<br />
carrying into the future!<br />
<strong>2016</strong>: Fifth congress, in Cali, Colombia<br />
Just as many people from the same countries as in Argentina<br />
have now travelled to the Andes at 1,000 metres<br />
above sea level. At departure, the holiday ressort<br />
praises the participants as their best group of visitors.<br />
What kind of individuals gathered there? Right at the<br />
start a young man with Down syndrome declares, not<br />
without pride, ‹I’m disabled!› Is this the summoned<br />
paradigm shift? Many want to talk about their lives. I<br />
have the impression that they have finally found their<br />
audience here. Even the idea of the institutions quickly<br />
becomes personal. Instead of speaking about their<br />
communities, they prefer to speak about themselves,<br />
as if to say, ‹I am the project!› The congress theme is<br />
‹Communication›. What a happening, as the people,<br />
armed with yoghurt cups and packing twine, craft telephones<br />
and then try them out. They all communicate<br />
with each other, even the deaf and dumb. Not<br />
only with each other, but with nature and the hea-<br />
130
Berichte | Reports<br />
Kolumbien <strong>2016</strong><br />
nizieren und sich mit uns verbinden. Wir müssen ihnen<br />
helfen, ihre Situation zu verstehen». Ein anderer bemängelt,<br />
dass in den Familien immer weniger kommuniziert<br />
würde. «Liebe per Computer geht nicht, wir müssen mehr<br />
Wertschätzung und gegenseitige Hilfe erreichen». «Wertschätzung<br />
für alle Menschen», fügt eine junge Frau im<br />
Rollstuhl hinzu. Da sie nicht sprechen kann, tippt sie in<br />
ihr Smartphone: «Wir sind Lehrer der Liebe!» So schreibt<br />
sie auch, wie wichtig sie es findet, dass Menschen mit<br />
unterschiedlichen Behinderungen teilnehmen. Sie ist<br />
auf der Suche nach einer Universität in Cali, an der sie<br />
Jura studieren kann, um anderen Behinderten zu helfen.<br />
Trotz ihrer schweren Behinderung ist sie überall<br />
mit dabei. Im Schwimmbecken und im Rollstuhl tanzend<br />
beim abendlichen Rumba. Beim Ausflug auf den<br />
Aussichtsturm wird sie auf Händen getragen. Eine Brasilianerin,<br />
die bereits bei Kongressen in Wien und Brüssel<br />
und natürlich zuhause teilgenommen hat, verkündet<br />
«die Kongresse sind wichtig für die Kontinente – ja für die<br />
ganze Welt». Niemals hätte sie erwartet «dass Kolumbien<br />
so viel Herz hat». Damit ist auch schon mit einem Wort<br />
beschrieben, um was es hier geht. Selten war dies so erlebbar.<br />
Vielleicht auch deshalb, weil noch kein Kongress<br />
dem Himmel räumlich so nahe war? Die Sonne scheint<br />
die ganzen Tage, Schmetterlinge und Papageien fliegen<br />
um uns herum. Kommunikation geschieht vielfältig<br />
und ergibt sich ganz von alleine. Bewegt hören wir die<br />
vens. They describe how they communicate with trees<br />
and animals, and with God. In the conversation circle,<br />
three of eight participants describe their spiritual conversations<br />
with those who have died and with angels.<br />
‹You ask them questions and then wait for the answers<br />
that come in thoughts›, says one, whose father<br />
had died only a few weeks before. ‹The dead want to<br />
communicate and connect with us. We have to help<br />
them understand their situation.› Another criticizes<br />
the fact that families communicate less and less. ‹Love<br />
can’t be sent via computer; we need more appreciation<br />
and mutual help.› ‹Appreciation for all human beings›<br />
adds a young woman in a wheelchair. Because she<br />
can’t speak, she types into her smart phone: ‹We are<br />
teachers of love!› And she writes how important she<br />
believes it to be that people with different disabilities<br />
participate. She is looking for a university in Cali at<br />
which she can study law, in order to help other people<br />
with disabilities. Despite her severe disability, she joins<br />
in all of the activities, whether in the swimming pool<br />
or dancing in her wheelchair at the evening rumba. At<br />
the excursion to the lookout tower, she is carried in<br />
others’ arms. One Brazilian who had already attended<br />
congresscongresses in Vienna and Brussels as well as<br />
in Brazil, announces, ‹The congresscongresses are important<br />
for the continents – and for the whole world!›<br />
She never would have expected that ‹Colombia has so<br />
much heart.› And in so few words, she has described<br />
what this is all about. This has rarely been so easy to<br />
experience. Perhaps also because no congress was ever<br />
held so close in space to the heavens? The sun shines<br />
every day, butterflies and parrots fly around us.<br />
Communication takes place in many ways and happens<br />
naturally. Moved, we listen to one participant’s<br />
description of how she had been the only survivor of<br />
a major traffic accident which had killed her entire<br />
family, and how she had had to undergo 21 operations.<br />
Now she was married and lived independently<br />
with her husband, although he is also in need of care.<br />
She describes how she was able to attend the congress<br />
through inner work. ‹God hears us – He brought us<br />
goodness and receives goodness through us.› At the<br />
closing plenum, an older participant calls out to the<br />
others, ‹You are happier than all of those who work<br />
all the time, who have many things and many problems<br />
and spend all day planning. I am happy to be<br />
united with you.› The reply comes quickly, ‹I am happy<br />
to go back to the crazy world now.› The congress ends<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
131
Berichte | Reports<br />
Schilderungen einer Teilnehmerin, die als Kind einen<br />
schweren Verkehrsunfall als einzige ihrer Familie überlebt<br />
hat und danach 21 Operationen über sich ergehen<br />
lassen musste. Mittlerweile hat sie geheiratet und lebt<br />
mit ihrem Ehemann selbständig zusammen, obwohl dieser<br />
selbst auf Begleitung angewiesen ist. Sie schildert,<br />
wie sie es durch innere Arbeit schaffte, am Kongress teilzunehmen.<br />
«Gott hört uns, er hat Gutes gebracht und<br />
empfängt durch uns Gutes». Im Abschlussplenum ruft<br />
ein Älterer den anderen zu: «Ihr seid fröhlicher als die,<br />
die ständig arbeiten, die viele Dinge haben und viele<br />
Probleme und den ganzen Tag lang planen. Ich fühle<br />
mich mit euch glücklich vereint». Die Erwiderung lässt<br />
nicht lange auf sich warten: «Ich gehe jetzt gerne wieder<br />
zurück in die verrückte Welt». Der Kongress klingt mit<br />
einem Abschlussfest in einem Park in Cali mit über 150<br />
Anwesenden aus. Darunter auch die wartenden Eltern.<br />
Lassen wir einige von ihnen noch zu Wort kommen. Eine<br />
Mutter, deren Sohn zum ersten Mal alleine unterwegs<br />
war, sagt: «Es waren die besten Tage seines und meines<br />
Lebens. Er hat sich nicht als ausgeschlossener Behinderter<br />
gefühlt, sondern als Teil einer Gemeinschaft.<br />
Glücklicher, offener, zentrierter und reifer und plötzlich<br />
irgendwie erwachsen». Eine andere Mutter berichtet,<br />
dass ihr Sohn nach der Rückkehr zum ersten Mal mit ihr<br />
mithilfe gestützter Kommunikation schreiben will. Was<br />
sie am meisten berührt, ist, dass «er stolz darauf sei, so<br />
zu sein, wie er ist». Vergleichbares hatte sie von ihm niemals<br />
zuvor gehört. Jemand bemerkt das «andere Augenlicht»<br />
seines schwerstbehinderten Kindes. Ein anderes<br />
beginnt nach langer Zeit wieder zu sprechen. «Die Menschen<br />
mit Behinderungen sind wie eine Brüderschaft»<br />
so ein Elternpaar, welches sich vor dem Kongress noch<br />
sehr skeptisch äusserte. Der sechste südamerikanische<br />
Kongress kündigt sich bereits an.<br />
with a closing celebration at a park in Cali, with over<br />
150 people present, including the waiting parents. Let<br />
us allow some of them to speak. One mother, whose<br />
son was travelling alone for the first time, says: ‹These<br />
were the best days of his life, and of my life. He didn’t<br />
feel like an excluded disabled person, he felt like a<br />
part of a community. Happier, more open, more centred,<br />
more mature, and somehow suddenly grown up.›<br />
Another mother reports that after returning home,<br />
her son wants to communicate via the computer for<br />
the first time with her help. What moves her most is<br />
that ‹he is proud to be the way he is›. She had never<br />
heard anything like this from him before. Someone remarked<br />
on the ‹different light in the eyes› of his severely<br />
disabled child. And another is finally beginning to<br />
speak again. ‹People with disabilities are like a brotherhood›,<br />
said one pair of parents who had expressed<br />
great scepticism before the congress. The sixth South<br />
American congress is already in the works.<br />
Thomas Kraus is the initiator and organizer of congresses for<br />
people with disabilities worldwide. He worked for 16 years in<br />
a residential group and as Director at the ‹Stadtgemeinschaft<br />
Berlin› [‹Berlin City Community›]. He is the secretary of the<br />
‹European Co-operation in Anthroposophical Curative Education<br />
and Social Therapy› (ECCE) and works for ‹The Friends<br />
of Waldorf Education› in the field of curative education and<br />
social therapy since 2012.<br />
Information at www.socialartist.events<br />
All Fotos: Thomas Kraus<br />
Translation from German:<br />
Tascha Babitsch<br />
Thomas Kraus ist Initiator und Organisator<br />
der weltweiten Kongresse für Menschen<br />
mit Behinderungen. Er hat 16<br />
Jahre in der «Stadtgemeinschaft Berlin»<br />
in einer Wohngruppe und als Heimleiter<br />
gearbeitet, er ist Sekretär der «European<br />
Co-operation in Anthroposophical<br />
Curative Education and Social Therapy»<br />
(ECCE) und seit 2012 bei den «Freunden<br />
der Erziehungskunst Rudolf Steiners» für<br />
den Bereich Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
tätig.<br />
Neuigkeiten unter www.socialartist.events<br />
Alle Fotos: Thomas Kraus<br />
132
Der Traum vom Schreiben<br />
Die mittelpunkt-Schreibwerkstätten der Anthropoi<br />
Selbsthilfe<br />
Von Ingeborg Woitsch<br />
Immer wen ich eine geschichte schreibe füle ich mich<br />
als ob ich mitklid in der geschichte wäre. Als ich die Geschichte<br />
mit dem Baum schib fülte ich mich als ob ich<br />
selber der Baum were oder als ob ich mit dem Herzen<br />
des Baumes sehn und fülen kann. Dabei fühle ich mich<br />
verwurzelt mit der Erde und das gibt mir Halt und hilft mir<br />
im Alltag zurecht zu kommen.<br />
Yannic Junge, 20 Jahre<br />
Das schreiben bringt mich Immer auf gute Idee und es<br />
lösst mich sehr, weil Ich nicht Jedes mal so Traurig bin<br />
und das schreiben Ist für mich wie einen gedanken zum<br />
aus Truk was Ich nicht ausdrücken kann. Was Ich nicht<br />
so sprechen kann und Es Ist für mich das wichtigste was<br />
es giebt auf der ganzen Welt. Und ich bin froh das Ich<br />
schreiben kann und da fühle Ich mich auch sicher damit.<br />
Christina Kohl, 27 Jahre 1<br />
Der Stift, das Papier — die Welt und das Ich<br />
«Der Stift und das Papier» sind Titel und Inbegriff von<br />
Hanns-Josef Ortheils Roman über seine Kindheit. Darin<br />
erzählt der Autor und Poetik-Professor, wie ein nicht<br />
sprechender achtjähriger Junge – er selbst – mit Unterstützung<br />
seines Vaters und mittels vieler kreativer Ideen<br />
in die Sprache findet und dabei das Glück des Schreibens<br />
entdeckt. Dieses «Glück» hat etwas mit dem Sich-<br />
Einlassen-Können zu tun. Sprache, und verstärkt das<br />
Schreiben, wecken ein genaueres Hinspüren, Hinhören<br />
und Hinschauen auf die äussere, aber eben auch auf die<br />
innere Welt. Es ist beglückend zu schreiben. Es entsteht<br />
Verbundenheit: Mit sich selbst und mit der Welt. Im beseelten<br />
Schwingen durch Buchstaben, Worte und Sätze<br />
können wir uns spüren. Das Eigene und Unverwechselbare<br />
zeichnet sich ab. Wichtig ist tatsächlich das Handwerkszeug:<br />
Stift und Papier. Einen Stift führen. – Den<br />
inneren Raum einer Seite betreten. – Es ist so einfach,<br />
aber ebenso philosophisch oder magisch. Das Schreiben<br />
transportiert den inneren Kosmos eines Menschen nach<br />
aussen, macht ihn lesbar und eröffnet ihn uns, auch<br />
überhaupt uns selbst.<br />
The dream of writing<br />
The centre point writing workshops at Anthropoi<br />
Self Help<br />
By Ingeborg Woitsch<br />
Wenever I write a Story I fele like a parrt of History.<br />
When I wote the story with the tree I fellt as if I wer<br />
the tree or as if I can see and fele with the heart of the<br />
tree. Then I fele rooted with the earth and that gives<br />
me something to hold onto and helps me to manage<br />
my daily life.<br />
Yannic Junge, 20 years old<br />
Writing always gives me good ideas and really gives<br />
me releese, because I am not so Sad every time and<br />
writing is like a Thought for me to ekspress what I can’t<br />
express. What I can’t just say and It is the most important<br />
thing for me in the whole world.<br />
And I am happy that I can write and I feel safe doing it.<br />
Christina Kohl, 27 years old 1<br />
The pen, the paper – the world and the I<br />
‹The pen and the paper› is the title and the centre point<br />
of Hanns-Josef Ortheil’s novel about his childhood. In<br />
it, the author and poetry professor recounts how a<br />
non-speaking eight-year-old boy (himself) found an<br />
entrance into language with his father’s support and,<br />
using many creative ideas, discovered the joy of writing<br />
in the process. This ‹joy› has to do with the ability<br />
to become involved. Language and, to an even greater<br />
extent, writing awaken us to more precisely sense, listen<br />
to and look at both the external and the internal<br />
world. Writing is exhilarating. It creates a connection<br />
with oneself and with the world. We can sense ourselves<br />
in the ensouled movement of letters, words and<br />
sentences. That which is unique and distinctive emerges.<br />
And the physical tools, pen and paper, are important.<br />
To direct a pen – to enter the internal space of a<br />
page – is so simple, and so philosophical or magical.<br />
Writing transports a person’s inner cosmos outwards,<br />
makes it readable and discloses it to us – ourselves<br />
most of all.<br />
Writing puts the individual’s soul-spiritual space at the<br />
centre. Disability and limitations pale. The centre point<br />
writing workshops are a space in which the ‹joy of wri-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
133
Beiträge | Contributions<br />
Foto: Ingeborg Woitsch<br />
Schreibwerkstatt <strong>2016</strong> | Writing workshop <strong>2016</strong><br />
Schreiben rückt den seelisch-geistigen Raum des Individuums<br />
in den Mittelpunkt. Behinderung und Einschränkungen<br />
verblassen. Die mittelpunkt-Schreibwerkstätten<br />
sind ein Raum, in dem das «Glück des Schreibens» entdeckt<br />
werden kann und nunmehr seit gut sieben Jahren<br />
von vielen Menschen mit Assistenzbedarf entdeckt wird.<br />
Das Projekt der Anthropoi Selbsthilfe unter Leitung von<br />
Ingeborg Woitsch versteht sich als Bildungsinitiative,<br />
die durch kreatives sowie biografisches Schreiben Menschen<br />
mit kognitiven Einschränkungen in ihrer Identitätsbildungs-<br />
und Selbstfindungskraft unterstützt. Hier<br />
suchen Menschen mit einer Begeisterung fürs Schreiben<br />
einen kreativen Weg ins Selbstschreiben, Aufschreiben<br />
und Abschreiben. Die einfachen Handwerkszeuge, bunte<br />
Stifte und schönes Papier, laden ein in ein Neuland und<br />
befördern die Schreib-EntdeckerInnen-Lust. In manchen<br />
Momenten erinnert die konzentrierte Stille, das Liegen<br />
über dem Blatt, der Kraftaufwand des zu führenden Stiftes<br />
an die Arbeit in klösterlichen Skriptorien.<br />
Inzwischen ist bundesweit ein Netzwerk an kontinuierlich<br />
arbeitenden Schreibgruppen in den anthroposophischen<br />
Lebensgemeinschaften entstanden. Ihre Beiträge sind<br />
auf den mittelpunkt-Seiten der Zeitschrift Punkt und Kreis<br />
zu lesen. In den vergangenen sieben Jahren gewann das<br />
Projekt etwa 500 interessierte Frauen und Männer für die<br />
ting› can be discovered, and in these last seven years<br />
they have been discovered by many people in need<br />
of assistance. The Anthropoi Self Help Project, under<br />
the direction of Ingeborg Woitsch, is an educational<br />
initiative that supports people with cognitive limitations<br />
in identity-building and self-discovery through<br />
creative and biographical writing. Here, people with an<br />
enthusiasm for writing look for a creative path into<br />
writing about themselves, making notes and copying.<br />
The simple hand tools – colourful pens and beautiful<br />
paper – are an invitation to an undiscovered land and<br />
promote joy in the discovery of writing. There are moments<br />
when the concentrated silence, the backs bent<br />
over the paper, the effort of directing the pen are reminiscent<br />
of work in the scriptoria of monasteries.<br />
We now have a national network of regular writing<br />
groups in the anthroposophic lifesharing communities.<br />
Their contributions can be read in the centre point section<br />
of the magazine Punkt und Kreis [Point and Circle].<br />
In the last seven years, the Project has gathered<br />
around 500 interested women and men for the writing<br />
workshops, as well as many writing group instructors.<br />
At writing festivals in 2010 and 2015, writers from<br />
many different communities were able to meet each<br />
other. Annual writing instructor conferences connect<br />
134
Beiträge | Contributions<br />
Schreibwerkstätten wie auch viele Schreibgruppen-AnleiterInnen.<br />
Auf zwei Schreibfestivals, 2010 und 2015,<br />
konnten sich die Schreibenden einrichtungsübergreifend<br />
kennenlernen. Jährliche Schreibanleiter-Tagungen<br />
vernetzen und schulen die ProjektpartnerInnen, die die<br />
Schreibgruppen vor Ort leiten. Das Projekt verdankt sein<br />
Bestehen der Förderung durch die Stiftung Lauenstein. 2<br />
Schreiben leicht gemacht!<br />
Schreiben ist weit mehr als eine schulische Erfahrung<br />
mit dem Ziel, einen orthografisch korrekten Text zu verfertigen.<br />
Schreiben ist Selbst-Erfahrung. Schreiben fördert<br />
die gesellschaftliche Inklusion durch die wichtige<br />
Kulturtechnik des Schreibens und Lesens. Schreibbefähigung<br />
stellt einen Initiationsakt ins Erwachsenenleben<br />
dar. Schreiben sollte jedem Menschen zugängig gemacht<br />
werden. Einer der bekanntesten Vertreter dieser<br />
Meinung ist Prof. Lutz von Werder. 3 Er ist eine der führenden<br />
Persönlichkeiten der kreativen Schreibbewegung<br />
in Deutschland und zählt zu den Gründern der kreativen<br />
wie auch selbsttherapeutischen Schreibwerkstätten.<br />
Die mittelpunkt-Schreibwerkstätten nutzen modifizierte<br />
Formen des Kreativen Schreibens. Dabei kommt die<br />
Methodenvielfalt dieses Schreibansatzes den unterschiedlichen<br />
Voraussetzungen der Teilnehmenden entgegen.<br />
Kreatives Schreiben erreicht auch Menschen,<br />
die auf Unterstützung beim Schreiben angewiesen sind<br />
oder die Anstösse benötigen, um ihren Text entwickeln<br />
zu können. Das Schreiben unterstützt Menschen, deren<br />
Lebenssituation aufgrund einer Behinderung stark von<br />
Abhängigkeiten geprägt und oftmals mit einem Leben in<br />
Gruppen verbunden ist, darin, die eigene Persönlichkeit<br />
zu entfalten. Das Projekt will Menschen mit Defiziterfahrungen<br />
motivieren, eine neue Kraftquelle und mögliche<br />
Ressource in sich zu entdecken. 4 Ein Zutrauen ins eigene<br />
Wort ermutigt, sich zu Wort zu melden, im Tagebuch, im<br />
eigenen Lebensumfeld, in der Zeitschrift, auf Tagungen,<br />
in politischen Mitwirkungsgremien.<br />
Kreativität, Identität und Inklusion<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Noch in den 1970er-Jahren wurde Menschen mit einer<br />
sog. geistigen Behinderung die Fähigkeit zur Kreativität<br />
nicht zugetraut. Erst in den letzten Jahren geschah angesichts<br />
der Entdeckung und Förderung der Kunst von<br />
Menschen mit Behinderung ein Durchbruch. 5 Menschen<br />
mit einer Behinderungserfahrung besitzen kreative Kompetenzen,<br />
die sie anderen Menschen voraushaben. In<br />
Bezug auf den Umgang mit Hindernissen müssen Menand<br />
train project partners who direct local writing<br />
groups. The Project is able to exist thanks to the support<br />
of the Lauenstein Foundation. 2<br />
Writing made easy!<br />
Writing is much more than a school-like experience<br />
with the goal of fabricating a correctly spelled and<br />
written text. Writing is a journey of self-awareness.<br />
Writing supports social inclusion via the important<br />
cultural techniques of writing and reading. The ability<br />
to write represents an initiation into adult life. Writing<br />
should be made accessible to every human being. One<br />
of the most well-known proponents of this opinion is<br />
Prof. Lutz von Werder. 3 He is one of the leaders of the<br />
creative writing movement in Germany, as well as one<br />
of the founders of the creative and therapeutic writing<br />
workshop.<br />
The centre point writing workshops use a modified<br />
form of creative writing, such that the wide variety<br />
of methods in this approach to writing can be adapted<br />
to the needs of the participants. Creative writing<br />
also reaches people who rely on support in order to<br />
write or who need some form of stimulus in order to<br />
develop their text. For people whose life situation is<br />
strongly affected by dependence because of a disability,<br />
and whose life is often bound to a group, writing<br />
helps to develop individual personalities. The Project<br />
is intended to motivate people who experience deficiency<br />
to discover a new source of strength and potential<br />
resources within themselves. 4 Confidence in their<br />
own words encourages them to speak up, whether in<br />
their personal journal, in their living environment, in a<br />
magazine, at conferences, or in political action groups.<br />
Creativity, identity and inclusion<br />
As recently as the 1970s, people with so-called developmental<br />
disabilities were not seen as capable of<br />
creativity. It was only recently that the discovery and<br />
support of art by people with developmental disabilities<br />
led to a breakthrough. 5 People with disabilities<br />
actually have the advantage over other people in their<br />
creative abilities. Because they are constantly forced<br />
to deal with obstacles, people with disabilities have to<br />
muster a high level of ‹day-to-day creativity› that is<br />
barely perceived by outsiders.<br />
Biographical centre point writing workshops offer the<br />
opportunity to confront one’s own life story. In the<br />
process of developing identity, creativity leads to com-<br />
135
Beiträge | Contributions<br />
schen mit Behinderung ein hohes Mass an «Alltags-<br />
Kreativität» aufbringen, die von Aussenstehenden in der<br />
Regel kaum wahrgenommen wird.<br />
Biografische mittelpunkt-Schreibwerkstätten bieten die<br />
Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der eigenen<br />
Lebensgeschichte. Im Prozess der Identitätsentwicklung<br />
führt Kreativität auch zur Kompensation erlebter<br />
Verletzungen und schafft neue Perspektiven. Das gilt<br />
insbesondere für Menschen mit einer sog. geistigen Behinderung,<br />
die oftmals starke Ausgrenzungserlebnisse<br />
erfahren oder erfahren haben. Das mittelpunkt-Projekt<br />
veranstaltete in den letzten Jahren in diesen Fragen<br />
Schreibepochen für Oberstufen-SchülerInnen heilpädagogischer<br />
Schulen zur Identitätsfindung.<br />
Politische Rechte können von Menschen mit kognitiven<br />
Einschränkungen nur wahrgenommen werden, wenn<br />
ihnen die Gesellschaft die sozialen und auch wirtschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt. Nur so<br />
werden diese MitbürgerInnen befähigt, sich die Kompetenzen<br />
und Ressourcen anzueignen, die ihnen eine<br />
Partizipation an der Gesellschaft ermöglichen. Ein wesentliches<br />
Element der Teilhabe an der Gesellschaft ist<br />
Bildung. Das mittelpunkt-Projekt sieht sich als Bildungsinitiative,<br />
die Menschen hilft, ihre eigene Schreib-und<br />
Lesefähigkeit, soweit sie vorhanden ist oder aufgebaut<br />
werden kann, zu stärken, um sich in unserer Gesellschaft<br />
zu Wort zu melden, mitzugestalten und in Zukunft hoffentlich<br />
in einer inklusiven Gesellschaft leben zu können.<br />
Ingeborg Woitsch, Konzeption und Projektleitung der mittelpunkt-Schreibwerkstätten<br />
ist Redakteurin von Anthropoi Selbsthilfe<br />
für die Zeitschrift PUNKTUNDKREIS. Schreibwerkstatt in<br />
Berlin für Poesietherapie und Biografiearbeit.<br />
www.mittelpunktseite.<br />
pensation for experienced injuries and creates new<br />
perspectives. This is especially true for people with<br />
so-called developmental disabilities, who have often<br />
had and have severe experiences of marginalization.<br />
In recent years, the centre point Project has organized<br />
writing blocks for high school students in curative<br />
education schools to help in identity-seeking.<br />
People with cognitive limitations can only take advantage<br />
of their political rights when society makes<br />
the social and economic framework available to them.<br />
Only in this way will these fellow citizens be able to<br />
acquire the competencies and resources that allow<br />
them to participate in society. Education is crucial to<br />
participating in society. The centre point Project sees<br />
itself as an educational initiative that helps people to<br />
strengthen their ability to write and read, insofar as<br />
it exists or can be developed, so that they can have a<br />
voice in our society, help to shape it, and hopefully, in<br />
the future, live in an inclusive society.<br />
Ingeborg Woitsch, Designer and Project<br />
Director of the centre point writing workshops,<br />
is the editor of Anthropoi Self Help<br />
for the magazine Punkt und Kreis. Writing<br />
workshop in Berlin for poetry therapy and<br />
biography work | www.mittelpunktseite<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Anmerkungen<br />
1) Beiträge der Schreibgruppe Haus Sonne, Walsheim auf den<br />
mittelpunkt-Seiten der Zeitschrift Punkt und Kreis, Nr: 27, Ostern<br />
2012: «Schreiben gibt Kraft! – Was fühle ich beim Schreiben?»<br />
2) www.stiftung-lauenstein.de<br />
3) Werder, Lutz von (2007): Lehrbuch des Kreativen Schreibens.<br />
Marixverlag, Wiesbaden.<br />
4) Heimes, Silke (2008): Kreatives und therapeutisches Schreiben.<br />
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.<br />
5) EUCREA, Verband für Kunst und Behinderung e.V. ist seit über<br />
20 Jahren das Netzwerk für Künstler mit Beeinträchtigungen<br />
im deutschsprachigen Raum. Eucrea veranstaltet international<br />
ausgerichtete Kulturfestivals für Musik, Tanz und Theater, mit<br />
Ausstellungen, Lesungen, Publikationen und Wettbewerben. |<br />
www.eucrea.de<br />
Notes<br />
1) Contributions by the Haus Sonne writing group, in Walsheim,<br />
which appeared in the centre point section of the magazine<br />
PUNKTUNDKREIS, No: 27, Easter 2012: ‹Writing empowers me!<br />
What do I feel when I write?› [‹Schreiben gibt Kraft! – Was fühle<br />
ich beim Schreiben?›]<br />
2) www.stiftung-lauenstein.de<br />
3) Werder, Lutz von (2007): Lehrbuch des Kreativen Schreibens.<br />
Marixverlag, Wiesbaden.<br />
4) Heimes, Silke (2008): Kreatives und therapeutisches Schreiben.<br />
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.<br />
5) EUCREA, the Association for Art and Disabilities has been the<br />
network for artists with disabilities in German-speaking countries<br />
for over 20 years. Eucrea organizes international cultural<br />
festivals for music, dance, and theatre, with exhibits, readings,<br />
publications and competitions. www.eucrea.de<br />
136
Goetheanum-Vorhang<br />
Bilder von Tor Janicki und eine Skizze von Rudolf Steiner<br />
Von Hannes Weigert<br />
Du kommst mir entgegen, du bist ein anderer<br />
Aber manchmal scheint es mir,<br />
Du seist –<br />
Ich selbst. 1<br />
Im vergangenen Sommer waren die Maler aus Vidaråsen 2<br />
zu Gast am Goetheanum, wo sie für zwei Wochen in der<br />
alten Schreinerei ihre Werkstatt aufschlagen durften, um<br />
Rudolf Steiners Bilder und Skulpturen zu studieren und<br />
das Goetheanum in seiner Landschaft zu malen. 3 Nach<br />
Norwegen zurückgekehrt, begann einer der Maler, Tor Janicki,<br />
sich mit Steiners Entwurf zu einem Bühnenvorhang<br />
für die Mysteriendramen zu beschäftigen. 4<br />
Was ist auf Steiners Bild zu sehen? – Ein Mann. Ein Boot.<br />
Ein Gewässer. Ein Kreuz. Zwei Berge. Das Goetheanum,<br />
ein Haus. – Und was geschieht dort? – Ein Mann trifft<br />
einen anderen Mann. Mit einem Boot. Er steht da und<br />
wartet. Er ist einen langen Weg gegangen. Er soll mit dem<br />
Boot hinüber. Zu dem Haus auf dem Berg. Mit dem Kreuz.<br />
Und den schönen Rosen. Sieben Rosen. 5<br />
Hundert Jahre vor Tor Janicki, im Herbst 1914, malte<br />
Maximilian Woloschin das Vorhang-Motiv. 6 Ihm musste<br />
sich die Frage stellen, wie das Motiv der Selbstbegegnung<br />
malerisch umzusetzen sei. Aus einem Gespräch<br />
mit Rudolf Steiner, das in diese Zeit fiel, notierte er sich<br />
die Worte: «Sie müssen versuchen, ihr inneres Sehen zu<br />
vertiefen, um vom ätherischen Plan her zu malen, einen<br />
Weg zu finden von den Formen zur Bewegung.» 7<br />
Inneres Sehen. Gibt es eine Mystik des Sehens? Kann<br />
man das Sehen innerlich – von innen her – vertiefen?<br />
Kann man im Sehen unter die Oberfläche des Sichtbaren<br />
untertauchen? Erfordert dies eine innere Bewegung, die<br />
zugleich ein In-Bewegung-setzen des Sichtbaren ist? Ist<br />
die Farbe das Medium dieser (Ich-)Tätigkeit?<br />
Im Betrachten von Steiners Vorhang-Skizze 8<br />
Eine Berglandschaft, merkwürdig flach in der Art der Darstellung,<br />
ohne jede Tiefe des Raumes, ohne Vordergrund.<br />
Ich habe zuerst den Eindruck, als schaute ich von oben<br />
her auf die Landschaft. Aber sobald sich mein Blick auf<br />
die kleine Gestalt am Ufer des Sees oder Flusses richtet,<br />
finde ich mich dieser ganz nah. Da ist also doch Raum.<br />
Da ist Ferne und Nähe.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Merkwürdig, wie der Weg, den der Wanderer zurückgelegt<br />
hat, im Bild nicht hinten erscheint, sondern von<br />
rechts und dennoch «von weit her» ins Bild führt. Er<br />
kommt hinter dem Berg hervor, als wäre da ein verdeckter<br />
Raum hinter dem Berg, den man nicht sieht, sondern<br />
vorstellen muss. Aber es gibt diesen Raum nicht. Denn<br />
an jeder Stelle des Bildes, die durch sich in eine dreidimensionale<br />
Gestalt übergehen möchte – es gibt mehrere<br />
solcher Umschlagstellen – entsteht sogleich eine<br />
Art Gegenbewegung, welche die Flächigkeit des Bildes<br />
bewahrt. Eine Flächigkeit, die aber trotzdem eine ungewohnte<br />
Räumlichkeit in sich birgt. Das gewöhnliche<br />
Schauen wird verwirrt, sobald man auf diese aufmerksam<br />
geworden ist. Aber es ist keine Täuschung.<br />
Der Weg ist an einer Stelle unterbrochen. Er führt hinter<br />
den Berg, um dann an anderer Stelle wieder auf die hiesige<br />
Seite zurückzukehren. Eine Hell-dunkel-Kante ist an<br />
dieser Stelle bemerkbar, die den Eindruck hervorruft,<br />
dass die dunklere Fläche sich im nächsten Augenblick<br />
vor die hellere schieben wird. Der Berg ist in Bewegung<br />
versetzt, scheint sich in den offenen Raum hineinschieben<br />
und das Licht des Grundes überlagern zu wollen.<br />
Gleichzeitig senkt sich in seinem Rücken Bräunlich-<br />
Grünes wie von oben herab, überzieht den Berg wie mit<br />
Nebelschwaden und löscht seine Kontur aus. Nicht nur<br />
der Berg bewegt sich, jede Stelle des Bildes, die ich eindringlich<br />
betrachte, beginnt sich zu rühren. Überall entsteht<br />
aber auch sogleich Gegenbewegung, die das Bild<br />
in der Ruhe hält.<br />
Das Kreuz mit den Rosen neigt sich dem Wanderer zu. Es<br />
strahlt etwas von dort oben her in die Mitte des Bildes,<br />
wo es offen, weit, gross, hell und tief ist, wo man sich<br />
aufhalten, wo man sich schwebend – und eigentlich ortlos<br />
– halten kann: mal mit dem Lichte selber scheinend,<br />
mal Licht empfangend. Schaue ich von dort auf das Gelb-<br />
Rot oben, kommt es mir so vor, als würden die Farben<br />
sich mir zuwenden, als blickten sie mich an und strahlten<br />
mir ihre Kraft und Helligkeit entgegen. Lasse ich dann<br />
137
Beiträge | Contributions<br />
meinen Blick nach rechts schweifen, indem ich mich von<br />
dem Angestrahltsein ab- und ins Blaue hinein wende,<br />
so kommt mir dies wie ein Eintauchen in eine sich wölbende<br />
Himmelsschale vor. Die Fläche weicht dort vor mir<br />
zurück, kehrt aber nach der rechten Seite wieder zu mir<br />
zurück. In diese Weite strahlt das Licht von oben hinein,<br />
mit meinem Blick in die Ferne leuchtend. Der Raum des<br />
Bildes krümmt sich, und der Eindruck ensteht von einem<br />
Raum, der mich sphärenhaft umgibt, in dessen Umkreis<br />
ich mich jedoch zugleich umherbewegen kann. Ein<br />
Raum, durchzogen von Kräften, die ich anschauend miterleben<br />
oder wenigstens momentweise erhaschen kann.<br />
Doch dieser Raum löst sich sofort auf, sobald ich ihn im<br />
Blick festhalten möchte. Dann nämlich kehrt Ruhe ein.<br />
Und ich finde mich tastend auf der Oberfläche des kleinen<br />
Bildes wieder, auf dem jeder Farbfleck eben bloss<br />
ein Farbfleck ist.<br />
Ich bemerke, dass sich die Farben noch als andres<br />
geben: In dem, was ich sehe, werde ich noch anderes gewahr.<br />
Dabei verlasse ich nie das, was ich vor Auge habe –<br />
ich sehe immer Farben. Doch eben durch diese sehe ich<br />
nicht noch anderes, sondern ich sehe anders: Ich sehe.<br />
Ich beginne ichhaft zu sehen. Dieses Ichhafte suche ich,<br />
wenn ich schaue, wenn ich male. Mir scheint, ich komme<br />
ihm dann näher, wenn es mir gelingt, die Farben auf der<br />
Fläche so zu behandeln – malend oder betrachtend –,<br />
dass sie sich regen, beweglich werden, sich auf mich zu<br />
oder von mir weg bewegen. Dann nehme ich etwas wahr,<br />
bei dessen Zustandekommen für meine Wahrnehmung<br />
ich selbst beteiligt bin, und was ich nur so lange wahrnehmen<br />
kann, als ich es hervorbringen und im Bewusstein<br />
halten kann.<br />
Der Schritt in das Bild hinein ist ein Schritt nicht nur in<br />
das Sehen, sondern in das Fühlen im Sehen hinein. Man<br />
gebraucht einen fühlenden Sinn beim Sehen. Das Ich<br />
streckt sich fühlend in das Sehen hinein. Steiner nennt<br />
es «Untertauchen» in die «flutende Farbenwelt». 9<br />
Links schliesst das Bild mit einer schrägen Kante – nicht<br />
mit dem Papierformat – ab. Dadurch ensteht der Eindruck,<br />
dass sich die Farben in der oberen Ecke stauen,<br />
verdichten und überlagern, und die Bewegungsrichtung<br />
– wie die Brandung am Felsen – in die Gegenrichtung<br />
umschlagen muss. So erhält das Kreuz die Kraft, um von<br />
dort oben in die Bildmitte hinein zu wirken. Das kann<br />
dann so erscheinen: Das Kreuz senkt sich von hinten her,<br />
fast verdeckt von dem blauen Kuppelbau, tritt neben diesen<br />
hervor und schwebt vor dem Bau.<br />
Die scheinbare Ruhe des Bildes. Alles darin birgt Bewegung<br />
in sich, der Möglichkeit nach. Alles muss in Bewegung<br />
versetzt werden durch mich. Die Bewegung<br />
überwindet die Fläche, nimmt mich in sich auf und kommt<br />
dann wieder zum Stillstand. Ich spüre bei jedem Versuch<br />
mich in das Bild hineinzubegeben: die Gegenkraft, die<br />
den Raum in der Fläche hält und bewirkt, dass das Bild<br />
überhaupt sichtbar wird. Diese Gegenkraft ist gewollt.<br />
Das Bild wird in Bewegung erlebt – Die Bewegung schafft<br />
Raum – Im Sehen ist das Ich anwesend – Das Ich schafft<br />
sich im Sehen ein fühlendes Wahrnehmungsorgan – Dieses<br />
ist wahrnehmend und hervorbringend zugleich.<br />
Anmerkungen<br />
1) Maximilian Woloschin, an Rudolf Steiner (9. August 1914),<br />
in: Sergeij O. Prokofieff, Maximilian Woloschin, Mensch, Dichter,<br />
Anthroposoph.<br />
2) Die Malerverksted in Vidaråsen, Norwegen, wurde 2009 begründet.<br />
Mitarbeiter: Arnkjell Ruud, Reidun Larsen und Tor Janicki.<br />
Leitung: Hannes Weigert.<br />
3) Malerverksted am Goetheanum in Zusammenarbeit mit Johannes<br />
Nilo und der Goetheanum Dokumentation im Rahmen<br />
der Tagung «Norden im Goetheanum - Goetheanum im Norden»<br />
(2015). Dazu: Torsten Steen, Steinerstudien, Das Goetheanum<br />
36/2015. Hannes Weigert, Gefühle werden anschaulich, Das<br />
Goetheanum 37/2015<br />
4) Rudolf Steiner, Entwurf für einen Bühnenvorhang im ersten<br />
Goetheanum für die Mysteriendramen (1914), in: Rudolf Steiner,<br />
Das malerische Werk.<br />
5) Tor Janicki im Gespräch mit Hannes Weigert, Malerverksted<br />
14. Oktober 2015<br />
6) Maximilian Woloschin (1877-1932) arbeitete 1914 zusammen<br />
mit Camilla Wandrey (1859-1941) mit Steiners Vorhang-<br />
Motiv, doch erst 1937 schuf William Scott Pyle (1889-1938)<br />
einen Bühnenvorhang (für das zweite Goetheanum). Auch die<br />
norwegische Malerin Agnes Steineger (1863-1965) und Gerard<br />
Wagner (1906-1999) griffen das Motiv auf.<br />
7) S. Anmerkung 1.<br />
8) Malerverksted 26.-30. Dezember 2014.<br />
9) Rudolf Steiner, Vortrag Dornach 26. Juli 1914, in: Rudolf Steiner,<br />
Wege zu einem neuen Baustil.<br />
Die Autoren<br />
Tor Janicki, geboren 1957 in Bergen, lebt seit 1989 in Vidaråsen<br />
und arbeitet seit 2009 in der Malerverksted.<br />
Hannes Weigert, geboren 1964 in Stuttgart, Studium der Malerei<br />
am Goetheanum in Dornach, lebt seit 2006 in Vidaråsen und<br />
arbeitet seit 2009 in der Malerverksted.<br />
138
Abbildung 1: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang IV, Malerverksted 12. Oktober 2015<br />
Abbildung 2: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang VII, Malerverksted 14. Oktober 2015<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
139
Abbildung 3: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang XI, Malerverksted 26. Oktober 2015<br />
Abbildung 4: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang XVI, Malerverksted 3. November 2015<br />
140
Abbildung 5: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang XVII, Malerverksted 3. November 2015<br />
Abbildung 6: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang IXX, Malerverksted 11. November 2015<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
141
Abbildung 7: Tor Janicki, Goetheanum-Vorhang XXII, Malerverksted 25. November 2015<br />
Abbildung 8: Rudolf Steiner, Entwurf für einen Bühnenvorhang im ersten Goetheanum, Dornach 1914 (Kunstsammlung am Goetheanum)<br />
142
Goetheanum curtain<br />
Paintings by Tor Janicki and a sketch by<br />
Rudolf Steiner<br />
By Hannes Weigert<br />
You come toward me, you are another<br />
But it sometimes seems to me<br />
You are<br />
Me. 1<br />
Last summer, the painters from Vidaråsen 2 were guests<br />
at the Goetheanum, where they were invited to set up<br />
their studio in the old joinery for two weeks in order to<br />
study Rudolf Steiner’s paintings and sculptures and to<br />
paint the Goetheanum in its landscape. 3 After returning<br />
to Norway, one of the painters, Tor Janicki, began<br />
to work with Steiner’s design for a stage curtain for<br />
the Mystery Dramas. 4<br />
What do we see in Steiner’s sketch? A man, a boat, a<br />
body of water, a cross, two mountains, the Goetheanum,<br />
a house. And what is happening in it? A man<br />
meets another man, with a boat. He stands there and<br />
waits. He has been travelling for a long time. He wants<br />
to cross in the boat, to the house on the mountain<br />
with the cross and the beautiful roses. Seven roses. 5<br />
A hundred years before Tor Janicki, in the autumn of<br />
1914, Maximilian Voloshin painted the curtain motif. 6<br />
He was forced to face the question of how the motif of<br />
encountering oneself could be portrayed in painting.<br />
After a conversation with Rudolf Steiner during this<br />
period, he wrote the words: ‹You must try to deepen<br />
your inner Seeing in order to paint from the perspective<br />
of the etheric plane – to find a path from form to<br />
movement.› 7<br />
Inner Seeing. Is there a mysticism of Seeing? Can one<br />
inwardly – from the inside – deepen Seeing? In Seeing,<br />
can one submerge oneself under the surface of the visible?<br />
Does this require inner movement that is simultaneously<br />
a setting-in-motion of the visible? Is colour<br />
the medium of this (I)-activity?<br />
Observing Steiner’s curtain sketches 8<br />
A mountainous landscape, strangely flat in its portrayal,<br />
without any spatial depth, without foreground. My<br />
first impression is that I am looking at the landscape<br />
from above. But as soon as my gaze fastens upon the<br />
small figure on the bank of the lake or river, I feel very<br />
near to it. So there is space after all. There is distance<br />
and proximity.<br />
Strange, how the path that the wanderer has travelled<br />
does not appear at the back of the picture, but rather<br />
from the right, and yet somehow still leads ‹from far<br />
away› into the picture. It comes out from behind the<br />
mountain, as if there were a hidden space behind the<br />
mountain that one cannot see but must imagine. But<br />
this space does not exist. For wherever a three-dimensional<br />
form wants to appear in the picture – and there<br />
are several of these places – there is simultaneously a<br />
sort of countermovement, which preserves the twodimensionality<br />
of the picture. A two-dimensionality<br />
that still somehow contains an unusual spatiality.<br />
One’s usual way of seeing becomes confused as soon<br />
as one becomes aware of this. But it is not an illusion.<br />
The path is interrupted in one place. It leads behind<br />
the mountain, only to reappear in another place on<br />
the same side. There is an edge of light and darkness in<br />
this area that gives the impression that the darker surface<br />
will push itself in front of the lighter surface. The<br />
mountain is set in motion, seems to want to push into<br />
the open space and superimpose itself on the light of<br />
the ground. At the same time, brownish-green sinks<br />
into its back as if from above, covers the mountain as<br />
if in wreaths of mist and obliterates its contour. Not<br />
only the mountain moves, but every spot on the picture<br />
that I look at attentively begins to stir. And yet there<br />
is the constant countermovement, which maintains<br />
the picture’s stillness.<br />
The cross with the roses leans toward the traveller.<br />
It radiates something from above into the centre of<br />
the picture, which is open, wide, large, light and deep;<br />
where one can sojourn, where one can remain floating<br />
and somehow without location, sometimes shining<br />
with the light itself, sometimes receiving light. If I look<br />
from there to the yellow-red above, it seems to me as<br />
if the colours are leaning toward me – as if they were<br />
looking at me and radiating their strength and holiness<br />
toward me. If I let my gaze wander to the right,<br />
by turning away from the radiance and turning toward<br />
the blue, it feels to me like diving into a curving bowl<br />
of heaven. There, the surface retreats from me, but returns<br />
to me on the right side. The light from above<br />
radiates into this vastness, lighting the distance with<br />
my gaze. The space of the picture bends, and gives the<br />
impression of a space that surrounds me like a sphere<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
143
Beiträge | Contributions<br />
and yet one in which I can move around. A space, permeated<br />
with forces I can experience while looking at<br />
them or at least catch momentary glimpses of. Yet this<br />
space dissolves as soon as I try to hold it fast with my<br />
gaze. Then, stillness returns. And I find myself feeling<br />
along the surface of the small picture, on which each<br />
spot is only a spot of colour.<br />
I notice that the colours also give off something else: I<br />
become aware of something else in what I see. I do not<br />
depart from what is in front of my eyes – I always see<br />
the colours. Yet at the same time, I see through them<br />
– not to something else, but rather, I see differently: I<br />
See. I begin to see with my I. I seek this I-ness when<br />
I look, when I paint. It seems to me that I come ever<br />
closer to it when I succeed in using the colours on the<br />
surface in such a way – whether painting or observing<br />
– that they move, become flexible, move toward<br />
or away from me. Then, I become aware of something<br />
in whose perception I am a participant and which I can<br />
only remain aware of as long as I call it forth and hold<br />
it in my consciousness.<br />
Stepping into the picture is not only a step into Seeing,<br />
but also a step into feeling what one Sees. One needs<br />
a feeling sense when Seeing. The I stretches feelingly<br />
into Seeing. Steiner calls this ‹diving› into the ‹flooding<br />
world of colour›. 9<br />
On the left, the picture ends with a slanted angle, instead<br />
of following the edge of the paper. This gives<br />
the impression that the colours in the upper corner are<br />
getting stuck, condensing and overlapping, so that the<br />
direction of movement has to flip, like waves hitting<br />
a cliff. This gives the cross the power to work into the<br />
middle of the picture from above. It can then appear<br />
in this way: The cross descends from the back, almost<br />
covered by the blue curve of the sky, emerges next to<br />
it and floats in front of the building.<br />
The apparent stillness of the picture. Everything in it<br />
contains movement, to the extent that it is possible.<br />
Everything must be set in motion by me. The movement<br />
overcomes the surface, takes me in, and then<br />
comes again to stillness. Each time I try to enter into<br />
the picture, I feel this: the counterforce that holds the<br />
space in two dimensions and allows the picture to be<br />
visible at all. This counterforce is intended.<br />
The picture is experienced in movement; the movement<br />
creates space; the I is present in Seeing; the I<br />
creates a feeling organ of perception in Seeing; this is<br />
simultaneously perceiving and creating.<br />
Tor Janicki, born 1957 in Bergen, lives since 1989 in Vidaråsen<br />
and works since 2009 in the Malerverksted.<br />
Hannes Weigert, born 1964 in Stuttgart, studied arts at the<br />
Goetheanum in Dornach, lives since 2006 in Vidaråsen and<br />
works since 2009 in the Malerverksted<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Notes<br />
1) Maximilian Voloshin, To Rudolf Steiner (9. August 1914), in:<br />
Sergeij O. Prokofieff, Maximilian Woloschin, Mensch, Dichter,<br />
Anthroposoph.<br />
2) The Malerverksted in Vidaråsen, Norway, was founded in<br />
2009. Co-workers: Arnkjell Ruud, Reidun Larsen and Tor Janicki.<br />
Director: Hannes Weigert.<br />
3) Malerverksted am Goetheanum in collaboration with Johannes<br />
Nilo and the Goetheanum Documentation within the<br />
framework of ‹The North at the Goetheanum – Goetheanum<br />
in the North› (2015). See: Torsten Steen, Steinerstudien, Das<br />
Goetheanum 36/2015. Hannes Weigert, Gefühle werden anschaulich,<br />
Das Goetheanum 37/2015<br />
4) Rudolf Steiner, Entwurf für einen Bühnenvorhang im ersten<br />
Goetheanum für die Mysteriendramen (1914), in: Rudolf<br />
Steiner, Das malerische Werk.<br />
5) Tor Janicki in conversation with Hannes Weigert, Malerverksted,<br />
14 October, 2015<br />
6) Maximilian Voloshin (1877-1932) worked with Camilla<br />
Wandrey (1859-1941) in 1914 on Steiner’s curtain motif, yet<br />
it was not until 1937 that William Scott Pyle (1889-1938)<br />
created a stage curtain (for the second Goetheanum). The Norwegian<br />
painter Agnes Steineger (1863-1965) und Gerard Wagner<br />
(1906-1999) also worked on this motif.<br />
7) See note 1.<br />
8) Malerverksted 26-30 December, 2014.<br />
9) Rudolf Steiner, lecture in Dornach, 26 July, 1914, in: Rudolf<br />
Steiner, Wege zu einem neuen Baustil.<br />
144
Ausbildung in Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
Von Andreas Fischer<br />
Die Entwicklung der Ausbildungsstätten für anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie spiegelt auch<br />
die Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie selbst wieder, die ihrer Entstehung,<br />
Ausbreitung und gesellschaftlichen Akzeptanz. Darum<br />
wird im folgenden Beitrag zuerst kurz auf die Geschichte<br />
eingegangen, in einem zweiten Teil auf die internationale<br />
Zusammenarbeit der Ausbildungsstätten und im dritten<br />
und letzten Teil auf die aktuellen Herausforderungen<br />
für Ausbildungsstätten.<br />
Geschichte<br />
Im Blick auf die Begründung der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
kann man drei Felder der Wirksamkeit erkennen:<br />
• Der Lauenstein in Jena, der einen sehr stark sozialen Bezug<br />
hatte und wo das Zusammenleben im Vordergrund stand.<br />
• Vor der Begründung in Jena waren schon Kinder mit Unterstützungsbedarf<br />
an der heutigen Klinik Arlesheim betreut<br />
worden – hier war das Medizinische die hauptsächliche<br />
Grundlage des Wirkens.<br />
• An der ersten Waldorfschule in Stuttgart wurde aus dem<br />
Impuls der Pädagogik eine Hilfsklasse geführt für die<br />
Kinder, die mit dem regulären Unterricht überfordert<br />
waren oder die für das Erlernen der Kulturtechniken<br />
mehr Zeit oder auch andere Methoden brauchten.<br />
Schon früh stellten sich die Initiativträger die Frage nach<br />
einer Fortbildung für die Mitarbeitenden. Bereits in den<br />
zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden im<br />
Sonnenhof in Arlesheim Einführungen für Mitarbeitende<br />
angeboten, in den dreissiger Jahren waren es schon<br />
Kurse, die sich über zehn Monate hinzogen.<br />
Hier ist anzumerken, dass der Beruf der Heilpädagogin<br />
oder des Heilpädagogen in der damaligen Zeit noch völlig<br />
unbekannt war. Das erste Heilpädagogische Seminar<br />
wurde 1924 in Zürich begründet, also im gleichen Jahr,<br />
in dem Rudolf Steiner den Heilpädagogischen Kurs hielt.<br />
Es sollte aber noch Jahrzehnte dauern, bis die Begleitung<br />
und Betreuung von Kindern mit Unterstützungsbedarf<br />
sich aus der karitativen Arbeit herauslösen und zu<br />
einem eigenständigen Berufsfeld entwickeln sollte.<br />
Die Ausbildungsbemühungen wurden durch den zweiten<br />
Weltkrieg unterbrochen, nach Kriegsende wurden sie an<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
zwei weit auseinander liegenden Orten wieder aufgegriffen:<br />
in Arlesheim am Sonnenhof und in der Camphill Gemeinschaft<br />
in Aberdeen. Ostern 1948 begann der erste<br />
Kurs mit zwölf Auszubildenden am Sonnenhof – dieser<br />
Beginn darf als Geburtsstunde des Ausbildungsimpulses<br />
auf anthroposophischer Grundlage betrachtet werden<br />
–, nur ein Jahr später waren es zwanzig Menschen,<br />
die in Aberdeen dank der Impuls- und Initiativkraft von<br />
Karl König trotz schwierigster äusserer Umstände die<br />
Ausbildung beginnen konnten.<br />
Aus heutiger Sicht ist zu bedenken, dass in dieser Zeit<br />
fast alle Teilnehmenden des Ausbildungsganges am<br />
Sonnenhof durch die Geschehnisse des Krieges traumatisiert<br />
und gesundheitlich angegriffen waren. Darum<br />
diente das künstlerisch-therapeutische Angebot in der<br />
Ausbildung primär der körperlichen und seelischen Regeneration<br />
der Teilnehmenden. Jeden Tag bekamen sie<br />
Heileurythmie-Unterricht und alle wurden auch medizinisch<br />
betreut. Die Ausbildung war in die tägliche Arbeit<br />
integriert, morgens zwischen sechs und sieben<br />
Uhr stand das Studium von Grundlagenwerken auf dem<br />
Stundenplan, weitere Kurse wurden in der Mittagszeit<br />
und abends angeboten. Die Entlohnung war kärglich,<br />
man wohnte zu zweit in einem Zimmer und der Beruf<br />
liess kein Privatleben zu.<br />
Mit den Jahren wurde die Ausbildung inhaltlich ausgeweitet<br />
und stärker strukturiert. Bereits in den sechziger Jahren<br />
wurde unterschieden zwischen einer Grundausbildung in<br />
einer Institution und einem Vertiefungsjahr im mittlerweile<br />
begründeten Seminar in Eckwälden, später kam noch das<br />
Heilpädagogische Seminar in Dornach dazu.<br />
Die anthroposophisch-heilpädagogische Bewegung breitete<br />
sich vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des<br />
letzten Jahrhunderts sehr stark aus, dies führte zu einer<br />
Vielzahl an Neugründungen von Institutionen und später<br />
Ausbildungsstätten in den verschiedensten Ländern.<br />
Dabei wurde deutlich, dass die Bedingungen für Ausbildungsstätten<br />
auf anthroposophischer Grundlage in<br />
den verschiedenen Ländern nicht unterschiedlicher sein<br />
könnten. In vielen Ländern sind die Ausbildungsstätten<br />
heute Teil der Bildungslandschaft und die Abschlüsse<br />
dadurch offiziell anerkannt. Diese offizielle Anerkennung<br />
ist zwar verbunden mit Regelungen z.B. in Bezug<br />
145
Beiträge | Contributions<br />
auf Aufnahmebedingungen, Prüfungen, Abschlüsse und<br />
auch Inhalte, doch es zeigt sich, dass die anthroposophischen<br />
Grundlagen trotzdem den ihnen angemessenen<br />
Raum einnehmen können. In andern Ländern ohne heilpädagogische<br />
Tradition leisten Institutionen und Ausbildungsstätten<br />
oft Pionierarbeit und werden im Gegensatz<br />
zu den in der Bildungssystematik des Landes integrierten<br />
Initiativen nicht finanziell unterstützt.<br />
Im Rahmen der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
waren stets alle Ausbildungsstätten vertreten<br />
und es fand ein Austausch statt. Doch es zeigte sich<br />
immer deutlicher, dass in vielen Fragen wie Curriculum,<br />
Methodik und Didaktik, Rolle der Kunst und der Anerkennung<br />
durch die Medizinische Sektion eine verbindlichere<br />
Form der Zusammenarbeit notwendig wäre.<br />
Internationale Zusammenarbeit<br />
Nach guter Vorbereitung und vielen gemeinsamen Treffen<br />
in Kassel (DE) konnte im Jahre 2002 der internationale<br />
Ausbildungskreis der Konferenz für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in der Medizinischen Sektion als verbindlicher<br />
Zusammenschluss aller Ausbildungsstätten in<br />
Kassel begründet werden.<br />
In einem Grundlagenpapier wurden für den Ausbildungskreis<br />
folgende Aufgaben festgehalten:<br />
• Gemeinsame Bearbeitung von Fragestellungen,<br />
• Erforschung von Ausbildungsgrundlagen,<br />
• Anregung zur Förderung von Forschung,<br />
• Entwicklung eines Instrumentes zur Vergleichbarkeit und<br />
Anerkennung von Ausbildungsgängen,<br />
• Qualitätsentwicklung und Zusammenarbeit mit Fachwissenschaften.<br />
Seit gut zwanzig Jahren treffen sich jedes Jahr fünfzig bis<br />
sechzig Persönlichkeiten in Kassel, um sich auszutauschen<br />
und Fragestellungen zu bearbeiten. In Vorträgen,<br />
Arbeitsgruppen und künstlerischen Einheiten erfolgte im<br />
Laufe der letzten zwanzig Jahre jeweils die Auseinandersetzung<br />
mit einem für die Ausbildung relevanten Thema.<br />
Vorbereitet wird das Treffen vom Ausbildungsrat, einer<br />
kleinen, vom Ausbildungskreis für jeweils vier Jahre gewählten<br />
Gruppe. Die Mitgliedschaft im Ausbildungskreis<br />
kann durch eine Ausbildungsstätte mittels einer schriftlichen<br />
Erklärung an das Sekretariat in Dornach beantragt<br />
werden, von den Mitgliedern wird eine regelmässige Teilnahme<br />
an den Treffen in Kassel erwartet.<br />
Faszinierend für die Zusammenarbeit ist die grosse Unterschiedlichkeit<br />
in der Verwirklichung des Ausbildungsimpulses<br />
in den verschiedenen Ländern. Von dieser<br />
Wahrnehmung können auch Mitarbeitende und Verantwortliche<br />
von etablierten Ausbildungsstätten profitieren,<br />
denn es geht nicht darum, den noch nicht etablierten<br />
Ausbildungen zu zeigen, was Ausbildung heisst. Die Mitglieder<br />
des Ausbildungskreises sind ausserordentlich<br />
beeindruckt und nehmen mit grossem Respekt wahr, wie<br />
Ausbildung sich auch unter schwierigsten ökonomischen<br />
und gesellschaftlichen Bedingungen verwirklichen lässt<br />
und mit welchem Enthusiasmus die Verantwortlichen<br />
diese Aufgabe realisieren und durchtragen. Ein äusseres<br />
Bild für die Unterschiedlichkeit und Internationalität des<br />
Ausbildungskreises ist der morgendliche Arbeitsauftakt<br />
während der Treffen, wenn da jeweils ein kurzer Satz aus<br />
dem Heilpädagogischen Kurs oder ein Spruch in fünfzehn<br />
verschiedenen Sprachen ertönt – unmittelbar ist<br />
da eine innerliche Weitung beobachtbar.<br />
Drei grössere Projekte wurden im Rahmen des Ausbildungskreises<br />
in den letzten Jahren realisiert:<br />
Ausbildung für Ausbildner<br />
Dies von der EU unterstütze Projekt ermöglichte durch<br />
aktives Mitwirken von Praxisbegleitenden, Ausbildern<br />
und Künstlerinnen und Künstlern die Erforschung des so<br />
genannten trialen Ansatzes, nämlich der gleichberechtigten<br />
Gewichtung von Praxis, Kunst und Theorie im Rahmen<br />
der Ausbildung. Später konnte auf der erarbeiteten<br />
Grundlage ein Kurs für die Qualifizierung von Ausbildenden<br />
in den Ländern Kirgistan, Russland, Ukraine und Georgien<br />
realisiert werden.<br />
Handbuch für Ausbildungsstätten<br />
Im Jahre 2001 konnte die umfangreiche Arbeit an einem<br />
gemeinsamen Handbuch für Ausbildungsstätten abgeschlossen<br />
werden. Dieses wurde dann auch zum<br />
verbindlichen Referenzpunkt der Zusammenarbeit im<br />
Ausbildungskreis. Das Handbuch als umfassende Darstellung<br />
der Grundlagen und Methodik der anthroposophischen<br />
Ausbildungsstätten konnte ebenfalls im<br />
Rahmen eines EU-Projektes realisiert werden, die Trägerschaft<br />
bildete die Europäische Kooperation für anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie (ECCE).<br />
Im Laufe der Jahre wurde das Handbuch in verschiedene<br />
Sprachen übersetzt, aber es wurde auch deutlich,<br />
dass ein Handbuch in der heutigen, schnelllebigen Zeit<br />
relativ rasch an Aktualität einbüsst. So entstand in den<br />
letzten drei Jahren als Frucht der Arbeit des Ausbildungskreises<br />
ein neues Dokument, das in kurzer Form und<br />
verständlicher Sprache die grundlegenden Anliegen an-<br />
146
Beiträge | Contributions<br />
throposophischer Ausbildung deutlich macht. Die Charta<br />
«Berufliche Bildung» dient sowohl der Orientierung nach<br />
Innen – den Ausbildungsstätten – wie auch nach Aussen<br />
zur Transparenz zu Behörden, zu Studierenden und anderen<br />
Ausbildungen. An der letzten Sitzung in Kassel hat<br />
der Ausbildungskreis die Charta «Berufliche Bildung»<br />
einstimmig genehmigt und für fünf Jahre in Kraft gesetzt.<br />
Die Charta soll auch in viele Sprachen übersetzt werden.<br />
Anerkennung im Rahmen des Ausbildungskreises<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Im Rahmen der Anerkennung der Ausbildungsstätten hat<br />
der Ausbildungskreis neue Wege beschritten. Die Anerkennung<br />
einer Ausbildungsstätte sollte nicht mehr wie<br />
früher von einem Zentrum ausgehen, sondern das Ergebnis<br />
einer Peer-Evaluation sein. So wurde ein Verfahren<br />
entwickelt, das die Schritte, die zu einer Anerkennung<br />
als anthroposophische Ausbildungsstätte für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie führen, genau definiert und<br />
im Papier «Anerkennung im Netzwerk der Ausbildungen»<br />
schriftlich fixiert. Die Verantwortung für die Umsetzung<br />
des Verfahrens delegierte der Ausbildungskreis an<br />
eine Anerkennungsgruppe, die vom Kreis für vier Jahre<br />
gewählt wird. Die Ausbildungsstätte, die eine interne Anerkennung<br />
anstrebt, muss zuerst alle relevanten Papiere<br />
einreichen und die in einem Fragebogen aufgeführten<br />
Fragen schriftlich beantworten. Ein Kriterium zur Anerkennung<br />
ist die regelmässige Teilnahme an den Treffen<br />
in Kassel und die Orientierung am Handbuch, jetzt neu<br />
an der Charta «Berufliche Bildung». Erfüllt sie die Voraussetzungen<br />
zur Anerkennung, erfolgt ein Besuch vor<br />
Ort durch eine Kollegin oder einen Kollegen aus einer anderen<br />
Ausbildungsstätte. Bei diesem Besuch werden Dokumente<br />
geprüft und Gespräche mit Verantwortlichen,<br />
Praxisbegleitenden und Studierenden geführt. Aufgrund<br />
dieses Eindruckes wird im positiven Fall ein Bericht mit<br />
einer Empfehlung zur Anerkennung an die Anerkennungsgruppe<br />
übermittelt, die dann ihrerseits die Unterzeichnung<br />
des offiziellen Zertifikates im Rahmen der<br />
Konferenz in die Wege leitet. Es kann der Fall eintreten,<br />
dass eine Ausbildungsstätte noch Nachbesserungen machen<br />
muss und erst dann die Anerkennung erhält. Die<br />
Anerkennung ist fünf Jahre gültig, nachher findet eine Rezertifizierung<br />
aufgrund der neu eingereichten Unterlagen<br />
und einem Gespräch in Kassel statt.<br />
Das Verfahren wird seit zehn Jahren erprobt und hat sich<br />
mit leichten Anpassungen auch bestens bewährt, weil es<br />
auf die verschiedenen Bedürfnisse der Länder eingehen<br />
und auch den Umfang einer Ausbildung als Grundbildung,<br />
Fortbildung, Einführungskurs oder einmalig durchgeführter<br />
Ausbildungsgang mit berücksichtigen kann.<br />
Einige Ausbildungsstätten haben sich im Laufe der letzten<br />
zehn Jahre verändert, haben sich mit anderen Initiativen<br />
zusammengeschlossen oder ihre Tätigkeit eingestellt.<br />
Stand Herbst 2015: 35 Ausbildungsstätten aus 18<br />
Ländern (USA, Deutschland, Schweden, Dänemark,<br />
Tschechien, Russland, Schottland, Georgien, Belgien,<br />
Holland, Brasilien. Kirgistan, Italien, Libanon, Ukraine,<br />
Österreich, Argentinien und Schweiz) haben das Verfahren<br />
durchlaufen und wurden anerkannt. Zwei einmalig<br />
durchgeführte Ausbildungsgänge in Kolumbien und Teneriffa<br />
wurden separat anerkannt, 16 Ausbildungsstätten<br />
haben bereits die Rezertifizierung durchlaufen.<br />
Aktuelle Herausforderungen<br />
Im klassischen Sinne wurde früher unter anthroposophischer<br />
Heilpädagogik vorwiegend die Begleitung, Förderung<br />
und Unterstützung von Menschen mit kognitiven<br />
Beeinträchtigungen verstanden. Heute ist das Spektrum<br />
der Aufgabenstellungen viel breiter, auch sind wir in der<br />
Praxis mit neuen Herausforderungen durch die Komplexität<br />
der Erscheinungsbilder von Behinderungen der Menschen<br />
mit Unterstützungsbedarf konfrontiert. Zudem<br />
entstehen neue Aufgabenfelder durch gesellschaftliche<br />
Herausforderungen und politische Wirren, denen sich<br />
die anthroposophische Heilpädagogik stellen muss.<br />
Die zentralen Leitideen der Arbeit haben sich verändert,<br />
heute sind die Paradigmen von Selbstbestimmung, Teilhabe<br />
und Inklusion für die Begleitungsarbeit massgebend.<br />
Der Miteinbezug der Angehörigen ist zur Selbstverständlichkeit<br />
geworden, das Normalisierungsprinzip hat in<br />
Bezug auf das Zusammenleben in den Institutionen seine<br />
Auswirkungen gezeigt, auch der Begriff der Gemeinschaft<br />
hat nicht mehr die gleiche Strahlkraft wie früher.<br />
Das Umgehen mit Macht und Gewalt im heilpädagogischen<br />
und sozialtherapeutischen Alltag ist eine weitere<br />
Herausforderung, mit der die Menschen in der Praxis<br />
konfrontiert werden. In vielen Ländern wurde in den letzten<br />
Jahrzehnten die Begleitungs- und Betreuungsarbeit<br />
stärker reglementiert und staatliche Anforderungen in<br />
Bezug auf Berufsabschlüsse wurden festgelegt. Als weitere<br />
Stichworte wären zu nennen: Formalisierungsdruck,<br />
Qualitätssicherung, Kompetenzorientierung, Dokumentation<br />
und Darstellung der anthroposophischen Grundlagen.<br />
Alle diese Veränderungen führten und führen in der<br />
Praxis immer wieder zu Verunsicherungen. Ausbildungsstätten<br />
sind herausgefordert, ihre Studierenden so zu<br />
147
Beiträge | Contributions<br />
begleiten, dass sie mit den durch die neuen Leitmotive<br />
entstehenden Spannungsfeldern, den sich verändernden<br />
Bedingungen und der zunehmenden Komplexität<br />
der Aufgabenstellungen konstruktiv umgehen können.<br />
So kann es heute nicht mehr darum gehen, dass in einer<br />
Ausbildung nur Inhalte des anthroposophischen Menschenverständnisses<br />
vermittelt werden. Die Studierenden<br />
sollen für den Fachdiskurs mit nicht-anthroposophischen<br />
Kolleginnen und Kollegen vorbereitet werden, gleichzeitig<br />
müssen sie aber auch die zentralen Motive der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie kennen<br />
und fruchtbar umsetzen und realisieren können.<br />
Gefordert ist eine Öffnung und Verbreiterung, die aber<br />
nicht zu einem Verlust der zentralen Werte führen darf<br />
– eine spannende und nicht immer ganz einfache Herausforderung.<br />
Etwas anders gestaltet sich die Situation<br />
in Ländern, wo Heilpädagogik und Sozialtherapie noch<br />
nicht auf eine Tradition zurückblicken können: Hier sind<br />
es oft schon qualifizierte Berufsleute, die in einer Ausbildungsstätte<br />
gezielt die Erweiterung ihres beruflichen<br />
Selbstverständnisses durch das anthroposophische<br />
Menschenverständnis suchen, die das allgemein aktuelle<br />
Fachwissen schon mitbringen.<br />
Ausbildung ist für die Zukunft der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie ausgesprochen wichtig.<br />
Denn es kann und darf heute nicht mehr darum<br />
gehen, alte Formen, Gebräuche und Methoden zu bewahren<br />
und zu tradieren, sondern auf aktuelle gesellschaftliche<br />
Herausforderungen im Bereich Bildung und<br />
Erziehung neue und adäquate – aus den anthroposophischen<br />
Grundlagen heraus entwickelte – Antworten zu<br />
geben. Dieser Aufgabe fühlen sich die Ausbildungsstätten<br />
verpflichtet und möchten sie im Dialog mit den von<br />
Behinderung betroffenen Menschen und ihren Angehörigen,<br />
der Praxis und der Fachwelt auch wahrnehmen und<br />
so einen Beitrag zur Entwicklung in die Zukunft leisten.<br />
Dr. Andreas Fischer ist klinischer Heilpädagoge,<br />
langjähriger Mitarbeiter und<br />
Leiter heilpädagogischer Einrichtungen,<br />
seit 2008 Leiter der Höheren Fachschule<br />
für Heilpädagogik in Dornach.<br />
Professional training in Curative Education and<br />
Social Therapy<br />
By Andreas Fischer<br />
The development of training centres for anthroposophic<br />
curative education and social therapy reflects the history<br />
of anthroposophic curative education and social therapy<br />
itself – the history of its genesis, its spread, and its<br />
social acceptance. Therefore, we will first look briefly at<br />
its history, then, in the second section, at the international<br />
collaboration of training centres, and at the current<br />
challenges for training centres in the third section.<br />
History<br />
Anthroposophic curative education began in three areas:<br />
• The Lauenstein in Jena, which was strongly involved<br />
with social issues, and in which community living<br />
was emphasized.<br />
• Before the Lauenstein was established in Jena, children<br />
in need of special care were already being taken<br />
care of at what is now the Arlesheim Clinic – here,<br />
medical care was the main focus of activity.<br />
• In the first Waldorf school in Stuttgart, pedagogical<br />
initiative led to a special class for children who were<br />
struggling with the regular classes or who needed<br />
more time or alternative methods for learning basic<br />
academic skills.<br />
Quite early on, the question of training for co-workers<br />
presented itself to the those carrying the initiative. As<br />
early as the 1920s, introductions were offered for coworkers<br />
at the Sonnenhof in Arlesheim, and by the<br />
1930s there were already courses lasting ten months.<br />
It is important to note here that Curative Education<br />
as a profession was still completely unknown at this<br />
time. The first curative education seminar was founded<br />
in Zürich in 1924 by Rudolf Steiner – the same<br />
year in which he held the Curative Education Course.<br />
But it was decades before the accompaniment and<br />
care of children with special needs became separate<br />
from charitable work and developed into a distinct<br />
professional field.<br />
Efforts to develop a training were interrupted by<br />
World War II; after the war, they were taken up again<br />
in two places: At the Sonnenhof in Arlesheim and in<br />
the Camphill Community in Aberdeen. The first course<br />
at the Sonnenhof began at Easter of 1948 with twelve<br />
students – this can be seen as the birth of the training<br />
148
Medizinische Sektion<br />
der Freien Hochschule<br />
für Geisteswissenschaft<br />
am Goetheanum<br />
Konferenz<br />
für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
Internationaler<br />
Ausbildungskreis<br />
Charta<br />
Berufliche Bildung<br />
Präambel<br />
Die anthroposophisch orientierte Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie ist eine weltweit verbreitete Bewegung.<br />
Ihre beruflichen Bildungszentren sind eingebettet in ihre<br />
jeweiligen kulturellen, sozialen und bildungspolitischen<br />
Bezüge. Da sich die lokalen Arbeitsfelder fortwährend<br />
verändern und immer wieder neue Tätigkeitsbereiche<br />
entstehen, unterscheiden sich gleichfalls die daraus<br />
resultierenden Anforderungen an die jeweiligen Formen<br />
der beruflichen Bildung.<br />
Berufliche Bildungsgänge für anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie befähigen Studierende<br />
dazu, vor dem Hintergrund des von Rudolf Steiner<br />
entwickelten Menschenverständnisses in komplexen<br />
Lebenssituationen professionelle Hilfe und Unterstützung<br />
anzubieten. Dabei wird der geistige Wesenskern<br />
jedes Menschen als intakt und unverletzlich erachtet.<br />
Entwicklungsstörungen und Behinderungen können<br />
auftreten, wenn seelische, körperliche oder soziale Widerstände<br />
der eigenen individuellen biographischen<br />
Verwirklichung entgegenstehen. Bildungsgänge der<br />
anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
befähigen Studierende, Menschen mit Beeinträchtigungen<br />
bei ihrer Selbstverwirklichung zu unterstützen. Was<br />
sie weltweit eint, ist ihre Orientierung am anthroposophischen<br />
Menschenverständnis und die international<br />
vernetzte Zusammenarbeit an den Grundlagen des Bildungsgeschehens.<br />
Hierzu zählen:<br />
1. das Verständnis jedes Menschen als Akteur seiner<br />
Biographie und die Befähigung, Menschen mit Beeinträchtigungen<br />
bei der Gestaltung eines Lebensraumes zu<br />
unterstützen, der ihre Selbstverwirklichung bestmöglich<br />
fördert<br />
2. das Studium geschichtlicher, gesellschaftlicher und<br />
fachwissenschaftlicher Dimensionen von Behinderung<br />
sowie die Erarbeitung und Vertiefung des von Rudolf<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Steiner begründeten Verständnisses der menschlichen<br />
Entwicklung<br />
3. ein Qualifikationsprofil, das die Lernenden dahin<br />
führen soll, Situationen in ihrer Einmaligkeit wahrzunehmen<br />
und zu verstehen, um vor dem Hintergrund ihrer<br />
fachlich-methodischen Fähigkeiten in der individuellen<br />
Begegnung intuitiv handeln und das Geschehene reflektieren<br />
zu können<br />
4. Lernwege, die über eine künstlerische Durchdringung<br />
von theoretischem Studium einerseits und praktischem<br />
Erfahrungslernen andererseits zum Erwerb dialogischgestalterischer<br />
Fähigkeiten führen<br />
5. die Entwicklung einer Kultur der beruflichen Bildung,<br />
in der durch kollegiale Zusammenarbeit unter Einbeziehung<br />
der Studierenden sowie durch lokal und international<br />
vernetzte Kooperation die Grundlage einer an<br />
gemeinsamen Leitbildern orientierten Arbeit gelegt wird<br />
6. die fortwährende fachliche Weiterentwicklung der Bildungsgänge<br />
durch Selbstevaluation, intensiven Dialog<br />
mit anderen konzeptionellen Ansätzen und eine eigenständige<br />
Forschungskultur. ...<br />
Diese Bildungswege sind Ausgangspunkt für eine<br />
nachhaltige professionelle Tätigkeit und für eine Berufsbiografie,<br />
die die Studierenden dazu qualifiziert,<br />
individuelle, an der unverletzlichen Würde des einzelnen<br />
Menschen orientierte Impulse immer wieder neu<br />
zu verwirklichen. In kollegialen und gemeinschaftlichen<br />
Zusammenhängen wirken sie so an der Gestaltung einer<br />
humanen Zukunft mit. Auf Basis der anthroposophischen<br />
Geisteswissenschaft befinden sich die beruflichen<br />
Bildungsgänge dieses Netzwerkes innerhalb des allgemeinen<br />
gesellschaftlichen Diskurses, der aktuellen Entwicklungen<br />
in diesem Berufsfeld und der für dieses Feld<br />
relevanten Wissenschaften.<br />
Vollständiger Text auf: khsdornach.org/Ausbildung<br />
149
Medical Section<br />
School of Spiritual<br />
Science<br />
Goetheanum<br />
Charter<br />
on Professional Education<br />
Curative Education and<br />
Social Therapy Council<br />
International<br />
Training Group<br />
Preamble<br />
Anthroposophical Curative Education and Social Therapyw<br />
are a global movement. Each of its professional<br />
education centers is embedded in a particular cultural,<br />
social and political landscape. New fields of work<br />
continue to develop and the tasks and challenges vary<br />
across local contexts. This is also reflected in the diversity<br />
of requirements for professional education<br />
programs.<br />
Professional education in Anthroposophical Curative<br />
Education and Social Therapy enables students to<br />
offer qualified help and support to persons in complex<br />
life situations, based on the understanding of the<br />
human being developed by Rudolf Steiner. According<br />
to this view each person has a spiritual essence thawt<br />
is unimpaired and inviolable. Developmental disorders<br />
and disabilities can occur when psychological, physical<br />
or social challenges stand in the way of an individual’s<br />
self-actualization. Professional education programs in<br />
Anthroposophical Curative Education and Social Therapy<br />
enable students to support people with disabilities<br />
in their self-actualization. What unites them across<br />
the world is their underlying view of the human being,<br />
which arises from anthroposophy, and the international<br />
network that endeavors to establish shared principles<br />
for professional preparation.<br />
These shared principles include:<br />
1. The view of individuals as agents of their own biography<br />
and the need to support people with disabilities<br />
in shaping their life spaces in ways that best<br />
support their self-actualization<br />
2. The study of the view of disability in history, society<br />
and academic discourse and the pursuit of a deepened<br />
understanding of human development out of the perspective<br />
introduced by Rudolf Steiner<br />
3. A profile of educational goals that supports the<br />
students’ understanding of the uniqueness of each situation,<br />
their ability to intuitively shape their response<br />
to each case with the help of appropriate professional<br />
tools and methods, and their capacity to reflect on<br />
what has taken place<br />
4. Ways of learning that enable students to acquire<br />
dialogical and creative skills on the basis of an artistic<br />
approach to theory and practical experience<br />
5. An educational culture in which collegial cooperation<br />
that includes the students, as well as local and<br />
international networking, form the foundation for<br />
working, in accordance with a shared vision<br />
6. Ongoing professional development through selfevaluation,<br />
intensive dialogue with other approaches<br />
and the development of a culture of research and<br />
inquiry.<br />
...<br />
Professional preparation programs are intended to<br />
form the starting point for a viable professional biography<br />
that enables the individual practitioner to find<br />
ever-new ways of bringing impulses to life that are<br />
guided by respect for the inviolable dignity of each<br />
individual. Embedded within collegial communities of<br />
practice, practitioners will play a part in the shaping<br />
of a future society. While the professional education<br />
programs included in this international network are<br />
rooted in anthroposophical spiritual science, they also<br />
take active part in the general discourse on current developments<br />
in society, in their professional fields and<br />
in the relevant academic disciplines.<br />
Full text at: www.en.khsdornach.org/training<br />
150
Beiträge | Contributions<br />
initiative based on anthroposophy. A year later, twenty<br />
people were able to begin their training in Aberdeen,<br />
despite the most difficult external circumstances and<br />
thanks to the strength and initiative of Karl König.<br />
Looking back, we must keep in mind that almost all<br />
of the training course participants at Sonnenhof were<br />
emotionally and physically traumatized by the events<br />
of the war. For this reason, the artistic therapy section<br />
of the training was primarily geared toward participants’<br />
physical and emotional regeneration. They<br />
had daily curative eurythmy lessons, and all of them<br />
were in the care of a physician. The training was integrated<br />
into daily work: foundational works were<br />
studied in the morning between 6am and 7am, and<br />
further courses were offered at lunch time and in the<br />
evenings. Compensation was meagre, trainees lived in<br />
shared rooms, and the profession did not allow for<br />
any private life.<br />
Over the years, the training content expanded and became<br />
more structured; by the 1960s there was a distinction<br />
between foundational training in an institution and<br />
a year of in-depth studies at the Eckwälden Seminar,<br />
which had been established in the meantime. Later, the<br />
Curative Education Seminar in Dornach was added.<br />
The anthroposophic curative education movement expanded<br />
most quickly in the 1970s and ‘80s, leading<br />
to the establishment of multiple new institutions and<br />
later training centres in various countries.<br />
In the process, it became clear that the conditions for<br />
anthroposophically-based training centres in different<br />
countries could not be more varied. In many countries,<br />
the training centres are now an accepted part<br />
of the world of higher education and the diplomas<br />
are officially recognized. This official recognition is of<br />
course tied to regulations regarding conditions for acceptance,<br />
exams, certifications, and even content, but<br />
the anthroposophic foundations have shown themselves<br />
capable of finding enough space within these<br />
constraints. In those countries without a curative education<br />
tradition, institutions are often doing pioneer<br />
work and, in contrast to the initiatives integrated into<br />
the educational system, are not financially supported.<br />
Within the framework of the Council for Curative Education<br />
and Social Therapy, all training centres have always<br />
been represented and there has always been a<br />
lively exchange. However, it has become increasingly<br />
clear that a more mandatory form of collaboration is<br />
necessary regarding questions of curriculum, methodology<br />
and pedagogy, the role of art, and recognition<br />
by the Medical Section.<br />
International collaboration<br />
After much preparation and many meetings in Kassel<br />
[Germany], the International Training Circle of the<br />
Council for Curative Education and Social Therapy in<br />
the Medical Section was founded in Kassel in 2002 as<br />
a mandatory consortium of all training centres.<br />
The following Training Circle tasks were laid out in a<br />
mission statement:<br />
• Cooperative processing of issues,<br />
• Investigation of the foundations of training,<br />
• Active support of research,<br />
• Development of an instrument for comparison and<br />
accreditation of training courses,<br />
• Quality development and collaboration with specific<br />
sciences.<br />
Fifty to sixty individuals have been meeting every year<br />
in Kassel for over twenty years, to communicate and<br />
to process questions. Each year, a relevant topic is explored<br />
in lectures, work groups and artistic workshops.<br />
The meeting is prepared by the Training Council, a<br />
small group chosen by the Training Circle every four<br />
years. Membership in the Training Circle can be applied<br />
for by a training centre via a written statement to the<br />
Secretariat in Dornach; members are expected to participate<br />
regularly in the meeting in Kassel.<br />
The variation in the realization of the training impulse<br />
in different countries is a fascinating aspect of this collaboration.<br />
Co-workers and directors in established training<br />
centres can also benefit from this perspective, as<br />
the goal of the meetings is not for established training<br />
courses to show the others what training is. The members<br />
of the Training Circle are extremely impressed with<br />
how training courses are able to be realized even under<br />
the most difficult economic and social conditions and<br />
with the enthusiasm with which those responsible carry<br />
out this task. During the meeting, the beginning of each<br />
day represents an external manifestation of the variety<br />
and internationality of the Training Circle, when a short<br />
passage from the Curative Education Course or a verse<br />
is read in fifteen different languages – this creates an<br />
immediately observable inner expansion.<br />
In recent years, three larger projects were realized by<br />
the Training Circle:<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
151
Beiträge | Contributions<br />
Training for educators<br />
This project, which was supported by the EU and the<br />
active participation of practical workers, educators and<br />
artists, made possible what is called the triad approach<br />
– the equal status of practical work, art and theory<br />
within the framework of the training. We were also<br />
able to realize a certification course for educators in<br />
Kyrgyzstan, Russia, the Ukraine and Georgia based on<br />
this foundation.<br />
Handbook for training centres<br />
In 2001, extensive work on a common handbook<br />
for training centres was finalized. It was then made<br />
a mandatory reference for the collaboration in the<br />
Training Circle. Part of an EU project funded by the<br />
European Cooperation for anthroposophic Curative<br />
Education and Social Therapy (ECCE), the handbook<br />
gives a comprehensive description of the foundations<br />
and methodology for anthroposophic training centres.<br />
Over the years, the handbook has been translated<br />
into various languages, but it has become clear that a<br />
handbook becomes outdated relatively quickly in our<br />
current, fast-paced life. Therefore, the Training Circle<br />
has created a new document in the last three years,<br />
which clearly and concisely outlines basic information<br />
on anthroposophic training courses. This ‹Professional<br />
Training› charter serves both as an internal orientation<br />
point for the training centres and for external transparency<br />
in our dealings with public agencies, students<br />
and other training courses. At the last meeting in Kassel,<br />
the Training Circle unanimously approved the ‹Professional<br />
Training› charter for a five-year period. The<br />
charter is also intended to be translated into many<br />
languages.<br />
Accreditation within the framework of the Training<br />
Circle<br />
The Training Circle has forged new paths regarding<br />
official recognition of training centres. In the future,<br />
recognition will no longer be issued from a central<br />
institution, but will be the result of peer evaluation.<br />
The Circle developed a process which precisely defines<br />
the steps leading to recognition as an anthroposophic<br />
training centre for curative education and social therapy,<br />
as delineated in the paper ‹Recognition within<br />
the network of trainings› [‹Anerkennung im Netzwerk<br />
der Ausbildungen›]. The Training Circle delegated responsibility<br />
for putting the process into practice to the<br />
Recognition Group, which is chosen every four years<br />
by the Circle. Training centres seeking internal recognition<br />
are required to submit all relevant documents<br />
and to compose written responses to all questions in<br />
a questionnaire. Criteria for recognition include regular<br />
participation in the Kassel meetings and following<br />
the guidelines in the handbook, now the ‹Professional<br />
Training› charter. Once these prerequisites for recognition<br />
are fulfilled, the centre will receive a visit from a<br />
colleague from another training centre. This colleague<br />
will examine documents and conduct interviews with<br />
those in charge, with those involved in the practical<br />
work, and with students. If the impressions from this<br />
visit are favourable, the colleague will submit a report<br />
with a recommendation for recognition to the Recognition<br />
Group, which then begins the official certification<br />
process within the Council. Sometimes, the<br />
training centre may need to make improvements before<br />
receiving recognition. Official recognition is valid<br />
for five years, after which there will be a recertification<br />
process based on submission of new documents and<br />
an interview in Kassel.<br />
This process, with some minor improvements, has been<br />
followed for ten years with good results, as it can take<br />
into account the various needs of the countries as well<br />
as the scope of the training (foundational training,<br />
continuing training, introductory course, or non-recurring<br />
training). Some training centres have changed<br />
over the course of ten years, have been combined with<br />
other initiatives, or have discontinued training.<br />
As of the autumn of 2015, 35 training centres in 18<br />
countries (USA, Germany, Sweden, Denmark, the<br />
Czech Republic, Russia, Scotland, Georgia, Belgium,<br />
the Netherlands, Brazil, Kyrgyzstan, Italy, Lebanon,<br />
the Ukraine, Austria, Argentina and Switzerland) have<br />
completed the certification process and are now officially<br />
recognized. Two non-recurring training courses<br />
in Columbia and Tenerife were recognized separately,<br />
and 16 training centres have already completed the<br />
recertification process.<br />
Current challenges<br />
Traditionally, anthroposophic curative education was<br />
understood as the accompaniment, promotion and<br />
support of people with cognitive disabilities. Today, the<br />
spectrum of tasks is much broader, and we are confronted,<br />
in practice, with new challenges due to the<br />
152
Beiträge | Contributions<br />
complex manifestations of disabilities in people who<br />
need support. In addition, new tasks are generated by<br />
societal challenges and political troubles and need to<br />
be addressed by anthroposophic curative education.<br />
The central ideas of the work have changed; today, the<br />
paradigms of self-determination, participation and inclusion<br />
are standard in support work. Including family<br />
members is now a matter of course, the normalization<br />
principle has shown its effects as regards lifesharing<br />
in the institutions, and the concept of community no<br />
longer has the charisma it once had.<br />
Dealing with power and authority in curative education<br />
and social therapeutic daily life is a further challenge<br />
which confronts us in practice. In many countries,<br />
support and care work has been severely regulated in<br />
recent decades, and new, fixed requirements related<br />
to professional training have taken effect. Other notable<br />
challenges are the pressure to formalize, quality<br />
assurance, the emphasis on competence, documentation,<br />
and the representation of anthroposophic basic<br />
principles. All of these changes lead and have led to<br />
uncertainties in practical life. Training centres are challenged<br />
to educate their students in such a way that<br />
they are able to successfully handle the areas of conflict,<br />
the changing circumstances, and the increasing<br />
complexity of the work caused by these new issues.<br />
It is no longer sufficient for a training course to merely<br />
convey the foundations of the anthroposophic<br />
understanding of the human being. Students must be<br />
prepared for professional discussion with non-anthroposophic<br />
colleagues, while also developing knowledge<br />
of the central aspects of anthroposophic curative education<br />
and social therapy and the ability to creatively<br />
put them into practice.<br />
What is required is an opening and broadening, while<br />
not losing sight of the central values – an exciting<br />
and not-always-simple challenge. Things look somewhat<br />
different in countries without a tradition of curative<br />
education and social therapy: here it is often<br />
qualified professionals who are specifically seeking<br />
to expand their professional self-concept through an<br />
anthroposophic understanding of the human being,<br />
and who already have general professional knowledge<br />
in the field.<br />
Training is extremely important for the future of anthroposophic<br />
curative education and social therapy. It<br />
is no longer sufficient or even possible to simply attempt<br />
to preserve and pass on old forms, customs and<br />
traditions; rather, we must strive to find new and appropriate<br />
responses – developed out of anthroposophy<br />
– ›‹to current societal challenges in learning and<br />
education. Training centres are committed to this task,<br />
and need to continue to learn from people with disabilities<br />
and their families, from practical life and from<br />
the wider professional field in order to contribute to<br />
future development.<br />
Dr. Andreas Fischer is a clinical curative<br />
educator, long-time co-worker and director<br />
of curative educational institutions,<br />
and has been the Director oft the<br />
Höhere Fachschule für Heilpädagogik in<br />
Dornach since 2008.<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
153
Favelaarbeit<br />
Von Ute Craemer<br />
Sieh was es gibt: Gefängnis und Folterung,<br />
Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt, den körperlosen<br />
Schmerz und die<br />
Angst, die das Leben meint.<br />
Die Seufzer aus vielen Mündern sammelt die Erde<br />
Und in den Augen der Menschen, die du liebst, wohnt die<br />
Bestürzung.<br />
Alles, was geschieht, geht dich an.<br />
Guenter Gleich<br />
Einleitung<br />
Monte Azul ist ein Sozialwerk, das seit etwa vierzig Jahren<br />
in verschiedenen brasilianischen Slums arbeitet und<br />
Programme für Erziehung, Gesundheit, Ausbildung, Kultur,<br />
Umweltschutz, Heilpädagogik und Sozialtherapie,<br />
biologisch-dynamischen Anbau sowie Geburtsvorsorge<br />
und -hilfe entwickelt hat. Mit den Angeboten der Waldorfschule,<br />
den Kindertagesstätten, der Musikschule,<br />
dem Geburtshaus, den Werkstätten und den heilpädagogischen<br />
und sozialtherapeutischen Tageszentren erreicht<br />
Monte Azul inzwischen zirka 15.000 Menschen,<br />
daneben umfasst es ein Gesundheitsfamilienprogramm<br />
für annähernd 300.000 Menschen. Die Grundlage dieser<br />
Arbeit sind die Quellen der Anthroposophie und das<br />
Zusammenleben und -arbeiten der Menschen aus den<br />
Randgebieten São Paulos.<br />
Ich – Wir – Favelas: Brasilien<br />
Wie gestalten sich diese Beziehungen untereinander –<br />
das möchte ich anhand meiner Erfahrungen in diesem<br />
Geflecht der Favelaarbeit in der zwanzig Millionen umfassenden<br />
Megalopolis São Paulo schildern, in einem noch<br />
nicht lange von europäischem Kolonialismus und Sklaverei<br />
befreiten Land.<br />
Hierzu ein Bild: São Paulo, das ist ein Moloch von Zement,<br />
Glas und Plastik, hypermodernen Bürogebäuden<br />
und nie endendem Verkehr. Motorräder rasen im Slalomlauf<br />
auf den Strassen, Ströme von Arbeitern sitzen<br />
in überfüllten Bussen, Villen reihen sich an Favelas, daneben<br />
stehen Wolkenkratzer mit Swimmingpools und<br />
Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach, Wohnungslose<br />
campieren in Unterführungen; und über all dem die<br />
Dunstglocke aus Staub, Russ und Abgasen …<br />
Nur das? Nein, da leben Menschen, deren Hauptziel es<br />
ist zu leben, zu singen, zu sein. Nur das? Nein, Jugendliche,<br />
die angesichts ihrer Drogenschulden aus Angst rauben,<br />
es gibt viel Angst auf allen Seiten, Paniksyndrom,<br />
Depressionen … Kein Ausweg? DOCH: die «cultural creatives»,<br />
die Sozialinitiativen, die Musik-, Theater- und<br />
Graffitigruppen und vieles mehr.<br />
Anthroposophische Initiativen und Lebensfelder breiten<br />
sich aus<br />
Inmitten dieser cultural creatives, des sogenannten<br />
Dritten Sektors, wachsen die Lebensfelder der Anthroposophie<br />
und werden getragen und gestaltet von<br />
Heilpädagogen, Waldorflehrern, Ärzten, Therapeuten,<br />
Beratern, biologisch-dynamischen Landwirten, Studiengruppen<br />
und der anthroposophische Gesellschaft.<br />
Bereits zu Lebzeiten Rudolf Steiners gab es eine Studiengruppe<br />
in Brasilien, doch ausschlaggebend für die<br />
erstaunliche Verbreitung der anthroposophischen Initiativen<br />
war wohl die Gründung der ersten Waldorfschule<br />
in São Paulo im Jahr 1956. Damit wurde ein Tor geöffnet,<br />
durch das die Waldorfpädagogik in Brasilien seinen<br />
Eingang fand. Ein Jahrzehnt später wurden die ersten<br />
Samen der Heilpädagogik gesät.<br />
Ein zweites Tor konnte sich angesichts der Verbreitung<br />
der Waldorfpädagogik und anthroposophisch erweiterten<br />
Medizin für am Rande der Gesellschaft stehende<br />
Menschen öffnen (1979).<br />
Schon seit Anfang dieser Arbeit konnten in den Kinderkrippen<br />
auch schwer behinderte Kinder aufgenommen<br />
werden, die rührend von den «Krippenmüttern»<br />
gepflegt und versorgt wurden. Mit zunehmenden Alter<br />
154
Beiträge | Contributions<br />
war es allerdings nicht mehr ohne weiteres möglich,<br />
die Kinder gebührend in ihrer Entwicklung zu fördern.<br />
Nach den Kämpfen politisch aktiver Bürgerinitiativen in<br />
den neunziger Jahren gab es auch in Monte Azul für Jugendliche<br />
und Erwachsene die Möglichkeit, einen Platz<br />
in der Gesellschaft zu finden. Heute werden in Monte<br />
Azul zirka 80 Menschen mit Behinderungen in Werkstätten<br />
beschäftigt. Ausserdem sind etwa 40 Menschen mit<br />
leichter Behinderung als Mitarbietende angestellt und<br />
können somit ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten.<br />
In den meisten Fällen waren diese Menschen früher in<br />
ihren Elendshütten eingesperrt oder gingen betteln. Für<br />
Brasilien ist es ein grosser Fortschritt, dass das Sozialministerium<br />
diese Menschen jetzt als Bürger anerkennt.<br />
Im Folgenden möchte ich nun eingehen auf einige Aspekte<br />
der Wirkensweise der Favelaarbeit der Associação Comunitaria<br />
Monte Azul.<br />
Monte Azul als Beispiel für die Arbeit anthroposophisch<br />
inspirierter Sozialwerke<br />
«Tem alguma coisa para dar» («Gibt es etwas, was du<br />
mir geben kannst») war die entscheidende Frage, die mir<br />
Kinder 1975, Brasilien stand zu dieser Zeit unter Militärdiktatur,<br />
stellten. Kinder mit einem Plastikbeutel in der<br />
Hand, aus dem einige Tüten mit Lebensmitteln herausschauten.<br />
«Lebensmittel» ist aber viel mehr als nur Reis<br />
und Bohnen und so erkundigte ich mich, wo sie leben,<br />
warum sie betteln müssten, wie alt sie seien. Und typisch<br />
brasilianisch antworteten sie: «Komm uns besuchen<br />
in der Favela», was ich dann auch tat, da ich ja<br />
schon lange Zeit den drängenden Wunsch hatte, meine<br />
Waldorfschüler aktiv mit Kindern in Kontakt zu bringen,<br />
die in Armut aufwachsen. So wie der brasilianische Dichter<br />
Vidal in seinem Gedicht schreibt: «Ich öffnete die Tür<br />
und hunderte von Menschen strömten hinein, und sie<br />
schloss sich nie wieder …».<br />
Türen öffnen ist ein Grundmotiv<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Rückblickend kann ich sagen, dass das Türen öffnen eines<br />
der grundlegenden Motive der sozialen Arbeit in Monte<br />
Azul ist: Offen sein, immer erst ja sagen und erst als zweites<br />
sehen, ob es zu verwirklichen ist. Offen sein für den<br />
Augenblick, in dem eine Frage gestellt wird und diese<br />
Frage verinnerlichen, damit sie wirken kann. Die Begegnung<br />
schätzen, auch dann, wenn sie nicht angenehm ist.<br />
Trotzdem ist es eine Begegnung, und sie kann vielleicht<br />
entscheidend sein. In meinem Fall waren diese und viele<br />
weitere Begegnungen (mit suchenden Jugendlichen, sozial<br />
beunruhigten Menschen, ja auch kriminell gewordenen<br />
Jungen) der Anstoss für immer neue Überlegungen und<br />
daraus entstehende Taten ein Ausgangspunkt – bis heute<br />
– für einen Lebenssinn. Und meist nicht nur für mich, auch<br />
nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern auch für viele<br />
junge Menschen aus 30 verschiedenen Ländern, die hier<br />
freiwillig arbeiten und sich selbst erfahren. Ja, sogar für<br />
die Anthroposophie, die sich erfüllt, wenn sie sich mit der<br />
materiellen und seelischen Not verbindet, mit der Not von<br />
Individuen, die beispielsweise aus den Trockenzonen dieses<br />
Landes flüchten. Besonders jetzt, im 21. Jahrhundert,<br />
scheint es mir die essentielle Aufgabe der Anthroposophie<br />
zu sein, sich diesen Strom des materiellen und seelischen<br />
Elends zu Herzen zu nehmen, «damit gut werde, was wir<br />
aus Herzen gründen, was wir aus Häuptern zielvoll führen<br />
wollen». Die Tore wurden aufgerissen in der ganzen Welt,<br />
zumindest äusserlich zeigt der Flüchtlingsstrom (auch<br />
in Brasilien insbesondere aus Haiti und Afrika), dass die<br />
Welt ein Schicksal hat. Die inneren Mauern der Vorurteile,<br />
die Angst vor Verschiedenartigkeiten, Zweifel am menschlichen<br />
Kern, Zynismus und vieles mehr aufzulösen ist<br />
schwierig und wird vielleicht Generationen dauern.<br />
Anthroposophie kann heilend wirken für jedweden<br />
Menschen, so, wie die Sonne für jeden individuellen<br />
Menschen scheint. Es ist die Grunderkenntnis jeder<br />
nachhaltigen sozialen Arbeit, diese Öffnung nach aussen<br />
zu verbinden mit einem geistigen Fundament. In Monte<br />
Azul wurde uns immer klarer, dass eine äussere Tat<br />
durch inneres Bemühen der Selbstfindung im Gleichgewicht<br />
sein muss: Die eigenen Gedanken klar formulieren,<br />
seinen Willen stärken, seine Gefühle harmonisieren und<br />
in all dem Chaos einen Lichtfunken sehen und ihn stärken,<br />
auf ihn bauen und so für Neues offen sein. Das ist<br />
ein langer Weg: Je mehr nach aussen, umso mehr nach<br />
innen, in die Tiefe.<br />
Die Kunst der Begegnung<br />
Türen öffnen ist das eine Motiv, Begegnungen schaffen<br />
und kultivieren das zweite. Begegnungen zwischen Menschen,<br />
die sich wenig berühren, und wenn, oft nur als<br />
«Arbeitsinstrument», wie beispielsweise in geschäftlichen<br />
Feldern oder im Tourismus, aber nicht von Mensch<br />
zu Mensch. Was meine ich damit?<br />
In Brasilien besteht, wie in vielen anderen Ländern<br />
auch, eine sozioökonomische Mauer, die die Menschen<br />
voneinander trennt, etwa Menschen, die in «Gated Communities»<br />
leben, in privaten Schulen und guten Universitäten<br />
studieren und andere, die Mehrheit, die in<br />
155
Beiträge | Contributions<br />
Favelas leben, auf schlechten Regelschulen lernen und<br />
dadurch schwer aus dem Armutsteufelskreis herauskommen.<br />
Sobald man sich aber in einer wahren Begegnung<br />
gewahr wird, dass nicht nur diese Äusserlichkeiten<br />
existieren, sondern dass etwas rein Menschliches in<br />
jedem Menschen lebt, ungeachtet ob er in einem Elendsviertel<br />
wohnt oder in einer Villa, kann sich etwas in der<br />
Welt bewegen. Vor einer Woche waren z.B. Schüler der<br />
elften Klasse der hiesigen Waldorfschule in der Favela;<br />
eine Woche lebten und arbeiteten sie zusammen mit den<br />
Favelamitarbeitern, schälten Kartoffeln für 400 Mittagessen,<br />
hackten Unkraut mit dem Gärtner, spielten mit den<br />
Kindern der Kindertagestätte – doch das Wichtigste war,<br />
Menschen zu begegnen, von ihrem Leben zu erfahren,<br />
Menschen, die sie in ihrem täglichen Leben allenfalls<br />
als Dienstmädchen oder Chauffeur erleben.«Es war eine<br />
Lebensschule für uns, so viel habe ich lange nicht mehr<br />
gelernt, das werde ich nie vergessen», war das Resümee<br />
eines Schülers. Und eine japanische Freiwillige stellte<br />
nach einem sechsmonatigen Praktikum in der Favela<br />
fest: «Ich habe gemerkt, wie privilegiert ich bin, die Welt<br />
kennenlernen zu dürfen und Erfahrungen zu sammeln<br />
in einem Alter, in dem die meisten Menschen arbeiten<br />
müssen, in einer Fabrik oder als Gelegenheitsarbeiter.»<br />
Für mich persönlich war es wichtig zu bemerken, wie<br />
sich beispielsweise Vorurteile hinsichtlich nicht akademischer<br />
Berufe allmählich auflösten infolge des Zusammenlebens<br />
und -arbeitens mit Menschen aus den<br />
Favelas. Dank der Begegnung und des Hineinblickens<br />
in tiefere Seelenschichten einer Frau etwa, die mehrere<br />
Nahtoderlebnisse hatte oder einer anderen, die missbraucht<br />
wurde und gerade deswegen anderen hilft,<br />
diese Traumata zu überwinden. Man fühlt sich klein gegenüber<br />
dem Grossmut solcher Menschen.<br />
Diese Begegnungen zu pflegen ist eine Kunst, damit sie<br />
nicht nur zum flüchtigen Erlebnis werden, sondern ein<br />
Feuer entfachen.<br />
Die Bedeutung der Gemeinschaft<br />
Schliesslich kommt man zu dem dritten Motiv: eine Gemeinschaft<br />
bilden, d.h. den Versuch zu unternehmen, die<br />
Begegnungen zu pflegen. Monte Azul ist nicht nur eine Arbeitsstätte,<br />
sondern eine Begegnungsstätte, besonders in<br />
der täglichen Zusammenarbeit und im Voneinanderlernen.<br />
Einer unserer Versuche dies zu gestalten ist der sogenannte<br />
Integrationstag. Die 250 Mitarbeitenden kommen<br />
an diesem Tag zusammen – Erzieher, Köche, Verwaltungspersonal,<br />
Therapeuten, Ärzte, Maurer, Gärtner, Putzkräfte,<br />
Computerfachleute und viele mehr. Sie kommen, um<br />
sich gegenseitig wahrzunehmen als eine Gemeinschaft,<br />
die ein gemeinsames Ziel hat: den Menschen, besonders<br />
den unterprivilegierten, einen Lebenssinn zu geben. Jeder<br />
dieser Tage steht unter einem Thema, in diesem Jahr lautet<br />
er: «Himmel und Erde, Wie sieht diese Beziehung konkret<br />
aus?» Ein schwieriges Thema, das nur deswegen in<br />
allen Herzen ein Echo finden kann, weil es anschaulich<br />
und künstlerisch gestaltet wird.<br />
Diese Gemeinschaft zu pflegen ist essenziell, um Gegenkräfte<br />
in Schach zu halten!<br />
Gegenkräfte – das sind politischer und ökonomischer<br />
Zwang, die Drogenmafia, finanzielle Knappheit, seelisches<br />
Gefängnis durch die Medien, Angstphobie und vieles<br />
mehr. Es ist somit lebenswichtig, Gruppen und Gemeinschaften<br />
zu bilden, um sich gegenseitig zu tragen und um<br />
Schwächen und Stärken im Gleichgewicht zu halten.<br />
Die Aufgabe Brasiliens<br />
Brasilien hat wie jedes Land seine spezifische Volksseele,<br />
die viele Menschen mit Worten wie Toleranz, Multikulturalität<br />
und Lebensfreude charakterisieren. Wie bei jeder<br />
Seele gibt es aber auch hier Schattenseiten, man könnte<br />
sagen, ein «Volkskarma». In aller Kürze könnte man es als<br />
die noch zu bewältigende Aufarbeitung der einstigen Sklaverei<br />
und des Indiovölkermordes zusammenfassen. Dazu<br />
kommen die vielversprechenden Potentiale der Völkerund<br />
Kulturvermischung und die damit verbundene Tendenz<br />
zum Spirituellen in seinen verschiedensten Formen.<br />
Laut dem anthroposophischen Arzt Dr. Wesely Aragão<br />
Moraes ist das grösste Geschenk, das Brasilien der Welt<br />
geben kann «wie sich das Verschiedenartigste vermischen<br />
und harmonisieren kann» (W. A. de Moraes 2014). Chancen<br />
der Erneuerung durch Anthroposophie<br />
Dieses schwere historische Erbe hat seine konkreten<br />
Auswirkungen hauptsächlich in den Favelas und auf<br />
dem Land: Armut, Diskriminierung und Ausgrenzung<br />
sind hierzu Schlüsselworte. Konkret wirkt sich das im<br />
individuellen Leben aus: verdorrende Talente, hohe Kinder-<br />
und Müttersterblichkeit, Unterernährung, Flucht aus<br />
dem politisch vernachlässigten Land in die überfüllten<br />
Städte, die daraus entstandene Entwurzelung und vieles<br />
mehr. Betrachten wir dies vom anthroposophischen Gesichtspunkt,<br />
drängt sich die Frage der Aufgabe der Anthroposophie<br />
in diesem Zusammenhang auf. Aus meiner<br />
Erfahrung kann ich sagen, dass darin, trotz des Elends<br />
auch eine Chance besteht: Die Entwurzelung schafft die<br />
Möglichkeit, Neues hinzuzufügen zu der brasilianischen<br />
Kultur, die sich gebildet hat in fünf Jahrhunderten aus<br />
156
indio-, afrikanischen und europäischen Elementen (und<br />
neuerdings auch aus der orientalischen Kultur). Aber<br />
diese Entwicklung muss gefördert werden.<br />
Anthroposophie kann diesen Prozess der Neuschaffung unterstützen<br />
und die natürliche Kreativität und Offenheit nicht<br />
verflachen lassen. Sie kann ein Bewusstsein dafür schaffen,<br />
dem inflationären Gebrauch von Fernsehen und Medien<br />
etwas Schöpferisches entgegenzusetzen und eine Balance<br />
zu den massiven westlichen Einflüssen herzustellen:<br />
Eurythmieaufführungen in öffentlichen Schulen, anthroposophisch<br />
erweiterte Medizin im öffentlichen Gesundheitssystem,<br />
heilpädagogische Ansätze in Tageskliniken,<br />
Waldorfpädagogik und Heilpädagogik für Favelakinder,<br />
Lehrerseminare für Erzieher aus öffentlichen Kindertagesstätten,<br />
biologische Ernährung als Schulspeise in<br />
Regelschulen, Studiengruppen über Lebensfragen für<br />
Menschen mit wenig Schulbildung und vieles mehr. Ein<br />
schöner Anfang besteht schon!<br />
Abschliessen möchte ich mit einem Bild aus einer Legende<br />
der Guaraniindios, dem Bild der vier Rassen, die sich im<br />
Laufe der Weltschöpfung herausgebildet haben und die sich<br />
laut Prophezeiung in das fünfte Volk verwandeln werden:<br />
«Ihr alle seid Samen eines gleichen Waldes, der seine<br />
Wurzeln im gleichen Boden hat und vom gleichen Hauch<br />
und demselben Himmelslicht ernährt wird. Ihr habt euch<br />
nicht getroffen um zu streiten, sondern um euch zu lieben,<br />
um eure Erfahrungen auszutauschen, eure Lebenswege<br />
und eure Weisheit. Und wenn ihr die Weisheit der<br />
roten Samen, der gelben Samen, der schwarzen Samen<br />
und der weissen Samen ausgetauscht habt, wird ein<br />
neues Volk geboren werden: das goldene Volk. Dieses<br />
Volk wird aus der Verbindung der vier Samenarten erwachsen.<br />
Pflanzen wir diesen Traum in die Erde, damit<br />
er aufblühe». (siehe www.pindorama.art.br)<br />
Dass dieser Traum Wirklichkeit werde, dazu kann die Anthroposophie<br />
viel beitragen.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Ute Craemer lebt seit vierzig Jahren in<br />
Brasilien. Sie ist die Begründerin der<br />
weltweit bekannten Sozialarbeit in der<br />
Favela Monte Azul in São Paolo und Initiatorin<br />
der Aliança pela Infanciã (Alliance<br />
for Childhood), einem internationalen<br />
Netzwerk zur Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
von Kindern und Jugendlichen.<br />
Literatur<br />
W. A. de Moraes (2014): Alma Brasileira: Alma Sul Americana.<br />
Antropogeografia oculta. Barany Novo Seculo, São Paulo.<br />
Work in the Favelas<br />
by Ute Craemer<br />
Consider what we have: prison and torture,<br />
Blindness and paralysis, death in many forms,<br />
the bodiless pain and the<br />
Fear that is life.<br />
The earth collects the sighs from many mouths<br />
And consternation inhabits the eyes of those you love.<br />
Everything that happens, concerns you.<br />
Guenter Gleich<br />
Introduction<br />
Monte Azul is a social organization that has provided<br />
care in various Brazilian favelas for the last forty years,<br />
developing programmes covering education, healthcare,<br />
training, culture, environment protection, curative<br />
education, social therapy and biodynamic farming, as<br />
well as prenatal care and midwifery. With its Waldorf<br />
schools, day-care centres, music school, birthing centre,<br />
workshops and day-centres for curative education<br />
and social therapy Monte Azul now reaches around<br />
15,000 people, its family health programme serving almost<br />
300,000. Monte Azul finds its inspiration in anthroposophy<br />
and offers communal living and working<br />
to people from the fringes of São Paulo.<br />
Brazil: I – We – the favelas<br />
How do these centres relate to one another? This is a<br />
question I would like to address based on my experience<br />
with the favela network in São Paulo, a twentymillion<br />
megalopolis in a country that has only quite<br />
recently left behind the shackles of European colonialism<br />
and slavery.<br />
Let me draw a picture for you: São Paulo is a juggernaut<br />
of concrete, glass and plastic, of hyper-modern<br />
office blocks and unceasing traffic. Motorbikes slalomrace<br />
through the roads, masses of workers sit on overfilled<br />
buses, mansion districts spread out next to the<br />
favelas, adjacent to sky scrapers that have their own<br />
swimming pools and helipads on the roof, homeless<br />
people live in subways, and the whole lot is covered by<br />
a pall of dust, soot and exhaust fumes ...<br />
157
Beiträge | Contributions<br />
Is that all there is to it? No! People live here! People<br />
whose main goal it is to live, to sing, to BE. Is that all?<br />
No! There are young people who become thieves because<br />
they are frightened that they can’t pay off their<br />
drug debts. There is fear everywhere, and panic syndrome<br />
and depression …<br />
Is there no way out? Yes there is: the ‹cultural creatives›,<br />
the social initiatives, the musicians, actors, graffiti<br />
artists and many more.<br />
Initiatives and practice fields arising from anthroposophyIn<br />
the midst of these cultural creatives, or ‹third<br />
sector›, the fields where anthroposophy is practised<br />
keep growing, supported and shaped by curative teachers,<br />
Waldorf teachers, physicians, therapists, consultants,<br />
biodynamic farmers, anthroposophical study<br />
groups and the Anthroposophical Society.<br />
Even in Rudolf Steiner’s lifetime there was a study<br />
group in Brazil. What started the amazing dissemination<br />
of anthroposophical initiatives, however, was the<br />
first Waldorf School in São Paulo which was founded<br />
in 1956. It opened a door for Waldorf Education to<br />
enter Brazil. A decade later the first seeds of curative<br />
education were planted. A second door was opened in<br />
1979 when Waldorf education and anthroposophically<br />
extended medicine began to spread to the people who<br />
live on the fringes of society.<br />
From the very beginning, the day-care centres also<br />
accepted children with severe disabilities, who were<br />
cared for lovingly by the ‹day-mothers›. As these children<br />
grew older it became more difficult to support<br />
them adequately. Following the campaigns of political<br />
action groups in the 1990s, Monte Azul was able to<br />
offer youngsters and adults a place in society. Today<br />
Monte Azul provides workshop places to around 80<br />
people with disabilities, and employs 40 people with<br />
minor disabilities, giving them the opportunity to earn<br />
a living for themselves. Most of these people used to<br />
be kept locked up in their poor huts or they had to beg.<br />
For Brazil it is a big step forward that the Ministry for<br />
Social Affairs now recognizes these people as citizens.<br />
I would now like to look at the effect that the work of<br />
Monte Azul has had in the favelas.<br />
Monte Azul as an example of anthroposophically<br />
inspired social work<br />
‹Tem alguma coisa para dar› (Have you got something<br />
for me?) was the crucial question: it was put to me by<br />
some children in 1975, when Brazil was still a military<br />
dictatorship. These children were clutching plastic<br />
bags that had some food in them. But ‹food› means<br />
more than rice and beans and so I asked them where<br />
they lived, why they were begging and how old they<br />
were. Being true Brazilians they said, ‹Come and visit<br />
us in the favela.› This I did, because it had long been<br />
a burning wish for me to establish a contact between<br />
my Waldorf pupils and the children who were growing<br />
up in poverty. As the Brazilian poet Vidal wrote in a<br />
poem, ‹I opened the door and hundreds came flooding<br />
in; the door never closed again….›<br />
Opening doors as an underlying theme<br />
Looking back I can say that the opening of doors is an<br />
underlying theme in the work of Monte Azul: being<br />
open, always saying ‹yes› first and then finding out<br />
whether it is possible; being open for the moment<br />
when a question is asked, and contemplating this question<br />
so that it can take effect; valuing the encounter,<br />
even if it is not pleasant. It is an encounter nevertheless<br />
and might well be significant. In my case, this and<br />
many other encounters (with seeking youngsters, the<br />
socially restless, even with boys who had turned to<br />
crime) inspired me to think again and again and take<br />
action, and they have – to this day – given meaning to<br />
my life. And often not only to my life or to the lives of<br />
those who directly benefited from these actions, but to<br />
the lives of the many young people from 30 different<br />
countries who come here as volunteers, learning lessons<br />
for life; and even to anthroposophy which finds<br />
its fulfilment when it connects with people’s material<br />
and psychological needs, with the needs, for instance,<br />
of people who are fleeing the arid zones of Brazil.<br />
It seems to me to be an essential task of anthroposophy,<br />
particularly now in the twenty-first century, to<br />
take this stream of material and psychological suffering<br />
to heart, ‹That good may become what we would<br />
found from our hearts, what we would direct from our<br />
heads, with purpose.› The doors have been torn open<br />
all over the world – the stream of refugees (in Brazil,<br />
too, particularly from Haiti and Africa) shows that<br />
the world has one destiny. It is difficult to overcome<br />
the walls of prejudice, the fear of diversity, the cynicism<br />
and the doubts about the essential goodness of<br />
human beings, and it might take several generations<br />
before this is achieved.<br />
Anthroposophy can have a healing effect on each person,<br />
just like the sun that shines down on each of us. It<br />
158
Beiträge | Contributions<br />
Favelakinder | Favela children<br />
is a fundamental lesson one can learn from any sustainable<br />
social effort that such an opening gesture needs<br />
a spiritual foundation. At Monte Azul we realize increasingly<br />
that outer actions need the balance of inner<br />
self-development: I need to learn to put my thoughts<br />
into clear words, to strengthen my will, to bring harmony<br />
to my feelings; to see a spark of light in all this<br />
chaos and make this spark grow brighter; to build on it<br />
I can be open for new things. It is a long road: the more<br />
we do on the outside, the more inner work is needed.<br />
The art of the encounter<br />
Opening doors is the first theme, creating and fostering<br />
encounters is the second. I think of encounters<br />
between people who hardly meet, and if they do then<br />
only as means to an end, in business or tourism, for instance,<br />
but not from person to person. What am I trying<br />
to say? In Brazil, like in many other countries, there is<br />
a socio-economic wall that separates people from one<br />
another: some live in gated communities, go to private<br />
schools and study at good universities, while others,<br />
the majority in fact, live in favelas, attend bad mainstream<br />
schools and have little chance of ever being able<br />
to break away from the vicious circle of poverty. But as<br />
soon as one has real encounters and becomes aware<br />
that life is about more than these external things, that<br />
something purely human dwells in each of us, whether<br />
we live in a hut or a mansion, then something can happen<br />
in the world. A week ago, for instance, the class<br />
eleven students from our Waldorf school went to the<br />
favela; they stayed for a week working with the favela<br />
helpers, peeling potatoes for 400 lunches, weeding<br />
with the gardener, playing with the children at the daycare<br />
centre. The most important experience for them<br />
was meeting people and hearing about their lives –<br />
people whom they would normally only meet as their<br />
servants or chauffeurs. ‹It was a school of life for us. I<br />
haven’t learned so much in a long time. I’ll never forget<br />
this›, one student said later. And a volunteer from<br />
Japan said after a six-month work experience in the<br />
favela, ‹I realized how privileged I am to be able to get<br />
to see and learn about the world at my age, when most<br />
people have to work in a factory or take on casual jobs.<br />
For me personally it was important to see how preconceptions<br />
regarding non-academic jobs gradually dissolved<br />
as a result of sharing the lives of, and working with,<br />
people from the favelas: of meeting and getting to<br />
know a woman who had had several near-death experiences,<br />
or another woman who had been abused and is<br />
therefore helping others to work through similar traumas.<br />
One feels small when faced with such generosity.<br />
Fostering these encounters is an art – if they are to be<br />
more than fleeting experiences, if they are to kindle a fire.<br />
The meaning of community<br />
This brings us to the third motif: the building of community<br />
or fostering of encounters.<br />
Monte Azul is more than a workplace; it is a meeting<br />
place, particularly because we work together here on a<br />
daily basis and learn from each other.<br />
One of the ways we try to foster encounters is by organizing<br />
an ‹integration day”, when the 250 staff<br />
members – educators, cooks, admin staff, therapists,<br />
physicians, builders, gardeners, cleaners, computer experts<br />
and many more – come together so we can feel<br />
that we are a community and that we share the same<br />
goal, which is to give meaning to the lives of people, especially<br />
to those who are less privileged. Each of these<br />
days has a particular theme. This year’s theme is, ‹Heaven<br />
and earth – what does this relationship look like?›<br />
– A difficult topic that can only speak to people’s hearts<br />
when it is presented in an accessible and artistic way.<br />
Fostering this community is an essential way of keeping<br />
adversarial powers at bay!<br />
The opposing powers are political and economic constraints,<br />
the drug mafia, financial straits, imprisonment<br />
of the soul by the media, fears and phobias, and much<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
159
Beiträge | Contributions<br />
more. Forming groups and communities is important<br />
for mutual support and the balancing out of weaknesses<br />
and strengths.<br />
Brazil’s task<br />
Like any other country, Brazil has its own folk soul,<br />
which is often described by referring to qualities such<br />
as tolerance, multiculturalism and a joy of life. But<br />
there are also darker sides – the folk karma, as it were.<br />
To put it briefly one could say this still has to do with<br />
coming to terms with the past: with slavery and the<br />
murder of the native Indians. On the other hand there<br />
is the promising potential of the mix of multiple ethnicities<br />
and cultures and the ensuing openness to spirituality<br />
in its diverse manifestations. According to the<br />
anthroposophic physician Dr Wesely Aragão Moraes<br />
‹the way diversity can intermingle and create harmony›<br />
is the greatest gift Brazil has to offer to the world.<br />
(W. A. de Moraes 2014)<br />
The chances of renewal through anthroposophy<br />
This difficult historic heritage makes itself felt, most<br />
pronouncedly in the favelas and the rural areas: poverty,<br />
discrimination and exclusion are the key factors.<br />
They affect each individual life: talents that cannot unfold,<br />
the high infant and maternal mortality rates, malnutrition,<br />
people fleeing from the politically neglected<br />
rural areas to the crowded cities, the ensuing deracination<br />
etc. What is the task of anthroposophy here? From<br />
my experience I can say that all this misery and suffering<br />
also holds out opportunities: deracination makes it<br />
possible for something new to grow within the Brazilian<br />
culture – a culture that has evolved over five centuries<br />
from Indian, African, European and, most recently,<br />
also oriental influences. But we need to support this<br />
development.<br />
Anthroposophy can support this process of new creation<br />
and it can make sure that the natural creativity<br />
and openness do not lead to too much superficiality.<br />
Anthroposophy can make people aware that the ever<br />
increasing use of TV and media can be counteracted<br />
with creativity and that a balance can be provided to<br />
the overpowering western influences:<br />
Eurythmy performances in public schools, anthroposophically<br />
extended medicine in the public healthcare<br />
system, curative education in day-clinics, Waldorf<br />
education and curative education for favela children,<br />
teacher training for the educators at public day-care<br />
centres, organic food in mainstream schools, study<br />
groups on life questions for people with limited education,<br />
and much more. A wonderful beginning has already<br />
been made!<br />
I would like to end with an image from a legend of the<br />
Guarani people: the image of the four races that have<br />
emerged in the course of world creation and that will,<br />
according to prophesy, become the fifth people:<br />
‹You are all seeds from the same trees, which are rooted<br />
in the same soil and nurtured by the same breath<br />
and the same heavenly light. You have not met in<br />
order to fight, but so you can love each other, so you<br />
can share your experiences, your lives’ paths and your<br />
wisdom. And once you have shared the wisdom of the<br />
red, yellow, black and white seeds, a new people can be<br />
born: the golden people. The golden people will arise<br />
from the union of the four kinds of seed. Let us plant<br />
this dream into the earth so that it may blossom.› (Cf.<br />
www.pindorama.art.br)<br />
Anthroposophy can do much for this dream to become<br />
true.<br />
Work in the favelas in Brazil.<br />
Ute Craemer is the founder oft he worldrenowned<br />
social work in The Monte Azul<br />
favela in São Paolo and the founder oft<br />
he Aliança pela Infanciã (Alliance for<br />
Childhood), an international network for<br />
improving the quality of life of children<br />
and youth.<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Bibliography<br />
W. A. de Moraes (2014): Alma Brasileira: Alma Sul Americana.<br />
Antropogeografia oculta. Barany Novo Seculo, São Paulo.<br />
160
Eine Pädagogik der Gegenwart<br />
Von Florian Osswald<br />
Kommendem zugekehrt<br />
War dir das Nichts wie eine Wunde<br />
Jetzt heilt sie leise unter uns<br />
Augenblicke<br />
In der Erziehung gehe es um die Zukunft der Gesellschaft,<br />
sagen die einen und meinen zu wissen, wo es<br />
hingeht. Das sieht Woody Allen anders: «Wenn du Gott<br />
zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen.»<br />
«Ich mache mir nie Sorgen um die Zukunft. Sie<br />
kommt früh genug», sagt Albert Einstein. Und Rudolf<br />
Steiner bemerkt dazu: «Nicht gefragt soll werden: was<br />
braucht der Mensch zu wissen und zu können für die<br />
soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen<br />
veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden?<br />
Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer<br />
neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen.»<br />
(Steiner 1982, S. 37)<br />
Eines scheint klar, die Gestaltung der Zukunft kann uns<br />
nicht gleichgültig sein, hängt doch das, was sein wird,<br />
wesentlich von dem ab, was wir jetzt tun. Was aber tun<br />
wir jetzt? Gerade die Gegenwart birgt viele Rätsel in sich.<br />
In ihr treffen sich Vergangenes und Zukünftiges und<br />
schaffen dadurch den Augenblick. In diesem präsent zu<br />
sein ist eine Kunst, die aufgreift, was werden will und angemessene<br />
Mittel zu dessen Förderung findet. Dazu ist<br />
es notwendig, in den Zeitstrom einzutauchen. In einem<br />
pädagogischen Kontext hiesse das, die biografische Dimension<br />
des Menschen wahrzunehmen. Es ist die Entwicklung<br />
des Kindes und Jugendlichen, die den Anlass<br />
gibt, eine Erziehungskunst zu betreiben. Die unmittelbare<br />
Begegnung mit dem Kind oder Jugendlichen ist der<br />
Leitstern für pädagogisches Handeln, nicht vorgegebene<br />
Lehrpläne oder Lernziele wie die Matura oder das Abitur.<br />
Individualität und Geistesgegenwart<br />
Wir stellen fest, dass die Gruppen in den Schulzimmern<br />
immer heterogener werden. Nicht nur, dass immer differenziertere<br />
Diagnosen eine individuelle Förderung<br />
verlangen, es entspricht auch dem Zeitgeist, dass Individuelles<br />
mehr betont wird. Die Aufgabe der Lehrpersonen,<br />
die Steiner in der Allgemeinen Menschenkunde<br />
über viele Vorträge hin konturiert, ist es, von der Idee in<br />
ein Gefühl, eine Stimmung überzugehen, die im Unterricht<br />
anwesend ist. «Das wird unserem Erziehungs- und<br />
Unterrichtswesen allein die richtige Stimmung geben,<br />
wenn wir uns bewusst werden: Hier in diesem Menschenwesen<br />
hast du mit deinem Tun eine Fortsetzung zu<br />
leisten für dasjenige, was höhere Wesen vor der Geburt<br />
getan haben.» (Steiner 1992, S. 19)<br />
Steiner nennt die Erzieherinnen und Erzieher auch «Geburtshelfer»<br />
des Kindes. Mit der Geburt beginnt das<br />
Wesen des Menschen ein Verhältnis zur irdischen Welt.<br />
Ein individueller Impuls tritt ins Leben ein und verfolgt<br />
einen Auftrag. Die Individualität des Menschen ist eine<br />
geistige Realität und ist nicht etwas, das sich im Laufe<br />
des Lebens durch Erziehung und Umwelt bildet. Der<br />
Mensch ist von Anfang an eine Individualität. Im Inkarnationsprozess<br />
umgibt er sich mit sogenannten «Hüllen»,<br />
seinem Leib und der Umwelt. In diesen begegnet<br />
er dem, was krankmachend und behindernd auf seine<br />
Entwicklung wirkt. So beginnt die Individualität, sich mit<br />
den schicksalshaften Hüllen auseinanderzusetzen. Für<br />
die erzieherisch Tätigen ist es wichtig, das Kind seinem<br />
Wesen gemäss zu begleiten. Die erzieherischen Massnahmen<br />
können nur auf diese Hüllen wirken, denn die Individualität<br />
kann weder erkranken noch behindert sein.<br />
Auch therapeutische Anregungen behandeln die Hüllen<br />
und ermöglichen dem Menschen, sich besser mit ihnen<br />
auseinanderzusetzen und Einsicht in die Zusammenhänge<br />
der Welt zu gewinnen. Damit wächst die innere Orientierung<br />
und die Möglichkeit einer Sinnfindung im Leben.<br />
Erzieherinnen und Erzieher sind also aufgefordert, das<br />
einzelne Kind in seiner geistigen Individualität zu erkennen,<br />
auf seinen individuellen Impuls hinzuhören<br />
und mit seinen Hüllen so zu arbeiten, dass das Kind<br />
aus eigenen Kräften diese selbständig ergreifen und<br />
gestalten kann.<br />
Eine Pädagogik, die auf diesem Ansatz beruht, hat eine<br />
heilende Wirkung. Sie vereinigt, was aus dem Vorgeburtlichen<br />
werden will mit dem Gestalten eines Zukünftigen,<br />
das sich im Nachtodlichen entfalten kann. Der Vergangenheits-<br />
und Zukunftsimpuls sind in ihr aufgehoben<br />
und schaffen den kostbaren Augenblick, aus dem sich<br />
das Gültige für die Handlung ergibt.<br />
Entscheidend ist also, was für die Handelnden im Moment<br />
alles anwesend sein kann, wie umfassend ihr Bewusst-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
161
Beiträge | Contributions<br />
sein ist. Der Begriff Geistesgegenwart weist in treffender<br />
Weise auf den erforderlichen Zustand hin. Es soll Geistiges<br />
realisiert werden. Auf diesem scheinbaren Nichts,<br />
dem Augenblick, baut sich die ganze Pädagogik auf.<br />
Steiner drückt es in diesen Worten aus: «Aber wenn man<br />
zum Wirken aus dem Geistigen kommt, muss man sich<br />
täglich, stündlich vor Entscheidungen gestellt fühlen, bei<br />
jeder Tat sich vor die Möglichkeit gestellt fühlen, sie tun<br />
zu können oder unterlassen zu können, oder sich völlig<br />
neutral verhalten zu können. Und zu diesen Entscheidungen<br />
gehört eben Mut, innerer Mut. […] Und der erwacht<br />
nur, wenn man sich die Grösse der Dinge immer vor<br />
Augen stellt: du tust etwas, was die Götter sonst tun im<br />
Leben zwischen Tod und nächster Geburt. Das zu wissen,<br />
ist von gar grosser Bedeutung. Nehmen Sie das meditierend<br />
auf.» (Steiner 1975, S. 41)<br />
Uns mit dem Ganzen verbinden<br />
Das kleine Kind wagt die ersten Schritte in die Welt aus der<br />
Sicherheit der Bindung, die es zu einem Menschen erfahren<br />
durfte. Die innere Sicherheit schafft die Voraussetzung,<br />
die Welt zu entdecken und die Entdeckungen ihrerseits<br />
stärken das Selbstvertrauen des Kindes. Beziehungen zu<br />
andern Menschen machen uns für andere sichtbar und wir<br />
werden gleichzeitig auch für uns selbst sichtbar.<br />
Beziehungen brauchen eine vielseitige Unterstützung. Sie<br />
sind störungsanfällig und wollen gepflegt sein.<br />
Die alltäglichen Erlebnisse müssen verarbeitet werden.<br />
Erleben wir Dinge, die wir als Misserfolge einstufen, neigen<br />
wir dazu, uns von der Welt zu trennen und ziehen<br />
uns zurück in sichere Räume. Schnell kann sich die Beziehung<br />
mit Angst und Verurteilungen füllen. Wollen wir<br />
dieser Tendenz entgegenwirken, brauchen wir sichere<br />
Räume, in denen die Maske sich nicht verhärtet, sondern<br />
abgelegt werden kann.<br />
Es ist die Aufgabe der Erziehung, den Kindern eine unvoreingenommene<br />
Beziehung zur Welt zu ermöglichen, sie<br />
im Spannungsfeld von Ich und Welt, mikrokosmischem<br />
Mittelpunkt und Makrokosmos zu begleiten. «Denken<br />
Sie sich, lebendig das gefühlt, was das bedeutet! Wie da<br />
die Idee vom Weltenall und seinem Zusammenhang mit<br />
dem Menschen übergeht in ein Gefühl, welches durchheiligt<br />
alle einzelnen Vornahmen des Unterrichts. Ohne<br />
dass wir solche Gefühle vom Menschen und dem Weltenall<br />
haben, kommen wir nicht dazu, ernsthaft und richtig<br />
zu unterrichten», mahnt Steiner. (Steiner 1992, S. 156)<br />
Auch Martin Buber beschreibt dieses Spannungsfeld:<br />
«Heilen wie erziehen kann nur der gegenüber Lebende<br />
und doch Entrückte.» (Buber 1995)<br />
Beide Zitate weisen auf die grundlegende Bedeutung des<br />
Menschen für den Entwicklungsprozess des Kindes hin.<br />
Angesichts der fortschreitenden Umweltzerstörung und<br />
der Kriege in vielen Ländern kann man sich aber durchaus<br />
fragen: Braucht es den Menschen wirklich? Viele junge<br />
Menschen vertreten die Ansicht, dass es den Menschen<br />
in dieser Welt nicht brauche; er sei ein Störfaktor, der die<br />
Natur und damit seine eigene Lebensgrundlage und die<br />
anderer Lebewesen zerstöre. Prüfen Sie sich selbst und<br />
fragen Sie sich, ob Sie felsenfest davon überzeugt sind,<br />
dass es den Menschen braucht.<br />
Das Ja zum Menschen bildet die Grundlage eines echten<br />
Vertrauens in unsere Existenz. Allen voran stellt die<br />
Bibel das Ja ins Zentrum: Liebe deinen Nächsten wie dich<br />
selbst. Das Finden des Menschen in uns selbst gibt unserem<br />
Dasein den Sinn.<br />
Sein Inneres, das eigentlich Menschliche zu zeigen, ist<br />
jedoch ein Risiko. Wir verfallen schnell in ein Rollenspiel<br />
und tragen eine Maske, die das Innere verhüllt. Nelson<br />
Mandela weist in seiner Antrittsrede darauf hin, indem er<br />
aus dem Buch «A Return to Love» von Marianne Williamson<br />
(1992) zitiert:<br />
Unsere tiefste Angst ist nicht,<br />
dass wir unzulänglich sind.<br />
Unsere tiefste Angst ist,<br />
dass wir unermesslich machtvoll sind.<br />
Es ist unser Licht, das wir fürchten,<br />
nicht unsere Dunkelheit.<br />
Für das Verständnis des Menschen ist das Zusammenspiel<br />
des kleinen irdischen und grossen kosmischen<br />
Menschen, von Punkt und Umkreis, notwendig. So erst<br />
entsteht ein ganzheitliches, dynamisches Menschenbild,<br />
das immer wieder neu erschaffen werden kann.<br />
Aus der Sicht des Ganzen erscheint das Einzelne stets<br />
in einem Zusammenhang, in dem nichts nur um seiner<br />
selbst willen existiert, sondern um des Ganzen willen.<br />
Wie auch der Mensch beschaffen ist, mit vielen Talenten<br />
oder wenigen, er ist einmalig und nicht auswechselbar.<br />
Er hat seinen Platz in der Weltordnung.<br />
Sinn finden<br />
Die Aufgabenstellung für die Erziehenden ergibt sich aus<br />
den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder. Dabei geht es<br />
nicht um Zielvorgaben, sondern um Sinnfindung. Die Individualität<br />
ist bestrebt, ihren Sinn zu finden und alles<br />
was ihr dabei helfen kann, ist eine Bereicherung. Sie<br />
steht nicht in Konkurrenz zu andern Individualitäten.<br />
Wenn wir für den Sinn leben, gibt es keine Konkurrenz.<br />
Das gilt auch für die Institution Schule oder Kinder-<br />
162
Beiträge | Contributions<br />
garten. Ihr Sinn besteht kurz gesagt darin, Kinder und<br />
Jugendliche freiheitsfähig zu machen, dem Ich gute Bedingungen<br />
für die Inkarnation zu geben. Alle, die helfen,<br />
diesen Sinn zu unterstützen, ihn besser realisieren zu<br />
können, sind Freunde und keine Konkurrenten. Die eigene<br />
«Methode» ist nicht etwas, was geschützt und patentiert<br />
werden muss. Im Gegenteil, sie soll weiterentwickelt<br />
und aufgrund der gewonnenen Anwendungserfahrungen<br />
korrigiert und verbessert werden. Es ergibt Sinn, alles<br />
mit denen zu teilen, die auch daran arbeiten wollen,<br />
damit die Aufgabe noch besser erfüllt werden kann. Die<br />
Kinder sind das Wichtigste. Es geht um ihre Sinnfindung<br />
und um ihre gesunde Entwicklung.<br />
Viktor Frankl meinte, Erfolg und Glück könne man nicht verfolgen,<br />
man müsse ihnen folgen. Sie stellen sich nur ein als<br />
ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der eigenen, persönlichen<br />
Hingabe an einen Sinn, der grösser ist als man selbst.<br />
Sinn lässt sich nicht nur mit «Bedeutung» übersetzten,<br />
sondern im weiteren Sinne auch mit Aufgabe. Was wir<br />
tief in uns finden und als «richtig» erachten, was uns<br />
nicht von anderen aufgetragen wurde und vielleicht niemand<br />
anderem aufgetragen ist, ist sinnstiftend.<br />
Wo stehen wir heute?<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Anthroposophische Pädagogik und Heilpädagogik haben<br />
eine gemeinsame Quelle, die von der Unverletzbarkeit des<br />
Wesenskerns eines jeden Menschen ausgeht. Die menschliche<br />
Individualität kann in ihren Ausdrucks- und Entfaltungsmöglichkeiten<br />
behindert oder eingeschränkt sein,<br />
nicht aber in ihrem innersten Wesen. An diesen unverletzbaren<br />
Persönlichkeitskern richten sich die pädagogischen,<br />
heilpädagogischen und therapeutischen Handlungen, die<br />
die Umgebung, die Hüllen der Kinder und Jugendlichen<br />
stärken wollen, damit sich die eigenen individuellen Lernund<br />
Ausdrucksmöglichkeiten entfalten können.<br />
Viele Schulen haben ein Angebot aufgebaut, das eine<br />
individuelle Förderung ermöglicht. Die Vielfalt der Lernwege<br />
stellt, ob sie aus kulturellen oder individuellen<br />
Gegebenheiten entsteht, Fragen an die Unterrichtsmethoden<br />
und Unterrichtsinhalte. Die Hinweise Steiners<br />
zur Unterrichtsgestaltung schaffen ein Meer von Lichtblicken.<br />
Sei es die Lernstimmung, die Sinnfindung oder<br />
das Einbinden in das Ganze, seine Anregungen unterstützen<br />
die Selbsterziehung der Erziehenden, aus der<br />
heraus sachgemässe Handlungen entstehen können.<br />
«Nun, es gibt ein Lebensbegreifen, eine Lebensanschauung,<br />
die wir uns dadurch erwerben, dass wir überall<br />
mit unserem Verstande in die Dinge hineinreichen wollen.<br />
Diese Verstandeskultur bringt in Wahrheit unsere<br />
Entwickelung nicht weiter, hat also keinen selbsterzieherischen<br />
Wert. Dasjenige Element muss bei der Selbsterziehung<br />
des Menschen die grösste Rolle spielen, was<br />
man nennen kann: das über die Intellektualität, den<br />
Verstand Hinausreichende in dem Aneignen der Lebensreife.<br />
Gerade wie das Kind dadurch am besten am Spiel<br />
erzogen wird, dass es nicht durch den Verstand erzogen<br />
wird, sondern probiert, so wird sich der Mensch in bezug<br />
auf seinen Willen an denjenigen Erfahrungen des Lebens<br />
am besten erziehen, die er nicht mit seinem Verstande<br />
begreift, sondern zu denen er sich mit seiner Sympathie,<br />
mit Liebe stellt, mit seinem Gefühl, dass die Dinge erhaben<br />
sind oder den Humor berühren. Das bringt uns weiter.<br />
Hier liegt die Selbsterziehung des Willens. Verstand,<br />
intellektualistische Kultur können gewöhnlich auf den<br />
Willen gar nicht wirken." (Steiner 1983, S. 434)<br />
Erziehen ist ein ununterbrochener Versuch, geistesgegenwärtig<br />
auf die Lernsituation des Kindes und der Jugendlichen<br />
einzugehen. Es braucht Mut, sich auf den<br />
Augenblick einzulassen. Er fordert die Entscheidung, eine<br />
Tat auszuführen, sie zu lassen oder in Gelassenheit den<br />
Lebensmoment zu begleiten.<br />
Florian Osswald, geboren in Basel, Schweiz,<br />
studierte Verfahrensingenieur. Nach einer<br />
Ausbildung zum Heilpädagogen in Camphill,<br />
Schottland, besuchte er das Lehrerseminar in<br />
Dornach. Während 24 Jahren unterrichtete er<br />
Mathematik und Physik an der Rudolf Steiner<br />
Schule Bern und Ittigen und war in verschiedenen<br />
Ländern als kollegialer Berater tätig. Seit<br />
2011 leitet er zusammen mit Claus Peter Röh<br />
die Pädagogische Sektion am Goetheanum.<br />
Literatur<br />
Buber, Martin (1995): Ich und Du. Reclam Verlag, Stuttgart.<br />
Steiner, Rudolf (1975): Heilpädagogischer Kurs (GA 317), 5. Aufl. Rudolf<br />
Steiner Verlag, Dornach.<br />
Steiner, Rudolf (1982): Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus<br />
und zur Zeitlage 1915-1921. Freie Schule und Dreigliederung<br />
(GA 24). Dornach: Rudolf Steiner Verlag.<br />
Steiner, Rudolf (1983): Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung.<br />
Die Selbsterziehung des Menschen im Lichte der Geisteswissenschaft<br />
(GA 61), 2. Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
Steiner, Rudolf (1992): Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der<br />
Pädagogik (GA 293), 9. Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
Williamson, Marianne (1992): A Return to Love: Reflections on the Principles<br />
of A Course in Miracles. Harper Collins, New York.<br />
163
Education for the present time<br />
By Florian Osswald<br />
Turned toward what is to come<br />
The nothing was like a wound in you<br />
Now it heals quietly between us<br />
Moments<br />
Education is about the future of society, say some, believing<br />
they know the direction we are moving in. Woody<br />
Allen sees it differently: ‹If you want to make God laugh,<br />
tell him about your plans.› ‹I never worry about the future.<br />
It will be here soon enough›, said Albert Einstein.<br />
And Rudolf Steiner remarked, ‹The question to ask is<br />
not ‹What does the human being need to know and to<br />
be able to do for the current social order?› – but rather<br />
‹What seeds of possibility lie within the human being,<br />
and what can be developed within us?› Then it will be<br />
possible to always add new strengths to the social order<br />
from the new generation.› (Steiner, 1982, p. 37)<br />
One thing is clear: We cannot be indifferent about<br />
building the future, as what will be is fundamentally<br />
dependent on what we do now. But what are we<br />
doing now? The present, especially, holds many riddles.<br />
Things past and things future meet within it, creating<br />
the present moment. It is an art to be in this present<br />
– an art to take hold of what wants to become and to<br />
find appropriate means of supporting it. In order to do<br />
so, it is necessary to submerge ourselves in the stream<br />
of time. In a pedagogical context, this means recognizing<br />
the biographical dimension of human beings. It<br />
is the development of children and youth that give us<br />
reason to pursue the art of education. The immediate<br />
encounter with the child or youth is the guiding star<br />
for pedagogical action, not predetermined teaching<br />
plans or teaching goals like the Matura or the Abitur<br />
[Swiss and German equivalents, respectively, of the A-<br />
levels (UK) or high school diploma (US)].<br />
Individuality and presence of mind<br />
We notice that the groups in the schoolrooms are becoming<br />
continually more heterogeneous. Not only<br />
that the increasingly differentiated diagnoses require<br />
individual support; it corresponds to the Zeitgeist that<br />
the individual is increasingly emphasized. The task of<br />
teachers, which Steiner outlines through many lectures<br />
in The Study of the Human Being [Allgemeine<br />
Menschenkunde], is to transition from the idea to<br />
a feeling, a mood that is present in class. ‹Only this<br />
will give our education and teaching the right mood:<br />
When we are conscious that here, in this human being,<br />
we are tasked to continue the work that higher beings<br />
began before birth.› (Steiner 1992, p. 19)<br />
Steiner also calls educators ‹midwives› of the child. At<br />
birth, the human being begins a relationship to the<br />
earthly world. An individual impulse begins life and<br />
pursues a purpose. The individuality of the human<br />
being is a spiritual reality and is not something that<br />
is built throughout life by education and environment.<br />
The human being is an individual from the start. In<br />
the process of incarnating, we human beings surround<br />
ourselves with so-called ‹sheathes›, our body and environment.<br />
Within these, we encounter things which<br />
make us ill and hinder our development. In this way,<br />
individuals begin to contend with the karmic sheathes.<br />
For those involved in education, it is important<br />
to accompany the children in accordance with their<br />
being. Educational measures can only affect these<br />
sheathes, because the individual can become neither<br />
ill nor disabled. Therapeutic impulses can also treat the<br />
sheaths and enable human beings to better cope with<br />
them and to gain insight into world relationships. In<br />
this way, their inner orientation grows, as does their<br />
ability to find purpose in life.<br />
Therefore, educators are challenged to recognize individual<br />
children in their spiritual individuality, to listen<br />
to their individual impulses, and to work with their<br />
sheaths in such a way that the children can take hold<br />
of and form these themselves.<br />
Education based on this approach has a healing effect.<br />
It unites what wants to become from the time<br />
before birth with the creation of something futurebearing,<br />
which can unfold after death. The impulses of<br />
the past and the future are held within it, and create<br />
the precious present moment out of which what is<br />
worthy of doing arises.<br />
Therefore, the most important thing is how much the<br />
educators are aware of in the present moment, and<br />
how comprehensive their consciousness is. The term<br />
164
Beiträge | Contributions<br />
‹presence of mind/spirit› [Geistesgegenwart] accurately<br />
points to the requisite state. Something spiritual needs<br />
to be realized. The entire approach to education is based<br />
on this apparent nothing, the present moment.<br />
Steiner expresses it in these words: ‹But when we actively<br />
work from the spirit, we must feel that we are<br />
faced daily, hourly with decisions – that we face the<br />
possibility with each deed to either do it or not to do<br />
it, or to behave completely neutrally. And courage,<br />
inner courage, is a part of these decisions. [….] And<br />
that courage only awakes when you recognize the importance<br />
of things: You are doing something that the<br />
gods otherwise do in the life between death and a new<br />
birth. To know this is incredibly important. Take this up<br />
in your meditation.› (Steiner, 1975, p. 41)<br />
Connecting ourselves with the whole<br />
Young children dare to take their first steps in the world<br />
due to the security of the bond that they were able<br />
to experience with another person. This inner security<br />
creates the prerequisite for discovering the world and<br />
the discoveries, on their part, strengthen the children’s<br />
self-confidence. Relationships with other people make<br />
us visible to others and we simultaneously become visible<br />
to ourselves.<br />
Relationships require support from many sides. They<br />
are prone to dysfunction and need to be cared for.<br />
Daily experiences need to be processed. If we experience<br />
things that we categorize as failures, we tend to<br />
separate ourselves from the world and withdraw into<br />
secure spaces. A relationship can quickly become full<br />
of fear and judgments. If we want to work against<br />
this tendency, we need secure spaces in which the<br />
mask doesn’t harden, but can rather be set aside.<br />
It is the task of education to enable children to build<br />
an unbiased relationship to the world, to accompany<br />
them in the interplay between I and world, between<br />
the microcosmic centre and the macrocosmos. ‹Consider<br />
– what is felt in a living way, what that means!<br />
How the idea of the cosmos and its connection with<br />
human beings turns into a feeling that makes holy<br />
every single undertaking in the lesson. If we don’t<br />
have such feelings about human beings and the cosmos,<br />
we cannot teach seriously and in the right way›,<br />
warns Steiner. (Steiner, 1992, p. 156)<br />
Martin Buber also described this interplay: ‹Healing<br />
and educating can only be achieved by one who is<br />
alive and present and yet lost in reverie.› (Buber, 1995)<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Both quotations point to the fundamental significance<br />
of human beings for the developmental process of the<br />
child. In the face of increasing environmental destruction<br />
and the wars in many countries, we can certainly ask<br />
ourselves: Do we really need human beings? Many young<br />
people argue that we don’t need human beings in this<br />
world: We are the source of disturbance that is destroying<br />
nature, and therefore our own basis for life and that<br />
of other living beings. Test yourself: ask yourself if you are<br />
absolutely convinced that we need human beings.<br />
Saying ‹yes› to human beings builds the foundation<br />
of a true trust in our existence. Notably, the Bible<br />
places this ‹yes› at the centre: ‹Love your neighbour as<br />
yourself.› Finding the human being in our self gives our<br />
existence meaning.<br />
However, showing what is inside us, showing the truly<br />
human in us, is a risk. We quickly fall into role-playing<br />
and wear a mask that hides what is inside us. In his acceptance<br />
speech, Nelson Mandela points to this when<br />
he quotes from the book ‹A Return to Love› by Marianne<br />
Williamson (1992):<br />
Our deepest fear is not that we are inadequate.<br />
Our deepest fear is that we are powerful beyond measure.<br />
It is our light, not our darkness, that most frightens us.<br />
To understand human beings, the interplay of the<br />
small, earthly and the great, cosmic human being – of<br />
point and periphery – is necessary. Only then can a holistic,<br />
dynamic image of the human being arise, which<br />
can always be created anew. From the perspective of<br />
the whole, each one always appears in a context in<br />
which nothing exists solely for itself, but for the whole.<br />
However human beings are created, with many talents<br />
or few, we are each unique and irreplaceable. We each<br />
have our place in the world order.<br />
Finding meaning and purpose<br />
The scope of educators’ work arises from the children’s<br />
developmental needs. It is not goal setting that is important,<br />
but finding meaning and purpose. The individual<br />
strives to find meaning and purpose, and everything<br />
that can help with this is an enrichment. The individual<br />
is not in competition with other individuals. When we<br />
live for meaning and purpose, there is no competition.<br />
This goes for institutions, schools or kindergartens. Their<br />
purpose, in brief, lies in helping children and youth become<br />
capable of freedom – in providing the I with the<br />
165
Beiträge | Contributions<br />
right conditions for incarnating. All who help to support<br />
this purpose, to better realize it, are friends and<br />
not competitors. Our ‹methods› are not something that<br />
should be protected and patented. On the contrary, they<br />
should continue to develop and to be corrected and improved<br />
based on experience in applying them. It makes<br />
sense to share everything with anyone who wants to<br />
work on it, so that the task can be better completed. The<br />
children are the most important thing. Their ability to<br />
find meaning and purpose and their healthy development<br />
are paramount.<br />
Viktor Frankl said that we cannot chase success and<br />
happiness, we must follow them. They are only unintended<br />
side effects of our own personal devotion to a<br />
meaning or purpose that is greater than us.<br />
Meaning or purpose [Sinn] can be translated not only<br />
as ‹meaning/definition› [Bedeutung], but, in a larger<br />
sense, also as task/purpose [Aufgabe]. That which we<br />
find deep within us and deem to be ‹right›, which was<br />
not laid upon us by others and with which perhaps no<br />
one else is tasked, creates meaning and purpose.<br />
Where do we stand today?<br />
Anthroposophic pedagogy and curative education have<br />
a common source that springs from the incorruptibility<br />
of each human being’s essence. Human individuals<br />
can be hindered or limited in their ability to express<br />
themselves or develop, but not in their innermost<br />
being. Pedagogical, curative educational and therapeutic<br />
measures that wish to strengthen the children’s and<br />
youths’ environment, their sheaths, address this incorruptible<br />
individual essence so that the individual capacities<br />
for learning and expression can unfold.<br />
Many schools have built a curriculum that enables individual<br />
advancement. The variety of learning styles, whether<br />
they stem from cultural or individual factors, brings<br />
up questions regarding teaching methods and content.<br />
Steiner’s indications for lesson design create innumerable<br />
rays of hope. Whether it is the atmosphere of learning,<br />
finding meaning and purpose, or connection with the<br />
whole, his suggestions support educators in their own<br />
learning, out of which appropriate actions can arise.<br />
Now, there is a way to understand life, a view of life<br />
that we acquire when want to reach inside everything<br />
with our intellect. In truth, this culture of the intellect<br />
does not further our development and therefore has<br />
no self-educational value. The element that must play<br />
the greatest role in human self-education is what we<br />
can call that which reaches beyond intellectuality and<br />
reason into acquiring maturity in life. Just as children<br />
are educated best through play – so that they are<br />
not educated through the intellect but through trying<br />
things out – in the same way, we human beings can<br />
best educate ourselves in terms of our will through<br />
life experiences that we don’t grasp with our intellect,<br />
but rather that we meet with our sympathy, with love,<br />
with our feeling that the things are sublime or that<br />
they touch our sense of humour. This helps us to develop.<br />
Herein lies the self-education of the will. Reason,<br />
intellectual culture usually cannot affect the will<br />
at all.› (Steiner 1983, p. 434)<br />
Education is an uninterrupted attempt to meet the<br />
learning situation of the child or youth with presence<br />
of mind. It requires courage to engage in the present<br />
moment. It requires the decision to carry out an action,<br />
to leave it undone, or to accompany the moment<br />
of life with composure.<br />
Florian Osswald, born in Basel, Switzerland,<br />
studied process engineering.<br />
After the training for curative education<br />
at Camphill, Scotland, he attended<br />
the teacher tutorial in Dornach,<br />
was teaching for 24 years at the Rudolf<br />
Steiner schools in Bern and Ittigen<br />
and served as a consultant in<br />
various countries. Since 2011 he is together<br />
with Claus Peter Röh in charge<br />
of the educational section at the<br />
Goetheanum.<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
References<br />
Buber, Martin (1995): Ich und Du. Reclam Verlag, Stuttgart.<br />
Steiner, Rudolf (1975): Heilpädagogischer Kurs (GA 317), 5.<br />
Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
Steiner, Rudolf (1982): Aufsätze über die Dreigliederung des<br />
sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-<br />
1921. Freie Schule und Dreigliederung (GA 24). Dornach: Rudolf<br />
Steiner Verlag.<br />
Steiner, Rudolf (1983): Menschengeschichte im Lichte der<br />
Geistesforschung. Die Selbsterziehung des<br />
Menschen im Lichte der Geisteswissenschaft (GA 61), 2. Aufl.<br />
Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
Steiner, Rudolf (1992): Allgemeine Menschenkunde als<br />
Grundlage der Pädagogik (GA 293), 9. Aufl. Rudolf<br />
Steiner Verlag, Dornach.<br />
Williamson, Marianne (1992): A Return to Love: Reflections on<br />
the Principles of A Course in Miracles. Harper Collins, New York.<br />
166
Kindheit und Vulnerabilität als Aufgaben im 21. Jahrhundert<br />
Von Jan Christopher Göschel<br />
Die Analyse der UNICEF zur Lage der Kinder weltweit<br />
(UNICEF Report on the State of the World’s Children<br />
<strong>2016</strong> 1 ), die dieses Jahr das siebzigjährige Bestehen<br />
der Organisation markiert, zeichnet ein Bild mit vielen<br />
Herausforderungen. Im Jahr 2014 waren 159 Millionen<br />
Kinder unter fünf Jahren (eine Zahl, die etwa der Gesamtsumme<br />
der Bevölkerungen von Italien, dem Vereinigten<br />
Königreich, Portugal, Ungarn, Griechenland, Kroatien<br />
und Bosnien und Herzegovina entspricht) von Unterentwicklung<br />
und Entwicklungsstörungen betroffen, die auf<br />
soziale, wirtschaftliche und ökologische Bedingungen<br />
zurückzuführen sind. Aus den aktuellen Daten wird geschätzt,<br />
dass ohne Veränderungen des Systems in den<br />
nächsten 14 Jahren 69 Millionen Kinder dieser Altersgruppe<br />
(etwa entsprechend der Gesamtbevölkerung<br />
von Frankreich) sterben werden. Gleichzeitig werden im<br />
Jahr 2030 etwa 167 Millionen Kinder (entsprechend der<br />
Gesamtsumme der Bevölkerungen von Deutschland,<br />
Österreich, Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen,<br />
Finnland, der Slowakei, der Tschechischen Republik, den<br />
Niederlanden und der Schweiz) in extremer Armut leben<br />
und 60 Millionen Kinder im Grundschulalter (etwa entsprechend<br />
der Gesamtsumme der Bevölkerungen von<br />
Polen, Estland, Lettland, Litauen, Irland, Mazedonien,<br />
Slowenien und Serbien) keine Schule besuchen können.<br />
Die Kindheit: Ein gefährdetes Lebensalter<br />
Die Ursache dieser Umstände ist laut der UNESCO-Analyse<br />
ein «bösartiger intergenerationeller Kreislauf, der<br />
Kindern den Zugang zu Entwicklungsmöglichkeiten abschneidet,<br />
soziale Ungleichheiten vertieft und eine Gefahr<br />
für Gesellschaften überall auf der Welt darstellt.» 2<br />
Die Grundrechte auf Sicherheit, Gesundheit, Spiel und<br />
Bildung von Kindern, die «aufgrund ihres Geburtsortes,<br />
ihrer Abstammung, ihrer Ethnizität oder ihres Geschlechtes,<br />
oder wegen einer Behinderung oder durch Armut»<br />
in dem Strudel dieses Kreislaufes gefangen werden,<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
werden verletzt. Damit werden ihnen die Grundlagen für<br />
eine gesunde Entwicklung vorenthalten. Dieser intergenerationelle<br />
Kreislauf, der bestehende Ungleichheiten<br />
nicht nur erhält, sondern mit jeder Generation verstärkt,<br />
wird heute durch die «immer mehr in die Länge gezogenen<br />
bewaffneten Konflikte, [...] Klimakatastrophen und<br />
chronischen Krisen» intensiviert, zu denen auch die Umstände<br />
zählen, die zur Langzeitheimatlosigkeit grosser<br />
Zahlen von Menschen weltweit führen. Eine Konsequenz<br />
ist, dass, obwohl sich generell der Zugang zu Bildung in<br />
vielen Teilen der Welt verbessert hat, die Gesamtzahl der<br />
Kinder im Schulalter, die keinen Zugang zu formaler Bildung<br />
haben, seit 2011 angestiegen ist.<br />
Gleichzeitig steht die Kindheit auch in wirtschaftlich privilegierten<br />
Situationen unter Druck, wenngleich aus anderen<br />
Gründen. Es wurde an anderen Stellen schon viel<br />
über die Auswirkungen von Stress geschrieben, der durch<br />
ein auf eng definierte Erfolgsmassstäbe ausgerichtetes<br />
Bildungswesen entsteht, sowie über die allgegenwärtige<br />
Präsenz von Medien, Informations- und Unterhaltungstechnologien,<br />
die immer tiefer in das kindliche<br />
Lebensfeld eindringen. Schon allein durch diese beiden<br />
Faktoren ist eine drastische Verminderung entwicklungsgemäss<br />
angemessenen Spielverhaltens feststellbar. Die<br />
Sinneserfahrungen und motorischen und sozialen Erlebnisse,<br />
die für eine gesunde neurologische und psychosoziale<br />
Reifung unabdingbar sind, werden immer mehr<br />
eingeschränkt. Dieser Rückgang wurde inzwischen mit<br />
einem Anstieg in kindlichen Angststörungen, Stress, Depressionen<br />
und Problemen der Aufmerksamkeit, Selbstregulierung<br />
und Narzissmus in Verbindung gebracht,<br />
deren immer weitere Verbreitung mit dem allmählichen<br />
Verschwinden des Spielens zusammenfällt. 3<br />
Die ‹Autismus-Spektrum-Störung› als Zeitphänomen<br />
Ein weiteres Phänomen, das vielleicht noch etwas<br />
schwerer interpretierbar ist, ist der Anstieg der Zahl der<br />
167
Beiträge | Contributions<br />
Personen mit einer diagnostizierten Autismus-Spektrum<br />
Störung. Im Jahr 2012 erfüllte zum Beispiel in den USA<br />
eines von 68 achtjährigen Kindern die Kriterien für eine<br />
Autismusstörung. Von diesen wurde bei 32% auch eine<br />
geistige Behinderung festgestellt, während weitere 25%<br />
in den Grenzbereich der geistigen Behinderung fielen.<br />
Zehn Jahre zuvor, im Jahr 2002, zählte man noch eines<br />
von 150 Kindern. Diese Zahlen verzeichneten also im<br />
Lauf der zehn vorhergehenden Jahre einen sehr starken<br />
Zuwachs und folgten damit weiter einem Trend, der<br />
schon mehrere Jahrzehnte anhält und sich jedenfalls in<br />
den anderen relativ wohlhabenden industrialisierten<br />
Ländern, in denen diese Zahlen zur Verfügung stehen,<br />
ähnlich gestaltet. 4<br />
Während im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass<br />
zumindest ein Teil dieses Anstiegs das Ergebnis veränderter<br />
diagnostischer Praktiken ist, ziehen inzwischen<br />
sogar sonst eher konservative Behörden wie die US Centers<br />
for Disease Control and Prevention (CDC) die Möglichkeit<br />
in Betracht, dass es tatsächlich auch eine Zunahme<br />
der Prävalenz autistischer Erscheinungen geben könnte.<br />
Andere Quellen sprechen mit drastischeren Worten<br />
von einer ‹Autismus-Epidemie›. Wie dem auch sei – es<br />
ist kaum bestreitbar, dass Autismus als ein Thema des<br />
21. Jahrhunderts in Gesundheit, Bildung und Sozialwesen<br />
im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist. (Nach<br />
einer Schätzung aus dem Jahr 2011 kostet der kindliche<br />
Autismus die USA jährlich bis zu 60,9 Milliarden US Dollar<br />
– ein Betrag, der etwa der Hälfte des gesamten Bildungshaushaltes<br />
auf Bundesebene entspricht.)<br />
Eine unsichtbare Eugenik steht gegenüber der Entwicklung<br />
inklusiver Kulturen<br />
Andererseits wurde durch Entwicklungen in der pränatalen<br />
Diagnostik die Zahl der Kinder, die mit bestimmten<br />
anderen Behinderungssyndromen geboren werden,<br />
schon drastisch reduziert. Das trifft vor allem auch auf<br />
das Down Syndrom zu. 5 Mit der fortschreitenden Ausweitung<br />
der Untersuchungsmethoden, die ein immer<br />
breiteres Spektrum chromosomenbedingter und genetischer<br />
Behinderungssyndrome erfassen, ist zu erwarten,<br />
dass sich auch dieser Trend der rückläufigen Geburtszahlen<br />
ausweitet. Im Fall des Down Syndroms führt diese<br />
fast unsichtbare neue Eugenik zu einer ungewöhnlichen<br />
und paradoxen Situation: Obwohl es inzwischen gut belegt<br />
ist, dass die Geburt eines Kindes mit Down Syndrom<br />
sich positiv auf die Lebensqualität der gesamten Familie<br />
(einschliesslich Eltern und Geschwister) auswirkt, löst<br />
die pränatale Diagnose Angst und Stress aus, wird als<br />
negatives Ereignis wahrgenommen und führt in den meisten<br />
Fällen zu einer Entscheidung, die Schwangerschaft<br />
zu beenden. 6<br />
Der sogenannte ‹Down Syndrom Vorteil› (Down syndrome<br />
advantage), der positive Effekt, den ein Familienmitglied<br />
mit Down Syndrom auf den Rest der Familie hat (und der<br />
sich unter anderem in subjektiven Indikatoren des Wohlbefindens,<br />
niedrigeren Scheidungsraten und besserer<br />
psychosozialer Entwicklung der Geschwister feststellen<br />
lässt), wurde bisher insbesondere für dieses Syndrom<br />
festgestellt. Aber die neue Eugenik steht auch im Kontrast<br />
zu dem allgemeinen Kulturphänomen einer grösseren gesellschaftlichen<br />
Offenheit und Anerkennung für Kinder<br />
(und Erwachsene) mit Behinderungen. Diese Wandlung<br />
gesellschaftlicher Haltungen, die sich phasenweise im 20.<br />
Jahrhundert entwickelte, spiegelt sich in der UN-Behindertenrechtskonvention<br />
und anderen Instrumenten wieder,<br />
die der Bewegung zu mehr gesellschaftlicher Inklusionsfähigkeit<br />
Form und Rechtskraft geben.<br />
Inklusion und ihre Nebenwirkungen<br />
Die Entwicklung zu mehr Vielfalt und Inklusivität, die so<br />
in transnationalen Vereinbarungen verankert wird, führt<br />
auch zu einer Neugestaltung öffentlicher Bildungssysteme<br />
– und zwar nicht nur in wohlhabenden Ländern, sondern<br />
auch in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen.<br />
Dabei haben aber die rechtlichen Vorgaben, welche<br />
die Vielfalt und Inklusion fördern sollten, manchmal unbeabsichtigte<br />
Nebeneffekte, die sich gerade auf die am<br />
meisten schutzbedürftigen Menschen negativ auswirken<br />
können. Eine starke politische Präferenz für Bildungssituationen,<br />
die als inklusiv gelten, kann – vor allem, wenn<br />
sie sich auch auf die Verteilung finanzieller Mittel auswirkt<br />
– dazu führen, dass Vielfalt und Auswahlmöglichkeiten<br />
eingeschränkt werden, indem die Optionen aus dem Spektrum<br />
von Bildungsangeboten entfernt werden, die gerade<br />
die komplexen Bedürfnisse derjenigen ansprechen, denen<br />
eine Standardlösung nicht gerecht wird. Wenn politische<br />
Fürsprache ideologisch fixiert und dann auch noch zur Kostensenkung<br />
instrumentalisiert wird, verlieren Systeme<br />
die Flexibilität, die sie benötigen, um undogmatische Lösungen<br />
zu schaffen, die auf einem unverzerrten Verständnis<br />
der jeweiligen Einzelsituation basieren.<br />
Think global, act local<br />
Diese sozialen, kulturellen und politischen Trends stellen<br />
einige der Kraftlinien dar, die sich im Feld der Pädagogik<br />
für Kinder in komplexen Lebenssituation überschnei-<br />
168
Beiträge | Contributions<br />
den und dieses formen. Als professionell Handelnde<br />
in diesem Feld stehen wir jeweils in einem bestimmten<br />
Moment an einer ihrer lokalen Schnittstellen. Es ist<br />
manchmal nicht einfach, den Blick von der konkreten Situation,<br />
dem einzelnen Kind und seinen Bedürfnissen<br />
zu lösen und auf die grössere Perspektive dieses Kräftespiels<br />
zu verlagern, um die individuelle Situation als<br />
einen Ort zu erkennen, an welchem global wirkende Kräfte<br />
ganz konkret ineinanderfliessen und eine individuelle<br />
Biografie mitformen.<br />
Als anthroposophische Berufspraktiker sind wir aufgefordert,<br />
nach dem bekannten Motto zu handeln: ‹Think<br />
global, act local.› Wenn wir uns die globalen sozialen<br />
und kulturellen Prozesse in einem dynamischen inneren<br />
Bild vergegenwärtigen können – den intergenerationellen<br />
Kreislauf, der die Armen ärmer und die Reichen<br />
reicher macht; die ökologischen Krisen und politischen<br />
Konflikte, die zu Migrationen und Heimatlosigkeit in<br />
einem noch nie dagewesenen Ausmass führen; die fortschreitende<br />
Abschaffung des Spielens durch Schule und<br />
Technologie; das Phänomen der Kinder, die nicht spielen<br />
lernen, selbst wenn die Möglichkeit dazu gegeben ist;<br />
die fast unbemerkte Rückkehr der Eugenik, zur gleichen<br />
Zeit, als auch die Werte der Vielfalt und sozialen Inklusion<br />
immer mehr in das Gegenwartsbewusstsein aufgenommen<br />
werden; die ideologische Instrumentalisierung<br />
dieser fortschrittlichen Werte zugunsten einer Sparsamkeitsagenda,<br />
welche die Verwundbarsten noch weiter<br />
marginalisiert –, wenn wir dieses Bild als eine Phänomenologie,<br />
eine Symptomatologie unserer Zeit erfassen<br />
können, dann finden wir vielleicht die vielen kleinen und<br />
bescheidenen Wege, auf denen wir die Dynamik eines<br />
destruktiven Kreislaufs genau dort unterbrechen können,<br />
wo ein einzelnes Leben oder eine kleine Gemeinschaft<br />
betroffen ist.<br />
In einem lebenden System geht Wandel nicht von einer<br />
Kommandozentrale aus, die den Gesamtorganismus kontrolliert.<br />
Systemischer Wandel kann an jedem Ort des Systems<br />
beginnen. Wenn eine Veränderung einmal an einer<br />
Stelle aufgetreten ist, hat sie die Tendenz, sich auch an<br />
anderen Stellen zu zeigen, selbst wenn keine offensichtliche<br />
Verbindung besteht und zunächst kaum eine Auswirkung<br />
auf das Gesamtsystem wahrnehmbar ist. Aber<br />
irgendwann, wenn die kleinen lokalen Wandlungsmomente<br />
kritische Masse erreichen und miteinander in Verbindung<br />
stehen, kann ihr Einfluss anfangen, sich durch<br />
das ganze System auszubreiten und dieses als Ganzes in<br />
einen neuen Funktionsmodus zu versetzen. Dieses nichtlineare<br />
Prinzip gilt nicht nur für pathologische Prozesse,<br />
sondern auch für Heilungs- und Entwicklungsprozesse.<br />
Vulnerabilität als Massstab für sozialen Wandel<br />
Der UNICEF-Bericht endet mit einem Handlungsaufruf,<br />
der einen weiteren Aspekt dieser nichtlinearen Dynamik<br />
systemischen Wandels unterstreicht. In Bezug auf positive<br />
Entwicklungen in der Situation von Kindern weltweit<br />
stellt er fest, dass diejenigen Bemühungen systemisch<br />
effektiv sind und die Situation einer ganzen Gesellschaft<br />
verbessern, die sich auf die verwundbarsten und<br />
am meisten marginalisierten Glieder einer Gesellschaft<br />
konzentrieren, die am wenigsten für ihre eigenen Interessen<br />
eintreten können. Wenn der Ansatzpunkt nicht<br />
‹ganz unten› ist, können sich zwar Verbesserungen für<br />
bestimmte Teile der Bevölkerung ergeben, aber diese<br />
setzen sich nicht ohne weiteres zu den verwundbarsten<br />
Gruppen fort. Es kann sogar sein, dass sich deren<br />
Lage als Konsequenz noch weiter verschlechtert. Positiver<br />
sozialer Wandel tropft also nicht nach unten (wie<br />
es die neoliberale Idee der sogenannten ‹trickle-down<br />
economics› behauptet), sondern läuft von unten nach<br />
oben. Das bedeutet, dass die hauptsächliche strategische<br />
Richtung für globalen Wandel mit kreativen Lösungen<br />
für komplexe systemische Probleme auf der lokalen<br />
Ebene ansetzen und sich auf die schwächsten, am meisten<br />
ausgegrenzten und dadurch verwundbarsten Kinder<br />
konzentrieren muss. Und je stärker diese lokalen<br />
Bemühungen über die Sektoren Gesundheit, Bildung<br />
und Sozialwesen miteinander vernetzt sind, je effektiver<br />
Ressourcen zwischen öffentlichen und privaten gemeinnützigen<br />
Initiativen und Netzwerken geteilt werden,<br />
je stärker kurzfristige Notfallinterventionen und langfristige<br />
Entwicklungsprojekte integriert werden und sich<br />
die Arbeit in inklusiven, auf Teilhabe und Kollaboration<br />
ausgelegten und in der Basis verankerten Prozessen abspielt,<br />
umso mehr werden die Bemühungen eine globale<br />
Wirkung entfalten.<br />
Beitrag der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
Ein solcher globaler sozialer und kultureller Wandel<br />
durch lokales Handeln im Dienst der verwundbarsten<br />
Mitglieder einer Gesellschaft war das ausdrückliche Ziel<br />
der Heilpädagogik, seit jene im Jahr 1861 zum ersten<br />
Mal systematisch dargestellt wurde. 7 Er muss auch weiterhin<br />
als Ziel der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
angesehen werden. Daraus ergeben sich einige spezi-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
169
Beiträge | Contributions<br />
fische Konsequenzen mit Blick auf das 100-jährige Jubiläum<br />
des Heilpädagogischen Kurses Rudolf Steiners:<br />
• Unser Augenmerk muss sich auf die Bedürfnisse<br />
der am meisten ausgegrenzten und verletzlichsten Kinder<br />
richten, während wir die Fortschritte in Bezug auf<br />
die Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung<br />
weiter pflegen. Die Antwort auf die Frage, wer am verwundbarsten<br />
ist, wird in jedem Kontext etwas anders<br />
ausfallen. Sie wird aber auf jeden Fall auch diejenigen<br />
Kinder mit einbeziehen, die von Heimatlosigkeit und<br />
Trauma betroffen sind, ebenso wie Kinder mit komplexen<br />
Behinderungen.<br />
• Wir müssen ebenso aufmerksam auf die jüngsten<br />
Kinder und die Herausforderungen sein, die sich für<br />
die sensorische und neurologische Entwicklung stellen<br />
– auch, und vielleicht gerade in wohlhabenden Industrieländern.<br />
Das bedeutet auch, sich für entwicklungsgemässe<br />
pädagogische Ansätze in den verschiedenen<br />
allgemeinen Bildungssystemen einzusetzen, in denen<br />
wir arbeiten.<br />
• Wir müssen auch weiterhin zu einer Kulturentwick -<br />
lung beitragen, in der menschliche Vielfalt und damit<br />
auch die volle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen<br />
wertgeschätzt wird. Damit wird der neuen Eugenik<br />
entgegengesteuert, die das Spektrum der menschlichen<br />
Inkarnationsmöglichkeiten immer weiter verengt.<br />
• Wir müssen unsere gegenseitigen Beziehungen als<br />
globale Bewegung vertiefen – unsere Fähigkeit, miteinander<br />
zu arbeiten, voneinander zu lernen und einander<br />
praktisch zu unterstützen, sowie Netzwerke, Partnerschaften<br />
und Austausch mit anderen in unserem Arbeitsfeld<br />
zu pflegen.<br />
Die geisteswissenschaftliche Grundlage unserer Arbeit<br />
kann uns helfen, das dynamische Verhältnis zwischen<br />
der Mikroperspektive unserer Alltagsarbeit mit einzelnen<br />
Kindern mit Unterstützungsbedarf und dem globalen<br />
Kontext zu erfassen, dessen Kräfte sich in dem<br />
Moment der Begegnung von Ich zu Ich überschneiden,<br />
und in die wir dadurch eingreifen können, indem wir<br />
diese Begegnung bewusst gestalten. Die zentrale Meditation,<br />
die Steiner denjenigen empfahl, die in jenem<br />
Feld tätig sind, ist ein Mittel, um diese innere Geste zu<br />
üben: die ganze globale Situation als gegenwärtig in der<br />
Begegnung zweier Menschen zu sehen, und gleichzeitig<br />
die Bedeutung zu erkennen, die die einzelne Begegnung<br />
für die gesamte Menschheit hat. Der Punkt ist Kreis; der<br />
Kreis ist Punkt. Durch die Situationen der Kinder im 21.<br />
Jahrhundert stehen wir den existentiellen Fragen der<br />
Menschheit gegenüber. Wenn wir innerlich die weiteste<br />
Perspektive auf die globale Entwicklung mit dem individuellen<br />
Entwicklungsprozess, der unmittelbar vor uns<br />
liegt, zusammen sehen können, dann eröffnet sich daraus<br />
der Ausblick auf die gegenwärtigen und zukünftigen<br />
Aufgaben für unsere gemeinsame Arbeit.<br />
Dr. Jan Christopher Göschel wurde an<br />
der Humanwissenschaftlichen Fakultät<br />
der Universität zu Köln im Fach<br />
Heilpädagogik und Rehabilitationswissenschaften<br />
promoviert. Er ist<br />
Mitglied des Leitungskollegiums der<br />
Schulgemeinschaft Camphill Special<br />
School in der Nähe von Philadelphia<br />
(Pennsylvania) und Leiter des Ausbildungsnetzwerkes<br />
der Camphill Gemeinschaften<br />
in Nordamerika.<br />
Notes<br />
1) United Nations Children’s Fund (<strong>2016</strong>): The State of the<br />
World’s Children <strong>2016</strong>: A fair chance for every child. New York,<br />
NY: UNICEF.<br />
2) Alle Zitate sind der Zusammenfassung des UNICEF Berichtes<br />
auf http://www.unicef.org/sowc<strong>2016</strong>/ entnommen (Übersetzung<br />
JG).<br />
3) Siehe zum Beispiel Gray, P. (2011). The Decline of Play and<br />
the Rise of Psychopathology in Children and Adolescents.<br />
American Journal of Play, 3(4); abgerufen auf http://www.jour-<br />
nalofplay.org/sites/www.journalofplay.org/files/pdf-articles/3-<br />
4-article-gray-decline-of-play.pdf<br />
4) Alle Zahlen von den Centers for Disease Control and Prevention<br />
(CDC). Abgerufen auf http://www.cdc.gov/ncbddd/autism/<br />
data.html<br />
5) Siehe Skotko, B.G. (2009). With new prenatal testing, will babies<br />
with Down syndrome slowly disappear? Archives of Disease<br />
in Childhood, 94(11), 823-6.<br />
6) Siehe Acharya, K. (2011): Prenatal testing for intellectual<br />
disability: Misperceptions and reality with lessons from Down<br />
syndrome. Developmental Disabilities Research Review, 17(1),<br />
27-31.<br />
7) Georgens, J.D. & Deinhardt, H.M. (1861): Die Heilpädagogik<br />
– Mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten.<br />
Fleischer, Leipzig. Available at http://150-jahre-heilpaedagogik.univie.ac.at/literatur/<br />
170
Childhood and Vulnerability: Tasks for the 21st Century<br />
By Jan Christopher Göschel<br />
The <strong>2016</strong> UNICEF report on ‹The State of the World’s<br />
Children› 1 , published this year on the 70th anniversary<br />
of the organization, presents a challenging picture<br />
of the wellbeing of children across the globe. In 2014,<br />
159 million children under age five (the equivalent of<br />
the combined population of Italy, the United Kingdom,<br />
Portugal, Hungary, Greece, Croatia and Bosnia and<br />
Herzegovina) were impacted by stunted development,<br />
suffering permanent developmental impairment as<br />
a consequence of social, economic and environmental<br />
conditions. Based on current data, the report projects<br />
that without systemic change, 69 million children<br />
(equivalent to the total population of France) under<br />
age 5 will die in the next 14 years. By 2030, 167 million<br />
children (equivalent to the combined population of<br />
Germany, Netherlands, Switzerland, Austria, Belgium,<br />
Denmark, Sweden, Norway, Finland, Czech Republic<br />
and Slovakia) will be living in extreme poverty, and 60<br />
million children of primary school age (equivalent to<br />
the combined population of Poland, Estonia, Latvia,<br />
Lithuania, Ireland, Macedonia, Slovenia and Serbia)<br />
will be out of school.<br />
Childhood: An Endangered Period of Life<br />
The root cause identified in the report is a ‹vicious intergenerational<br />
cycle that curtails children’s opportunities,<br />
deepens inequalities and threatens societies<br />
everywhere.› 2 Children who get caught in its vortex<br />
‹because of their place of birth; because of their race,<br />
ethnicity or gender; or because they have a disability<br />
or live in poverty› are denied the basic rights to safety,<br />
health, play and education ‹and deprived of what they<br />
need to grow up healthy and strong.› This intergeneratonal<br />
cycle, which not only perpetuates existing inequalities,<br />
but enhances them with each generational<br />
turn, is exacerbated today ‹by the increasingly protracted<br />
nature of armed conflict, […] climate-related disasters<br />
and chronic crises›, including those that lead to<br />
the persistent displacement of large numbers of people<br />
across the globe. As a result, even though access to<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
education has improved in many parts of the world,<br />
the total number of school age children around the<br />
world without opportunities for formal education has<br />
increased since 2011.<br />
Meanwhile, even in economically privileged situations,<br />
childhood is faced with its own set of challenges. Much<br />
has been written elsewhere about the impacts of stress<br />
generated by narrowly achievement-oriented educational<br />
systems and the ever-more intrusive presence<br />
of media and information/entertainment technology<br />
in children’s lives. The combined effect of these two<br />
factors alone is a drastic reduction of developmentally<br />
appropriate play, including the sensory, motor and social<br />
experiences necessary for healthy neurodevelopmental<br />
and psychosocial maturation. This decline has<br />
been linked to childhood anxiety, stress and depression,<br />
as well as difficulties with attention, self-regulation<br />
and narcissism which have all increased at the same<br />
time as play has gradually disappeared. 3<br />
‹Autism Spectrum Disorder› as a Phenomenon of<br />
our Time<br />
Another more puzzling phenomenon is the rise in the<br />
recorded incidence of autism spectrum disorders. In<br />
the US, for example, 1 in 68 eight year-old children<br />
(1 in 42 boys and 1 in 189 girls) qualified for some<br />
type of autism spectrum diagnosis in 2012. Of these,<br />
about 32% also qualified for an intellectual disability<br />
diagnosis, while another 25% fell into the borderline<br />
intellectual disability range. The overall numbers represent<br />
a very substantial increase from just ten years<br />
prior, when the recorded incidence was about 1 in 150.<br />
This increase continues a trend that has been seen for<br />
several decades and seems similar, at least across the<br />
mostly high-income industrialized countries where<br />
such data is available. 4<br />
While it is generally assumed that at least some of this<br />
increase is the result of changing diagnostic practices,<br />
even conservative authorities such as the US Centers<br />
for Disease Control and Prevention (CDC) now consider<br />
171
Beiträge | Contributions<br />
the possibility that there might be some true increase<br />
in the prevalence of the underlying phenomenon.<br />
Other sources speak more boldly of an ‹autism epidemic›.<br />
Regardless of this debate, it seems clear that autism<br />
has risen to the forefront of public awareness as a<br />
21st century issue in health, education and social welfare<br />
(with 2011 estimates that childhood autism might<br />
cost the US up to 60.9 billion per year – an amount<br />
equivalent to about half of the entire federal education<br />
budget line item).<br />
Invisible Eugenics versus the Development of<br />
Inclusive Cultures<br />
On the other hand, advances in prenatal diagnostics<br />
have already drastically reduced the number of<br />
children born with certain other types of developmental<br />
disabilities – most notably Down syndrome. 5<br />
As prenatal screening widens its catch to a broader<br />
spectrum of chromosomal abnormalities and genetically<br />
linked syndromes, this trend can be expected<br />
to become much more pervasive. In the case of<br />
Down syndrome, this almost invisible reemergence<br />
of eugenic practices has led to a peculiar and paradoxical<br />
situation: While there is a body of literature<br />
that convincingly shows that having a child with<br />
Down syndrome is connected with greater wellbeing<br />
of the entire family (including parents and siblings)<br />
after birth, the prenatal diagnosis of Down syndrome<br />
usually causes significant stress and anxiety and is<br />
experienced as a negative event, often leading to the<br />
decision to terminate the pregnancy. 6<br />
While the so-called ‹Down syndrome advantage›, the<br />
positive effect that having a family member with<br />
Down syndrome has on other family members (shown<br />
in greater subjective indicators of well-being, lower<br />
divorce rates of parents and enhanced psychosocial<br />
development among siblings), has been identified specifically<br />
for this syndrome, the new eugenics also stand<br />
in broader contrast to the cultural phenomenon of a<br />
more widespread acceptance and recognition of the<br />
value and place in society of children (and adults) with<br />
developmental disabilities. This shift, which has developed<br />
in stages throughout the 20th century, is reflected<br />
in the UN Convention on the Rights of Persons with<br />
Disabilities and other forms in which the movement towards<br />
ever greater inclusiveness of society as a whole is<br />
being formalized and given legal power.<br />
Inclusion and its Side Effects<br />
The movement towards an embrace of diversity and<br />
inclusiveness, now embedded in transnational agreements,<br />
is reshaping public educational systems – not<br />
only in high income countries, but also in middle and<br />
even in low income countries. However, legal mandates<br />
that claim to support diversity and promote inclusiveness<br />
sometimes have unintended consequences<br />
that negatively impact especially the most vulnerable<br />
people. A strong political and funding preference for<br />
educational placements that are considered ‹inclusive›<br />
can end up working against diversity and choice by<br />
eliminating the spectrum of educational options for<br />
those whose complex needs might not be met well by<br />
a one-size-fits-all approach. When political advocacy<br />
becomes ideological and is hijacked by attempts to cut<br />
costs, systems lose the flexibility to create undogmatic<br />
solutions that are based on a true understanding of<br />
unique individual situations.<br />
Think global, act local<br />
These social, cultural and political trends make up<br />
some of the force vectors that converge to shape the<br />
field of education for children in vulnerable life situations.<br />
As professional practitioners in this field, we stand<br />
at their intersection in a particular place and time. It is<br />
sometimes difficult to shift the gaze from the immediate<br />
situation in front of us, the individual child and his<br />
or her needs, to this larger play of forces and recognize<br />
the individual situation as a place where these forces<br />
come together in a particular way to impact an individual<br />
biography.<br />
However, as anthroposophic practitioners, we are<br />
called to do just that, in line with the familiar motto:<br />
‹Think global, act local.› If we can carry a dynamic inner<br />
picture of global social and cultural processes – the<br />
trap of intergenerational cycles that make the poor<br />
poorer and the rich richer; the ecological crises and<br />
political conflicts leading to migrations and displacements<br />
at a scale never known before in human history;<br />
the progressive elimination of play through education<br />
and technology; the appearance of ever more children<br />
who do not learn to play, even if given the opportunity;<br />
the almost invisible re-emergence of eugenics,<br />
at the same time as we embrace diversity and social<br />
inclusion as contemporary values; the ideological in-<br />
172
Beiträge | Contributions<br />
strumentalization of those same progressive values for<br />
an agenda of cost-cutting that marginalizes the most<br />
vulnerable even further – if we can carry this picture as<br />
the phenomenology, the symptomatology of our time,<br />
we can perhaps find the many small and unassuming<br />
ways through which we can break the dynamics of a<br />
destructive cycle right where it impacts one individual<br />
situation or one small community.<br />
In a living system, change does not come from some<br />
central place of command-and-control. Change can<br />
start at any place within the system. Once it has appeared<br />
in one place, it will begin to show up in other<br />
places, seemingly disconnected and with little effect on<br />
the system as a whole. But at some point, when the<br />
small local embodiments of change have achieved critical<br />
mass and interconnectedness, their influence can<br />
begin to reverberate and ripple through the entire system,<br />
shifting it into a different mode. Not only disease<br />
and social pathology, but also healing and developmental<br />
progress can be propagated in this non-linear way.<br />
Vulnerability as a Yardstick for Social Change<br />
The UNICEF report ends in a ‹Call for Action› that highlights<br />
another aspect of this non-linear dynamic of<br />
change. In reviewing developmental progress with regard<br />
to the situation of the world’s children, it finds that<br />
whenever the effort goes towards improving the situation<br />
of the most vulnerable, the most marginalized and<br />
those who are least able to advocate for themselves, all<br />
groups will end up better off. However, when the focus<br />
is elsewhere, improvements may happen for some segment<br />
of the population, but the they do not translate<br />
to the most vulnerable – and can even leave them more<br />
disadvantaged than before. In other words, positive social<br />
change trickles up, not down (as some neo-liberal<br />
economists would have it). Thus, the main strategic direction<br />
for leveraging global change is to develop new<br />
creative solutions to complex systemic problems at the<br />
local level, focusing on the most disadvantaged, marginalized<br />
and vulnerable children. And the more interconnected<br />
these local efforts are across the health,<br />
education and social sectors, sharing resources among<br />
private and public agencies and networks, integrating<br />
short-term emergency interventions and long-term development<br />
work and working in inclusive, bottom-up,<br />
collaborative and participatory processes, the more effectively<br />
they will gain global momentum.<br />
Contribution of Anthroposophic Curative Education<br />
Such global social and cultural change through local action<br />
in support of society’s most vulnerable members<br />
has been the expressed goal of ‹Heilpädagogik› (the original<br />
term for what is often rendered as ‹curative education›<br />
in an English-speaking anthroposophic context)<br />
since it was first articulated in 1861. It must remain the<br />
goal of the anthroposophic curative education as well.<br />
This has a number of implications for our work as we look<br />
ahead towards the 100th anniversary of Steiner’s ‹Curative<br />
Education Course›:<br />
• We will need to be attentive to the most vulnerable<br />
and marginalized children in today’s world and develop<br />
ways of addressing their needs, even as we continue<br />
to support the achievements and progress towards<br />
inclusion made in the field of intellectual and developmental<br />
disabilities. While the answer to the question<br />
of who is most vulnerable will vary across contexts, this<br />
will certainly include working with children affected by<br />
displacement and trauma, as well as complex and multiple<br />
disabilities.<br />
• We will need to pay attention to the youngest children<br />
and the various challenges to sensory and neurodevelopmental<br />
health that impact early development<br />
– also, and maybe especially, in wealthy industrialized<br />
societies. This also means advocating for developmentally<br />
appropriate approaches throughout the various<br />
education systems within which we work.<br />
• We will need to continue to build cultures that value<br />
human diversity, including the presence and contribution<br />
of those living with a disability, in order to counter<br />
the new eugenics that increasingly closes the door to a<br />
whole spectrum of possibilities for incarnation.<br />
• We will need to strengthen our interconnectedness<br />
as a global movement – our ability to work with each<br />
other, learn from each other and support each other in<br />
practical ways, as well as our networking, partnerships<br />
and exchange with others active in our fields of work.<br />
The spiritual scientific foundation of our work can help us<br />
understand and work with the dynamic interrelationship<br />
between the micro-perspective of the day-to-day work with<br />
individual children in need of care and support and the<br />
global context whose forces converge in this moment of<br />
the I-to-I encounter, and to which we can apply leverage<br />
through the way we shape that encounter. The central me-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
173
Beiträge | Contributions<br />
ditation that Steiner gave to those working in this field is a<br />
tool to practice this inner gesture: to see the whole global<br />
situation present within the meeting of two human beings,<br />
and to see the significance of what happens in that meeting<br />
for the whole of humanity. The point is the circle; the<br />
circle is the point. The situations of children in the 21st<br />
century bring us face-to-face with the existential question<br />
of humanity. When we can inwardly hold together the widest<br />
possible view of global developments with the individual<br />
developmental path right in front of us, then that<br />
perspective opens up, in which we can find the present<br />
and future tasks for our work together.<br />
Jan Christopher Göschel holds a PhD<br />
in special education and rehabilitation<br />
sciences from the faculty of<br />
Human Sciences of the University<br />
from Cologne. He is a member of the<br />
director team of the Camphill Special<br />
School near Philadelphia (Pennsylvania)<br />
and in charge of the Training<br />
Network of Camphill communities in<br />
North America.<br />
References<br />
1) United Nations Children’s Fund (<strong>2016</strong>). The State of the<br />
World’s Children <strong>2016</strong>: A fair chance for every child. New<br />
York, NY: UNICEF.<br />
2) All quotes are from the summary of the UNICEF report at<br />
http://www.unicef.org/sowc<strong>2016</strong><br />
3) See for example Gray, P. (2011). The Decline of Play and<br />
the Rise of Psychopathology in Children and Adolescents.<br />
American Journal of Play, 3(4); Retrieved from http://www.<br />
journalofplay.org/sites/www.journalofplay.org/files/pdfarticles/3-4-article-gray-decline-of-play.pdf<br />
4) All data from Centers for Disease Control and Prevention<br />
(CDC). Retrieved from http://www.cdc.gov/ncbddd/autism/<br />
data.html<br />
See Skotko, B.G. (2009). With new prenatal testing, will babies<br />
with Down syndrome slowly disappear? Archives of Disease in<br />
Childhood, 94(11), 823-6.<br />
5) See Acharya, K. (2011). Prenatal testing for intellectual disability:<br />
Misperceptions and reality with lessons from Down syndrome.<br />
Developmental Disabilities Research Review, 17(1), 27-31.<br />
6) Georgens, J.D. & Deinhardt, H.M. (1861). Die Heilpädagogik<br />
– Mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten.<br />
Leipzig: Fleischer. Available at http://150-jahreheilpaedagogik.univie.ac.at/literatur<br />
174
Die Dynamik von Punkt und Kreis als Grundlage von Bindungssicherheit<br />
Von Annette Pichler<br />
Eine Untersuchung der Polarität von Punkt und Kreis (Steiner<br />
1924) zeigt im Hinblick auf Ergebnisse der Bindungsforschung<br />
ein erweitertes konzeptionelles Verständnis<br />
von Bindungsdynamik und bietet zudem die Möglichkeit,<br />
Bindungsverhalten innerlich nachvollziehend zu erleben.<br />
Daraus ergeben sich konkrete Möglichkeiten der Selbstführung<br />
im Sinne des pädagogischen Gesetzes (Steiner 1924).<br />
Punkt und Kreis<br />
Der im Heilpädagogischen Kurs (Steiner 1924) dargestellte<br />
Punkt-Kreis-Gedanke ist ein zentrales Instrument<br />
der anthroposophischen Heilpädagogik (Schmalenbach<br />
2001). Der Ursprung dieses Gedankens lässt sich bereits<br />
in früheren Werken finden. So beschreibt Steiner menschliches<br />
Sein als Bewusstsein, das zwar im Leib zentriert<br />
lebt, jedoch durch seine seelische Antwort auf Erfahrungen<br />
in eine bewegte Korrespondenz zur Welt tritt und<br />
sich, insofern es zu einem Ort des Geistes wird, sogar unbegrenzt<br />
in den Umkreis erweitern kann (Steiner 1904).<br />
Diese Beziehung des Ich zur Welt zeigt sich auch in der<br />
Morphologie der menschlichen Gestalt. Im Kopf findet<br />
sich eine tendenziell kugelig-abgeschlossene Form mit<br />
dem Mittelpunkt der Kugel im Inneren; in diesem zwar<br />
durch die Sinnesorgane zur Welt geöffneten, jedoch verhältnismässig<br />
geschützten Raum findet die Aktivität der<br />
Wahrnehmungsverarbeitung statt. Der Brustbereich stellt<br />
sich als eine nach hinten abgeschlossene, nach vorne offene<br />
«Mondenform», als «Kugelfragment» (Steiner 1919,<br />
S. 146) dar, wobei der Mittelpunkt der Kugel im Raum vor<br />
der Brust liegt; hier entsteht das Wechselspiel zwischen<br />
Wahrgenommenem und seelischer Reaktion. In den Gliedmassen<br />
öffnet sich die Gestalt schliesslich ganz zur Welt,<br />
Steiner bezeichnet sie daher als «Radien einer Kugel»<br />
(Steiner 1919, S. 147), deren Zentrum potenziell überall<br />
dort im Raum entsteht, wohin die Bewegung der Gliedmassen<br />
intendiert. Da wir uns mit unseren Gliedmassen<br />
jederzeit in jede Richtung wenden und dadurch zu den<br />
Handlungen anderer Menschen in Beziehung setzen können,<br />
entsteht hier eine quasi unendliche Kugelfläche.<br />
Vor diesem Hintergrund beschreibt Steiner im dritten,<br />
vierten und fünften Vortrag des Heilpädagogischen<br />
Kurses die Situation der ihm vorgestellten Kinder. Die<br />
beschriebenen Phänomene wurden später als «Polaritäten»<br />
bekannt (Holtzapfel 1990; Niemeijer, Gastkemper<br />
& Kamps 2011). Im dritten und vierten Vortrag beschreibt<br />
Steiner, dass Ich und Astralleib den physischätherischen<br />
Leib (Punkt) ergreifen, sich diesem jedoch<br />
nicht unterwerfen, sondern ihn, im Gegenteil, «ausschalten»<br />
(Steiner 1924, S. 36) und sich in unmittelbare<br />
Beziehung zu den Kräften der Aussenwelt (Kreis) stellen.<br />
Dieses schwingende Verhältnis zwischen Punkt und<br />
Kreis kann aus dem Lot geraten: Während es bei Epilepsie<br />
oder «geschlossen-gestauter Konstitution» (Niemeijer<br />
et al. 2011) zu Verdichtung, Verkrampfung von Ich<br />
und Astralleib in einem Punkt im Körper kommt, verlieren<br />
sich Ich und Astralleib bei «Hysterie» (Steiner 1924,<br />
S. 56) oder «offen-ausfliessender Konstitution» (Niemeijer<br />
et al. 2011) im Umkreis.<br />
Noch deutlicher erscheint der Punkt-Kreis-Gedanke dann<br />
im fünften Vortrag auf der siebten Tafelzeichnung in den<br />
polaren Grundgesten von Reflexion und Intentionalität: Der<br />
Kopf zentriert Wahrnehmungen, während die Gliedmassen<br />
Handlungen im Umkreis gestalten. Im Kopf integriert<br />
das Ich Wahrnehmungen und versucht, seine biografische<br />
Identität zu erfassen. Durch die Gliedmassen versucht das<br />
Ich entsprechend seiner Wahrnehmungen, Gedanken und<br />
Absichten in der Umwelt zu handeln. Das vermittelnde Element<br />
zwischen diesen Polen ist das Fühlen.<br />
Im zehnten Vortrag schliesslich entwickelt Steiner die<br />
Punkt-Umkreis-Übung als Meditation: «… dass Sie sich<br />
am Abend einleben in das Bewusstsein: In mir ist Gott, in<br />
mir ist Gott, oder der Gottesgeist, oder was immer … und<br />
am Morgen so, dass das hineinstrahlt in den ganzen Tag:<br />
Ich bin in Gott … Das ist eines und dasselbe, die obere<br />
und untere Figur (siehe Tafel 12). Und Sie müssen einfach<br />
verstehen: das ist ein Kreis, das ist ein Punkt. Es kommt<br />
nur abends nicht heraus, es kommt nur morgens heraus.<br />
Morgens müssen Sie denken: das ist ein Kreis, das ist ein<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
175
Beiträge | Contributions<br />
Punkt. Sie müssen verstehen, dass ein Kreis ein Punkt,<br />
ein Punkt ein Kreis ist.» (Steiner 1924, S. 147). Umgeben<br />
vom Kreis meines Seins kann ich im Punkt das Göttliche<br />
in mir aufnehmen, ausgehend vom Punkt meines Seins<br />
werde ich vom Göttlichen im Kreis aufgenommen. Wenn<br />
ich davon ausgehe, dass in jedem Menschen das Göttliche<br />
wohnt, dann ist dies ist auch ein sozialer Prozess: Ich<br />
komme sowohl im Punkt als auch im Kreis mit dem geistigen<br />
Prinzip im Du in Berührung. Indem ich sage «Gott ist<br />
in mir», nehme ich zugleich wahr, dass das Göttliche im<br />
Du lebt. Das Ich des Anderen bleibt zwar ein Rätsel, ein<br />
Fremdes – aber wir können uns durch den Ich-Sinn (Steiner<br />
1919, S. 124 ff.) der Wirklichkeit des anderen nähern.<br />
Zugleich werden wir durch den Ich-Sinn der anderen vom<br />
Umkreis wahrgenommen: «Ich bin in Gott.» Punkt und<br />
Kreis sind daher nur zwei Varianten einer schwingenden<br />
Bewegung: «Sie müssen verstehen, dass ein Kreis ein<br />
Punkt, ein Punkt ein Kreis ist.»<br />
Steiner beschreibt mit dem Punkt-Kreis-Gedanken Grundphänomene<br />
seelisch-geistiger Bewegung; diese wurden,<br />
wenngleich vor anderem Hintergrund, ähnlich von<br />
Fritz Riemann (2007) in seinem Werk «Grundformen der<br />
Angst» beschrieben. Auch bei traumatischer Belastung<br />
lassen sich Tendenzen zu Punkt (Vermeidung, Erstarrung)<br />
und Kreis (Panikattacken, Dissoziation) erkennen. Da es<br />
vielfältige Bezüge zwischen Angst, Trauma und Bindung<br />
gibt, lohnt sich eine Untersuchung des Punkt-Kreis-Gedankens<br />
im Hinblick auf die Ergebnisse der Bindungsforschung.<br />
Es zeigt sich, dass der Punkt-Kreis-Gedanke ein<br />
erweitertes konzeptionelles Verständnis von Bindungsdynamik<br />
erlaubt und die Möglichkeit bietet, Bindungsverhalten<br />
innerlich nachvollziehend zu erleben.<br />
Bindungsforschung<br />
John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, stellte<br />
die Hypothese auf, dass jedes Kind mit einem biologisch<br />
angelegten Bindungsverhaltenssystem geboren<br />
wird, welches bei Angst oder Schmerzen aktiviert wird,<br />
durch Bindungssignale emotionale Nähe zur Bezugsperson<br />
herstellt und so das Überleben sichert (Bowlby<br />
1958, 1973). Wird das Bindungsverhaltenssystem durch<br />
feinfühlige und zuverlässige Reaktion der Bezugsperson<br />
reguliert, kann das Kind von dieser «sicheren Basis» aus<br />
die Welt erkunden (Ainsworth & Bell 1970). Findet diese<br />
Regulation nicht statt, ist auch die Explorationsfähigkeit<br />
eingeschränkt. Das Bindungsverhaltenssystem steht<br />
also in wechselseitiger Abhängigkeit zum Explorationsverhaltenssystem<br />
(Waters, Bretherton & Vaughn 2015).<br />
Auch im Jugend- und Erwachsenenalter wird das Bindungsverhaltenssystem<br />
in verunsichernden Situationen<br />
aktiviert (Mikulincer & Shaver 2010).<br />
Bowlbys Mitarbeiterin Mary Ainsworth beobachtete mit<br />
einer standardisierten Untersuchungsmethode Bindungsund<br />
Explorationsverhalten von Kindern zwischen 12 und<br />
18 Monaten 1 in Anwesenheit der Bezugsperson sowie bei<br />
Trennung und Rückkehr (Ainsworth & Bell 1970). Sie identifizierte<br />
zunächst drei Bindungsmuster mit diversen Subtypen<br />
(Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 2015):<br />
• Unsicher-vermeidende Kinder (A) zeigen tendenziell<br />
wenig oder keine Reaktion bei Trennung von<br />
der Bezugsperson und meiden sie bei deren Rückkehr.<br />
Sie spielen oft scheinbar zufrieden, ihr Explorationsverhalten<br />
ist jedoch eingeschränkt und physiologische<br />
Messungen zeigen, dass sie unter Stress stehen<br />
(Spangler & Schieche 1998, in Brisch 2004, S. 31).<br />
• Sicher gebundene Kinder (B) zeigen leichte Unruhe<br />
oder weinen, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt.<br />
Sie suchen bei der Rückkehr Trost und Nähe und<br />
können dann wieder mit hoher Qualität explorieren.<br />
• Unsicher-ambivalente oder unsicher-verstrickte<br />
Kinder (C) sind sehr ängstlich, wenn die Bezugsperson<br />
den Raum verlässt. Bei der Rückkehr lassen sie sich<br />
nur schwer beruhigen und zeigen Wut und Widerstand<br />
bei gleichzeitigem Kontaktbedürfnis. Ihre Explorationsversuche<br />
sind durch ständige Rückversicherungen zur<br />
Bezugsperson eingeschränkt, ohne dass sie von dieser<br />
die nötige Sicherheit bekämen.<br />
• Die erst später identifizierten unsicher-desorganisierten<br />
Kinder (D) zeigen abgebrochene Annäherungen,<br />
Stereotypien, ängstliches Verhalten gegenüber<br />
der Bezugsperson sowie eingefrorene Bewegungen (Lyons-Ruth<br />
& Jacobvitz <strong>2016</strong>).<br />
Die Bindungsforschung hat Feinfühligkeit – die Fähigkeit<br />
der Bezugsperson, auf Gefühlsäusserungen und Bedürfnisse<br />
des Kindes angemessen, zuverlässig und prompt<br />
zu reagieren – als zentralen ätiologischen Faktor für Bindungsmuster<br />
nachgewiesen. Obwohl noch Forschungsbedarf<br />
besteht, z.B. im Hinblick auf die Interaktion zwischen<br />
kindlicher Reizbarkeit und Feinfühligkeit der Bezugsperson<br />
(Vaughn & Bost <strong>2016</strong>), lässt sich sagen: Feinfühlige, zuverlässige<br />
und prompte Reaktion der Bezugsperson geht sehr<br />
häufig mit Typ B (sicher) einher, während Typ A (vermeidende)<br />
Kinder häufig Bezugspersonen haben, die wenig oder<br />
kaum auf sie reagieren. Widersprüchliches Verhalten der<br />
Bezugsperson führt häufig zu Typ C (ambivalent). Ursa-<br />
176
Beiträge | Contributions<br />
chen für Typ D (desorganisiert) sind Misshandlungen, aber<br />
auch anderes beängstigendes Verhalten, z.B. aufgrund von<br />
Flashbacks selbst traumatisierter Eltern (Lyons-Ruth & Jacobvitz<br />
<strong>2016</strong>). Daraus lässt sich schliessen, dass Kinder in<br />
Abhängigkeit von dem Verhalten der jeweiligen Bezugspersonen<br />
unterschiedliche Bindungsmuster entwickeln (Lyons-Ruth<br />
& Jacobvitz <strong>2016</strong>). Kinder binden sich aufgrund<br />
der überlebenssichernden Funktion des Bindungsverhaltenssystems<br />
immer an ihre Bezugspersonen – auch wenn<br />
deren Verhalten bedrohlich, verwirrend oder beängstigend<br />
ist. Im Extremfall kommt es zu Bindungsstörungen im Kindesalter.<br />
Aber auch viele erst später auftretende Verhaltensauffälligkeiten<br />
und psychische Störungen stehen in<br />
Zusammenhang mit Bindungserfahrungen (Brisch 2002,<br />
2013; Holmes, 2012) und unsichere Bindungsmuster korrelieren<br />
mit Gesundheitsproblemen im Erwachsenenalter<br />
(Vaughn & Bost <strong>2016</strong>). Sichere Bindungsmuster hingegen<br />
gelten als Schutzfaktor für die Entwicklung über die<br />
Lebensspanne (Brisch 2004). In der Kindheit erworbene<br />
Bindungsmuster sind stabil, wenn sie nicht durch später<br />
gemachte positive oder negative Erfahrungen beeinflusst<br />
werden; dabei können sich sowohl sichere Muster zu unsicheren<br />
verändern als auch umgekehrt (Grossmann &<br />
Grossmann 2012).<br />
Fühlen lernen durch Affektspiegelung<br />
Eine besondere Rolle spielt der Umgang der Bezugsperson<br />
mit den Gefühlsäusserungen des Kindes, da dieses<br />
nur geringe gefühlsregulierende Kompetenzen hat.<br />
Bereits in den 1960er Jahren wurde die Bedeutung des<br />
«Spiegelns» für die emotionale Entwicklung entdeckt<br />
(Winnicott 2008). Seit den 1990er Jahren konnte ein britisches<br />
Forscherteam zeigen, dass Eltern kindliche Gefühle<br />
durch Mimik, Stimmlage und Gestik «markieren»,<br />
d.h. sie leicht übertrieben – bei bedrohlichen Gefühlen<br />
auch abgeschwächt – wiedergeben. So erlebt das Kind<br />
seine Gefühle als real und ihm selbst zugehörig. Es lernt,<br />
zwischen sich selbst und anderen zu unterscheiden. Zugleich<br />
werden Gefühle reguliert und für das Kind bewältigbar.<br />
Weiterhin benennt die Bezugsperson durch das<br />
Eingehen auf die Gefühlsausdrücke des Kindes innere<br />
Zustände: Gefühle, Wünsche, später auch Absichten und<br />
Überzeugungen. Dies ist Grundlage für das «Mentalisieren»:<br />
Verhalten als Ausdruck von inneren Zuständen zu<br />
interpretieren, dabei eigene innere Zustände von denen<br />
anderer zu unterscheiden sowie Gefühle und Aussenwelt<br />
zu trennen (Fonagy, Gergely, Jurist & Target 2010).<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Diese wichtigen Entwicklungsschritte in der frühen Kindheit<br />
können durch ungenügendes oder unpassendes Affektspiegeln<br />
der Bezugsperson beeinträchtigt werden,<br />
z.B. wenn sie die Gefühle des Kindes ignoriert, sich von<br />
seinen Gefühlen überwältigen lässt oder zu sehr ihre eigenen<br />
Gefühle wiedergibt, statt die des Kindes zu markieren.<br />
Betroffene haben es dann schwer, ihre Gefühle<br />
von denen anderer zu unterscheiden. Diese Einschränkungen<br />
in Subjekt-Objekt-Differenzierung und Mentalisierungsfähigkeit<br />
begünstigen schwere psychische<br />
Störungen, insbesondere Borderline (Fonagy et al. 2010).<br />
Bindung vor dem Hintergrund von «Sympathie»<br />
und «Antipathie»<br />
Fraley & Spieker (2003) konnten zeigen, dass – trotz der<br />
letztlich von Ainsworth gewählten typologischen Darstellung<br />
– Bindungsverhalten wahrscheinlich eher als<br />
Kontinuum zu sehen ist; dafür spricht auch, dass mehrere<br />
Subtypen existieren, die jeweils Mischformen aus<br />
benachbarten Typen darstellen (Kissgen 2008). Die von<br />
Fraley & Spieker ermittelten Dimensionen sind Nähe suchen<br />
vs. Nähe vermeiden und Ärger/Widerstand zeigen<br />
vs. Ärger/Widerstand nicht zeigen. Im Folgenden beschränke<br />
ich mich auf erstere und stelle die Hypothese<br />
auf, dass sich die von Ainsworth entdeckten Bindungsverhaltensmodi<br />
in Beziehung zu der von Rudolf Steiner<br />
beschriebenen polaren Dynamik zwischen Sympathie<br />
und Antipathie (Steiner 1919) setzen lassen. (Tab. 1)<br />
Tab. 1<br />
Antipathie:<br />
Vorstellen<br />
Kopf, abschliessend<br />
Ich: zentrierend<br />
Fühlen<br />
Herz, ausgleichend<br />
Ich: vermittelnd<br />
Sympathie:<br />
Wollen<br />
Gliedmassen: öffnend<br />
Ich: peripher<br />
Nähe vermeiden Flexible Nähe Abhängige Nähe<br />
Bindung:<br />
unsicher-vermeidend (A)<br />
Bindung:<br />
sicher (B)<br />
Bindung:<br />
unsicher-verstrickt (C)<br />
Das Schwingen zwischen Sympathie und Antipathie<br />
sieht Steiner als Voraussetzung für den «Ich-Sinn» zur<br />
Wahrnehmung des Gegenübers als Individualität (Steiner<br />
1919). Ich gehe davon aus, dass Menschen mit unsicherem<br />
Bindungsverhalten in dieser Fähigkeit zunächst<br />
eingeschränkt sind, weil sie aufgrund des erlebten Mangels<br />
an Responsivität seitens ihrer Bezugspersonen sowohl<br />
zu sich selbst als auch zum Gegenüber ein wenig<br />
flexibles Verhältnis haben. Menschen mit vermeidendem<br />
Bindungsverhalten (A) beziehen sich demnach in<br />
einer antipathischen, einseitig mehr abschliessenden<br />
177
Beiträge | Contributions<br />
Geste eher auf Erfahrungen der Vergangenheit: Sie öffnen<br />
sich kaum oder gar nicht für neue Erfahrungen in<br />
Exploration und Bindung. Menschen mit ambivalentem<br />
Bindungsverhalten (C) sind hingegen in einer sympathischen,<br />
schutzlos offenen Geste mit ihren Bindungspersonen<br />
verstrickt: Sie leben eher in der Zukunft, im Warten<br />
auf eine Reaktion der Bindungsperson bzw. Angst vor<br />
möglicher Trennung, sie verlieren sich an den anderen.<br />
Menschen mit sicherem Bindungsverhalten (B) sind in<br />
der Lage, zwischen diesen beiden Polen immer wieder<br />
eine gute Balance zu erreichen und haben die Fähigkeit,<br />
einen inneren, gehaltenen Gefühlsraum zu bilden. Weiter<br />
unten werde ich zeigen, dass die Punkt-Umkreis-Meditation<br />
eine Möglichkeit darstellt, diesen Gefühlsraum<br />
zu entwickeln.<br />
Je sicherer also eine Person zu sich selbst in Beziehung<br />
steht, desto besser kann sie sich auch auf die Beziehung<br />
zum Gegenüber einlassen. Der so gebildete «sichere<br />
Hafen» (Ainsworth et al. 2015) ist nicht nur für Säuglinge<br />
und Kleinkinder von Bedeutung, sondern für jeden Menschen<br />
in verunsichernden Situationen. Da Behinderung<br />
das Risiko für eine Traumatisierung erheblich erhöht<br />
(Senckel 2008), gilt dies besonders für Kinder, Jugendliche<br />
und Erwachsene mit einer Behinderung.<br />
Bindungsbewusste professionelle Beziehungsgestaltung<br />
Wie oben erwähnt, wird Bindungsverhalten häufig von<br />
Bezugspersonen übertragen; statistisch gesehen zeigen<br />
ca. 40% einer Erwachsenenpopulation unsicheres<br />
Bindungsverhalten (van Ijzendoorn & Bakermans-Kranenburg<br />
2009), mit eventuell zunehmender Tendenz<br />
(Konrath, Chopik, Hsing & O’Brien 2014). Für gefährdete<br />
Familien wurden Interventionen entwickelt, um elterliche<br />
Feinfühligkeit zu trainieren (Brisch 2010). Zwar muss zwischen<br />
Bindung im familiären Umfeld und im professionellen<br />
Kontext unterschieden werden (Weber-Boch 2011),<br />
jedoch haben Fachkräfte in der sozialen Arbeit einen<br />
erheblichen Einfluss auf die Bindungssicherheit ihrer<br />
KlientInnen. Insbesondere wenn Angehörige nicht als Bindungsperson<br />
zur Verfügung stehen, entstehen auf Fachkräfte<br />
gerichtete Bindungserwartungen. Fachkräfte halten<br />
KlientInnen unter Umständen in künstlicher Hilflosigkeit,<br />
um durch ihre «Hilfe» die Erfüllung verdrängter eigener<br />
Bedürfnisse symbolisch auszuagieren (Schmidbauer<br />
1977). Es ist zu vermuten, dass dabei auch unerfüllte Bindungsbedürfnisse<br />
eine Rolle spielen können. Ähnliche<br />
Phänomene werden im psychotherapeutischen Kontext<br />
beschrieben (Schmidt-Lellek 2002). Daher ist es sinnvoll,<br />
für die Ausbildung von Fachkräften Instrumente zur Reflexion<br />
der eigenen Bindungsdynamik zu entwickeln.<br />
Die Punkt-Kreis-Meditation: Instrument zur Selbstreflexion<br />
und Entwicklung von Bindungssicherheit<br />
Die Punkt-Kreis-Meditation nimmt in diesem Zusammenhang<br />
eine besondere Stellung ein. Zunächst erweitert der<br />
Punkt-Kreis-Gedanke das Verständnis von Bindung um<br />
eine spirituelle Perspektive: Als originär geistige, jedoch<br />
punktuell inkarnierte Wesen brauchen wir auch deswegen<br />
andere Menschen, weil die Begegnung mit dem<br />
Gegenüber die Rückbindung an die kosmische Sphäre<br />
herstellt. Weiterhin entwickelt die Meditation bildhaft<br />
einen schwingenden Gefühlsraum und sie befähigt dazu,<br />
sich auf den kindlichen Modus, in welchem Bindungsverhalten<br />
ursprünglich entstanden ist, einzustimmen.<br />
Die Punkt-Kreis-Meditation als Bild öffnet uns einen<br />
konkreten Zugang zum inneren Erleben der oben beschriebenen<br />
Bindungsverhaltensmuster. Ich vermute,<br />
dass Menschen mit Bindungsverhaltensmuster A oder<br />
C es unter Umständen schwerer haben, die Schwingung<br />
zwischen den Polaritäten Punkt und Kreis zu vollziehen.<br />
Dass sie dabei sowohl dem Punkt als auch dem Kreis verhaftet<br />
sind, lässt sich an einer näheren Betrachtung der<br />
beiden Punkt-Umkreis Bilder zeigen (Abb. 1 und 2):<br />
Abb. 1<br />
«Gott ist in mir»: Menschen mit unsicher-verstricktem Bindungsverhalten<br />
(C) bleiben immer in der Nähe des Du,<br />
weil sie unsicher sind, wann sie von diesem wahrgenommen<br />
werden. Sie sind, im Bild der Punkt-Kreis-Meditation,<br />
in Bezug auf das Du im Punkt fixiert. Demgegenüber<br />
vermeiden Menschen mit unsicher-vermeidendem Bindungsverhalten<br />
(A) die Beziehung zum Du, weil sie gelernt<br />
haben, dass von diesem keine Reaktion zu erwarten ist.<br />
178
Beiträge | Contributions<br />
Sie bleiben, im Bild der Punkt-Kreis-Meditation und in<br />
Bezug auf das Du in der Distanz des Kreises. (Abb. 1)<br />
«Ich bin in Gott»: Mit der Metamorphose des Punktes<br />
zum Kreis nehmen Menschen mit unsicherem Bindungsverhalten<br />
zwar scheinbar die polare Position ein, jedoch<br />
wiederum ohne Schwingungsfähigkeit. Menschen mit<br />
unsicher-verstricktem Bindungsverhalten (C) verlieren<br />
im Kreis den Kontakt mit sich selbst, und Menschen mit<br />
unsicher-vermeidendem Bindungsverhalten (A) sind im<br />
Punkt auf sich selbst zentriert (Abb. 2).<br />
Indem das Ich erlebt, dass der Punkt ein Kreis und der<br />
Kreis ein Punkt ist, entwickelt es die Schwingungsfähigkeit<br />
zwischen Antipathie und Sympathie, d.h. seiner<br />
astralischen Strukturen. Dass dies konkret regulierend<br />
auf die eigene Bindungssicherheit sowie – im Sinne<br />
des pädagogischen Gesetzes – auf ätherische Strukturen<br />
der Menschen in der Umgebung wirken kann, bleibt<br />
zunächst hypothetisch, ist vor dem Hintergrund der Bindungsforschung<br />
jedoch einleuchtend. Abschliessend<br />
lässt sich daher die Hypothese formulieren, dass die<br />
Punkt-Kreis-Meditation eine Entwicklung von Bindungssicherheit<br />
sowohl der sie Ausführenden als auch der<br />
Menschen im psychosozialen Umkreis bewirken kann<br />
und erschliesst somit eine spannende Forschungsfrage.<br />
Annette Pichler, geb. 1969 in Tübingen,<br />
ist Heilerziehungspflegerin und<br />
Psychologin (MSc). Sie war langjährig<br />
hausverantwortlich in einer anthroposophischen<br />
Dorfgemeinschaft tätig und<br />
leitet seit 2010 das Rudolf-Steiner-Seminar<br />
Bad Boll.<br />
Abb. 2<br />
In beiden Fällen fehlen sowohl die Sicherheit im Erleben<br />
des eigenen Ich als auch die echte Du-Wahrnehmung –<br />
beides abhängig von der Schwingungsfähigkeit zwischen<br />
Punkt und Kreis. Menschen mit sicherem Bindungsverhalten<br />
(B) hingegen wären demnach in der Lage, ihr<br />
Beziehungsverhalten zwischen Punkt und Umkreis lebendig<br />
zu gestalten. Sie sind weder verloren an den<br />
Umkreis, noch gefangen im Punkt, sondern können zwischen<br />
beiden changieren. Indem sie den Punkt in sich<br />
und den Kreis um sich tragen, sind sie sowohl bei sich<br />
als auch beim Anderen.<br />
Es ist unschwer nachzuvollziehen, dass die gefühlsregulierende<br />
Funktion des Spiegelns von Gefühlen auf genau<br />
dieser Fähigkeit beruht: Zwischen dem Erleben des eigenen<br />
Ich und des Du zu differenzieren und dabei zugleich<br />
in respondierenden Kontakt zu gehen, schwingend zwischen<br />
Punkt und Kreis. Rudolf Steiner beschreibt diese<br />
Fähigkeit, zugleich bei sich und beim Gegenüber zu sein,<br />
als «wirksames Trösten» (Steiner 1924, S. 64).<br />
Die Punkt-Kreis-Meditation stellt also im Hinblick auf<br />
das im zweiten Vortrag des Heilpädagogischen Kurses<br />
beschriebene pädagogische Gesetz (Steiner 1924, S.<br />
23) eine konkrete Möglichkeit zur Seelenhygiene dar.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Anmerkungen<br />
1) Für ältere Kinder und Erwachsene gibt es ebenfalls diagnostische<br />
Instrumente.<br />
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The point-circle dynamic as the<br />
foundation of secure attachments<br />
By Annette Pichler<br />
Investigation of the polarity of point and circle (Steiner<br />
1924) in conjunction with the findings of attachment<br />
research provides the possibility to develop an<br />
extended concept of the dynamics of attachment and,<br />
beyond that, the possibility to attain a deeper understanding<br />
of attachment behaviour. And this, in turn,<br />
can open up ways of developing self-direction in the<br />
sense of the pedagogical law (Steiner 1924).<br />
Point and circle<br />
The point and circle concept as introduced in ‹Education<br />
for Special Needs› (Steiner 1924) is a tool central<br />
to anthroposophical curative education (Schmalenbach<br />
2001). Steiner had already begun to develop this<br />
thought in earlier works, for instance when he described<br />
how the human individuality is centred in the<br />
human body but enters at the same time into a living<br />
dialogue with the world as it responds emotionally to<br />
experiences and expands limitlessly by embracing the<br />
spiritual dimension (Steiner 1904). This relationship<br />
of the ‹I› with the world also manifests in the human<br />
form. The head is a spherical, enclosed form with an<br />
inner centre that is open to the world through the<br />
sense organs and yet relatively protected. This is where<br />
our perceptions are being processed. The chest is like a<br />
‹crescent moon›, closed at the back but open towards<br />
the front – a ‹spherical fragment› (Steiner 1919, p.<br />
146) whose centre lies in front of the thorax. This is<br />
where our perceptions interact with our inner responses.<br />
With our limbs we open ourselves totally to the<br />
world. Steiner therefore described the limbs as ‹radii›<br />
(Steiner 1919, p. 147). They can potentially form a centre<br />
anywhere where their movement is being directed.<br />
Because we can turn with our limbs in any direction at<br />
any time, relating to the actions of others, an infinite<br />
spherical area is being created.<br />
It was against this background that Steiner described,<br />
in lectures 3, 4 and 5 of Education for Special Needs,<br />
the situation of the children who were presented to<br />
him. The phenomena he outlined became later known<br />
as ‹polarities› (Holtzapfel 1990; Niemeijer, Gastkemper<br />
& Kamps 2011). In lectures 3 and 4 Steiner explained<br />
how ‹I› and astral body take hold of the physical/etheric<br />
body (point). They don’t become subordinate to it,<br />
however, but ‹eliminate› it (Steiner 1924, p. 36), relating<br />
directly to the forces of the outside world (circle).<br />
This oscillating between circle and point, or periphery<br />
and centre, can get out of balance: in the case of<br />
epilepsy, or of the ‹closed-off/congested constitution›<br />
(Niemeijer et al. 2011), we see a tendency towards<br />
condensation and spasms of ‹I› and astral body in<br />
one point of the body. In the case of ‹hysteria› (Steiner<br />
1924, p. 56), or the open/overflowing constitution<br />
(Niemeijer et al. 2011), ‹I› and astral body lose themselves<br />
in the periphery.<br />
The point-circle concept comes up even more clearly<br />
in lecture 5, on the seventh blackboard drawing, where<br />
the opposite basic gestures of reflection and intentionality<br />
are illustrated: the head centres the perceptions<br />
while the limbs perform actions in the periphery. In the<br />
head, the ‹I› integrates perceptions and tries to grasp<br />
its biographical identity. Through the limbs, the ‹I› tries<br />
to act out its perceptions, thoughts and intentions in<br />
the surrounding world. Between these two poles lies<br />
our feeling as the mediating element. It is in lecture 10<br />
that Steiner finally formulates the point-circle exercise<br />
as a meditation, ‹… in the evening you enter into<br />
the experience of ‘God is in me – God is in me, or the<br />
divine spirit is in me, or something of the kind … and<br />
in the morning, so that this thought lights up through<br />
your entire day, ‘I am in God’. … They are the same –<br />
the upper and the lower figure (see plate 12). You just<br />
need to understand that this is a circle and this is a<br />
point. It simply is not apparent in the evening, only in<br />
the morning. In the morning you must think ‘this is a<br />
circle, this is a point’. You have to understand that a<br />
circle is a point and a point a circle.› (Steiner 1924, p.<br />
147). Enveloped by the circle of my being I can absorb<br />
the divine in the point; starting from the point of my<br />
being I am absorbed by the divine into the circle. If we<br />
assume that God dwells in each human being, this is<br />
also a social process: in the point and in the circle I<br />
encounter the spirit in the You. In telling myself that<br />
‹God is in me› I realize that the divine lives in the You.<br />
The ‹I› of the other remains an enigma, remains alien<br />
to me – but with the help of my sense of self I can<br />
come closer to the reality of the other person (Steiner<br />
1919, p. 124ff.). At the same time we are being perceived<br />
from the periphery by the sense of self of others:<br />
‹I am in God›. Point and circle are therefore merely two<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
181
Beiträge | Contributions<br />
versions of the same oscillating movement. ‹You must<br />
understand that a circle is a point and a point a circle.›<br />
Steiner’s point-circle concept describes basic spirit-soul<br />
phenomena; Fritz Riemann (2007) described these phenomena<br />
in a similar way – albeit in a different context<br />
– in his book on anxiety. Looking at traumatic stress<br />
disorder we see the same tendencies towards the point<br />
(avoidance, rigidity) and the circle (panic attacks, dissociation).<br />
Because there are many parallels between fear,<br />
trauma and attachment it seems worthwhile examining<br />
the point-circle concept in connection with the<br />
findings of attachment research. It turns out that the<br />
point-circle concept can provide an extended concept<br />
of the dynamics of attachment and the possibility to<br />
attain a more profound understanding of attachment<br />
behaviours.<br />
Attachment research<br />
John Bowlby, the author of attachment theory, hypothesized<br />
that children have an innate attachment<br />
behavioural system, which is activated when they experience<br />
fear or pain; it creates emotional proximity to<br />
the caregiver through attachment signals and thereby<br />
helps to guarantee survival (Bowlby 1958, 1973). If the<br />
attachment behavioural system is regulated by sensitive<br />
and reliable responses from the attachment figure,<br />
the child is able to explore the world from this ‹secure<br />
base› (Ainsworth & Bell 1970). If this regulation is missing<br />
the child’s ability to explore will be restricted. The<br />
attachment behavioural system and the exploration<br />
behavioural system are therefore mutually dependent.<br />
(Waters, Bretherton & Vaughn 2015). The attachment<br />
behavioural system is also activated in adolescents<br />
and adults when they experience distressing situations.<br />
(Mikulincer & Shaver 2010).<br />
Bowlby’s colleague Mary Ainsworth used a standardized<br />
method for observing the attachment and exploration<br />
behaviours of children between the ages of 12 and 18<br />
months 1 when their attachment figure was present, absent<br />
and after their return (Ainsworth & Bell 1970). She<br />
initially identified three attachment patterns with various<br />
subtypes (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 2015):<br />
• Children with insecure-avoidant behaviour patterns<br />
(A) tend to respond hardly or not at all to being<br />
separated from their caregiver and avoid their caregiver<br />
upon their reunion. They often appear to be<br />
playing happily, but their exploration behaviour is<br />
restricted and physiological monitoring shows that<br />
they are actually under stress (Spangler & Schieche<br />
1998, in Brisch 2004, p. 31).<br />
• Securely attached children (B) are slightly restless<br />
or cry when their caregiver leaves the room.<br />
When she returns they seek comfort and proximity<br />
and are then able again to explore extensively.<br />
• Children with insecure-ambivalent or insecurepreoccupied<br />
behaviour patterns (C) display great<br />
anxiety when the caregiver departs. Upon their reunion<br />
with the caregiver these children are difficult<br />
to calm down and show anger and resistance whilst<br />
clearly seeking contact at the same time. Their exploration<br />
is constantly restricted because they seek<br />
reassurance from their caregiver, even if the caregiver<br />
does not convey the desired sense of security.<br />
• Children with insecure-disorganized behaviour<br />
patterns (D), a type that was only identified later,<br />
display disrupted attempts at seeking proximity,<br />
stereotypies and anxious behaviours towards their<br />
attachment figure as well as frozen movements (Lyons-Ruth<br />
& Jacobvitz <strong>2016</strong>).<br />
Attachment research has shown sensitivity, i.e. the ability<br />
of the attachment figure to respond appropriately,<br />
reliably and promptly to the child’s needs, to be a central<br />
etiological factor in the development of attachment<br />
patterns. Although more research is needed, for<br />
instance into the connection between child irritability<br />
and the sensitivity of the attachment figure (Vaughn &<br />
Bost <strong>2016</strong>), it can be concluded that sensitive, reliable<br />
and prompt responses on the part of the attachment<br />
figure often correlate with type B (secure), while type<br />
A (avoidant) children often have attachment figures<br />
who hardly respond to them. Attachment figures displaying<br />
contradictory behaviours often result in type<br />
C (ambivalent) attachments. Type D (disorganized)<br />
children have often been abused or have experienced<br />
other threatening behaviours such as flashbacks in<br />
their parents who have themselves been traumatized.<br />
(Lyons-Ruth & Jacobvitz <strong>2016</strong>). This shows that children<br />
develop different attachment patterns depending<br />
on the behaviours of their attachment figures (Lyons-<br />
Ruth & Jacobvitz <strong>2016</strong>). Because the attachment behavioural<br />
system has the function of securing survival,<br />
children always attach themselves to their caregivers<br />
even if these behave in a threatening, confusing or<br />
frightening manner. In extreme cases children develop<br />
attachment disorders. Yet even behavioural or psychological<br />
disorders which only manifest in later life are<br />
182
Beiträge | Contributions<br />
linked to attachment experiences (Brisch 2002, 2013;<br />
Holmes, 2012) and insecure attachment patterns often<br />
correlate with adult health problems (Vaughn & Bost<br />
<strong>2016</strong>). Secure attachment patterns, on the other hand,<br />
are seen as a factor that provides lifelong protection<br />
(Brisch 2004). Attachment patterns acquired in childhood<br />
prevail if they are not changed by later positive<br />
or negative experiences – such experiences can<br />
change secure into insecure patterns and vice versa<br />
(Grossmann & Grossmann 2012).<br />
Learning to feel through affect-mirroring<br />
How a caregiver deals with a child’s emotional expressions<br />
is particularly important because children are<br />
not really able to regulate emotions. The importance<br />
of ‹mirroring› for a child’s emotional development was<br />
discovered as early as the 1960s (Winnicott 2008).<br />
Since the 1990s a British team of researchers has been<br />
able to show that parents ‹mark› the infant’s emotional<br />
state in their face expressions, voice and gestures,<br />
in other words they imitate them in a slightly exaggerated<br />
– or, in the case of threatening emotions, in a<br />
subdued – way. This helps the child to experience that<br />
her feelings are real and that they belong to her. The<br />
child learns to differentiate between herself and others,<br />
while her emotions are regulated and become manageable<br />
for her. By responding to the child’s emotional<br />
expressions the caregiver also identifies diverse mental<br />
states such as feelings and desires, and later also intentions<br />
and beliefs. This is the foundation for mentalization,<br />
i.e. the ability to interpret behaviours as the<br />
expression of mental states whilst differentiating one’s<br />
own mental states from those of others and separating<br />
one’s feelings from the outside world (Fonagy, Gergely,<br />
Jurist & Target 2010).<br />
These important developmental stages of early childhood<br />
can be compromised by insufficient or inappropriate<br />
affect-mirroring by caregivers who ignore or<br />
feel overwhelmed by the child’s emotions, or who reflect<br />
their own emotions excessively instead of markedly<br />
reflecting those of the child. The child in question<br />
will have difficulties differentiating between her own<br />
emotions and those of others. Such restrictions to<br />
subject-object differentiation and to the ability to<br />
mentalize can cause severe mental disorders, BPD in<br />
particular (Fonagy et al. 2010).<br />
Attachment in relation to ‹sympathy› and<br />
‹antipathy›<br />
Fraley & Spieker (2003) demonstrated that – despite<br />
the typology ultimately chosen by Ainswaith – attachment<br />
behaviour should be seen as a continuum. Their<br />
view is supported by the fact that several of the subtypes<br />
constitute hybrid forms of adjacent types (Kissgen<br />
2008). The dimensions established by Fraley & Spieker<br />
are those of seeking proximity versus avoiding proximity<br />
and of displaying angry/resistant strategies versus<br />
not displaying them. I will restrict my deliberations<br />
to the former and hypothesize that the modes of attachment<br />
behaviour discovered by Ainsworth correlate<br />
with the polar dynamic between sympathy and antipathy<br />
described by Rudolf Steiner (Steiner 1919). (Tab. 1)<br />
Tab.1:<br />
Antipathy:<br />
Thinking<br />
Head, closing-off<br />
Ego: centring<br />
Feeling<br />
Heart, balancing<br />
Ego: mediating<br />
Sympathy:<br />
Willing<br />
Limbs, opening<br />
Ego: peripheric<br />
Avoidance of closeness Flexible closeness Dependent closeness<br />
Attachment:<br />
insecure-avoidant (A)<br />
Attachment:<br />
secure (B)<br />
Attachment:<br />
insecure -enmeshed (C)<br />
Rudolf Steiner holds that the swinging between sympathy<br />
and antipathy is necessary for our sense of ‹I›<br />
or self to perceive the individuality of others (Steiner<br />
1919). I propose that this faculty is initially limited in<br />
people with insecure attachment behaviour, because<br />
their relationship with themselves and with others is<br />
unstable as a result of their having experienced a lack<br />
of responsiveness in their attachment figures. Persons<br />
with avoidant attachment behaviour (A) therefore<br />
display an antipathetic and one-sidedly exclusive<br />
gesture, and tend to relate primarily to past experiences.<br />
They are rarely open to gaining new experiences<br />
through exploration and attachment. People with ambivalent<br />
attachment behaviour (C) on the other hand<br />
are preoccupied with their attachment figure in a gesture<br />
of sympathy and unprotected openness. They<br />
tend to live in the future, waiting for responses from<br />
their attachment figures or fearing a possible separation;<br />
they tend to lose themselves in the other person.<br />
People with secure attachment behaviour (B) can always<br />
establish a healthy balance between these two<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
183
Beiträge | Contributions<br />
poles and control their inner emotional space. I will<br />
show below that the point-circle meditation can help<br />
to create this emotional space.<br />
The more securely we relate to ourselves the better we<br />
are able to enter into relationships with others. The<br />
‹safe haven› created by this sense of security (Ainsworth<br />
et al. 2015) is not only important for babies and<br />
infants but for anyone who experiences unsettling situations.<br />
Because disabilities increase the danger of<br />
traumatization, this applies particularly to children,<br />
adolescents and adults with special needs.<br />
Being aware of attachment when forming<br />
professional relationships<br />
As mentioned earlier, it happens often that caregivers<br />
transfer attachment behaviours. Statistically, around<br />
40 per cent of a given adult population display insecure<br />
attachment behaviours (van Ijzendoorn & Bakermans-Kranenburg<br />
2009), probably with an upward<br />
trend (Konrath, Chopik, Hsing & O’Brien 2014). Measures<br />
have been developed to help families who are at<br />
risk to learn parental sensitivity (Brisch 2010). While<br />
we have to differentiate between attachment in the<br />
family environment and in the professional context<br />
(Weber-Boch 2011), it is right to say that care professionals<br />
have considerable influence on the attachment<br />
security of their clients. Particularly in cases where<br />
relatives are not available as attachment figures, expectations<br />
regarding attachment focus on the carers.<br />
It can happen that professional carers keep their clients<br />
in an artificial state of helplessness so they can<br />
symbolically satisfy their own repressed needs with<br />
their ‹help› (Schmidbauer 1977). Unmet needs for attachment<br />
may well play a part in these cases. Similar<br />
phenomena are known from psychotherapy (Schmidt-<br />
Lellek 2002). It would therefore make sense to develop<br />
tools that help professionals in training to reflect on<br />
their own attachment dynamics.<br />
The point-circle meditation can facilitate<br />
self-reflection and attachment security<br />
The point-circle meditation can be of particular use in<br />
this context, firstly by adding a spiritual dimension to<br />
the understanding of attachment. As beings of spiritual<br />
origin who incarnate again and again we need other<br />
people, not least because meeting them helps us reconnect<br />
with the cosmic sphere. Through its images this<br />
meditation moreover creates a vibrant feeling space and<br />
enables us to restore the mode in which we developed<br />
our initial attachment behaviour.<br />
As an image the point-circle meditation gives us inner<br />
access to the attachment behavioural patterns described<br />
above. I assume that attachment behaviour types<br />
A or C may find it more difficult to move between the<br />
polarities of point and circle. The fact that they cleave<br />
to the point as well as to the circle can be explained if<br />
we look more closely at the two point-circle illustrations<br />
(Figs 1 and 2):<br />
‹God is in me› – people of the insecure-preoccupied attachment<br />
type (C) always seek the proximity of the You<br />
because they are not sure when the You actually perceives<br />
them. Using the picture of the point-circle meditation<br />
we can say that they are fixated on the You<br />
as a point. Representatives of the insecure-avoidant attachment<br />
type, on the other hand, avoid relating to the<br />
You because they have learned that no response can be<br />
expected from them. In the picture of the point-circle<br />
meditation they keep their distance from the You by remaining<br />
on the circle. (Fig. 1)<br />
Fig. 1<br />
‹I am in God› – As the point metamorphoses and becomes<br />
a circle the insecurely attached seem to assume<br />
the polar position, but they are unable to oscillate between<br />
the two poles. The insecure-preoccupied attachment<br />
type (C) remains on the circle and loses contact<br />
with himself, while the insecure-avoidant type (A) focuses<br />
on himself in the point. (Fig. 3)<br />
Both types lack the security of experiencing their own<br />
‹I› as well as that of perceiving the You, since both<br />
kinds of security depend on the ability to move bet-<br />
184
Beiträge | Contributions<br />
ween point and circle. People with secure attachment<br />
behaviour (B) should therefore be able to vividly relate<br />
to others by alternating between centre and periphery.<br />
They are neither lost in the periphery nor are they<br />
caught in the point, since they can move freely between<br />
the two. In carrying the point within and the circle<br />
around them, they rest within themselves but they<br />
can be with the other person at the same time.<br />
Annette Pichler, born 1969 in Tübingen,<br />
is a psychologist (MS), developmental<br />
coach and director of the<br />
Rudolf Steiner Seminar in Bad Boll.<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
Notes<br />
1) There are diagnostic tools for older children and adults as<br />
well.<br />
Fig. 2<br />
It seems obvious that the emotion-regulating function<br />
of affect-mirroring relies on exactly this ability to differentiate<br />
between the experience of one’s own self<br />
and of the You, and of maintaining a responsive contact<br />
at the same time, oscillating between point and<br />
circle. Rudolf Steiner referred to this capacity of being<br />
with oneself and, at the same time, with the other person<br />
as ‹effective comforting› (Steiner 1924, p. 64).<br />
The point-circle meditation is a useful tool for inner<br />
hygiene when it comes to the pedagogical law that<br />
Rudolf Steiner introduced in lecture 2 of Education for<br />
Special Needs (Steiner 1924, p. 23). As the ‹I› experiences<br />
that the point is a circle and the circle a point,<br />
it learns to oscillate between its astral dimensions of<br />
antipathy and sympathy. It is conceivable in the light<br />
of attachment theory that this could have a regulating<br />
effect on a person’s attachment security and – in the<br />
sense of the pedagogical law – on the etheric makeup<br />
of the people around him. I would suggest in conclusion<br />
that the point-circle meditation may enhance<br />
attachment security in the person practising it as well<br />
as in those who form his or her psychosocial environment<br />
and that it therefore constitutes a promising<br />
topic of further research.<br />
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186
Die sozialtherapeutische Gemeinschaft – ein Auslauf- oder Zukunftsmodell?<br />
Von Stefan Siegel-Holz<br />
Einleitung<br />
Nüchtern betrachtet trifft man nicht mehr an vielen Orten<br />
auf die ‹klassische› sozialtherapeutische Gemeinschaft<br />
– was auch immer man darunter verstehen mag. Ist die<br />
Form der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von Menschen<br />
mit und ohne Behinderungen in eine bedrohliche<br />
Krise geraten? Dies gerade zu einem Zeitpunkt, wo<br />
das inklusive Miteinander im gesellschaftlichen Kontext<br />
idealisiert wird? Das wäre tatsächlich tragisch. Oder<br />
gehen die Gemeinschaften durch einen gesunden, notwendigen<br />
Umwandlungs- und Erneuerungsprozess,<br />
indem sie versuchen, mit den gesellschaftlichen Entwicklungen<br />
Schritt zu halten und zugleich ihren Mitgliedern<br />
gerecht zu werden?<br />
Wo stehen wir heute?<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Nie zuvor erlebte die Menschheit so gravierende gesellschaftliche<br />
Entwicklungen wie in den vergangenen Jahrzehnten.<br />
Seit den Anfängen der anthroposophischen<br />
Sozialtherapie haben sich die Lebensbedingungen so<br />
grundlegend gewandelt, dass ein direkter Vergleich mit<br />
heute unmöglich ist. Die technischen Entwicklungen<br />
haben völlig neue Dimensionen des individuellen und<br />
sozialen Lebens erschlossen. Wir sind weltweit digital<br />
vernetzt und dennoch einsamer geworden. Das Wissen<br />
über Krankheitsbilder und therapeutische Möglichkeiten<br />
hat sich immens erweitert. Menschen mit Behinderungen<br />
haben ein anderes Ansehen in der Gesellschaft<br />
erlangt. Sichtbarer Ausdruck dessen ist das «Internationale<br />
Übereinkommen über die Rechte von Menschen<br />
mit Behinderungen», kurz UN-BRK, die von der UNO-Generalversammlung<br />
am 13.12.2006 verabschiedet und<br />
seitdem von den meisten Staaten unterzeichnet und ratifiziert<br />
wurde.<br />
Die UN-BRK ist ein Meilenstein in der Anerkennung der<br />
allgemeinen Würde des Menschen mit Behinderung. Ihr<br />
gegenüber stehen allerdings drei grosse Herausforderungen<br />
für die Behindertenhilfe: ihre Verrechtlichung,<br />
ihre Ökonomisierung und ihre Ideologisierung.<br />
• Verrechtlichung: In den letzten Jahrzehnten hatte die<br />
Behindertenhilfe in vielen Ländern mit einer zunehmenden<br />
Flut von Gesetzen, Verordnungen und Auflagen<br />
zu tun. Vorschriften zur Dokumentation und<br />
Qualitätssicherung beanspruchen inzwischen viel Aufmerksamkeit.<br />
Das Korsett, in dem sich Einrichtungen<br />
heute bewegen, ist vielerorts durch Regulierung und<br />
Bürokratisierung sehr eng geworden.<br />
• Ökonomisierung: In zahlreichen Ländern, insbesondere<br />
den Industrienationen, werden heute mehr oder weniger<br />
auskömmliche Geldmittel an die Einrichtungen<br />
der Behindertenhilfe gezahlt, damit diese ihren Auftrag<br />
erfüllen können. Allerdings werden diese Gelder eng an<br />
die genaue Erfüllung konkreter Standards gekoppelt.<br />
Die Ökonomie gibt heute vor, welche Hilfe wie und in<br />
welchem Umfang geleistet werden soll.<br />
• Ideologisierung: Ein Mensch mit Behinderung wird<br />
heute, glücklicherweise, weniger als Empfänger von be-<br />
187
Beiträge | Contributions<br />
vormundender Fürsorge verstanden. Vielmehr wird in<br />
den westlichen Staaten der moderne Kunde in ihm gesehen,<br />
der autonom und selbstständig diejenigen Hilfen<br />
einkauft, die er zum Leben braucht, wie andere auch,<br />
die sich beim Friseur die Haare schneiden oder vom<br />
Elektriker eine Leitung reparieren lassen. Spezielle Institutionen<br />
für Behinderte sollten möglichst abgeschafft<br />
werden. Der behinderte, auch der kognitiv behinderte<br />
Mensch, ist der Akteur und der Helfer wird zu seinem<br />
Dienstleistungsassistenten. Hier reduziert marktwirtschaftliches<br />
Denken die Tatsache, dass viele Menschen<br />
existenziell auf ganzheitliche Unterstützung angewiesen<br />
sind, auf eine reine Kunden- bzw. Kauf-Beziehung.<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Bedingungen<br />
vor Ort für die Begleitung von Menschen mit Behinderungen<br />
haben sich erschwert, insofern die äusseren Einflüsse<br />
erheblich zugenommen haben. Dagegen haben<br />
sich die Bedingungen für Menschen mit Behinderungen<br />
selbst verbessert. Ihre Autonomie wird zunehmend gewürdigt,<br />
doch gleichzeitig droht ihre Bedürftigkeit unterschätzt<br />
zu werden. Ihnen werden endlich die vollen<br />
Menschenrechte zugesprochen. Diese scheitern jedoch<br />
oftmals an den ökonomischen Rahmenbedingungen.<br />
Der Auftrag der Sozialtherapie unter veränderten<br />
Bedingungen<br />
Traditionell besteht die Hilfe, die die anthroposophische<br />
Sozialtherapie zu leisten versucht, weniger in direkten<br />
Massnahmen an Menschen mit Behinderungen, sondern<br />
darin, dass ein soziales Umfeld arrangiert und angeboten<br />
wird, das den Hilfebedarf zu kompensieren bzw.<br />
zu mildern in der Lage ist. Der Erwachsene mit Hilfebedarf<br />
wird dabei nicht als lebenslang zu fördernder und pädagogisch<br />
zu betreuender Mensch mit Einschränkungen<br />
verstanden. Vielmehr wird grundsätzlich davon ausgegangen,<br />
dass er sein Leben selbst führen will und – mit<br />
Hilfestellungen – auch kann.<br />
Was die Sozialtherapie heute unmittelbar betrifft: Die<br />
Individualisierung der Zeitgenossen hat, zumindest in<br />
der westlichen Welt, auf allen Ebenen zugenommen.<br />
Gemeinschaftsbildung wird nicht grundsätzlich infrage<br />
gestellt. Sie hat jedoch die Qualität des Selbstverständlichen<br />
verloren. Traditionellen Gemeinschaften<br />
wie Familien, Kirchen oder Vereinen stehen immer mehr<br />
Alternativen gegenüber. Es bilden sich Gemeinschaften<br />
von Individualisten. Sie werden bewusst und aus freien<br />
Stücken ergriffen – und wieder verworfen.<br />
In vielen bestehenden sozialtherapeutischen Gemeinschaften<br />
ist die Teilnahme am Gemeinschaftsleben nicht<br />
mehr selbstverständlich, sondern wird jeweils bewusst<br />
ausgewählt und steht in Konkurrenz zur Teilnahme an<br />
Angeboten ausserhalb der Gemeinschaft.<br />
Trends wie der Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe<br />
(vom Fürsorge- zum Kunden-Prinzip) oder die<br />
Umsetzung der UN-BRK haben zu einem neuen Selbstbewusstsein<br />
von Menschen mit Behinderungen geführt,<br />
zum Beispiel über die eigenen Rechte und Lebenspläne.<br />
Viele junge Menschen mit Behinderungen suchen<br />
offene Wohnformen, wenn es ihnen irgendwie möglich<br />
erscheint. Wer sich früher um einen Platz in der Lebensgemeinschaft<br />
bewarb, um der ‹Anstalt› zu entkommen,<br />
bemüht sich heute um einen Platz in einer ambulant betreuten<br />
Wohnform, um der ‹Einrichtung› (wozu auch die<br />
Lebensgemeinschaften zählen) zu entkommen.<br />
Geändert haben sich auch Selbst- und Rollenverständnis<br />
vieler Mitarbeiter in sozialtherapeutischen Einrichtungen<br />
durch Individualisierung und Professionalisierung.<br />
Überlieferte weltanschauliche Systeme, auch die Anthroposophie,<br />
werden infrage gestellt. Die Fachlichkeit des<br />
Berufs rückt häufig in den Vordergrund: das Wissen um<br />
Krankheitsbilder und die Suche nach geeigneten, überprüfbaren<br />
Massnahmen, das Verhältnis von Nähe und<br />
Distanz gegenüber dem Klienten, die Problematik übergriffigen<br />
Verhaltens. Mit der Professionalisierung einher<br />
geht das Bewusstsein der eigenen Rechte als Arbeitnehmer,<br />
wenn es beispielsweise um den Einsatz eigener<br />
Ressourcen, Freizeit oder Erziehungszeiten geht. Insbesondere<br />
jüngeren Arbeitnehmern wird zunehmend die<br />
so genannte ‹work-life-balance› wichtig.<br />
Geändert haben sich schliesslich auch die Rahmenbedingungen<br />
in den Einrichtungen: Weil sich immer mehr<br />
Erwachsene um ein Leben ausserhalb von speziellen<br />
Einrichtungen bemühen, werden dort zunehmend diejenigen<br />
Menschen betreut, deren Hilfebedarf so gross ist,<br />
dass ein Leben ausserhalb einer Institution ausgeschlossen<br />
zu sein scheint. In der Folge steigt der Unterstützungsbedarf<br />
in solchen Einrichtungen insgesamt, was<br />
wiederum eine andere Professionalität des Personals<br />
erforderlich macht. Eine weitere Herausforderung stellt<br />
das steigende durchschnittliche Lebensalter der Bewohner<br />
mit seinen besonderen Aufgaben dar.<br />
188
Beiträge | Contributions<br />
Konsequenzen<br />
Will die anthroposophische Sozialtherapie diesen Entwicklungen<br />
gerecht werden, ergeben sich für sie unmittelbar<br />
Konsequenzen:<br />
Sie ist einerseits aufgefordert, die Tatsache der Individualisierung<br />
aller Beteiligten zu respektieren und<br />
konzeptionell einzubeziehen. Es geht dabei in den Gemeinschaften<br />
um eine weitere Differenzierung ihrer<br />
Angebote in Wohnen, Arbeit und Kultur und darum, Alternativen<br />
für unterschiedliche Bedürfnisse, Wünsche<br />
und Notwendigkeiten anbieten zu können.<br />
Zum anderen besteht die Aufgabe, den veränderten Lebensumständen<br />
Rechnung zu tragen und ihre Mitglieder<br />
auch als Zeitgenossen zu verstehen, in besonderem<br />
Masse die jüngeren Menschen, die die Gemeinschaften<br />
in die Zukunft führen werden.<br />
Der bleibende Auftrag sozialtherapeutischer Gemeinschaften<br />
Zumal in einer Zeit, in der sich gesellschaftliche Ansichten<br />
und Meinungen immer schneller wandeln, Hilfekonzepte<br />
in Mode kommen und wieder vergehen, scheint<br />
es mir geboten, nach den Grundlagen der menschlichen<br />
Existenz zu fragen und davon ausgehend Sozialtherapie<br />
zu denken. Auf welche grundlegenden, für die Sozialtherapie<br />
relevanten Bedingungen hat diese zu antworten?<br />
Die Frage der existenziellen Bedürftigkeit und Angewiesenheit<br />
Menschen haben grundlegende Bedürfnisse nach Bindung<br />
und Sicherheit einerseits, nach Autonomie und<br />
Freiheit andererseits. Man ist existenziell auf andere angewiesen<br />
und bleibt es Zeit seines Lebens. Man strebt<br />
zugleich danach, diese Abhängigkeiten, so gut es geht,<br />
zu überwinden. Selbstbestimmung ermöglicht es dem<br />
mündigen Menschen, ein Leben gemäss den eigenen Intentionen<br />
und Wünschen zu führen. Ebenso wichtig bleiben<br />
aber die sozialen Bindungen, die dem Leben Sinn,<br />
Schutz und Ausrichtung verleihen. In sicheren Bindungen<br />
und an sicheren Orten erfahren Menschen Geborgenheit,<br />
Heimat, Zuhause. In der Auseinandersetzung<br />
zwischen beiden Polen entwickelt sich die Persönlichkeit<br />
eines Menschen im Laufe seiner Biografie.<br />
In der fachlichen bzw. politischen Diskussion zur aktuellen<br />
Behindertenhilfe überwiegt häufig die Forderung<br />
nach Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen<br />
mit Behinderung. Wird diese Forderung verkürzt, so wird<br />
sie dem Hilfebedürftigen gerade nicht gerecht. Weil es<br />
ebenso um Bindung und Sicherheit geht, braucht es in<br />
der Sozialtherapie nach wie vor auch Begleitung und Betreuung,<br />
Orientierung und Sicherheit, die eine Gemeinschaft<br />
geben kann. Dies umso mehr, als in modernen<br />
Gesellschaften Leistungsdruck, Beschleunigung, Digitalisierung,<br />
zunehmende Komplexität und Anonymität<br />
der Lebenswelten viele Menschen mit Behinderungen<br />
überfordern und sie dadurch hilfloser machen, anstatt<br />
zu emanzipieren.<br />
Individualität, Gemeinschaft und Gesellschaft<br />
Als genuin soziale Wesen brauchen Menschen Beziehungen<br />
zu anderen Menschen in verschiedenen Qualitäten:<br />
Zweisamkeit, Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft<br />
und Welt. Dabei ist Gemeinschaft als derjenige soziale<br />
Kontext zu verstehen, in dem Menschen einander kennen,<br />
sich vertraut sind und untereinander Beziehungen<br />
pflegen. Als Lebens- und Beziehungsraum muss<br />
Gemeinschaft, um dem Einzelnen gerecht zu werden,<br />
heute mehr denn je seine Individualisierung wie auch<br />
seine Vergesellschaftung mit einschliessen. Aber ohne<br />
Gemeinschaft kann Individualisierung zu Vereinsamung<br />
und Vergesellschaftung zu Vermassung führen.<br />
Dimensionen des Hilfebedarfs<br />
Was brauchen Menschen mit einer kognitiven Behinderung?<br />
Zunächst alles, was jeder Mensch braucht, aber<br />
mit einer Unterstützung, die ihren kognitiven Hilfebedarf<br />
kompensiert. Weil Menschsein nicht nur Entwicklung<br />
zur Autonomie ist, sondern soziale Bezüge lebensnotwendig<br />
sind, braucht es zumindest Unterstützung zur<br />
Sozialfähigkeit. Werden darüber hinaus durch eine Gemeinschaft<br />
selbst Beziehungen angeboten, so kann das<br />
wesentlich zur Lebensqualität beitragen. Sozialtherapeutische<br />
Aufgaben bestehen in dieser Hinsicht in:<br />
• Hilfe zur Selbstbestimmung: Das heisst Hilfe, sich<br />
selbst wahrzunehmen, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche<br />
und Ängste zu erkennen und ihre Bedeutung zu<br />
verstehen. Es geht darum, zu helfen, den eigenen Bedürfnissen<br />
Geltung zu verschaffen, ggf. Alternativen aufzuzeigen<br />
und anzubieten. Es geht um Integrität im Sinne<br />
von ‹Selbst-sein-können›.<br />
• Hilfe zur Beziehung: Es geht um das Erlernen von gelingender<br />
Kommunikation und sozialen Kompetenzen, um<br />
die Regelung von Konflikten, das Üben von wertschätzenden<br />
und gegenseitigen Beziehungen.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
189
Beiträge | Contributions<br />
• Hilfe in Gemeinschaft: Über die Gestaltung und Pflege<br />
von Beziehungen hinaus besteht die Aufgabe in der sozialtherapeutischen<br />
Gemeinschaft darin, ein Umfeld als<br />
sicheren, verlässlichen Lebensort zu schaffen, der Stabilität<br />
durch Orientierung, Rhythmen und verbindliche Begegnungen<br />
schafft. Gemeinschaft bedeutet für viele auch<br />
Hilfe gegen Einsamkeit und Verwahrlosung.<br />
• Hilfe zur Gesellschaftsfähigkeit: Um in einer Gesellschaft<br />
kompetent zu werden, bestehen wichtige<br />
Aufgaben z.B. in der Vermittlung von allgemeinen Umgangsformen<br />
(etwa Verkehrsregeln oder den Umgang mit<br />
Geld), in politischer Bildung oder in der zunehmenden<br />
Umsetzung von Barrierefreiheit.<br />
Professionalität und Hilfe von Mensch zu Mensch<br />
Es bedarf neben der Professionalität des Helfers ebenso<br />
der Hilfe von Mensch zu Mensch, der zwischenmenschlichen<br />
Verbindlichkeit und Tragfähigkeit von Beziehungen.<br />
Zwar kann Professionalität als – empirisches Wissen und<br />
reflektiertes Handeln sehr hilfreich sein. Menschen, die<br />
auf Hilfe angewiesen sind, brauchen dennoch mehr als<br />
gute Fachleute. Sie brauchen auch den Mitmenschen,<br />
der authentische und individuelle Antwort in der Begleitung<br />
gibt. Solide Fachlichkeit und schlichte Mitmenschlichkeit<br />
zusammen schaffen das Vertrauen, Hilfe offen<br />
anzunehmen. Scheint hinter demjenigen, der Leistungen<br />
erbringt, selbst eine Persönlichkeit mit eigenem Gesicht<br />
und Charakter auf, schafft das die Grundlage dafür, sich<br />
auf eine Beziehung einzulassen.<br />
Professionalität wird auf diese Weise zur Verfügung gestellt,<br />
aber relativiert. Der Helfer als professioneller Sozialtherapeut<br />
ist charakterisiert durch absichtsvolle Hilfe,<br />
die er dem Hilfeempfänger zugutekommen lässt. Der<br />
Helfer als Mitmensch ist charakterisiert durch das absichtslose<br />
Interesse am anderen. Gute Hilfe kann gelingen,<br />
wenn beides zusammenkommt: menschliches und<br />
professionelles Engagement. Grundsätzlich ist das in<br />
jeder Begegnung möglich. Gerade an dieser Stelle aber<br />
eröffnet eine sozialtherapeutische Gemeinschaft als Lebensgemeinschaft<br />
ein weites, fruchtbares Feld hilfreicher<br />
sozialer Vernetzung.<br />
Sozialtherapeutische Gemeinschaften für die<br />
Zukunft<br />
Erst in einer Gesellschaft, die wirklich inklusiv ist, braucht<br />
es meines Erachtens keine besonderen Orte mehr. Eine<br />
solche Gesellschaft würde sich auszeichnen durch das<br />
Fehlen von Diskriminierung. Stattdessen würde jeder<br />
Einzelne mit allen seinen Fehlern, Schwächen und Behinderungen<br />
Wertschätzung erfahren. Überforderung im<br />
Lebensalltag würde von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft<br />
kompensiert, Andersartigkeit und Fremdheit<br />
würden als Bereicherung erlebt, nicht als Bedrohung.<br />
Nicht zuletzt würde Leistungsdenken relativiert und das<br />
Lohnprinzip als Anerkennung für messbar erbrachte Arbeit<br />
überwunden.<br />
Bis es jedoch so weit ist, braucht es ‹Versuchsstätten› für<br />
gesellschaftliche Entwicklung. In diesem Sinne könnte<br />
die inklusive sozialtherapeutische Gemeinschaft als Antizipation<br />
von Inklusion innerhalb der Gesellschaft eine<br />
wichtige Aufgabe erfüllen.<br />
Aber auch dann, wenn unsere Gesellschaften in diesem<br />
Sinne einmal inklusiv sein sollten, braucht es Gemeinschaft<br />
und Gesellschaft als zwei soziale Kontexte mit unterschiedlichem<br />
Horizont.<br />
Nun ist die sozialtherapeutische Gemeinschaft nicht per<br />
se ein brauchbares Zukunftsmodell, ebenso wenig wie<br />
Menschen, die mitten im Ort wohnen, schon inklusiv<br />
leben. Die Ausgangsbedingungen einer Lebensgemeinschaft<br />
mit den Bereichen Wohnen, Arbeit und Kultur<br />
mögen in gewisser Weise besonders günstig (so die Erfahrungswerte<br />
der Vergangenheit) sein, sind aber längst<br />
keine Garantie für eine gute Begleitung von Menschen<br />
mit Behinderungen. Lebensgemeinschaft im Sinne des<br />
Teilens wesentlicher Bereiche des Zusammenlebens ist<br />
auch nicht die einzige Form, wie Sozialtherapie gelingen<br />
kann. Grundsätzlich ist von einer Vielfalt auszugehen,<br />
die noch viel Entwicklungspotential für die Zukunft hat.<br />
Welche Gemeinschaften braucht es unter diesen Voraussetzungen<br />
für die Zukunft?<br />
Es braucht Gemeinschaften, die ein Anliegen über das<br />
marktwirtschaftliche Paradigma hinaus haben und die<br />
sich an grundlegenden humanistischen Werten ausrichten,<br />
um ihren Mitgliedern gerecht zu werden. Sofern sie<br />
sich an der Anthroposophie orientieren, werden sie von<br />
der Integrität und der geistigen Natur jedes Menschen<br />
ausgehen. Sie werden spirituell offen sein und sich um<br />
ein vertieftes Verständnis des Menschen bemühen. Weitere<br />
Bezugspunkte sollten die allgemeine Menschenwürde<br />
im Sinne der UN-BRK sowie das subjektiv gelingende,<br />
sinnerfüllte Leben sein – im Übrigen für alle Mitglieder<br />
einer Gemeinschaft.<br />
Es werden Werte-Gemeinschaften benötigt, die Modeerscheinungen<br />
und scheinbar Selbstverständliches<br />
190
Beiträge | Contributions<br />
hinterfragen, das Wesentliche hinter dem Vordergründigen<br />
erarbeiten und transparent machen, beispielsweise<br />
in Leitbildern.<br />
Weiterhin bedarf es Gemeinschaften, die sich den aktuellen<br />
gesellschaftlichen, politischen, ökologischen<br />
Herausforderungen aktiv stellen und die ihren Auftrag<br />
im zeitgeschichtlichen Kontext verstehen. Sie werden<br />
sonst immer ein Nischendasein führen und ihrer bürgerschaftlichen<br />
Aufgabe in einer demokratischen Welt<br />
nicht gerecht werden.<br />
Es braucht lernende und zukunftsoffene Gemeinschaften,<br />
die nicht nur in der Lage sind, aus Fehlern zu lernen,<br />
sondern auch Neues zu integrieren. Ihre grundlegenden<br />
Überzeugungen wiederum dienen als Korrektiv, wie das<br />
Neue zu bewerten ist.<br />
Zudem sind ‹durchlässige› Gemeinschaften gefragt,<br />
offen für Gesellschaft und Welt. Eine solche Durchlässigkeit<br />
bedarf der Dialogfähigkeit und korrespondiert<br />
mit einer Vernetzung mit dem Umfeld. Solche<br />
Gemeinschaften sind das Gegenteil von exklusiven,<br />
vereinnahmenden, verwahrenden, potentiell übergriffigen<br />
Einrichtungen.<br />
Solche Gemeinschaften brauchen Sozialkünstler, um<br />
Inklusion und stimmige Formen des Zusammenlebens<br />
zu entwickeln; ein Zusammenleben nicht nur von Menschen<br />
mit und ohne offensichtliche Behinderungen,<br />
sondern von Generationen, Nationen, Kulturen und Religionen.<br />
Dazu können z.B. neue Umgangsformen mit<br />
Geld, Gütern, mit gegenseitiger Verantwortung und Solidarität<br />
gehören.<br />
Gemeinschaft nicht mehr selbstverständlich ist und weil<br />
Konzepte und Praxis weiterzuentwickeln sind. Wenn es<br />
aber gelingt – zumal in einer zunehmend individualisierten<br />
und komplexen Welt – ergeben sich durch solche<br />
Gemeinschaften grosse Chancen für lebenswerte Alternativen<br />
mit menschlichem Gesicht.<br />
Stefan Siegel-Holz ist seit 1983 Mitarbeiter<br />
in der Camphill Dorfgemeinschaft<br />
Lehenhof, zunächst als ZDL,<br />
später als Hausverantwortlicher und in<br />
der Leitung. Er ist Mitglied der internationalen<br />
Konferenz für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in Dornach und arbeitet<br />
in verschiedenen Zusammenhängen<br />
im deutschen Bundesverband<br />
anthroposophisches Sozialwesen und<br />
innerhalb Camphills mit.<br />
Schluss<br />
Sozialtherapie innerhalb einer Lebensgemeinschaft hat<br />
dann ihre bleibende Berechtigung und Aufgabe,<br />
• wenn das, was sie leistet, den existenziellen Bedürfnissen<br />
der begleiteten Menschen sowie den Fähigkeiten<br />
und Kräften der Begleitenden entspricht;<br />
• solange es Menschen gibt, die die sozialtherapeutische<br />
Gemeinschaft zu ihrem Anliegen machen und<br />
denen es gelingt, Nachkommende dafür zu begeistern;<br />
• solange die rechtlichen, ökonomischen, ideologischen<br />
Rahmenbedingungen es zulassen, dass die Aufgaben<br />
ihren Intentionen gemäss zu bewältigen sind.<br />
Dann können solche Lebensorte in der Behindertenhilfe<br />
weiterhin Modellcharakter und Ausstrahlung haben.<br />
Die Aufgabe ist heute nicht leichter geworden, weil das<br />
besondere Engagement in einer sozialtherapeutischen<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
191
Beiträge | Contributions<br />
The social therapy community – a thing of the past or a model<br />
for the future?<br />
By Stefan Siegel-Holz<br />
Introduction<br />
The ‹classic› social therapy community – whatever you<br />
associate with this term – has become rare nowadays. Is<br />
this form of living and working together of people with<br />
and without disabilities going through a crisis? And that<br />
at a time when inclusion is being idealized by society?<br />
This would indeed be tragic. Or are the communities<br />
undergoing a healthy and necessary process of transformation<br />
and renewal, trying to keep up with societal<br />
progress whilst considering the needs of their members?<br />
Where are we today?<br />
Humanity has never experienced societal developments<br />
as radical as those of the last decades. Life<br />
conditions have changed so profoundly since the beginnings<br />
of anthroposophical social therapy that a direct<br />
comparison with today’s situation is impossible.<br />
The progress of technology has opened up entirely<br />
new dimensions in the lives of individuals as well as<br />
for society in general. We are now part of worldwide<br />
digital networks and at the same time more isolated<br />
than ever. Our knowledge of diseases and therapeutic<br />
possibilities has grown immensely. People with disabilities<br />
are seen in a different light by society, as is apparent<br />
from the UN’s ‹International Convention on the<br />
Rights of Persons with Disabilities› – CRPD for short –<br />
which was passed by the UN General Assembly on 13<br />
December 2006 and has since been signed and ratified<br />
by most states.<br />
The CRPD is a milestone when it comes to the recognition<br />
of the dignity of persons with disabilities. It<br />
poses, however, three major challenges for the work<br />
with these people in that it demands that this work be<br />
regulated, economized and ideologized.<br />
• Regulation: special needs care work is being flooded<br />
with rules, regulations and conditions. The need for<br />
documentation and quality assurance keeps everyone<br />
busy and many institutions find themselves stifled<br />
by a corset of regulations and bureaucracy that is<br />
being tugged ever tighter.<br />
• Economization: In many countries, the industrialized<br />
nations in particular, institutions working with<br />
people with disabilities receive more or less sufficient<br />
funding today to allow them to do their work adequately.<br />
However, this funding is often tied to particular<br />
conditions. Economic aspects determine what<br />
kind of help is being granted and how much of it.<br />
• Ideologization: fortunately, persons with disabilities<br />
are no longer seen as recipients of patronizing caregiving.<br />
The modern western view is that they are<br />
clients who buy the assistance they need in their life,<br />
as autonomously and independently as anyone who<br />
has his hair cut by a hairdresser or an electric lead<br />
repaired by an electrician. Institutions specializing in<br />
special needs care are no longer wanted and the idea<br />
is that they should be phased out. People with disabilities,<br />
cognitive disabilities included, are agents and<br />
their assistants become their service providers. The<br />
economic thinking in this case reduces people’s existential<br />
dependence on assistance to a purely commercial<br />
relationship.<br />
In summary we can say that the conditions for special<br />
needs care workers have become more difficult<br />
due to the considerable increase in external influences,<br />
while the situation has improved for the people with<br />
disabilities themselves. Their autonomy is being increasingly<br />
acknowledged, but there is a danger that their<br />
vulnerability is being underestimated. Finally they are<br />
given full human rights but are prevented by economic<br />
aspects from fully benefitting from these rights.<br />
The mission of social therapy in the face of<br />
these changes<br />
Traditionally, the assistance anthroposophical social<br />
therapy tries to provide does not consist as much in<br />
measures applied directly to people with disabilities<br />
but in creating and providing a social environment<br />
that can compensate for or mitigate the need for assistance.<br />
Adults with special needs are not seen as<br />
192
Beiträge | Contributions<br />
people with restrictions who need lifelong support and<br />
pedagogical help but the basic idea is that they want<br />
to live their life autonomously – and that they are able<br />
to do this with the necessary assistance.<br />
When it comes to social therapy as such, we see a growing<br />
process of individualization in the western world.<br />
While community building is not actually called into<br />
question, it is no longer setting the standards. More<br />
alternatives are emerging to the traditional forms of<br />
community such as family, church or clubs: communities<br />
of individualists; people consciously choose these<br />
new communities, join them voluntarily – and leave<br />
them again.<br />
In many existing social therapy communities participation<br />
in the communal life is no longer the rule, but<br />
rather an option that faces competition from other<br />
forms of provision outside the community.<br />
Trends such as the paradigm shift in working with<br />
people with special needs (from the care to the client<br />
principle) or the implementation of the UN’s CRPD<br />
have inspired new self-confidence in these people, for<br />
instance with regard to their rights and life plans. Many<br />
young people with disabilities opt for more open ways<br />
of living if they have the chance. People who used to<br />
apply for a place in a residential community as a way of<br />
getting away from institutions now try to find sheltered<br />
accommodation in order to get away from institutions<br />
– which now include the residential communities.<br />
As a result of individualization and professionalization<br />
many care workers in social therapy also have acquired<br />
a new self-image and understanding of their role. Traditional<br />
worldviews, anthroposophy included, are now<br />
being called into question and professional aspects<br />
feature more prominently: knowledge of disorders and<br />
the search for suitable, verifiable interventions, the relationship<br />
of proximity or distance to the client, the<br />
encroachment of a client’s personal space. Professionalization<br />
also goes hand in hand with the employees’<br />
awareness of their own rights when it comes to giving<br />
of their resources, taking time off or taking parental<br />
leave. For younger care-workers in particular the<br />
‹work-life balance› is increasingly important.<br />
And last, but not least, the conditions within the institutions<br />
have also changed: because more and more<br />
adults choose to live outside the specialized institutions,<br />
the remaining residents often need a very high<br />
degree of assistance and living outside the institution<br />
seems impossible for them. This means that the need<br />
for assistance is generally growing in these institutions<br />
and staff members are required to have more specialized<br />
professional qualifications. The increasing average<br />
age of the residents presents another challenge because<br />
of the specialized care needed for the elderly.<br />
Consequences<br />
This has direct consequences for anthroposophical social<br />
therapy if it wants to keep up with these developments:<br />
It needs, on the one hand, to respect the fact<br />
that the process of individualization affects everyone<br />
involved and include this in its conception. In practice<br />
this means that the ways people live, work and enjoy<br />
cultural activities together need to be further differentiated<br />
and alternatives need to be made available<br />
to cater for the diverse needs, wishes and disabilities.<br />
On the other hand social therapy needs to go with the<br />
times and see its members as people of these times<br />
– the younger generation in particular, since they are<br />
the future of the communities.<br />
The future task of the social therapy communities<br />
At a time when the views and opinions of society<br />
change ever faster, when concepts of assistance come<br />
into and go out of fashion, it seems to me to be essential<br />
to consider the foundations of human existence<br />
and build the concept of social therapy on them. What<br />
basic conditions are relevant to social therapy and<br />
need to be addressed by it?<br />
Existential needs and dependence<br />
As human beings we have a basic need for attachment<br />
and security on the one hand, and for autonomy and<br />
freedom on the other. We depend on others throughout<br />
our life. At the same time we strive to overcome these<br />
dependencies as much as possible. Self-determination<br />
allows us as adults to live our lives in accordance with<br />
our own intentions and wishes. Yet, social relationships<br />
remain important because they provide meaning, protection<br />
and orientation. In secure attachments and safe<br />
places we feel at ease and protected. It is in the alternation<br />
between these two poles that the individual personality<br />
evolves in the course of its biography.<br />
In the professional or political debate on special needs<br />
the dominating view today is for people with special<br />
needs to live self-determined and autonomous lives.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
193
Beiträge | Contributions<br />
There is, however, a danger that their needs are no longer<br />
met. Since attachment and safety are important,<br />
social therapy must continue to provide the support,<br />
care, orientation and security that only a community<br />
can give. This is the more important since the pressure<br />
to achieve, the acceleration, digitalization, increasing<br />
complexity and anonymity we see today are stressful<br />
for people with special needs and make them more<br />
helpless instead of emancipating them.<br />
Individuality, community and society<br />
As genuinely social beings we need the qualities of various<br />
relationships: as part of a couple, of a family, a<br />
community, society and the world. Community here<br />
means the social context where people know each<br />
other, are familiar with one another and foster mutual<br />
relationships. As places of living together and of relationships,<br />
modern communities – if they are to do justice<br />
to the individual – need to respect each person’s need<br />
for individualization as well as their need for socialization.<br />
Without the community, individualization may<br />
lead to isolation and socialization to massification.<br />
Dimensions of special needs<br />
What do persons with cognitive disabilities need? To<br />
start with they need all the things everyone needs, but<br />
in conjunction with the kind of support that compensates<br />
for their cognitive restrictions. Because being<br />
human involves more than becoming autonomous<br />
and because social relationships are vital for human<br />
beings, we need to help those in our care to develop<br />
their social skills. The relationships a community provides<br />
beyond that enhances the quality of life of its<br />
members. The tasks of social therapists are therefore<br />
• to encourage self-determination by helping those<br />
in their care to develop self-awareness, know their<br />
own needs, wishes and fears and understand their<br />
meaning. The care-receivers need help with asserting<br />
themselves and they need to be made aware of alternatives.<br />
The aim is integrity in the sense of ‹being able<br />
to be oneself›.<br />
• to encourage relationships by helping those in their<br />
care to learn to communicate successfully, acquire<br />
social skills, manage conflicts and respect each other.<br />
• to encourage community life. In addition to shaping<br />
and fostering relationships the social therapy<br />
community has the task to create a safe and reliable<br />
environment that conveys stability through orienta-<br />
tion, rhythm and committed relationships. Community<br />
can also protect against loneliness and neglect.<br />
• to encourage social skills. Social competence requires<br />
learning about general social conventions (such as<br />
traffic rules or monetary matters), acquiring a political<br />
education and overcoming barriers.<br />
Professionalism and personal application<br />
Apart from a professional attitude social care workers<br />
also need to be able to help others on a personal basis;<br />
they need to be able to commit to and support relationships.<br />
Professional attitudes – in the form of empirical<br />
knowledge and reflected actions – can be very<br />
helpful, but people with special needs need more than<br />
well-trained experts. They need fellow human beings<br />
who give them authentic and individual answers when<br />
a situation requires this. Expertise and simple humanity<br />
need to come together so that the person with special<br />
needs can develop the trust to accept help. When<br />
the individuality lights up behind the care-giver the<br />
foundation is laid for a relationship.<br />
This approach ensures that professional expertise is<br />
available but this expertise is qualified. As professional<br />
social therapists care workers give intentional support<br />
to those in their care. As fellow human beings<br />
they have a non-intentional interest in the other person.<br />
Giving positive assistance is possible when human<br />
and professional commitment come together. This can<br />
happen in any human encounter. The social therapy<br />
community as a residential community can provide<br />
the fertile soil for social relationships.<br />
The future of social therapy communities<br />
Specialized institutions will, in my view, only become<br />
redundant in a truly inclusive society, where there is<br />
no discrimination, where each single person is appreciated<br />
with his or her shortcomings, weaknesses and<br />
disabilities; where stressful situations are compensated<br />
by the other members of society; where otherness<br />
and diversity are perceived as enriching rather than as<br />
a threat; where the focus on performance is put into<br />
perspective and the principle of paying a salary in recognition<br />
for quantifiable services is overcome.<br />
Until this vision can become reality we need ‹test centres›<br />
for societal development. Inclusive communities<br />
for social therapy could play an important part in this<br />
development by anticipating real inclusion.<br />
194
Beiträge | Contributions<br />
But even once our societies have become fully inclusive<br />
in the sense outlined, the community and society will be<br />
needed as two social environments with different horizons.<br />
The social therapy community in itself is not yet a viable<br />
future model, just as persons who live in a town do<br />
not yet live inclusively. While residential communities<br />
where people live and work together and share cultural<br />
experiences may be particularly well equipped (as<br />
past experience shows), they cannot guarantee that<br />
their special needs residents are optimally supported.<br />
What is needed most of all is diversity and there is<br />
much potential for future development in this respect.<br />
Considering all this, what kind of communities<br />
do we need in future?<br />
We need communities that leave the economic paradigm<br />
behind and choose to be guided by fundamental<br />
humane values in working with those in their care.<br />
If these communities are inspired by anthroposophy,<br />
they will found their work on the idea of the integrity<br />
and spiritual essence of each individuality. They will be<br />
open to spirituality and strive for a deeper understanding<br />
of human nature. They will champion the dignity<br />
of the human being (as set out in the UN’s CRPD) and<br />
aspire to achieve subjectively successful and meaningful<br />
lives – for all community members.<br />
We need communities with values that call fashions and<br />
apparently ‹normal› goals into question and speak openly<br />
– for instance, in their mission statements – of the deeper<br />
essence that needs to be sought under the surface.<br />
These communities need to stand up to the present<br />
societal, political and ecological challenges and take<br />
hold of the tasks presented by the historical developments.<br />
If they fail to take this on they will always have<br />
a niche existence and never do their civic duty in a<br />
democratic world.<br />
We need communities which are open to new influences<br />
and ready to learn, and learn from their own<br />
mistakes too. Their underlying fundamental principles<br />
must serve as a corrective and a means of evaluation<br />
of these new influences.<br />
We need ‹permeable› communities which are open to<br />
society and to the world. This permeability requires the<br />
ability and willingness to enter into dialogue with the<br />
outside world. They must be the opposite of exclusive,<br />
authoritarian and potentially intrusive institutions.<br />
Such communities need social artists who develop the<br />
principle of inclusion and find suitable forms of living<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
together; their aim will be the coexistence not only of<br />
people with and without apparent disabilities, but of<br />
generations, nations, cultures and religions. New approaches<br />
to money, commodities, responsibility and<br />
solidarity can also be part of this development.<br />
Conclusion<br />
Social therapy within the residential community will<br />
have a future<br />
• if its services and provisions meet the existential<br />
needs of the people in their care and if it makes good<br />
use of the competence and skills of its care providers;<br />
• f there are people who commit to social therapy in<br />
a community setting and who are able to inspire the<br />
younger generation;<br />
• if the prevailing legal, economic and ideological conditions<br />
permit that social therapy can be carried out<br />
in accordance with its underlying intentions.<br />
If these conditions are met, residential social therapy<br />
can continue to be an attractive solution with a model<br />
character. It has become more difficult to implement<br />
because people no longer commit so easily to the<br />
community life and also because its concept and approach<br />
need to be overhauled and developed further.<br />
But if they succeed the social therapy communities<br />
can be a viable and humane alternative.<br />
Stefan Siegel-Holz works for the Camphill<br />
Community Lehenhof since 1983,<br />
first as a volunteer, later responsible<br />
for a house and member of the director<br />
team. He is a member of the internationale<br />
Konferenz für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in Dornach and<br />
works in various contexts for the Deutscher<br />
Bundesverband anthroposophisches<br />
Sozialwesen and in Camphills.<br />
Translation from German: Margot Saar<br />
195
Beiträge | Contributions<br />
Das «Ich» in Leib und Welt<br />
Aspekte zu seiner Entwicklung<br />
von Rüdiger Grimm<br />
Vor allem zu Beginn und am Ende der Vorträge über<br />
Heilpädagogik, die Rudolf Steiner im Sommer des Jahres<br />
1924 im Saal der «Schreinerei» am Goetheanum<br />
hielt, sprach er über weitreichende Entwicklungsfragen<br />
des menschlichen «Ich». Sie machen auf zentrale Aspekte<br />
der Arbeit im Feld der Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
aufmerksam. Darüber hinaus berühren sie<br />
Fragen der gegenwärtigen Entwicklung des Menschen<br />
und der Kultur. Ich habe im folgenden Text versucht, einige<br />
wenige von vielen möglichen Gesichtspunkten aus<br />
dem Werk Steiners, die diese Fragen weiter beleuchten<br />
können, zusammen zu stellen und sie mit anderen Ansätzen,<br />
in denen Aufschluss über die Entwicklung des<br />
«Ich» gesucht wird, in Beziehung zu setzen.<br />
«… dass der Mensch mit seiner irdisch-sinnlichen Natur nur<br />
als die Offenbarung dessen vor sich selber steht, was er in<br />
Wirklichkeit ist» (R. Steiner 1925/1998, S. 23).<br />
1.<br />
Der Mensch kann zu seinem eigenen «Ich» ein erlebendes<br />
und betrachtendes Verhältnis einnehmen. Er<br />
erlebt dann nicht nur sein eigenes Denken, Fühlen und<br />
Handeln, sondern er weiss, dass er denkt, fühlt und<br />
handelt und kann auf seine Gedanken, Gefühle und<br />
Handlungen Einfluss nehmen. Auf diesem reflexiven<br />
und zugleich selbstgestaltenden Prozess beruht sein<br />
Selbsterleben, das man als ein produktives Verhältnis<br />
des «Ich» zu sich selbst und zur Welt verstehen kann.<br />
Allerdings gehört diese Fähigkeit nicht zur Naturausstattung<br />
des Menschen, sie wird zwar zu einem Teil im<br />
Sozialisationsprozess erworben, aber ist in ihrem Kern<br />
eine individuell erworbene Fähigkeit. Durch sie wird<br />
deutlich, dass das «Ich» des Menschen sich in einem<br />
Entwicklungsprozess befindet. Indem das «Ich» in dieser<br />
Art von Selbstwirksamkeit auf sich selbst Einfluss<br />
nimmt, erweitert es sowohl den Radius seiner Selbstwahrnehmung<br />
als auch den der Wahrnehmung für das<br />
«Ich» anderer Menschen. Und es wird sich der Subtilität<br />
der eigenen Existenz bewusster. Denn obwohl die<br />
«Ich»-Erfahrung mit einem inneren Evidenzgefühl verbunden<br />
ist, bleibt zunächst im Dunkeln, was dieses<br />
«Ich» seinem Grunde nach ist und woher es stammt.<br />
Für die Heilpädagogik und Sozialtherapie ist diese<br />
Frage seit je von besonderer Bedeutung gewesen. Sehr<br />
oft trifft man in diesem Arbeitsfeld auf Kinder, Jugendliche<br />
und Erwachsene, die nur eingeschränkt über die<br />
landläufig mit «Ich»-Bewusstsein identifizierten Merkmale<br />
und Kompetenzen wie Kognition oder Sprache<br />
verfügen, die gleichwohl über eine starke Persönlichkeitswirkung,<br />
Originalität und Authentizität verfügen.<br />
In seinem Roman «Stiller», der zu den bedeutenden<br />
Zeugnissen des literarischen Schaffens im 20. Jahrhundert<br />
gehört, stellt sein Autor Max Frisch die Frage, wer<br />
hinter den Erfahrungen und Vorstellungen, die einen<br />
Menschen auszumachen scheinen, steht. So sagt eine<br />
der Protagonistinnen: «– nicht umsonst heisst es in<br />
den Geboten: du sollst dir kein Bildnis machen … Wenn<br />
man einen Menschen liebt, so lässt man ihm doch jede<br />
Möglichkeit offen und ist trotz aller Erinnerungen einfach<br />
bereit, zu staunen, immer wieder zu staunen,<br />
wie der andere ist … nicht ein fertiges Bildnis» (Frisch<br />
1954). Der Mann Stiller ist einer, der sich nicht mehr<br />
zu seinem Leben bekennen, nicht aufgehen will in den<br />
Erwartungen, die andere an ihn hegen. Der frei werden<br />
will von dem Bild, das er von sich selbst und andere<br />
von ihm gemacht haben, dem er aber lediglich eine<br />
andere Fiktion entgegensetzen kann: «Stillers Biographie<br />
besteht aus Projektionen seiner Umgebung, Mister<br />
Whites Biographie (sein von ihm ausgedachtes<br />
alter ego, Anm. R.G.) aus dessen Geschichten und Rollen,<br />
die er spielt. Weder im einen noch im anderen Fall<br />
196
Beiträge | Contributions<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
stimmen Ich und Biographie überein. ... Das wirkliche<br />
Leben ist unaussprechlich» (Schütt 2011, S. 495).<br />
Genau einen solchen Zuschreibungsprozess verstehen<br />
weite Teile der heutigen Sozialwissenschaften<br />
als Grundlage für die Entstehung des «Ich»-Bewusstseins.<br />
So meint der Frankfurter Soziologe Axel Honneth<br />
in Weiterführung der Thesen G. H. Meads, «dass sich<br />
die Ich-Bildung des Subjekts über Stufen der Internalisierung<br />
eines sozialen Reaktionsverhaltens vollzieht»<br />
(Honneth 2010, S. 265). Das bedeutet, dass das Kind<br />
an den Haltungen, Äusserungen und Reaktionen der<br />
Umwelt «einen inneren Persönlichkeitskern» (ebd.)<br />
ausbilde, der als Anerkennungsprozess in der Interaktion<br />
«aus Schichten einer positiven Selbstziehung»<br />
(ebd.) bestehe. Was bei Honneth positiv gewendet<br />
als Vorgang einer basalen Anerkennung des anderen<br />
gemeint ist, wird im Fall von Menschen mit Behinderung<br />
häufig als gegenteilige Erfahrung nicht der Anerkennung,<br />
sondern der Abwertung und Stigmatisierung<br />
mit den entsprechenden negativen Folgen für deren<br />
Selbstbild beschrieben.<br />
Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wird hier<br />
ein Prozess beschrieben, der im Falle des kleinen<br />
Kindes ja unter der Bewusstseinsschwelle verläuft.<br />
Doch anscheinend wird auch die Identitätsbildung<br />
des heutigen Menschen, sofern sie über der Bewusstseinsschwelle<br />
liegt, immer stärker von sozialen Spiegelungsprozessen<br />
bedingt. So weist Heinz Bude in<br />
seinem Buch «Gesellschaft der Angst» darauf hin,<br />
dass die innere Gleichgewichtsbildung des Individuums<br />
durch die Signale anderer ersetzt werde: «Das<br />
Ich wird zum Ich der anderen und steht dann allerdings<br />
vor dem Problem, aus den Tausenden von Spiegelungen<br />
ein Bild für sich selbst zu gewinnen» (Bude<br />
2014, S. 24 f). Gesellschaftskritisch merkt Honneth<br />
dazu an, dass die Entwicklung des Individuums hin<br />
zu mehr Autonomie, wie sie die Soziologie seit mehreren<br />
Jahrzehnten empirisch beobachte, «inzwischen<br />
so stark zu einem institutionalisierten Erwartungsmuster<br />
der sozialen Reproduktion geworden sind, dass<br />
sie ihre innere Zweckbestimmung verloren haben und<br />
vielmehr zur Legitimationsgrundlage des Systems geworden<br />
sind» (Honneth 2010, S. 207–208). Damit<br />
ist gemeint, dass viele ursprünglich als Aufgaben der<br />
Gemeinschaft resp. Gesellschaft als Sozialwesen verstandenen<br />
Verantwortlichkeiten nun an die «Ich»-AG,<br />
den Unternehmer seiner selbst delegiert werden. Das<br />
damit verbundene Unbehagen (das «Unbehagen in<br />
der Kultur») kennzeichnet der französische Kulturwissenschaftler<br />
Alain Ehrenberg als die zweifache Vorstellung,<br />
«dass die soziale Bindung schwächer wird und<br />
dass das Individuum im Gegenzug mit Verantwortlichkeiten<br />
und Prüfungen überladen ist, die es zuvor nicht<br />
kannte» (Ehrenberg 2011, S. 18). Wo Ehrenberg als<br />
Folge dieser Entwicklung die Zunahme psychischer Leiden<br />
und Probleme seelischer Gesundheit sieht, spricht<br />
Honneth von fatalen Folgen für den Einzelnen: «Das<br />
Resultat dieses paradoxalen Umschlags, in dem jene<br />
Prozesse, die einmal eine Steigerung qualitativer Freiheit<br />
versprachen, nunmehr zur Ideologie der Deinstitutionalisierung<br />
geworden sind, ist die Entstehung einer<br />
Vielzahl von individuellen Symptomen innerer Leere,<br />
Sich-überflüssig-Fühlens und Bestimmungslosigkeit»<br />
(Honneth 2010, S. 207–208).<br />
«Was mit nichts in Berührung kommt, kann von sich selber<br />
nichts wissen» (R. Steiner 1912/2003, S. 41).<br />
2.<br />
Um die Bedeutung der Aussenwelt für die Entstehung<br />
des «Ich»-Bewusstseins besser zu verstehen, kann<br />
man einen Perspektivwechsel vornehmen und verstehen,<br />
dass die Aussenwelt zwar bedeutend für das Erwachen<br />
des «Ich» ist, aber nicht ursächlich für dessen<br />
Existenz, wie es der Symbolischer Interaktionismus<br />
eines Mead oder die konstruktivistischen Sichtweisen<br />
nahelegen wollen. Dann bildet sich dieses nicht als<br />
Spiegelung an der Welt, sondern es wendet sich intentional<br />
der Welt zu, um an der Berührung mit ihr zu sich<br />
selbst zu kommen. So beschreibt Rudolf Steiner: «Das<br />
Kind würde nicht zum Ich-Bewusstsein kommen, wenn<br />
es sich nicht an der Aussenwelt, an dem Widerstand der<br />
Aussenwelt wahrnehmen würde» (Steiner 1912/2003,<br />
S. 41). Diese konstruktive Widerstandserfahrung, die<br />
Berührung mit den Menschen und den Dingen lässt<br />
das Bewusstsein von sich selbst aufleuchten, jene authentische<br />
Erfahrung «Ich» zu sein, die nicht von aussen<br />
eingegeben werden kann, sondern immer nur sich<br />
197
Beiträge | Contributions<br />
selbst und nie einen anderen meinen kann. Es handelt<br />
sich dabei um eine genuine Intuition, denn «das «Ich»<br />
kann auf keine Weise von aussen wahrgenommen werden,<br />
es kann nur im Innern erlebt werden» (Steiner<br />
1905/1979, S. 22). Woran das Kind erwacht, ist aus<br />
dieser Perspektive indes nicht zufällig. Das «Ich» erwacht<br />
an der Welt, an den Menschen und den Dingen,<br />
nicht aus einem zufälligen Aufeinandertreffen heraus,<br />
sondern weil es den Menschen und Dingen begegnet,<br />
die für es bedeutungsvoll sind.<br />
Es erwacht auch an der eigenen Körperlichkeit, gleichsam<br />
an einem innerlichen Prozess des Anstossens, so<br />
dass letztlich ein doppelter Vorgang stattfindet: Das<br />
äussere Anstossen an die Welt und das innere Anstossen<br />
an den eigenen Leib geschieht im gleichen Zug.<br />
Diejenige Sinneserfahrung, die diese doppelte Wahrnehmung<br />
zur Verfügung stellt, kommt durch den Tastsinn<br />
zustande, dessen Wahrnehmungsbereich an der<br />
Grenze zwischen Leib und Welt angesiedelt ist. Seine<br />
primäre Wahrnehmung ist das Grenzerlebnis zwischen<br />
innen und aussen. Nur sekundär kommt die taktile<br />
Wahrnehmung, z.B. von Oberflächen und Material, von<br />
«rau», «spitz» oder «glatt» zustande (vgl. König 1971).<br />
So vermittelt der Tastsinn das Gefühl der Existenz im<br />
«Ich»: seine Organe «geben uns eigentlich ursprünglich<br />
im inneren Erleben unser Ich-Gefühl, unsere innerliche<br />
Ich-Wahrnehmung» (Steiner 1916/1992, S. 250).<br />
Ein weiteres Feld, an dem das «Ich» sich selbst zum<br />
Erleben bringt – im seelischen Erleben –, ist das Gedächtnis.<br />
Hier bewirkt es, dass die flüchtigen Erlebnisse<br />
des Tages zu dauerhaften Erinnerungen werden.<br />
So wie sich das «Ich» an Leib und Welt zum Erleben<br />
bringt, so tut es dies auch an den inneren Bildern<br />
des Gedächtnisses, wobei Steiner genau differenziert:<br />
«Nicht das Bleibende als solches wird hier als<br />
ein ‹Ich› bezeichnet, sondern dasjenige, welches dieses<br />
Bleibende erlebt. … Mit dem Gewahrwerden eines<br />
Dauernden, Bleibenden im Wechsel der inneren Erlebnisse<br />
beginnt das Aufdämmern des Ich-Gefühls»<br />
(Steiner 1910/1989b, S. 61). Die innere «Bildwelt»<br />
des Gedächtnisses gibt – so wie es die Begegnung mit<br />
der Aussenwelt und die Gestalterfahrung des eigenen<br />
Leibes in anderer Weise tun – dem «Ich» die Möglichkeit,<br />
sich in den Zeitdimensionen von Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft zu erleben und zu reflektieren.<br />
Erst dadurch kann es zu einem biographischen Wesen<br />
und zum Akteur seiner eigenen Entwicklung werden.<br />
«Das eigentlich dauernde Seelenleben ist dahinter, steigt<br />
herunter, das geht durch die wiederholten Erdenleben und<br />
sitzt in der Organisation des Leibes darinnen» (R. Steiner<br />
1924/1995, S. 13).<br />
3.<br />
Eine Möglichkeit, sich mit der Diskrepanzerfahrung in<br />
Bezug auf das «Ich»-Erleben produktiv auseinanderzusetzen<br />
– dem Rätsel der eigenen Existenz –, liegt<br />
in einem meditativen Übungsweg. Mit ihm lässt sich<br />
die innere Erfahrung des «Ich» vertiefen. Was im Alltagsleben<br />
eher flüchtige Aufmerksamkeit erfährt – die<br />
reflexive Bewusstwerdung des eigenen Denkens, Fühlens<br />
und Handeln als Wirksamkeit des «Ich» – kann in<br />
der Meditation intensiver beobachtet und erlebt werden.<br />
Anlässlich der Weihnachtstagung zur Begründung<br />
der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft<br />
des Jahres 1923/24 hatte Rudolf Steiner als eine Art<br />
«inneren Grundstein» einen Meditationsspruch gestiftet,<br />
in dem der spirituelle Zusammenhang des<br />
Menschen mit der geistigen Welt in den Blickpunkt<br />
gestellt wird. In drei, den Kernbestand dieses Spruchs<br />
bildenden Übungen kann die Erfahrung des menschlichen<br />
«Ich» intensiviert und verdichtet werden. Diese<br />
betreffen seine Herkunft, seinen Zusammenhang mit<br />
der Welt und die auf seine Zukunftsentwicklung angelegte<br />
Freiheitsgestalt des Menschen. In den folgenden<br />
Abschnitten werden dazu einige Gesichtspunkte<br />
dargestellt. (Den Text des Spruchs findet man in dem<br />
Band: Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen<br />
Anthroposophischen Gesellschaft (Steiner<br />
1924/1963), sowie in diversen Einzelausgaben. Darüber<br />
hinaus gibt es mehrere Übersichtsdarstellungen,<br />
z.B. Grosse 2013).<br />
Die Herkunft des eigenen «Ich» – und damit auch seine<br />
eigene individuelle und menschheitliche Geschichtlichkeit<br />
– liegt für das Tagesbewusstsein im Dunkeln. Die<br />
Meditationsübung des «Geist-Erinnerns», wie Steiner<br />
sie bezeichnet, führt in der Rückerinnerung an einen<br />
Punkt in der Biographie, hinter den keine Erinnerung<br />
reicht. Bezeichnender Weise erscheinen die ersten Er-<br />
198
Beiträge | Contributions<br />
innerungen oder Erinnerungsinseln zeitgleich mit dem<br />
Auftreten des ersten «Ich»-Sagen des kleinen Kindes,<br />
also dem Auftreten der Intuition des «Ich», das sich an<br />
Leib und Welt resp. an den erwachenden Gedächtnisvorgängen<br />
zu spiegeln begonnen hat. Auch wenn man hier<br />
an einer Bewusstseinsschwelle angekommen ist, gibt es<br />
keinen Zweifel, dass die Existenz des «Ich» nicht erst an<br />
diesem Punkt begonnen hat. Die Übung des «Geist-Erinnerns»<br />
lässt dies als «Schwellenerfahrung» erlebbar<br />
werden. Sie vermittelt nicht nur das Erlebnis einer Grenze,<br />
sondern auch das für die Entwicklung sowohl des individuellen<br />
Menschen, wie auch des Menschenwesens<br />
an sich, also das Gefühl dafür, dass das «Ich» des Menschen<br />
ein Wesen in Entwicklung ist. Als solches ist es,<br />
so bringt es die «Grundsteinmeditation» zum Ausdruck,<br />
aus einem archaischen Schöpfungsvorgang entstanden,<br />
als individuelles menschliches «Ich» aus einem göttlichen<br />
«Ich». Dieses entwickelt sich nicht in einem einzigen<br />
Leben, sondern in einem biographischen Weg von<br />
Leben zu Leben:<br />
«Der Mensch trägt in sich einen seelischen Wesenskern,<br />
welcher einer geistigen Welt angehört.<br />
Dieser seelische Wesenskern ist das menschliche<br />
Dauerwesen, welches in wiederholten Erdenleben<br />
sich so auslebt, dass es sich in einem Erdenleben<br />
innerhalb des gewöhnlichen Bewusstseins als<br />
eine diesem Bewusstsein gegenüber selbständige<br />
Wesenheit heranbildet, nach dem physischen<br />
Tode des Menschen in einer rein geistigen Welt erlebt,<br />
und nach entsprechender Zeit die Ergebnisse<br />
des vorangehenden Erdenlebens in einem neuen<br />
darlebt. Es wirkt dieses Dauerwesen so, dass es<br />
zum Inspirator des Schicksals des Menschen wird.<br />
Es inspiriert dieses Schicksal so, dass sich ein Erdenleben<br />
als die durch die Weltordnung begründete<br />
Folge der vorangehenden ergibt» (Steiner 1987,<br />
S. 43).<br />
Was Rudolf Steiner in diesen Worten in dem Buch «Die<br />
Schwelle der geistigen Welt» beschrieben hat, verdeutlicht<br />
seine Ausführungen im ersten Vortrag des<br />
«Heilpädagogischen Kurses»: das Verhältnis des «eigentlichen<br />
Seelenlebens» (des seelischen Wesenskerns)<br />
zu dem «symptomatischen Seelenleben», das<br />
dadurch entsteht, dass sich der Wesenskern mit dem<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
aus der Generationenfolge stammenden Vererbungsleib<br />
verbindet und damit in die irdische Existenz tritt.<br />
Es ist jener Inkarnationsprozess, der an der Begegnung<br />
mit Leib und Welt zum «Tagesbewusstsein» führt,<br />
in dem sich das «Ich» des Menschen an den Prozessen<br />
des Denkens, Fühlens und Wollens, die es selbst<br />
hervorbringt zu gleicher Zeit selbst spiegelt. Steiner<br />
nannte es «symptomatisches Seelenleben». Er sagte:<br />
«Dieses Denken, Fühlen und Wollen ist überhaupt nur<br />
da wie Spiegelbilder, richtig wie Spiegelbilder, löscht<br />
aus, wenn wir einschlafen. Das eigentlich dauernde<br />
Seelenleben ist dahinter, steigt herunter, das geht<br />
durch die wiederholten Erdenleben und sitzt in der Organisation<br />
des Leibes darinnen» (Steiner 1924/1995,<br />
S. 13–14). Die Bezeichnungen, die Steiner für die Beschreibung<br />
dieser Prozesse verwendet, wechseln,<br />
beziehen sich jedoch auf die gleichen Begriffe: «eigentliches<br />
Seelenleben», «Wesenskern» oder «höheres<br />
Ich» gegenüber «symptomatischem Seelenleben»<br />
oder «niederem Ich».<br />
Das Kind muss in seinen ersten Lebensjahren nun<br />
den aus der Vererbungslinie stammenden Leib sich zu<br />
eigen machen, das überlieferte Modell individualisieren<br />
und den Leib zu einem Instrument für das Wirken<br />
des Seelisch-geistigen zu machen. Dabei tritt das kindliche<br />
«Ich» an jene Widerstandserfahrungen, von denen<br />
schon die Rede gewesen ist. Man müsse gewissermassen<br />
im geistigen Griff haben, wie stark die Individualität<br />
des Kindes sich gegenüber dem Leib durchsetzen<br />
könne, meinte Steiner in jenem ersten Vortrag. Allerdings<br />
sagte er in einem Vortrag über Pädagogik, den er<br />
wenige Wochen nach dem Heilpädagogischen Kurs in<br />
England hielt, dass die meisten Menschen noch sehr<br />
vieles dem gegebenen Modell «nachbauen» würden<br />
(Steiner 1924/1989c, S. 18).<br />
«… das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es<br />
verbunden ist» (Steiner 1904/2003, S. 50).<br />
4.<br />
Ein zweiter Aspekt des «Ich» bezieht sich auf dessen<br />
Weltbezug, sein Verbundensein mit anderen Menschen<br />
und den Ereignissen und Dingen in der Welt.<br />
Dieser kann in einer Übung des «Geist-Besinnens» er-<br />
199
Beiträge | Contributions<br />
fasst werden, in der man dem rhythmischen Verhältnis<br />
des Menschen zur Welt nachspüren kann, einem<br />
Geschehen, in dem das «Ich» immer neu nach einem<br />
Gleichgewicht zu der es umgebenden Welt strebt und<br />
das zu einer inneren Einheit mit deren Ereignissen und<br />
Geschehnissen führen kann. In dem bereits erwähnten<br />
Buch «Die Schwelle der geistigen Welt», das als eine<br />
Art von geisteswissenschaftlicher Hermeneutik und<br />
Herantasten an Steiners geisteswissenschaftliche Begriffsbildung<br />
verstanden werden kann, heisst es: «Die<br />
Seele fühlt, dass sie in diesem Leben von sich selbst<br />
loskommen kann. Dieses Gefühl aber braucht die<br />
Seele ebenso wie das entgegengesetzte, dasjenige des<br />
völlig In-sich-selbst-sein-Könnens. In beiden Gefühlen<br />
liegt der ihr notwendige Pendelschlag ihres gesunden<br />
Lebens» (Steiner 1913/1987, S. 10).<br />
In dem Buch «Resonanz – eine Soziologie der Weltbeziehung»<br />
von Hartmut Rosa findet sich eine Beschreibung<br />
dieses dynamischen und dialogischen<br />
Verhältnisses: «dass Subjekte nicht auf eine vorgeformte<br />
Welt treffen, sondern postuliert, dass beide<br />
Seiten – Subjekt und Welt – in der und durch die wechselseitige<br />
Bezogenheit erst geformt, geprägt, ja mehr<br />
noch: konstituiert werden. Was und wie ein Subjekt<br />
ist, lässt sich erst bestimmen vor dem Hintergrund der<br />
Welt, in die es sich gestellt und auf die es sich bezogen<br />
findet; Selbstverhältnis und Weltverhältnis lassen<br />
sich in diesem Sinne nicht trennen. Subjekte stehen<br />
der Welt also nicht gegenüber, sondern sie finden<br />
sich immer schon in einer Welt, mit der sie verknüpft<br />
und verwoben sind, der gegenüber sie je nach historischem<br />
und kulturellem Kontext fliessende oder auch<br />
feste Grenzen haben» (Rosa <strong>2016</strong>, S. 62–63). Wie alle<br />
dynamischen Beziehungen kann dieser Vorgang vielen<br />
Störungen unterliegen und so entspricht es der prekären<br />
Lage des «Ich», wenn der kanadische Philosoph<br />
Charles Taylor befürchtet, «dass in der dominanten naturalistisch-rationalistischen<br />
Selbstinterpretation der<br />
Moderne das Subjekt allmählich zu einem nur noch<br />
«punktförmigen Selbst» schrumpfe» (zit. nach Rosa<br />
<strong>2016</strong>, S. 63). Es verliert dann den Gegenpol der von<br />
aussen kommenden «peripheren» Weltwahrnehmung,<br />
die von zentraler Bedeutung für den rhythmischen Austauschprozess<br />
des Ichs ist.<br />
Der Weltbezug des «Ich» hängt jedoch von dessen Öffnung<br />
zur Welt ab und in welches Verhältnis es sich zu<br />
ihr setzt, von der Art und Weise wie es sich initiativ zwischen<br />
innen und aussen, zwischen Selbstbezug und<br />
Weltbezug bewegt. Es hat zu tun mit jener Fähigkeit<br />
des Loslassens von sich selbst, hin zu einer in die Tiefe<br />
gehenden Begegnung mit der Welt, vor allem mit dem<br />
anderen Menschen. Hin zur Entwicklung einer nichtegozentrischen<br />
Aufmerksamkeit, von der sich etwa der<br />
Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen das<br />
verspricht, «was man den Dominoeffekt des Zuhörens<br />
nennen könnte: Wenn jemand wirklich zuhört, ändert<br />
er das System der kommunikativen Spielregeln. Dinge<br />
geraten in Bewegung» (Pörksen <strong>2016</strong>, S. 50). Im Loslassen<br />
und seinem scheinbaren Selbstverlust kommt<br />
es zu einer neuen und überraschenden Begegnung<br />
nicht nur mit der Welt, sondern auch mit sich selbst.<br />
Sehr genau hat Rudolf Steiner den Vorgang dieser Art<br />
von Aufmerksamkeit im «Heilpädagogischen Kurs» beschrieben.<br />
Um sich in der dort beschriebenen Art und<br />
Weise mit Empathie in das Kind einfühlen zu können,<br />
ist es notwendig, die eigenen Emotionen – die Reaktionen<br />
von Sympathie und Antipathie – zurückhalten<br />
und in Ruhe das Kind in sich aufnehmen zu können.<br />
Es ist die Voraussetzung dafür, dass der Erziehende<br />
sein eigenes Fühlen (und eben nicht seine spontanen<br />
emotionalen Reaktionen) für einen Prozess der Wahrnehmung<br />
der Welt, in diesem Fall des Kindes, zur Verfügung<br />
stellt. Nur dann kommt es zu einer wirklichen<br />
Wahrnehmung und nicht zu blossen Projektionen. So<br />
sagte Steiner: «Erst dann, wenn man es so weit gebracht<br />
hat, dass einem eine solche Erscheinung zum<br />
objektiven Bild wird, dass man sie mit einer gewissen<br />
Gelassenheit als objektives Bild nimmt und nichts<br />
Anderes dafür empfindet als Mitleid, dann ist die im<br />
astralischen Leib befindliche Seelenverfassung da, die<br />
in richtiger Weise den Erzieher neben das Kind hinstellt.<br />
Und dann wird er alles übrige mehr oder weniger<br />
richtig besorgen» (Steiner 1924/1995, S. 35).<br />
Damit dieser unmittelbare Handlungsimpuls – die<br />
heilpädagogische Intuition – zustande kommen kann,<br />
muss eine entsprechende Tiefe der Begegnung stattfinden,<br />
die als Mitleid, Mitgefühl oder Empathie verstanden<br />
werden kann: «Wenn wir ein Wesen nur von aussen<br />
200
Beiträge | Contributions<br />
anschauen, bietet es unseren Sinnen und unserem Verstande<br />
das dar, was von den Eindrücken herrührt, die<br />
von ihm kommen. Wenn wir aber Mitgefühl entwickeln,<br />
treten wir über die Sphäre der Eindrücke, die das Wesen<br />
auf uns macht, hinüber; dann leben wir mit, was in dem<br />
geheimsten Allerheiligsten in den Wesen vorgeht, leben<br />
uns hinüber von unserer Ich-Sphäre in die Sphäre des<br />
andern Wesens» (Steiner 1911/1989a, 103). Es geht,<br />
wenn man diese Aussage berücksichtigt, um die Bildung<br />
eines Vertrauensraums, in dem Kind und Erziehender<br />
diese tiefgreifende Begegnungssphäre betreten<br />
dürfen. Die kaum mehr überschaubare Zahl an Publikationen<br />
zu Empathie und verwandten Fragen zeigt, welch<br />
tiefes Bedürfnis an Begegnung und Heilung vorliegt,<br />
aber auch wie wenig man diese Prozesse voraussetzen<br />
kann. Immerhin sollen, wie «Welt online» am 8.11.<br />
2010 meldete, rund zehn Prozent der deutschen Bevölkerung<br />
am Phänomen der Alexithymie leiden, dem Unvermögen<br />
die Gefühle anderer «lesen» zu können.<br />
Carl Rogers ging aus der Sicht der humanistischen Psychologie<br />
davon aus, dass wirkliche Empathie authentisch<br />
sei und kathartisch wirken könne; sie sei weder<br />
eine Interpretation von Zeichen und Verhaltensmerkmalen<br />
am anderen Menschen, noch eine Art von verkapptem<br />
Selbstmitleid (vgl. Grimm 2002). In diesem<br />
Zusammenhang ist Rudolf Steiners Sinneslehre von<br />
Bedeutung: So wie der Tastsinn als «Leibessinn» für<br />
die Erfahrung des eigenen «Ich» zentral ist, so ist es der<br />
Ich-Sinn für die Wahrnehmung des «Ich» eines anderen<br />
Menschen. Der damit verbundene Sinnesvorgang ist<br />
nicht von äusseren Zeichen und Merkmalen abhängig,<br />
sondern eine unmittelbare Wahrnehmung. So sagte er<br />
in den Vorträgen über «Das Rätsel des Menschen», es<br />
«beruht das Wahrnehmen des Ich des anderen nicht<br />
auf einem Schluss, sondern ist eine unmittelbar wirkliche,<br />
selbständige Wahrheit, die unabhängig gewonnen<br />
wird davon, dass wir den andern sehen, dass wir<br />
seine Töne hören. Abgesehen davon, dass wir seine<br />
Sprache vernehmen, dass wir sein Inkarnat sehen,<br />
dass wir seine Gesten auf uns wirken lassen, abgesehen<br />
von alledem nehmen wir unmittelbar das Ich des<br />
andern wahr» (Steiner 1916/1992, 241 f).<br />
Darauf beruht die Begegnung von Mensch zu Mensch.<br />
Genau dies – das Gegenüber und Miteinander von<br />
einem «Ich-Wesen» mit einem anderen» kann, als der<br />
Prototyp des Sozialen verstanden werden: das «Wir»<br />
führt zu einer Begegnung von «Ich» zu «Ich». Diese Begegnung<br />
ist nicht per se damit verbunden, dass sich<br />
das «Ich» in der Dyade, der Gruppe oder Gemeinschaft<br />
aufgibt, gleichsam regrediert und entgrenzt, wie es<br />
etwa Honneth in seinem bereits erwähnten Buch «Das<br />
Ich im Wir» in Anlehnung an die psychoanalytische Tradition<br />
im Sinne Donald Winnicotts annimmt. Sondern<br />
es gehört zu den Entwicklungsdimensionen des «Ich»,<br />
dass es sich immer mehr zu einem «sozialen Ich» entwickelt,<br />
das die freie Begegnung mit dem anderen<br />
Menschen ermöglicht.<br />
Das «Ich» indes ist in der Lage, die Waage zwischen<br />
den beiden Polen dieses rhythmischen Prozesses<br />
von Entäusserung und Rückbezug zu halten und das<br />
Gleichgewicht zwischen dem punktuellen und peripheren<br />
Erleben zu finden. Bei allen möglichen, zum Leben<br />
gehörenden, «Gleichgewichtsstörungen» ist dies sein<br />
Lebenselement und das Substrat seiner Entwicklung.<br />
Für das biographische Erleben eines gelingenden Lebens<br />
ist es entscheidend, ob man die von aussen herankommenden<br />
Lebensereignisse als zu sich gehörend<br />
integrieren kann oder sie als fremdbestimmende,<br />
sogar feindliche Einflüsse abweist.<br />
Steiner hat die Bedeutung der äusseren Ereignisse –<br />
den Weltbezug des «Ich» – als Gelegenheit bezeichnet,<br />
an der dieses sich in seinem Schicksal erkennen<br />
lernen kann. In seinem Buch «Theosophie» schrieb<br />
er: Der Mensch «wird dann sein «Ich» nicht nur in seinen<br />
von «innen» herauskommenden Entwicklungsimpulsen<br />
suchen, sondern in dem, was «von außen»<br />
gestaltend in sein Leben eingreift. In dem, was «ihm<br />
geschieht», wird er das eigene Ich erkennen» (Steiner<br />
1904/2003, S. 83). Es muss nicht eigens unterstrichen<br />
werden, welche Bedeutung eine solche Perspektive für<br />
den Selbstbezug des Menschen hat und welche Herausforderung,<br />
aber auch Entwicklungschance sie als<br />
biographische Übung beinhaltet.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
201
Beiträge | Contributions<br />
«… Weltenwesenslicht dem eigenen «Ich» zu freiem Wollen<br />
schenken» (R. Steiner 1924/1963).<br />
5.<br />
Ein weiterer und dritter Aspekt findet sich in der Art<br />
und Weise, wie sich das «Ich» im Denken erlebt. Der<br />
Mensch hat den Schritt zu seinem Tagesbewusstsein<br />
und zum Erleben seines «symptomatischen» oder<br />
niederen «Ich» mit dem Verlust seines früheren ursprünglichen<br />
geistigen Erlebens erkauft. So richtete<br />
sich sein Denken und Handeln vorwiegend auf die gegebene<br />
physische Sinneswelt. Von diesem Standpunkt<br />
aus musste er versuchen, die Fragen und Rätsel seiner<br />
Existenz zu lösen. In dieser Situation liegt der historische<br />
Schritt und die Chance zur Freiheitsentwicklung<br />
des Menschen. Die Wendung zur Sinneswelt bedeutet<br />
den Verlust der früheren unmittelbaren Verbindung zur<br />
geistigen Welt und des Bewusstseins des nicht verkörperten,<br />
höheren «Ich» als Wesenskern. Damit ist der<br />
Mensch mit dem Beginn der Neuzeit auf sich selbst<br />
gestellt. Das ist indes die Bedingung für die Entwicklung<br />
von Freiheit und Verantwortung. Sergej Prokofieff<br />
hat diesen Gedanken in einer Untersuchung über den<br />
«Ich»-Begriff der Anthroposophie aufgegriffen, indem<br />
er auf die Bedeutung des Lebens auf der Erde hinwies:<br />
«Diesen Prozess kann der Mensch nur auf der<br />
Erde, aus seinem Erden-Ich beginnen und ausführen.<br />
Denn allein in ihm kann die menschliche Freiheit als<br />
eine entscheidende Bedingung … erlebt und daraufhin<br />
in die weitere Entfaltung des höheren Selbstes mitgenommen<br />
werden» und fügt Steiner im Wortlaut an:<br />
«Das ist derjenige, der sein höheres Selbst ausgebildet<br />
hat. Hier in dieser physischen Welt ist die Ausbildungsstätte»<br />
(Prokofieff 2010, S. 43).<br />
Damit befindet sich der Mensch in einer historischen<br />
Verantwortungssituation, in der er sich mit dem Bösen<br />
als Bedingung der Freiheit auseinandersetzen muss.<br />
Denn Entwicklung zur Freiheit ist nicht denkbar ohne<br />
die Notwendigkeit und Möglichkeit zu wählen und ohne<br />
in sich selbst die Gegenkräfte gegen Unwahrheit, Ignoranz,<br />
Egoismus, Verletzung und Zerstörung zu entwickeln.<br />
Nicht Gott trägt die Schuld für dasjenige, was auf<br />
der Erde geschieht, sondern Menschen. Diese Tatsache<br />
liegt fortan als Schatten über dem Leben jedes Menschen<br />
und seinem Handlungsfeld.<br />
Steiners dritte Übung, die in dem genannten Meditationsspruch<br />
des «Grundsteins» entwickelt ist, weist<br />
auf diesen Entwicklungsweg zur Freiheit hin. Das meditative<br />
Denken ermöglicht, sich über das an die<br />
Sinnestätigkeit gebundene Denken hinaus mit dem Gedankenwesen<br />
der Welt zu verbinden und an ihm teilzuhaben<br />
– womöglich nur anfänglich und zart. In welcher<br />
Art der Mensch diese Gedanken anwendet, wofür er sie<br />
einsetzt, ist keine unmittelbare Folge des Erlebens dieser<br />
Gedanken, sondern offen: zwischen Erkenntnis und<br />
Handlung liegt die Entscheidung des Menschen. Freiheit<br />
beginnt dort, wo der Mensch in die Verantwortung<br />
für sein Denken und Handeln eintritt.<br />
Der amerikanische Philosoph Matthew Crawford hat in<br />
seinem Buch «Die Wiedergewinnung des Wirklichen»<br />
darauf hingewiesen, dass «echte Handlungsmacht»<br />
nicht auf einem Willkürakt beruhen könne, «sondern<br />
paradoxerweise auf der Unterwerfung unter Dinge, die<br />
ihr eigenes, unergründliches Wesen haben, ob dieses<br />
Ding nun ein Musikinstrument, ein Garten oder eine<br />
Brücke ist» (Crawford <strong>2016</strong>, S. 44–45). Es sei der «situierte»<br />
Mensch, der sich in seiner Verkörpertheit, seiner<br />
zutiefst sozialen Natur und in dem bestimmten<br />
historischen Moment, in dem er lebe, vorfinde (ebd.<br />
S. 48).<br />
Aus der Perspektive des «Heilpädagogischen Kurses»<br />
geht es in diesem Zusammenhang um die Gestaltung<br />
eines schöpferischen «Augenblicks», um situativ gelingendes<br />
Handeln in Lern- und Entwicklungsumgebungen,<br />
um die «heilpädagogische Intuition», wie sie<br />
weiter oben genannt wurde. Wo sie gelingt, ist sie ein<br />
Handlungsimpuls, der aus der Wahrnehmung des Kindes<br />
und der in ihm liegenden Möglichkeiten heraus<br />
entsteht und nicht Ergebnis eines Programms, Rezeptes<br />
oder gar persönlicher Willkür. Dieser Handlungsgestus<br />
kann auch als ein Prototyp für ein Handeln vom<br />
anderen her verstanden werden.<br />
Als «Willensbewegung» des «Ich» beginnt der dem Tagesbewusstsein<br />
nur teilweise zugängliche Prozess der<br />
Intuition mit der intensiven Aufmerksamkeit auf das<br />
Kind, als Moment einer authentischen Begegnung,<br />
die von aktiver Zuwendung und Interesse getragen ist.<br />
«Ein im Leben webendes Wissen vom Menschen nimmt<br />
das Wesen des Kindes auf wie das Auge die Farbe aufnimmt»,<br />
hatte Rudolf Steiner in einem Aufsatz über<br />
202
Beiträge | Contributions<br />
«Pädagogik und Kunst» des Jahres 1923 geschrieben<br />
(Steiner, zit. nach Kiersch 2010, S. 78). Damit<br />
wird charakterisiert, in welcher feinen Weise Wahrnehmung<br />
und Erfahrung und Wissen miteinander in<br />
Verbindung treten. Denn an diese erste Episode der<br />
Aufmerksamkeit schliesst sich jene bereits erwähnte<br />
Phase des Mitgefühls, der Empathie an, als die «Seelenverfassung,<br />
die in richtiger Weise den Erzieher<br />
neben das Kind stellt» (Steiner 1924/1995, S. 35).<br />
Von hier aus geschieht der Übergang in das intuitive<br />
Handeln gleichsam als Metamorphose von Erkenntnis<br />
und Empathie: «Und dann wird er alles Übrige<br />
mehr oder weniger richtig besorgen. Denn, meine lieben<br />
Freunde, Sie glauben gar nicht, wie gleichgültig<br />
es im Grunde genommen ist, was man als Erzieher<br />
oberflächlich redet oder nicht redet, und wie stark es<br />
von Belang ist, wie man als Erzieher selbst ist» (ebd.).<br />
Jedes pädagogische oder heilpädagogische Handeln<br />
muss sich aus der Persönlichkeit, aus der Präsenz<br />
des «Ich» des Erziehenden legitimieren (ausführlicher<br />
in Grimm <strong>2016</strong>).<br />
«Alles Erdenkliche hätte ich sein können – vielleicht sogar<br />
einer jener Menschen, die ich manchmal wegen ihres Studiums<br />
beneide –, wenn ich ohne Körperbehinderung zu meinem<br />
Lebenslauf angetreten wäre, nur eines nicht: Ich selbst!<br />
Dieser bestimmte Mensch mit meinem Namen ist gar nicht<br />
anders zu denken als mit einer spastischen Lähmung, die<br />
seine Geh-, Greif- und Sprechfähigkeit einschränkt» (Fredi<br />
Saal 2002).<br />
6.<br />
Diese Prozesse rechnen mit dem sich in Entwicklung<br />
befindenden «Ich» des Menschen. Steiner ging<br />
davon aus, dass jede Entwicklung vom «Ich» ausgehen<br />
müsse, denn wir «haben in dem Erdenleben nur<br />
ein einziges menschliches Glied, an dessen Entwicklung<br />
wir wirklich arbeiten können, das ist unser Ich»<br />
(Steiner 1912/2003, S. 43). Schon weiter oben wurde<br />
auf die prekäre Situation des «Ich» hingewiesen, auf<br />
die Ambiguität zwischen innerer Entwicklung und äusseren<br />
Zwängen. Im «Heilpädagogischen Kurs» beklagt<br />
Steiner vor allem die Neigung zur Selbstbespiegelung,<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
die den Moment der Intuition nicht ins Bewusstsein<br />
treten lasse. So würden die an sich nahe an der Bewusstseinsschwelle<br />
liegenden «Einfälle» gar nicht<br />
wahrgenommen. Dass unsere Kultur einer nicht-egozentrischen<br />
«Ich»-Entwicklung bedarf, ist heute allgemein<br />
bekannt. Das «grosse Ego» des sich selbst<br />
durchsetzenden Machers, das Zeitalter der Narzissten<br />
(Lasch) oder das «spätmoderne Konsumenten-Ich»<br />
(Crawford) müssen als überkommende Lebens- und<br />
Charaktermuster durch ein neues «Ich» abgelöst werden,<br />
das sich, ohne sich selbst zu verlieren, im «Wir»<br />
mit anderen «Ichen» an der Gestaltung der Aufgaben<br />
des Lebens beteiligt.<br />
Rudolf Steiners Aussage über das «Ich» in seinem<br />
Buch «Theosophie»: «Das Ich erhält Wesen und Bedeutung<br />
von dem, womit es verbunden ist» kann man<br />
auch aktiv formulieren mit: «womit es sich selbst verbindet».<br />
Damit wird das produktive Verhältnis zum eigenen<br />
«Ich» noch deutlicher unterstrichen. Die weitere<br />
Evolution des «Ich», einst das grosse Geschenk der<br />
geistigen Welt an den Menschen, muss nun von diesem<br />
«Ich» selbst ausgehen. Dabei kann es mit der Hilfe<br />
der geistigen Welt rechnen. Es sei noch ein «Baby», ermahnte<br />
Steiner seine Zuhörer gegen Ende seiner Ausführungen<br />
über Heilpädagogik, das jüngste seiner<br />
Wesensglieder (Steiner 1924/1995, S. 184). Einst,<br />
erst in einer fernen Entwicklungsepoche würde «ein<br />
ungeheures Wissen von dem Zusammenhang des Lebens<br />
von dem Ich ausstrahlen» (Steiner 1915/1981,<br />
S. 61).<br />
Zu Beginn und am Ende seiner zukunftsweisenden<br />
Ausführungen über Heilpädagogik entwickelte Steiner<br />
Entwicklungsperspektiven des menschlichen «Ich»,<br />
die man in einem komplementären Zusammenhang<br />
sehen kann: Er begann im ersten Vortrag mit einem<br />
Bild der Inkarnation des Menschen, zeigte auf, wie<br />
durch das höhere «Ich» die Verbindung eines geistigseelischen<br />
Wesens mit einem körperlich-materialen<br />
Wesen zustande kommt, wie zerbrechlich indes dieser<br />
Zusammenhang nicht nur am Anfang des Lebens<br />
sein kann, sondern dauernd bleibt. Diese allen Menschen<br />
gemeinsame Conditio humana ist es, die alles<br />
irdisch-biographische in einem übergreifenden Licht<br />
der Entwicklung des Menschen von Leben zu Leben<br />
aufscheinen lässt. So endete er seine Ausführungen im<br />
203
Beiträge | Contributions<br />
zwölften Vortrag schliesslich mit dem Bild des «Ich»,<br />
das gerade in seiner Fragilität in einer weitreichenden<br />
Zukunftsentwicklung steht.<br />
Michael Dackweiler in Freundschaft und<br />
zu guter Genesung gewidmet<br />
Rüdiger Grimm ist bis Ende <strong>2016</strong> Sekretär der Konferenz für<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie, Medizinische Sektion am<br />
Goetheanum und Professor für Theorien und Methoden der<br />
Heilpädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft<br />
in Alfter.<br />
Anmerkung: Fredi Saal (1935-2010), wurde mit einer Körperbehinderung<br />
geboren und fälschlicher Weise als geistig behindert<br />
eingestuft. Gegen den Willen seiner Mutter brachte man ihn in<br />
einem Heim für geistig behinderte Kinder unter. Erst nach Jahren<br />
wurden seine grossen Fähigkeiten erkannt und er konnte<br />
ein eigenständiges Leben aufbauen, sich autodidaktisch weiterbilden<br />
und wurde zu einem der Vordenker der Selbsthilfebewegungen.<br />
Sein Buch «Warum sollte ich jemand anderes sein<br />
wollen?» gehört zu den grossen Erzählungen eines neuen Ich-<br />
Bewusstseins.<br />
Literaturverzeichnis<br />
Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger<br />
Edition, HIS.<br />
Crawford, Matthew B. (<strong>2016</strong>): Die Wiedergewinnung des Wirklichen.<br />
Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung.<br />
Unter Mitarbeit von Stephan Gebauer. Berlin: Ullstein Verlag<br />
Ehrenberg, Alain (2011): Das Unbehagen in der Gesellschaft. 1.<br />
Aufl. Berlin: Suhrkamp.<br />
Frisch, Max (1954): Stiller. Roman. Frankfurt: Suhrkamp.<br />
Grimm, Rüdiger (2002): Erstaunen, Mitgefühl und Gewissen -<br />
Chancen und Gwefährdungen der Alltagsethik in den helfenden<br />
Berufen. In: Michaela Glöckler (Hg.): Spirituelle Ethik.<br />
Situationsgerechtes, selbstverantwortetes Handeln. Dornach:<br />
Verlag am Goetheanum, S. 121–150.<br />
Grimm, Rüdiger (<strong>2016</strong>): Selbstentwicklung und Heilpädagogischer<br />
Alltag. Meditative Elemente im «Heilpädagogischen<br />
Kurs» Rudolf Steiners. In: Michaela Glöckler (Hrsg.): Meditation<br />
in der Anthroposophischen Medizin. Ein Praxisbuch<br />
für Ärzte, therapeutisch Tätige, Pflegende und Patienten.<br />
Berlin: Salumed Verlag<br />
Grosse, Rudolf (2013): Die Weihnachtstagung als Zeitenwende.<br />
Dornach: Verlag am Goetheanum<br />
Honneth, Axel (2010): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie.<br />
Orig.-Ausg., 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch<br />
Wissenschaft, 1959).<br />
Kiersch, Johannes (2010): «Mit ganz andern Mitteln gemalt».<br />
Überlegungen zur hermeneutischen Erschliessung der esoterischen<br />
Lehrerkurse Steiners. In: RoSE – Research of Steiner<br />
Education 1 (2), S. 73–82.<br />
König, Karl (1971): Sinnesentwicklung und Leiberfahrung. Heilpädagogische<br />
Gesichtspunkte zur Sinneslehre Rudolf Steiners.<br />
Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben<br />
Pörksen, Bernhard (<strong>2016</strong>): Man kann Menschen zum Schweigen<br />
bringen, sie jedoch niemals zum Zuhören zwingen. Echtes Zuhören<br />
ist ein Geschenk. In: Die Zeit, 11.08.<strong>2016</strong> (34), S. 50.<br />
Prokofieff, Sergej O. (2010): Das Rätsel des menschlichen Ich.<br />
Eine anthroposophische Betrachtung. Dornach: Verlag am<br />
Goetheanum.<br />
Rosa, Hartmut (<strong>2016</strong>): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung.<br />
3. Auflage. Berlin: Suhrkamp.<br />
Saal, Fredi (2002): Warum sollte ich jemand anderes sein wollen?<br />
Erfahrungen eines Behinderten. Mit einem Nachruf von<br />
Günter Dörr. Neumünster: Ed. Jakob van Hoddis im Paranus-<br />
Verl.<br />
Schütt, Julian (2011): Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs;<br />
1911 - 1954. 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp.<br />
Steiner, Rudolf (1904/2003): Theosophie. Einführung in übersinnliche<br />
Welterkenntnis und Menschenbestimmung. 32.,<br />
durchges. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag (GA 9).<br />
Steiner, Rudolf (1905/1979): Die Stufen der höheren Erkenntnis.<br />
Dornach: Rudolf Steiner Verlag (GA 12).<br />
Steiner, Rudolf (1915/1981): Schicksalsbildung und Leben<br />
nach dem Tode. Sieben Vorträge, gehalten in Berlin vom 16.<br />
November bis 21. Dezember 1915. 3. Aufl. Dornach: Rudolf-<br />
Steiner-Verlag (GA 157a).<br />
Steiner, Rudolf (1916/1992): Das Rätsel des Menschen. Die geistigen<br />
Hintergründe der menschlichen Geschichte. Fünfzehn<br />
Vorträge, gehalten in Dornach vom 29. Juli bis 3. September<br />
1916; 3. Aufl. Dornach: Rudolf Stei-ner Verlag (GA 170).<br />
Steiner, Rudolf (1924/1995): Heilpädagogischer Kurs. Zwölf<br />
Vorträge, gehalten in Dornach vom 25. Juni bis 7. Juli 1924<br />
vor Ärzten und Heilpädagogen. 8. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner<br />
Verlag (GA 317).<br />
Steiner, Rudolf (1924/1963): Die Weihnachtstagung zur Begründung<br />
der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft.<br />
24. Dezember 1923 bis 1. Januar 1924. Grundsteinlegung,<br />
Vorträge und Ansprachen, Statutenberatung. Dornach: Rudolf<br />
Steiner Verlag (GA 260).<br />
Steiner, Rudolf (1913/1987): Die Schwelle der geistigen Welt.<br />
Aphoristische Ausführungen. 7. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner<br />
Verlag (GA 17).<br />
Steiner, Rudolf (1911/1989a): Der irdische und der kosmische<br />
Mensch. Ein Zyklus von neun Vorträgen, gehalten in Berlin<br />
am 23. Oktobr 1911 und zwischen dem 19. März und 20.<br />
Juni 1912. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag (GA 133).<br />
Steiner, Rudolf (1910/1989b): Die Geheimwissenschaft im Umriss.<br />
30. Aufl., 69.-73. Tsd. Dornach: Rudolf Steiner Verlag (GA 13).<br />
Steiner, Rudolf (1924/1989c): Die Kunst des Erziehens aus dem<br />
Erfassen der Menschenwesenheit. Sieben Vorträge, gehalten<br />
in Torquay vom 12. bis 20. August 1924, mit einer Fragenbeantwortung.<br />
5. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag<br />
(GA 311).<br />
Steiner, Rudolf (1925/1998): Anthroposophische Leitsätze. Der<br />
Erkenntnisweg der Anthroposophie; Das Michael-Mysterium.<br />
10. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag (GA 26).<br />
Steiner, Rudolf (1912/2003): Okkulte Untersuchungen über das<br />
Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Zwanzig Vorträge,<br />
gehalten 1912 bis 1913 in verschiedenen Städten. 5. Aufl.<br />
Dornach: Rudolf-Steiner-Verlag (GA 140).<br />
The translation into english is available at:<br />
seelenpflege.info/special<br />
204
Beiträge | Contributions<br />
Über die Grundlagen der Heilpädagogik<br />
Von Ita Wegman<br />
Wiederholt hat Rudolf Steiner darauf hingewiesen, dass<br />
für denjenigen, der von einer umfassenden Welt- und<br />
Menschenerkenntnis ausgeht, der Pädagoge bis zu<br />
einem gewissen Grade ebenso ein Heiler ist wie der Arzt.<br />
Und daneben steht der Ausspruch Rudolf Steiners, der<br />
besagt, dass der Arzt, der im wahren Sinne ein Heiler<br />
sein will, die Erziehungskunst, im weitesten Sinne aufgefasst,<br />
in sich lebendig haben muss, mit dem Bewusstsein,<br />
dass die Heilkunst in engster Verbindung mit der<br />
Initiationswissenschaft steht. Beide Hinweise wird auch<br />
derjenige voll und ganz verstehen, der sich ernstlich mit<br />
demjenigen befasst hat, was die Geisteswissenschaft<br />
an Erkenntnisgut für das Verständnis der menschlichen<br />
Entwickelung und im Besonderen der Entwickelung im<br />
kindlichen Alter gegeben hat. Und so musste natürlicherweise<br />
das Heilen und Erziehen miteinander verbunden<br />
werden, um zu einer speziellen Heilpädagogik zu kommen;<br />
zu einer solchen Heilpädagogik, die ihr Entstehen<br />
dem anthroposophischen Wissen verdankt, und zu der<br />
uns Rudolf Steiner hingeführt hat.<br />
Es soll nun im Folgenden vom ärztlichen Standpunkte<br />
aus dargestellt werden, wie die Krankheitszustände mit<br />
körperlichen und seelischen Entwickelungsstörungen im<br />
Kindesalter zu betrachten sind, und in welcher Weise<br />
Heilpädagogik in Anwendung kommen kann.<br />
So wissen wir, dass das Kind in seiner Entwickelung<br />
nach Leib, Seele und Geist durch ganz verschiedene Lebensepochen<br />
hindurchgehen muss, dass es in den verschiedenen<br />
Lebensaltern in ganz verschiedener Weise<br />
der Aussenwelt gegenübersteht, und dass auch seine<br />
physiologischen Vorgänge in den einzelnen Lebensphasen<br />
sich wesentlich voneinander unterscheiden. Wir<br />
müssen uns vorstellen, dass das Kind durch die Geburt<br />
den physischen Leib erhält, der ihm durch die Eltern<br />
zukommt. Es ist eine Art Modell eines physischen Leibes,<br />
behaftet mit den Merkmalen der Vererbung, in das<br />
hinein das Kind geboren wird, und in das es nach und<br />
nach mit seinen höheren Wesensgliedern untertauchen<br />
muss. Diesen physischen Leib, dieses durch die Eltern<br />
vererbungsmässig erhaltene Modell muss das geistigseelische<br />
Wesen, das sich in diesem Leib verkörpert hat,<br />
allmählich umgestalten, um sich darin seinem eigenen<br />
Wesen entsprechend entfalten zu können. Dies vollzieht<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
sich in den ersten sieben Lebensjahren, und diese Umgestaltung<br />
ist umso intensiver, je stärker das individuelle,<br />
geistig-seelische Wesen des Kindes ist.<br />
Aufgabe der Erziehung ist es nun, in dieser Lebensepoche<br />
dem Kinde zu helfen, in gesunder Weise sich seinen<br />
neuen physischen Leib zu gestalten, und alle diejenigen<br />
Einflüsse von ihm fernzuhalten, die es bei dieser Arbeit<br />
stören können. Denn das Kind ist in den ersten sieben<br />
Lebensjahren wie ein einziges grosses Sinnesorgan zu<br />
betrachten das auf alle Vorgänge seiner Umgebung mit<br />
seiner ganzen Organisation nachahmend reagiert. Und<br />
alles, was von aussen her an Unharmonischem an das<br />
Kind herandringt, macht es krank, weil es die höheren<br />
Wesensglieder in ihrer Arbeit an einem gesunden Aufbau<br />
der leiblichen Organisation hemmt.<br />
Diese Arbeit an seiner physischen Leiblichkeit nimmt<br />
das Geistig-Seelische des Kindes in der Zeit von der Geburt<br />
bis zum Zahnwechsel voll und ganz in Anspruch.<br />
Und zeigt sich das geistig-seelische Wesen stark, dann<br />
werden die Vererbungskräfte im physischen Leib überwunden,<br />
was jedoch meist nicht ohne Kampf vor sich<br />
gehen kann. Und dieser Kampf führt dann zu den sogenannten<br />
Kinderkrankheiten, die ja in dieser Zeit des Kindesalters<br />
besonders häufig auftreten. Auch alle anderen<br />
akuten Krankheiten in diesem Alter können gewissermassen<br />
betrachtet werden als ein Kämpfen der geistigseelischen<br />
Individualität gegen den vererbten Leib, das<br />
sogenannte Modell.<br />
Die Krankheit ist also hier schon als ein natürlicher Heilvorgang<br />
zu betrachten, und ein Arzt, der diese Vorgänge<br />
in rechter Weise versteht, wird sogleich zum Erzieher, der<br />
das Kind in solche Verhältnisse bringt, wo die Krankheit<br />
und dasjenige, was aus ihr entstehen kann, dahin gelenkt<br />
wird, dass es für die Entwickelung des Kindes förderlich<br />
ist.<br />
Hier kann man also schon sehen, wie eng das Heilen mit<br />
dem Erziehen verbunden ist. Und noch intensiver wird<br />
der Arzt eingreifen müssen, wenn es sich um konstitutionelle<br />
Krankheiten mit körperlichen und seelischen<br />
Entwickelungsstörungen handelt. Da wird der Arzt noch<br />
mehr zum Heilpädagogen werden müssen, indem er vor<br />
der Notwendigkeit steht, neben seinen medikamentösen<br />
Verordnungen noch individuelle, dem Wesen und<br />
205
Beiträge | Contributions<br />
der Krankheit des Kindes entsprechende heilpädagogische<br />
Massnahmen zu treffen, um dem Kinde durchgreifend<br />
helfen zu können.<br />
Und es muss der Arzt ein tiefgehendes Verständnis dafür<br />
haben, was die Ursachen solcher Krankheiten sind, und<br />
was den verschiedenen Krankheitssymptomen zugrunde<br />
liegt. Er muss wissen, wie dasjenige, was Rudolf Steiner<br />
als den Bildekräfteleib bezeichnet hat, verbunden<br />
mit den geistig-seelischen Kräften des Kindes, plastisch<br />
umgestaltend auf den physischen Leib wirkt, wie diese<br />
Bildekräfte den Lebensprozessen der physischen Organisation<br />
zugrunde liegen, und in welcher Weise dieser<br />
Bildekräfteleib – auch Ätherleib in der Geisteswissenschaft<br />
genannt – in den ersten sieben Lebensjahren des<br />
Kindes an seinem Kopfe mit den Sinnesnervenorganen,<br />
in der Brust, mit der Atmung und Blutzirkulation und in<br />
dem Stoffwechsel-Gliedmassensystem wirkt. Der Arzt<br />
muss wissen, wie diese Bildekräfte, die den Leib formen,<br />
nach und nach freier und selbständiger von der leiblichen<br />
Organisation werden, und sich beteiligen an der<br />
Entwickelung des kindlichen Seelenlebens. Dann wird er<br />
auch erkennen können, was die Anzeichen und Folgen<br />
sind, wenn die Bildekräfte nicht richtig eingreifen oder<br />
nicht zur rechten Zeit frei werden können.<br />
Behalten wir im Auge, dass die geistig-seelischen Kräfte<br />
des Kindes von der Geburt bis zu der Zeit des Zahnwechsels<br />
allein die Aufgabe haben, sich an der plastischen<br />
Ausgestaltung der Leiblichkeit zu betätigen, und vor<br />
allem in diesem Lebensabschnitt an der Gestaltung<br />
des Kopfes mit den Sinnesnervenorganen zu arbeiten,<br />
während sie vom Kopfe aus in den ganzen Organismus<br />
einströmen, so müssen wir uns vorstellen, dass der<br />
Bildekräfteleib, während er zunächst nach der Geburt<br />
gleichmässig den Organismus durchdringt, nur etwa in<br />
den ersten zweieinhalb Jahren als Wachstums- und Gestaltungskraft<br />
im Haupte tätig ist. Das Wachstum und die<br />
Organbildung im Kopfe ist bis zu diesem Zeitpunkte gewissermassen<br />
abgeschlossen, und es kann sich in demselben<br />
Masse, als sich dieser Bildekräfteleib zurückzieht<br />
von dem Haupte, die Fähigkeit zu gehen und zu sprechen<br />
entwickeln. Und in dem Gehen und Sprechen offenbart<br />
sich uns durch den Leib die Entfaltung der geistig-seelischen<br />
Wesenskräfte des Kindes.<br />
Treten nun hier Störungen ein, und können sich z.B. die<br />
Bildekräfte nicht in geordneter Weise nach und nach bis<br />
zum Alter von zweieinhalb Jahren aus der Kopforganisation<br />
zurückziehen, dann kann auch das Kind nicht ordentlich<br />
gehen und sprechen lernen; es kann bei schweren<br />
Störungen im Ablauf dieser Prozesse dazu führen, dass<br />
das Kind nicht zum Gehen- und Sprechenlernen kommt,<br />
oder dass es sich nicht aufrichten kann, dass die Gliedmassen<br />
und die Brust im Wachstum zurückbleiben, rachitische<br />
Merkmale zeigen, während der Kopf an Umfang<br />
zunimmt. Und man hat schliesslich, wenn die Bildekräfte<br />
über die Zeit hinaus als Wachstumskräfte wirksam<br />
bleiben, denjenigen Krankheitszustand, den man als Hydrocephalie<br />
oder Wasserkopf bezeichnet.<br />
Auch kann natürlich der Fall eintreten, dass die Wachstumskräfte<br />
im Kopf zu schwach sind oder zu frühzeitig<br />
sich zurückziehen, dann können wir in den verschiedensten<br />
Graden dasjenige beobachten, was im extremen<br />
Fall die Mikrocephalie oder Kleinköpfigkeit ist; der Kopf<br />
verhärtet sich zu früh.<br />
Je früher nun der Arzt solche nach der einen oder anderen<br />
Richtung gehenden Krankheitstendenzen an einem<br />
Kinde erkennt, umso weitgehender wird er noch die<br />
Möglichkeit haben, hier gesundend einzuwirken. Er wird<br />
einem Kinde, bei dem der Kopf über das normale Mass<br />
hinauswachsen will, solche Substanzen als Medikamente<br />
verabreichen müssen, welche die ungehemmt im<br />
Kopfe fortwirkenden Wachstums- oder Bildekräfte, die zu<br />
Hydrocephalie führen und in dieser Intensität im Kopfe<br />
im Grunde nur im Embryonalstadium des Kindes normal<br />
sind, eindämmen und dem Gehirn die rechte Festigkeit<br />
geben; z.B. durch Verabreichung von Blei oder Kieselsäure<br />
in geeigneter Form; dazu solche Substanzen, welche<br />
auf schon vorhandene Deformierungen rückblickend einwirken<br />
können – in diesem Falle z.B. ein Hypophysen-<br />
Präparat – und diätische Massnahmen. Auch wird man,<br />
wenn das Kind schon etwas älter ist, durch heilpädagogisches<br />
Vorgehen, vor allem aber auch durch heileurythmische<br />
Übungen versuchen, die im Kopfe in dem Wachstum<br />
über das Ziel hinauswirkenden Kräfte in eine normale<br />
Gestaltung hineinzuleiten und auch der Brust- und<br />
Gliedmassenorganisation die mangelnden Gestaltungskräfte<br />
zuzuführen. Bei den Kleinköpfigen, bei denen es<br />
darauf ankommt, die Wachstumskräfte, die sich zu früh<br />
vom Kopfe zurückgezogen haben, wieder von neuem anzuregen,<br />
wird z.B. Silber das Hauptmedikament sein.<br />
Bis zum fünften Jahre etwa arbeiten normalerweise die<br />
Bildekräfte an der Ausgestaltung des Brustorganismus,<br />
dem rhythmischen System, an Atmung und Blutkreislauf,<br />
und ihnen kommen auch diejenigen Kräfte zu Hilfe,<br />
die aus dem Kopfe schon frei geworden sind. Ungesunde<br />
Einwirkungen auf das Kind von aussen her werden<br />
also auch in dieser Zeit die verschiedensten Störungen<br />
in der innerlichen Gestaltungstätigkeit der Bildekräfte<br />
zur Folge haben können. Ungeheuer wichtig wird es<br />
206
Beiträge | Contributions<br />
sein, dass das Kind in einer Umgebung ist, die es versteht.<br />
Je harmonischer und moralischer die es umgebenden<br />
Menschen sind, umso besser wird es für das Kind<br />
sein, da es auch noch in diesem Alter nur nachahmen<br />
will, und seine Bildekräfte alles in sich aufnehmen, was<br />
in der Umgebung geschieht. Unschöne Bewegungen und<br />
Gewohnheiten der Erwachsenen, ungute Gedanken und<br />
Gefühle, Sprachfehler, auch unharmonische Formen, die<br />
das Kind umgeben, sind nicht ohne Folgen. Früher oder<br />
später können sich die Anomalien zeigen. Besonders<br />
schädlich ist es auch für dieses Alter, wenn nunmehr die<br />
durch das allmähliche Freiwerden des Bildekräfteleibes<br />
aus der Brustorganisation als Phantasie und Gedächtnis<br />
aufkeimenden Fähigkeiten in ungesunder Weise beansprucht<br />
werden. Bei Kindern, die nicht gedeihen wollen,<br />
nervös, blass und körperlich zurückgeblieben sind, wird<br />
man auch meistens die Ursachen solcher Krankheitserscheinungen<br />
in derartigen Störungen in der Entwickelung<br />
finden können. Auch kann der Fall so liegen, dass<br />
durch Veranlagung die Tendenz dazu vorliegt, dass die<br />
Bildekräfte zu lange und zu intensiv mit der Brustorganisation<br />
verbunden bleiben, dann werden wir in ähnlicher<br />
Weise wie bei der Hydrocephalie, nur auf einem anderen<br />
Gebiete, einen ungesund fortdauernden Zustand haben,<br />
der zur organischen oder funktionellen Störungen in der<br />
Brustorganisation, zu Entwicklungshemmungen führt,<br />
die, wenn sie nicht rechtzeitig erkennt und berücksichtigt<br />
werden, schwerwiegende Folgen haben können. Der<br />
Arzt wird einem solchen Kinde Medikamente geben, die<br />
vor allem die plastischen Kräfte, die vom Kopfe aus in<br />
den Organismus hineinstrahlen, aufrufen, um auch die<br />
Organe der Atmung und Blutzirkulation aus dem übermässigen<br />
Wachstum und den übermässigen Lebensprozessen<br />
in die rechte Gestaltung zu bringen; er wird u.a.<br />
kohlensauren oder phosphorsauren Kalk, kieselsaures<br />
Eisen, auch Salzbäder geben. Auch wird der Arzt versuchen,<br />
durch heilpädagogisches Vorgehen in ähnlicher<br />
Weise zu wirken, z.B. durch eurythmische und auch spezielle<br />
heileurythmische Übungen. Indem er das Kind solche<br />
gesetzmässige, individuell gewählte Bewegungen<br />
ausführen oder anschauen lässt, wird er auch auf diesem<br />
Wege harmonisierend auf die Wachstums- und Gestaltungskräfte<br />
wirken können.<br />
Nach dem 5. Lebensjahre bis zum Zahnwechsel beginnt<br />
nun wieder eine neue Phase für das gesunde Kind. Es<br />
löst sich jetzt auch aus dem Gliedmassen- und Stoffwechselorganismus<br />
bis zu einem gewissen Grade der<br />
Bildekräfteleib heraus, und Hand in Hand damit geht<br />
eine psychische Veränderung vor sich. Das Kind fängt<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
an, nach und nach einen hingebungsvollen Glauben an<br />
den Erwachsenen zu entfalten, und in der Hingabe an<br />
die Autorität seines Erziehers beginnt es einen Sinn zu<br />
entwickeln für dasjenige, was als moralische Ermahnungen<br />
an es herangebracht wird. Wie unendlich gross auch<br />
hier noch die Gefahren sind, wird man aus dem Vorausgegangenen<br />
erahnen können, weil das Kind noch immer<br />
alles, was es erlebt, nachahmend bis in die Gestaltung<br />
seiner Organe in sich aufnimmt.<br />
Weittragend können auch die Nachteile sein, wenn sich<br />
diese Metamorphose durch äussere oder auch veranlagte<br />
Störungen nicht richtig vollziehen kann. Denn das Kind<br />
bereitet sich auch schon auf eine andere Epoche seines<br />
Lebens vor, die mit dem Zahnwechsel beginnen soll.<br />
Dieser Zahnwechsel ist ein sehr bedeutsamer Moment in<br />
der Entwickelung und auch für den Arzt ein wesentlicher<br />
Anhaltspunkt für die Beurteilung eines kranken Kindes.<br />
Aus einer unregelmässigen, ungesunden, verspäteten<br />
oder verfrühten Entwickelung der zweiten Zähne wird<br />
man ablesen können, was im Kinde als Krankheitsprozess<br />
oder Krankheitstendenz vorliegt. Treten die zweiten<br />
Zähne zu spät und unregelmässig auf, und sind sie z.B.<br />
zu weich, dann sind die plastisch härtenden Kräfte, die<br />
vom Kopfe einstrahlen, zu schwach gewesen; oder aber,<br />
sie haben zu stark und ungehemmt gewirkt, wenn die<br />
zweiten Zähne zu früh durchbrechen und der Arzt wird<br />
je nachdem Sorge tragen, entweder die mineralisierenden,<br />
gestaltenden Prozesse im Organismus anzuregen,<br />
oder wenn die aufstrebenden Bildekräfte zu schwach<br />
waren, so dass die Zähne ungenügend ausgebildet<br />
schon vorzeitig durchgebrochen sind, die Wachstumsund<br />
Lebensprozesse zu unterstützen. Wird man auch z.B.<br />
darauf achten, dass das Kind geschickt in seinen Händen<br />
und Füssen ist, wird man ihm, wenn es ungelenk<br />
ist, bestimmte Übungen mit seinen Händen und Füssen<br />
machen lassen, so wird man ihm auch dadurch zu einer<br />
gesunden Entfaltung der inneren plastischen Tätigkeit<br />
seiner höheren Wesensglieder verhelfen, wenn sie nicht<br />
richtig eingreifen wollen, wofür eben auch die Störungen<br />
der Zahnbildung ein sichtbarer Ausdruck sind.<br />
Mit dem Zahnwechsel ist das Kind im Grund auch ein<br />
anderes Wesen geworden, was wiederum beachtet werden<br />
muss, wenn man das Kind in seinem gesunden oder<br />
kranken Lebensprozessen und Lebensäusserungen verstehen<br />
will. Hier müssen wir das Augenmerk darauf richten,<br />
wie die geistig-seelischen Kräfte – man kann auch<br />
sagen Ich und Astralleib – des Kindes an dem Aufbau<br />
seiner Organisation beteiligt sind. Wir müssen wissen,<br />
dass das Geistig-Seelische im Kinde bis zu seinem 7. Le-<br />
207
Beiträge | Contributions<br />
bensjahr nur auf die Kopforganisation gewirkt hat, und<br />
von da aus an der plastischen Ausgestaltung des ganzen<br />
Organismus bis ins Stofflich-Substanzielle mitbeteiligt<br />
war, während mit dem Zahnwechsel diese Kräfte<br />
aus dem Kopfe sich zurückziehen und nur mehr in die<br />
rhythmischen Bewegungsvorgänge, die mit der Brustorganisation<br />
zusammenhängen, und durch die Atmung<br />
und den Blutkreislauf in die Organisation hineinwirken.<br />
Das Kind wird von einem nachahmenden zu einem selbständig<br />
fühlenden Wesen. Es öffnet sich mit seinem Gefühlsleben<br />
der Umgebung, es horcht auf das, was der<br />
Erzieher durch die Sprache und in bildhafter Weise ihm<br />
übermitteln kann. Alles, was auf sein Gefühlsleben wirken<br />
kann, beeinflusst seine Atmung und Blutzirkulation<br />
und strahlt auf diesem Wege bis in seine Wachstumsund<br />
Lebensprozesse, bis in seine Gestaltungsvorgänge<br />
hinein; Gesundendes und Zerstörendes. Viel wird also<br />
für die Gesundheit in diesem Alter davon abhängen, was<br />
die Umgebung dem Kinde bietet und vom ihm verlangt;<br />
auch davon, wie seine äusseren Lebensbedingungen<br />
sind, ob es z.B. genügend Bewegung in der freien Luft<br />
hat oder zu viel durch die Anforderung der Schule beansprucht<br />
wird. Fehler in der Erziehung, ungesunde und<br />
unregelmässige Lebensweise, auch einseitige Beanspruchung<br />
des Kindes werden Störungen verursachen. Das<br />
Kind wird kränklich, es können Störungen der Verdauung<br />
und der Ausscheidungsvorgänge auftreten, es kann sich<br />
die Bleichsucht vorbereiten. Auch Schwäche und Erkrankungen<br />
der Atmungs- und Zirkulationsorgane im späteren<br />
Alter können die Folge davon sein.<br />
Der Arzt also, der solche Zusammenhänge versteht, wird<br />
auch, wenn er ein Kind in der Zeit vom Zahnwechsel bis<br />
zur Geschlechtsreife zur Behandlung bekommt, sein Augenmerk<br />
darauf richten, was ungesund in der Lebensweise<br />
und Umgebung des Kindes ist. Er wird ihm seine<br />
Lebensweise regeln, für eine gesunde Erziehung Sorge<br />
tragen und wird, wenn nötig, heilpädagogische Anweisungen<br />
geben, indem er vor allem Musikalisches und<br />
Rhythmisches zu Hilfe nehmen kann. Dazu natürlich dasjenige,<br />
was an Heilmitteln notwendig ist.<br />
Wir sehen also, wie mannigfaltig die Erkrankungen und<br />
die Krankheitsursachen im Kindesalter sind, und wie<br />
auch in der Jugend oft schon die Keime für Krankheiten<br />
zu suchen sind, die erst beim Erwachsenen, oft sogar<br />
erst mit 40-50 Jahren, z.B. als Stoffwechselstörungen<br />
oder frühzeitige Sklerose zur Auswirkung kommen. Und<br />
ein reiches Feld bietet sich dem Arzt und Heilpädagogen,<br />
der alle diese Zusammenhänge kennt, um vorzubeugen,<br />
auszugleichen oder zu heilen, was schon ungesund und<br />
abnorm ist. Und verschieden wird die Behandlung sein,<br />
je nachdem, ob die Krankheitszustände erst funktionell<br />
sind, oder ob schon tiefer gehende Anomalien, Wachstums-<br />
oder psychische Entwicklungshemmungen und<br />
Deformitäten innerer Organe vorhanden sind, und von<br />
welchem Organ oder Organsystem sie ausgehen.<br />
So kann z.B. folgender Krankheitszustand vorliegen: Die<br />
physisch-ätherische Organisation des Kindes ist unharmonisch<br />
gestaltet, es bestehen innere, wenn auch nur<br />
ganz feine Deformitäten in einem oder dem anderen<br />
Organ oder Organsystem; dann kann das geistig-seelische<br />
Wesen des Kindes in einem solchen Leibe seine Tätigkeit<br />
nicht richtig entfalten. Ein Organ, z.B. die Lunge,<br />
kann so geschaffen sein, dass sie unter Umständen<br />
das Seelisch-Geistige zu fest und unregelmässig aufnimmt,<br />
so dass es sich in ihm leicht staut. Dann kann<br />
dies schliesslich zu Krampfzuständen, zu epileptischen<br />
Anfällen und Bewusstseinstrübungen führen. Oder<br />
aber, es kann das andere Extrem vorliegen, dass die<br />
seelisch-geistigen Wesensglieder die Neigung haben,<br />
zu stark auszufliessen, weil die Organe zu schwach<br />
sind, um sie genügend festzuhalten und in sich aufzunehmen.<br />
Dann treten Krankheitserscheinungen ein, die<br />
mehr funktionellen Charakter haben, z.B. Störungen der<br />
Ausscheidungsprozesse, Sekretionsstörungen, Überempfindlichkeit<br />
und ängstliches Wesen. Auch das Bettnässen,<br />
ein ja so weit verbreitetes Übel im Kindesalter,<br />
geht in diese Richtung.<br />
Oder zwei weitere Beispiele: Ist der Gliedmassen-Stoffwechselorganismus<br />
zu schwach ausgebildet, und können<br />
die höheren Wesensglieder – Ich und Astralleib – nur<br />
unharmonisch und mangelhaft da eingreifen in die Prozesse,<br />
dann kann man in den verschiedensten Abstufungen<br />
körperliche und seelische Störungen beobachten.<br />
Damit der Stoffwechsel in der richtigen Art vor sich gehen<br />
kann und keine Störungen stattfinden, muss Schwefel<br />
in bestimmter Menge in den Stoffwechselprozessen<br />
vorhanden sein. Ist zu wenig Schwefel im Organismus,<br />
dann wird der Stoffwechsel verlangsamt, träge vor sich<br />
gehen. Das ganze Aussehen und Verhalten verändert<br />
sich entsprechend. Astralleib und Ich kann nicht genügend<br />
in das Stoffwechselsystem eingreifen, und man hat<br />
das Bild eines Kindes, das die äusseren Eindrücke nicht<br />
richtig verarbeiten, sie nicht in seine körperliche Organisation<br />
einprägen kann. Sie können ohne Willensakt in<br />
sein Bewusstsein heraufsteigen und das Kind unter Umständen<br />
zwangsmässig beherrschen. Es ist ein Kind, mit<br />
dem man sich schwer in Beziehung setzen kann, und der<br />
Erzieher muss viel Geduld und Phantasie haben, um an<br />
208
Beiträge | Contributions<br />
es herantreten zu können. Man wird ihm natürlich auch<br />
durch Medikamente und entsprechende Diät zu einem<br />
regeren Stoffwechsel verhelfen müssen.<br />
Auf der andern Seite wiederum kann der Stoffwechsel<br />
zu stark ausgeprägt sein, so dass die höheren Wesensglieder<br />
zu intensiv beansprucht werden. Im Gegensatz<br />
zu dem vorher beschriebenen Krankheitsbild befindet<br />
sich in den Stoffwechselprozessen zu viel Schwefel.<br />
Das ganze Kind ist sulfurig, bis in seine Haare. Sein<br />
Wesen ist innerlich voller Unruhe, die es nach aussen<br />
auch zeigen kann, abwechselnd mit Zuständen von<br />
äusserer Apathie. Auch kann man an einem solchen<br />
Kinde beobachten, dass es äussere Eindrücke zu gierig<br />
einsaugt, dass diese teilweise in dem Stoffwechselorganismus<br />
verschwinden und für das Bewusstsein verloren<br />
gehen. Ein solches Kind kann u.a. Eisen und Salze<br />
notwendig haben, man wird ihm z.B. mehr Salz in der<br />
Nahrung geben, auch Wurzelgemüse, um ihm die Kopfkräfte<br />
und seine Gestaltungskräfte im Blute zu stärken<br />
und ein Gleichgewicht zum Stoffwechsel zu schaffen.<br />
Man wird es auch daran gewöhnen, bestimmte Eindrücke<br />
regelmässig in sich wachzurufen, um seine eigene<br />
innere Aktivität zu entwickeln.<br />
Zu unterscheiden von den hier angedeuteten Krankheitserscheinungen<br />
sind noch die sogenannten moralischen<br />
Defekte im kindlichen Seelenleben. Da handelt<br />
es sich nicht mehr bloss um Stauungen oder Ausfliessen,<br />
oder um ein unregelmässiges Eingreifen des Geistig-Seelischen<br />
in den Organen oder Organsystemen, da<br />
sind es vielmehr wirkliche Deformitäten des physischen<br />
Leibes, die bereits bis in die Embryonalzeit zurückgehen.<br />
Man kann z.B. bei solchen moralischen Defekten<br />
finden, dass durch Druckwirkungen auf den Embryo<br />
schon im Mutterleibe das Gehirn zu schmal gebildet<br />
ist, oder dass sich andere Teile des Gehirns nicht richtig<br />
gestalten konnten. Es werden also schon die Bildekräfte<br />
im Embryonalleben gestört. Und wir müssen annehmen,<br />
dass bei allen schon angeborenen Defekten eine<br />
karmische Auswirkung zugrunde liegt.<br />
Diese moralischen Defekte im Kindesalter sind mehr verbreitet,<br />
als man gewöhnlich annimmt. So ist z.B. schon<br />
die Sammelwut oft ein leichtes Symptom von dem, was<br />
wir im extremen Fall in der Kleptomanie vor uns haben.<br />
Auch Neigung zu Grausamkeiten, z.B. der Hang zur Tierquälerei<br />
und Unverträglichkeit, die im Kindesalter sich<br />
zeigen, kann man, soweit es nicht blosse Nachahmungen<br />
sind, nicht mehr nur als Ungezogenheit betrachten,<br />
sondern gehören auch schon mit in das Gebiet der moralischen<br />
Defekte hinein. Dies tritt auch deutlich dadurch<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
zutage, dass man meist mit den gewöhnlichen Erziehungsversuchen<br />
nicht zum Ziele kommt.<br />
Verzweifelt könnte man nun sein, wenn man annehmen<br />
müsste, dass solche Kinder keine Möglichkeit haben, gebessert<br />
oder geheilt zu werden, weil es sich um angeborene<br />
Bildungsdefekte handelt. Doch ganz im Gegenteil,<br />
es wird gerade hier der Heilpädagoge im Verein mit der<br />
Arzt seine ganze Kunst erfolgreich entfalten können. Er<br />
wird mit Einsetzen seiner ganzen Persönlichkeit an das<br />
Kind herantreten und mit Lebendigkeit versuchen, bei<br />
dem Kinde den Sinn zu wecken für die ihm fehlende<br />
Moral. Er muss durch sein ganzes Wesen das Beispiel<br />
für das Kind werden, so dass es ihm mit vollstem Vertrauen<br />
folgen kann. Dann wird es ihm gelingen können,<br />
nicht durch Ermahnungen und Bestrafungen, sondern<br />
z.B. durch unermüdliches Erzählen von Geschichten den<br />
Sinn für die Moral im Kinde zu erwecken, indem er in<br />
diesen Erzählungen die bestehenden Fehler immer von<br />
neuem wieder ad absurdum führt in einer Weise, wie es<br />
den kindlichen Gemüt entsprechen kann. Und aus der<br />
vertrauenden Hingabe an die Autorität des Erziehers<br />
wird das Kind es annehmen können.<br />
Auf der andern Seite hat der Arzt dahin zu wirken, dass<br />
er durch Darreichung von Medikamenten und Angaben<br />
für spezielle heileurythmische Übungen versucht, die<br />
plastischen Bildkräfte des kranken Organes aufzurufen<br />
und der Organisation die Möglichkeit zu geben, nachzuholen,<br />
was in der embryonalen Entwickelung verhindert<br />
worden ist. Wichtig ist es dafür allerdings, wenn man<br />
sich von einer solchen Behandlung noch eine Heilung<br />
versprechen will, dass ein solches Kind schon vor dem<br />
Zahnwechsel mindestens jedoch vor der Geschlechtsreife<br />
in Behandlung kommt, solange seine Organisation<br />
noch bildungsfähig ist.<br />
So ist nun mit dem Vorliegenden ein Versuch gemacht,<br />
das Theoretische der heilpädagogischen Arbeit, so wie<br />
es Rudolf Steiner den Ärzten und Pädagogen gegeben<br />
hat, in kurzem zu skizzieren. Es sind dies die Richtlinien<br />
für die Ausübung der Heilpädagogik, nach denen Ärzte<br />
und Pädagogen sich ihre Arbeit aufgebaut haben. Sie<br />
sind durch Studium und Erfahrung zu etwas geworden,<br />
was dem Arzt und Heilpädagogen in Fleisch und Blut<br />
übergegangen ist, so dass sein Tun von selbst daraus<br />
folgt und sich in der tätigen Hilfe am kranken Kinde entfalten<br />
kann. Wozu es geführt hat, in das mögen die hier<br />
folgenden Aufsätze und Berichte einen Einblick geben.<br />
Dieser Aufsatz erschien in der Zeitschrift Natura, im 1.<br />
Jahrgang 1926.<br />
209
The Foundations of Curative Education<br />
von Ita Wegman<br />
For the benefit of those who take their departure from<br />
a comprehensive knowledge of world and man, Rudolf<br />
Steiner has repeatedly pointed out, that to some degree<br />
the pedagogue is also a healer like the doctor. In association<br />
with this is Rudolf Steiner‘s word that the doctor who<br />
wishes to be a healer in the true sense of the word, has<br />
to be involved in a general but imaginative way in the art<br />
of education. He should be aware that the art of healing<br />
stands in very close relation to initiation science. Both<br />
indications are fully understandable to those who have<br />
earnestly acquired knowledge of human development<br />
and, more especially, huaan development in childhood,<br />
which spiritual science has passed on to us. It is only<br />
natural therefore that healing and education have been<br />
bonded in kinship to provide a special curative education,<br />
healing education; a form of curative education<br />
which owes its origin to the anthroposophic knowledge<br />
on which Rudolf Steiner has acted as a guide.<br />
The following considerations are written from a medical<br />
point of view and describe the diagnosis and treatment<br />
of states of illness which are related to physical<br />
and psychological disorders in child development.<br />
Ways of applying curative education in such situations<br />
are then explored.<br />
We know that the child has to pass through completely<br />
different phases of life in its development of body, soul<br />
and spirit; it faces its surroundings in various ways during<br />
the different phases of life. Let us imagine that the<br />
child receives a physical body at birth which is given<br />
to him by his parents. It is a model of a physical body<br />
which has the heredity features into which this child is<br />
born and has to submerge by degrees with its higher<br />
members. This physical body, the model received from<br />
the heredity stream of the parents is incorporated by the<br />
soul-spiritual being and transformed little by little so<br />
that it can unfold within it according to its disposition.<br />
This is accomplished in the first seven years of life and<br />
the more intensive the transformations, the stronger the<br />
individual soul-spirit of the child may be.<br />
It is the task of education to help the child in this phase<br />
of life to shape and mould its new physical body in a<br />
healthy way and to curb and check the influences which<br />
could disturb him in this work. In the first seven years of<br />
its life the child can be looked upon as one single, large<br />
sensory organ, which reacts in an imitative way to all the<br />
developments in its surrounding. Everything that works<br />
unharmoniously upon the child, externally speaking, will<br />
make him ill, because it hinders the higher members of<br />
being in their work on the healthy shaping and formation<br />
of the physical body.<br />
The work on the physical body of the child involving its<br />
soul-spiritual powers is fully accomplished in the time<br />
between birth and the coming of the second teeth. If the<br />
soul spiritual being of the child manifests itself too strongly,<br />
then the hereditary forces in the physical body are<br />
overcome; this does not, however, take place without a<br />
struggle. The ensuing disharmony leads to the so-called<br />
children‘s diseases, which occur rather frequently in this<br />
period of childhood. All the other acute illnesses of this<br />
period of life may also be looked upon as a contest between<br />
the soul-spiritual individuality and the body inherited<br />
from the parents, the so-called model.<br />
Illness is considered here as a natural process of healing.<br />
The doctor who understands these processes correctly,<br />
takes on the role of a teacher at the same time and changes<br />
the circumstances the child is in, so that the illness<br />
210
Beiträge | Contributions<br />
and its effects can be directed and steered to further the<br />
development of the child. Thus you can see how closely<br />
connected healing and education are. The doctor has<br />
to intervene even more intensively if he is dealing with<br />
a constitutional illness concerning developmental disorders<br />
of body and soul. In this case he has to become<br />
more of a curative teacher and is required to combine his<br />
medical prescriptions with individual curative educational<br />
measures which correspond to the nature and illness<br />
of the child. This is necessary for the child to be helped<br />
as a whole.<br />
The doctor should have a profound understanding of the<br />
causes of such illnesses and what is at the root of the different<br />
symptoms. He should have knowledge of the body<br />
of formative forces as Rudolf Steiner has phrased it, how<br />
this is linked to the soul-spiritual forces of the child, how<br />
they combine to work in a plastic, transformative way on<br />
the physical body, what role these formative forces play<br />
in the life processes of the physical body and how these<br />
formative forces - termed as the ‚ether body‘ in spiritual<br />
science - affect the head of the child, the nerve-sense organs,<br />
respiration and blood circulation in the chest and<br />
the metabolic-limb system. He should realize how these<br />
formative forces form the (physical) body and gradually<br />
become liberated and more independent from the physical<br />
organisation so that they can participate in the development<br />
of the child‘s soul life. He realizes where the<br />
symptoms and consequences appear, if the formative<br />
forces are not involved properly or do not become free<br />
at the right time.<br />
Bear in mind that the soul task of the soul-spiritual forces<br />
is to be active in the moulding and shaping of the body,<br />
primarily by the formation of the head and the sensorynerve<br />
organs during this phase of life. While these forces<br />
flow from the head into the whole organism, we should<br />
imagine that the formative body of forces only work as<br />
forces of development and growth in the head during<br />
the first two and a half years. The growth and organ development<br />
in the head is then to some degree concluded.<br />
To the extent to which the body of formative forces<br />
withdraws from the head, to the same degree does the<br />
child learn to walk and speak It is through walking and<br />
speaking that the unfolding of the soul-spiritual forces of<br />
the child are manifested in the body.<br />
If there are upsets and hindrances to this process, if the<br />
formative forces do not withdraw from the head organisation<br />
of the child in an orderly fashion, then the child<br />
cannot learn to walk and speak properly. In the case of<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
severe disorders in this development, the child may become<br />
disabled in its movement and retarded in speech,<br />
or the child may not learn to stand upright. The limbs<br />
and the chest are impeded in growth, symptoms of rickets<br />
become apparent and the circumference of the head<br />
grows. If the formative forces work beyond their time as<br />
forces of growth, then we have the pathological condition<br />
which is called hydrocephalus or «water head».<br />
Of course the forces of growth in the head maybe too<br />
weak or have to be withdrawn too early. Then we can<br />
observe various degrees of a condition, an extreme of<br />
which is microcephaly or small-headedness. In this case<br />
the head hardens too soon. The earlier the doctor recognizes<br />
the one or the other tendency towards illness in<br />
the child, the greater the possibility is of assisting it. The<br />
child whose head grows beyond the normal measure can<br />
be prescribed substances, which curb the forces of growth<br />
and development that cause hydrocephalus and can<br />
usually only be detected at such intense levels during<br />
the embryological period, which is then normal. The medicines<br />
can give the right firmness to the brain, e.g. the<br />
administration of plumbum and silicic acid (silica) in suitable<br />
forms. In addition, there are substances which can<br />
reduce the existing deformity - in this case a hypophysis<br />
preparation and also dietary measures. If the child<br />
is somewhat older, one can try to guide the excessive<br />
growth forces in the head towards normal formation by<br />
means of curative education and particularly by way of<br />
eurythmic exercises. By these means one can bring these<br />
forces into the chest and limb organisations where they<br />
are lacking.<br />
For the small-headed children, it is a matter of stimulating<br />
again the growth forces which have withdrawn too<br />
early from the head. In this case the chief medicine will be<br />
argentum (silver). Till the age of five, the formative forces<br />
work are involved in the shaping and formation of the<br />
chest, the pulsating movement and system, breathing<br />
and blood circulation. The forces which have already<br />
been freed from the head assist in the chest. Unhealthy<br />
environmental influences on the child can lead to diverse<br />
disturbances of the inner formative activity in this phase<br />
of life, too. It extremely important that the child is understood<br />
in its surroundings. The more harmonious and<br />
moral the people who surround the child are, the more<br />
beneficial this is for the child, because it only wants to<br />
imitate and absorb in a formative sense everything that<br />
happens in its surrounding. Ungainly movements and<br />
habits of the adults, bad thoughts and feelings, speech<br />
211
Beiträge | Contributions<br />
impediments and lack of harmony and form around the<br />
child all have consequences. Sooner or later anomalies<br />
can appear. It is particularly detrimental if the body of<br />
formative forces gradually being released from the chest<br />
at this age result in fantasy and the ripening of memory<br />
and these new faculties are engaged in an unhealthy<br />
way. The origin of illnesses of children who do not thrive,<br />
who are nervous, pale and retarded in their physical development<br />
can be frequently discovered and detected in<br />
such disturbances to their development. It can also occur<br />
that a tendency exists in the constitution for the formative<br />
forces to remain too long and too intensely linked to<br />
the chest. This leads to hindrances in the development<br />
which can result in grave consequences if they are not recognised<br />
in time. The doctor can prescribe medicines for<br />
the child which call forth and assist the plastic-moulding<br />
forces which flow from the head into the body, to deter<br />
the respiratory organs and blood circulation from excessive<br />
growth and development and help find the appropriate<br />
form. He can administer among other thing Conchae<br />
(calcium carbonate) Phosphor calcite and Nontronite<br />
(iron silicate) and saline baths.<br />
The doctor can also try prescribing curative educational<br />
exercises which have a similar effect, e.g. through<br />
eurythmic and special curative eurythmic exercises. In<br />
letting the child perform or watch individually selected<br />
movements based on certain principles, he can again<br />
work in a harmonising way upon the growth and plasticmoulding<br />
forces.<br />
From the age of six until the second teeth start coming<br />
through, a new phase for the healthy child begins. To a<br />
certain degree the body of formative forces is released<br />
from the limb and metabolic organisations and this goes<br />
hand in hand with a physical change. The child gradually<br />
develops trust and faith in the adult which enables him<br />
to surrender to his authority and develop a sense for the<br />
moral admonitions which are posed to him. The dangers<br />
are infinitely great, for as you can surmise from the above<br />
mentioned, the child still takes everything it has experienced<br />
through imitation directly into the formation of its<br />
organs. If this metamorphosis cannot take place properly<br />
on account of external disturbances or disposition of character,<br />
the disadvantages can be far-reaching, because<br />
the child is also being prepared for another stage in its<br />
life, which begins with the coming of the second teeth.<br />
This is a very significant moment in its development and<br />
also a meaningful point of reference for the assessment<br />
of an ill child for the physician. From an irregular, un-<br />
healthy, belated or too early development of the second<br />
teeth one is able to read what is present in the child as a<br />
process or tendency towards illness. If the second teeth<br />
appear too late and irregularly, or they are too soft, for example,<br />
then this is due to the fact that the formative hardening<br />
forces, ranging from the head inwards, have been<br />
too weak. Alternatively, they might have been too forceful<br />
and unrestrained, the result being that the second<br />
teeth break through too early. The physician is concerned<br />
in either case and either stimulates the mineralizing<br />
formative process in the organism, or supports the<br />
growth-and-life-process if the upsurging formative forces<br />
have been too weak and hence cause the teeth to prematurely<br />
break through without being properly formed. If<br />
the doctor is observant of the child‘s dexterity and adroitness<br />
with his hands and feet and gives arm exercises<br />
to overcome his clumsiness, this enhances the healthy<br />
development of the inner formative activity of the higher<br />
members of his being, whenever they do not involve<br />
themselves appropriately. A visible expression of this are<br />
the disturbances in the formation of the second teeth.<br />
With the change of teeth, the child has fundamentally<br />
become another being and this needs to be taken into<br />
consideration when one wishes to understand the child<br />
in its healthy as well as unhealthy life processes and expressions.<br />
At this point we have to direct our attention<br />
to the way in which the spiritual-soul forces, - we can<br />
call them ‚ego‘ and ‚astral body‘ - of the child, are involved<br />
in the development of this structure. We should<br />
know that the spiritual-soul element in the child has only<br />
worked in the head until the age of seven and as from<br />
there has been active in the formative shaping of the<br />
entire organism right into its material substance - these<br />
forces withdraw, however, with the coming of the second<br />
teeth and from then on are more related to the rhythmic<br />
movement processes of the chest, where they work with<br />
the organism via breathing and blood circulation. These<br />
forces withdraw from the head with the change of teeth<br />
and now work more in the rhythmic movements and processes<br />
which are typical of the chest processes of breathing<br />
and blood circulation. The child progresses from<br />
an imitative being to one which feels independently. It<br />
opens itself to its environment with its life of feeling, it listens<br />
to the teacher and what he can convey through language<br />
and vigour of imagination. Everything that affects<br />
its life of feelings will influence its breathing and blood<br />
circulation and thus radiates right into its growth and<br />
life processes - right into its structuring processes; in a<br />
212
Beiträge | Contributions<br />
health-giving manner but also destructively. His state of<br />
health at this age of life depends on the demands made<br />
upon him in his surroundings and what they have to offer<br />
him. It also depends on external circumstances, if he has<br />
enough exercise out-of-doors or if he is overworked at<br />
school. Mistakes made in his education, an unhealthy<br />
and irregular life-style, also any one-sided demands<br />
made upon the child will cause disturbances. The child<br />
becomes prone to illness, disorders of the digestive and<br />
excreting processes can occur, anaemia can start to develop.<br />
It can also lead to weakness and illness in the respiratory<br />
and circulatory organs at a later age.<br />
From the time his second teeth come through till the<br />
beginning of puberty, a doctor who understands these<br />
connections looks carefully at a child who comes to<br />
his surgery, to see if its life-style or environment is unhealthy.<br />
He rearranges the child‘s life-style, provides it<br />
with a healthy education and if necessary prescribe curative<br />
educational instruction, focusing especially on<br />
musical and rhythmical exercises. In addition, he can<br />
prescribe the necessary medicines.<br />
Thus we see how manifold the illnesses and their causes<br />
in childhood are and also the necessity of detecting<br />
the seeds of illnesses, which in adulthood, in fact, frequently<br />
around the age of 40 till 50 ripen and break out,<br />
for instance in metabolic disturbances or early sclerosis.<br />
A rich field of preventive treatment is available to the<br />
physicians and curative educationalist, who are aware<br />
of all these connections and who can prevent, make up<br />
for (compensate) or heal the things which are in an unhealthy<br />
or abnormal state. Treatment differs according to<br />
whether the illness expresses itself merely in a functional<br />
way or whether more profound abnormalities, growth<br />
or developmental impediments and deformities of inner<br />
organs are present, and also from which organ or organ<br />
system they originate.<br />
The following illness, for example, might be diagnosed:<br />
the physical-etheric organisation of the child is not concurrent;<br />
there is evidence of inner deformities - sometimes<br />
very fine ones - of one or the other organ or organ<br />
system. The spiritual-soul being of the child is then<br />
unable to unfold its activity completely One organ, e.g.<br />
the lungs can be constituted in such a way that it absorbs<br />
the soul-spiritual being too rigidly and irregularly,<br />
so they (the lungs) become congested. This can lead to<br />
cramping and eventually to epileptic seizures and blackouts<br />
or loss of consciousness. Conversely the other extreme<br />
can prevail, when the soul-spiritual being has the<br />
tendency to flow out too strongly because the organs<br />
are too weak to hold its members sufficiently and to absorb<br />
them. Then you see conditions of illness with more<br />
functional character, e.g. disturbances of the processes<br />
of excretion and secretion, hypersensitivity and anxious<br />
nature. Enuresis is also a wide-spread malady in childhood<br />
which can be attributed to this.<br />
Two further examples: if the metabolic-limb organisation<br />
is structured too weakly, then the higher members - the<br />
ego and the astral body cannot be involved in the processes<br />
sufficiently and harmoniously and it is possible<br />
to observe the most diverse phases of soul and bodily<br />
disturbances. In order to let the metabolism function in a<br />
proper way and to prevent disturbances, there has to be<br />
a certain amount of sulphur in the metabolic processes. If<br />
there is too little sulphur in the organism, then the metabolism<br />
becomes slower and tardy. The entire appearance<br />
and behaviour changes correspondingly. The astral body<br />
and ego cannot be involved appropriately in the metabolism<br />
and you get the image of a child who cannot process<br />
the outer impressions properly and is not able to imprint<br />
them onto his physical organisation. These impressions<br />
can gain access to the child‘s consciousness without intent<br />
on his part and, given the circumstances, dominate<br />
him in a compulsive way. This is a child with whom<br />
it is difficult to make contact (to form a relationship at<br />
all) and the teacher needs a lot of patience and fantasy<br />
in order to reach the child. In this case it is necessary to<br />
help the child towards a more active metabolism with the<br />
help of medicines and an appropriate diet.<br />
Conversely the metabolism may be structured too strongly<br />
and the higher members are then intensely overworked.<br />
In contrast to the depiction of the illness mentioned<br />
above there is too much sulphur in the metabolic processes.<br />
The child is sulphuric right into its hair. It is completely<br />
restless, which can be seen outwardly and which<br />
is combined with alternating states of outward apathy.<br />
In such a child you can also observe that it greedily absorbs<br />
the exterior impressions, they partly disappear in<br />
the metabolic organisations and are lost to the child‘s<br />
consciousness.<br />
A child of this description may be in need of iron and<br />
salt (among others) and should be given more salt in<br />
his food; also by giving him root vegetables you can<br />
strengthen the head and formative forces working in the<br />
blood. This creates an equilibrium in the metabolism.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
213
Beiträge | Contributions<br />
The child can be taught to regularly recall certain impressions.<br />
In this way its own inner activity can be developed.<br />
It is important to distinguish between the illness depicted<br />
above (all are manifestations of illness) and the<br />
so-called moral defects in the soul life of the child. It is<br />
not just a matter of congestions and «flowing out» or an<br />
irregular engagement of the soul-spirit with the organs<br />
or the organ system but real deformities of the physical<br />
body which go back to the embryonic time. You can find,<br />
to mention just one example, that in the case of moral<br />
defects, the brain was structured and formed too small<br />
in the mother‘s womb on account of pressures working<br />
on the embryo; it could also be the case that other parts<br />
of the brain were not properly formed and structured. It<br />
shows that the formative forces were already disturbed<br />
in the life of the embryo. We have to assume that a karmic<br />
cause is at the root of all congenital defects.<br />
These moral defects in childhood are far more common<br />
than is popularly assumed. The collector‘s passion is a<br />
certain symptom of the extreme form of kleptomania. The<br />
tendency towards cruelty, the tormenting of animals and<br />
intolerance which show up in childhood belong to the<br />
area of moral defects, that is when it is not just a case of<br />
imitation or naughtiness. This becomes evident because<br />
the ordinary attempts of education do not succeed.<br />
In the light of this one could become desperate, if it was<br />
accepted that such children have no possibility of being<br />
helped or healed, because they have inborn malformations.<br />
On the contrary, it is exactly at this spot that the<br />
curative teacher together with the doctor can develop<br />
his skills and artistry successfully. He can approach the<br />
child, be entirely involved personally and try in an imaginative<br />
way to awaken in the child a sense for the morality<br />
that he lacks. In engaging himself wholly he should try to<br />
become an example to the child, so that it can follow him<br />
with the fullest trust. He is then able to succeed in awakening<br />
a sense of morality in the child, not by reproach or<br />
punishments, but, for instance, by tirelessly telling stories<br />
to the child, in which the existing moral weakness is<br />
time and again shown to lead to ad absurdum. The stories<br />
should appeal to the child and be appropriate. The<br />
child will be able to accept the stories on account of its<br />
trust in the teacher‘s authority.<br />
The physician on the other hand has to work in such a<br />
way that he tries to call up the ‚plastic‘ formative forces<br />
of the diseased organ by means of administering medicines<br />
and indicating certain curative eurythmic exercises.<br />
He does this in order to allow the organisation the<br />
possibility to catch up with what has been prevented during<br />
its embryonic development. It is therefore important<br />
that before undertaking such a course of treatment the<br />
child‘s second teeth have not come out or it is at least<br />
not yet in puberty e.g. as long as its physical form of organisation<br />
is still pliable in its formative development.<br />
With these considerations an attempt has been made to<br />
briefly sketch the theoretical aspect of curative work as<br />
it was provided to physicians and curative teachers by<br />
Rudolf Steiner. They are the guidelines for the practise of<br />
curative education according to which the physician and<br />
educator have developed their work. Through study and<br />
experience they have become something like second nature,<br />
so that treatment can be implemented accordingly<br />
and can unfold as active help to the ill child.<br />
This article appeared in «NATURA» 1926. Translation by<br />
Nora and Friedwart Bock<br />
214
Gratulationen<br />
Gratulationen<br />
Wir möchten einigen verdienten Kolleginnen und Kolleginnen sehr herzlich zu einem runden<br />
Geburtstag gratulieren, Menschen, die das Leben unserer Bewegung für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie über viele Jahre initiativ und massgeblich mitgestaltet haben.<br />
Ingrid Küstermann konnte am 29.Mai <strong>2016</strong> ihren 90. Geburtstag begehen. Dr. med. Ingrid Küstermann<br />
hat nach Jahren der Mitarbeit im Zusammenhang des Sonnenhofs in Arlesheim und<br />
vor allem in «La Motta» in Brissago mit ihrem Mann und einer Gruppe von Kolleginnen und<br />
Kollegen die Einrichtungen des Christophorus Hauses in Dortmund aufgebaut. Das Christophorus<br />
Haus gehört heute zu den grössten und massgeblichen Einrichtungen in Deutschland.<br />
Wir danken Ingrid Küstermann von Herzen für Ihre bewundernswerte Lebensleistung und ihre<br />
unverminderte, freundschaftliche Verbundenheit zu unserer Bewegung und wünschen ihr<br />
gute Gesundheit und für die Zukunft das Beste.<br />
Ina Starke feierte am 28. Juli <strong>2016</strong> Juli ihren 90. Geburtstag. Wir gratulieren der Jubilarin zu<br />
diesem besonderen Fest und freuen uns, dass sie ihren Lebensabend in der alten Frische und<br />
Wachheit und ihrem grossen Bewusstseinskreis erleben darf, die wir so gut von ihr kennen.<br />
Ina Starke gehört wie Ingrid Küstermann zu dem Kreis von Menschen, die in der Nachkriegssituation<br />
Einrichtungen neu aufgebaut und mit Leben, künstlerischer Gestaltung und spirituellem<br />
Niveau erfüllt haben. Mit ihrem Mann Dr. Georg Starke und einer Gruppe von erfahrenen<br />
Mitarbeitern hat sie Schloss Bingenheim zu einem weithin bekannten Zentrum der Heilpädagogik<br />
gemacht. Sie hat darüber hinaus lange Jahre im Vorstand des deutschen Verbandes<br />
und in der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie mitgewirkt. Auch ihr von Herzen<br />
alles Gute, Gesundheit und noch viele gute Jahre!<br />
Michael Steinke wurde schon am 28. März 2015 achtzig Jahre alt. Unsere Glückwünsche an<br />
ihn verbinden wir mit der Dankbarkeit für seine langjährige Mitwirkung in unserem Arbeitsfeld,<br />
das durch seine Beiträge wesentlich bereichert worden ist. Nach Jahren der Mitarbeit<br />
in der Camphill-Bewegung in Grossbritannien baute Dr. med. Michael Steinke das «Thomas-<br />
Haus» in Berlin auf, eine anerkannte Einrichtung für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen.<br />
Viele Jahre wirkte er auch in der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie und<br />
ihrem Arbeitskreis der in der Heilpädagogik und Sozialtherapie tätigen Ärzte mit. Wir danken<br />
ihm für seine grosse Lebensleistung und wünschen ihm von Herzen alles Gute für seine Gesundheit<br />
und hoffentlich viele Jahre fruchtbarer Arbeit!<br />
Zsuzsa Mesterhazy wurde im Januar dieses Jahres 80 Jahre alt. Zu diesem besonderen Jahrestag<br />
senden wir ihr unsere allerherzlichsten, guten Wünsche für ihre Gesundheit und für<br />
weiteres fruchtbares Schaffen! Prof. Dr. Zsuzsa Mesterhazy gehört seit vielen Jahren zu den<br />
führenden Heilpädagoginnen und Heilpädagogen Ungarns und ist in der internationalen wissenschaftlichen<br />
Szene eine hochgeschätzte Kollegin. Sie hat viele Jahre die Bárczi Gusztáv-<br />
Fakultät für Heilpädagogik der Eötvös Loránd Universität in Budapest geleitet, an der sie<br />
noch immer in der Begleitung von Nachwuchswissenschaftlern tätig ist. Sie hat an dieser<br />
Hochschule eine Waldorflehrerausbildung aufgebaut, um für die in Ungarn nach der Wende<br />
entstehende Waldorfpädagogik und Heilpädagogik qualifizierte Mitarbeiter auszubilden. Wir<br />
sind stolz darauf, dass sie zu uns gehört und danken ihr für ihre massgebende und weitausstrahlende<br />
Arbeit.<br />
Rüdiger Grimm<br />
für die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
215
Informationen | Informations<br />
Personelle Veränderungen in der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
Nach 21 Jahren wird Rüdiger Grimm seine Mitarbeit als Sekretär der Konferenz für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie zum 31. Dezember <strong>2016</strong> beenden. Als neue Leiter der Konferenz<br />
für Heilpädagogik und Sozialtherapie und ihres Sekretariats wurden Jan Göschel, Bart Vanmechelen<br />
und Sonja Zausch berufen.<br />
Dr. phil. Jan Göschel<br />
geb. 1974, ist langjähriger Mitarbeiter der Camphill Gemeinschaft Beaver Run in den USA<br />
und Leiter der Camphill-Academy, einem Zusammenschluss der Ausbildungsstätten für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie in Nordamerika. Nach seinem Studium der Psychologie und<br />
Waldorfpädagogik in Edinburgh und einem Sonderpädagogik-Studium in den USA wurde der<br />
gebürtige Deutsche in der Camphill Bewegung in Amerika tätig. Er ist langjähriges Mitglied<br />
im Internationalen Ausbildungskreis und Ausbildungsrat der Konferenz für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie.<br />
Bart Vanmechelen<br />
geb. 1963, ist Direktor von «De Speelhove», einer Einrichtung für schwermehrfach behinderte<br />
Kinder in Belgien, die er seit mehr als zwanzig Jahren leitet. Es hat Psychologie in<br />
Belgien und Organisationsentwicklung in England studiert und ist seit vielen Jahren in der<br />
Anthroposophischen Bewegung und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft engagiert.<br />
Besonders hat er sich auch aktiv an der Meditationsinitiative am Goetheanum beteiligt.<br />
Bart Vanmechelen ist Generalsekretär der Belgischen Landesgesellschaft.<br />
Sonja Zausch<br />
geb. 1968, hat nach Ausbildungen als Bäckerin, Tänzerin und Eurythmistin und Jahren der<br />
beruflichen Arbeit im Bereich Tanz und Eurythmie den Weg in die Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
gefunden. Sie arbeitet an der von ihr mitbegründeten «Emil Molt Akademie» in<br />
Berlin, einer Ausbildungsstätte für anthroposophisch orientierte Sozialassistenz und Heilerziehungspflege.<br />
Im Rahmen eines Masterstudiums an der Alanus Hochschule Alfter hat sie<br />
über Eurythmie in der Erwachsenenbildung gearbeitet. Ihr Interesse gilt insbesondere nonverbalen,<br />
in Bewegung stattfindenden Kommunikationsprozessen.<br />
Jan Göschel wird mit 50 Stellenprozenten, Bart Vanmechelen und Sonja Zausch werden mit<br />
jeweils ca. 20 Stellenprozenten mitarbeiten.<br />
Die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
ist das internationale Forum der Zusammenarbeit der anthroposophischen Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie, ihrer Verbände und Einrichtungen. Als runder Tisch führt sie Vertreterinnen<br />
und Vertreter aus fast 50 Ländern zusammen. Sie ist Teil der Medizinischen Sektion<br />
der Freien Hochschule am Goetheanum. Sie führt ein Sekretariat in Dornach, das für die<br />
Koordination der internationalen Zusammenarbeit und die Repräsentation der Konferenz<br />
zuständig ist. Ihr Rechtsträger ist der «Fonds für Heilpädagogik und Sozialtherapie» mit Sitz<br />
in Dornach, ein gemeinnütziger Verein nach Schweizer Recht.<br />
Die Verabschiedung von Rüdiger Grimm und die Übergabe an die neuen Leitungspersonen<br />
findet anlässlich der Internationalen Tagung für Heilpädagogik und Sozialtherapie «… und<br />
werdend mich ins Dasein prägen. Das Ich in Leib und Welt», sowie der Klausurtagung der<br />
Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie am 7. Oktober <strong>2016</strong> am Goetheanum statt.<br />
216
Informationen | Informations<br />
Personnel changes in the Council for Curative Education and Social Therapy<br />
After 21 years as Secretary of the Council for Curative Education and Social Therapy, Rüdiger<br />
Grimm will resign on December 31st, <strong>2016</strong>. Jan Göschel, Bart Vanmechelen and Sonja Zausch<br />
have been called on to assume leadership of the Council for Cura-tive Education and Social<br />
Therapy.<br />
Dr. Jan Göschel<br />
born in 1974, is a long-time co-worker at Camphill Special School Bea-ver Run in the USA<br />
and President of the Camphill Academy, a consortium of the North American training programs<br />
for curative education and social therapy. After finishing his degree in Psychology and<br />
Waldorf teacher training in Edinburgh, and a Special Edu-cation degree in the USA, the native<br />
German became active in the Camphill move-ment in America. He is a long-standing member<br />
of the International Training Circle and of the International Training Council.<br />
Bart Vanmechelen<br />
born in 1963, has been Director of De Speelhove, an institution for children with multiple<br />
severe disabilities in Belgium, for over twenty years. He studied Psychology in Belgium and<br />
Organizational Development in England and has been ac-tive in the anthroposophic movement<br />
and the School of Spiritual Science for many years. In particular, he was instrumental in<br />
the Goetheanum Meditation Initiative. Bart Vanmechelen is General Secretary of the Belgian<br />
Anthroposophic Society.<br />
Sonja Zausch<br />
born in 1968, found her way to curative education and social therapy after training as a baker,<br />
a dancer and an eurythmist, and after years of professional work as a dancer and eurythmist.<br />
She works at the Emil Molt Akademie in Berlin, a vocational college offering anthroposophically<br />
oriented professional training in social care and special needs education. She has also<br />
completed a Masters degree in Eu-rythmy in Adult Education at the Alanus University in Alfter,<br />
Germany. She is particu-larly interested in non-verbal, movement-based communication<br />
processes. She is coordinator for professional education with Anthropoi, the German association<br />
for anthroposophic social services and member of its professional education council.<br />
Jan Göschel will be employed half time, and Bart Vanmechelen and Sonja Zausch will each be<br />
employed at 20% as part-time team members.<br />
The Council for Curative Education and Social Therapy<br />
is the international forum for collaboration in anthroposophic curative education and social<br />
therapy and its associa-tions and institutions. Its members represent almost 50 countries. It<br />
is part of the Medical Section of the School of Spiritual Science, Goetheanum. The Council<br />
for Curative Education and Social Therapy maintains its central office in Dornach, which is<br />
respon-sible for coordination of international collaboration. Its legal entity is the non-profit<br />
association, Fonds für Heilpädagogik und Sozialtherapie, based in Dornach.<br />
Our farewell to Rüdiger Grimm and the hand-off to the new leadership team will take place<br />
at the International Conference for Curative Education and Social Therapy, “...and growing,<br />
root me in existence. The I in body and world”, as well as at the closed meeting of the Council<br />
for Curative Education and Social Therapy in October, <strong>2016</strong> at the Goetheanum in Dornach.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
217
Freunde<br />
der heilpädagogisch-sozialtherapeutischen Bewegung<br />
weltweit<br />
Die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners sind<br />
vor allem durch die Unterstützung der internationalen<br />
Waldorfschul- und Kindergartenbewegung bekannt. Vielen<br />
der über 700 heilpädagogischen und sozialtherapeutischen<br />
Initiativen in aller Welt konnte ebenso geholfen<br />
werden. Etwa ein Drittel der weitergeleiteten Spendenmittel<br />
kommen Initiativen und Einrichtungen zugute, die<br />
sich teilweise unter extrem schwierigen Bedingungen um<br />
die Lebensqualität und Bildungschancen von Menschen<br />
mit Behinderungen kümmern. Ein Grossteil von ihnen erhält<br />
keinerlei staatliche Hilfen, viele sind Pioniereinrichtungen<br />
im jeweiligen Land.<br />
Die «Freunde» entsenden jedes Jahr über 1.600 junge<br />
Menschen, die einen Freiwilligendienst durchführen<br />
möchten. Viele von ihnen sind in sozialtherapeutischen<br />
Einrichtungen tätig und bereichern den Gemeinschaftsalltag.<br />
Die meisten haben auf diese Weise ihre<br />
erste Begegnung mit Menschen mit Behinderung. Manche<br />
entschliessen sich danach zu einer beruflichen Ausbildung<br />
in dieser Fachrichtung und initiieren eigene<br />
Projekte. Das ist das Zukunftspotential der Bewegung!<br />
Ein weiterer Schwerpunkt ist der Internationale Hilfsfonds,<br />
durch den Spenden zu 100 % weitergeleitet werden.<br />
Damit dies auch weiterhin in dieser Form realisiert<br />
werden kann, sind die «Freunde» ihrerseits auf finanzielle<br />
Unterstützung durch Spenden und Fördermitgliedschaften<br />
angewiesen. Mit der Zunahme der weltweiten<br />
Projekte haben sich natürlich auch die Anfragen auf finanzielle<br />
Unterstützung signifikant erhöht.<br />
Durch die Kooperation mit dem deutschen Bundesministerium<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-<br />
Friends<br />
of the worldwide curative education and social<br />
therapeutic movement<br />
The Friends of Waldorf Education association is best<br />
known for its support of the international Waldorf<br />
school and kindergarten movement. However, it has<br />
also supported many of the over 700 curative education<br />
and social therapy initiatives worldwide. Approximately<br />
one third of donated funds are directed to<br />
initiatives and institutions which focus on the quality<br />
of life and education of people with disabilities, sometimes<br />
operating under the most difficult conditions.<br />
The majority of these institutions receive no government<br />
funding, and many are pioneering institutions in<br />
their respective countries.<br />
The ‹Friends› send out over 1,600 young people each<br />
year for a year of voluntary service. Many of them<br />
work in social therapeutic institutions, enriching the<br />
community life. For most of them, this is their first encounter<br />
with people with disabilities. Some, as a result<br />
of this year, decide on a professional training in this<br />
field and initiate their own projects. This is the future<br />
of the movement!<br />
Another focal point is the International Relief Fund,<br />
which can pass on 100% of donations. In order to continue<br />
to be able to do this, the ‹Friends› rely in turn<br />
on financial donations and supporting memberships.<br />
The increase in worldwide projects has significantly increased<br />
the need for financial support.<br />
Through our cooperation with the German Federal<br />
Ministry for Economic Cooperation and Development<br />
(BMZ), we were able to file innumerable applications<br />
for financial support and successfully transfer the<br />
funds to implement projects in the last two decades.<br />
218
Informationen | Informations<br />
wicklung (BMZ) konnten in den letzten zwei Jahrzehnten<br />
zahlreiche Anträge auf finanzielle Förderung gestellt und<br />
erfolgreich umgesetzt werden. Davon konnten namhafte<br />
Einrichtungen profitieren oder sind dadurch überhaupt<br />
erst ermöglicht worden: Die «Peaceful Bamboo Family» in<br />
Vietnam; das «Zentrum für Heilpädagogik und Sozialtherapie»<br />
in Simeria/Rumänien; in Georgien die Lebensgemeinschaft<br />
«Qedeli» und die «Michaelschule» in Tbilissi;<br />
das Tageszentrum «Mayri» in Armenien; «Arca Mundial»<br />
in Kolumbien; «Fista» im Libanon und «Manas» in Kirgisien,<br />
um nur einige zu nennen. Nicht nur Gebäude wurden<br />
errichtet, sondern auch Patenschaften vermittelt,<br />
um Kindern den Besuch an einer heilpädagogischen<br />
Schule zu ermöglichen. Heilpädagogische Lehrer wurden<br />
ausgebildet und Gehälter aufgestockt, damit sie sich<br />
nicht eine andere Arbeitsstelle suchen mussten.<br />
Die Freunde der Erziehungskunst sind damit massgeblich<br />
an der weltweiten Ausbreitung der anthroposophisch<br />
orientierten Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
beteiligt und werden dies auch in Zukunft gerne tun, um<br />
Menschen mit Behinderungen adäquate Begleitung und<br />
Förderung zu ermöglichen.<br />
Thomas Kraus<br />
(Bereich Heilpädagogik und Sozialtherapie)<br />
This benefitted and, in some cases, made possible, notable<br />
institutions: The ‹Peaceful Bamboo Family› in<br />
Vietnam; the ‹Centre for Curative Education and Social<br />
Therapy› in Simeria, Romania; the lifesharing community<br />
‹Qedeli› and the Michael School in Tbilisi, Georgia;<br />
‹Mayri› day centre in Armenia; ‹Arca Mundial› in Colombia;<br />
‹Fista› in Lebanon; and ‹Mansa› in Kyrgyzstan,<br />
to name just a few. Not only were buildings erected,<br />
but sponsorships of children were established in order<br />
to enable them to attend curative education schools.<br />
Curative education teachers were trained and their salaries<br />
were increased so that they did not have to look<br />
for additional jobs.<br />
With all of these projects, the Friends of Waldorf Education<br />
are leaders in the worldwide expansion of anthroposophically<br />
oriented curative education and<br />
social therapy and would like to continue to be so, in<br />
order to enable people with disabilities to have appropriate<br />
support and care.<br />
Thomas Kraus<br />
(Curative Education and Social Therapy division)<br />
Translation from German: Tascha Babitsch<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
219
Freiwilligendienste:<br />
soziales Engagement erleben<br />
Interkulturellen Austausch erleben, Unterstützung bei<br />
der täglichen Arbeit erhalten, motivierte Menschen aus<br />
der ganzen Welt in ihrem sozialen Engagement begleiten<br />
– all das ermöglichen die Freiwilligendienste der Freunde<br />
der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.<br />
Als Hilfsorganisation in der weltweiten Waldorfbewegung<br />
sind die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners<br />
e.V. vielen bekannt und seit langem etabliert. Als<br />
Träger von internationalen und nationalen Freiwilligendiensten<br />
wächst der Verein Jahr um Jahr.<br />
Seit 1993 ermöglichen die «Freunde» jungen Menschen<br />
aus Deutschland das Engagement in anthroposophischwaldorfpädagogischen<br />
Einrichtungen auf der ganzen Welt.<br />
Internationale Freiwillige ab 18 Jahren ohne Höchstalter<br />
können seit 2006 über das Incoming-Programm des Vereins<br />
einen zwölfmonatigen Freiwilligendienst in Deutschland<br />
leisten. Die inzwischen über 150 Freiwilligen pro Jahr<br />
werden dabei von einem erfahrenen Team der «Freunde»<br />
begleitet.<br />
Zahlreiche Einrichtungen freuen sich auf die internationale<br />
Unterstützung. Dabei stehen Projekte der Sozialtherapie<br />
und Heilpädagogik, biologisch-dynamische<br />
Betriebe, Waldorfkindergärten und Schulen den Freiwilligen<br />
als Einsatzstelle offen. Voraussetzungen für<br />
die Teilnahme sind, dass die angehenden Freiwilligen<br />
Deutschkenntnisse mitbringen, sozial engagiert sind<br />
und den Lebens- und Arbeitsweisen in Deutschland neugierig<br />
und offen gegenüberstehen.<br />
Volunteer Service:<br />
Experience Social Engagement<br />
Experiencing intercultural exchange, gaining support<br />
in everyday work, accompanying motivated people<br />
from around the world in their social engagement—a<br />
volunteer service through the Friends of Waldorf Education<br />
makes all of this possible.<br />
As the aid organization of the world wide Waldorf<br />
movement, the Friends of Waldorf Education are well<br />
known and long established. As arranger of international<br />
and national volunteer services, the Friends continue<br />
to grow year after year.<br />
Since 1993 the Friends of Waldorf Education has been<br />
making it possible for young people from Germany to<br />
volunteer at anthroposophical and Waldorf pedagogical<br />
institutions around the world. Since 2006 international<br />
volunteers over 18 years of age, without an age limit,<br />
can complete a 12 month long volunteer service in Germany<br />
through the Incoming Programme of the Friends.<br />
The Incoming Programme offers people from around<br />
the world the chance to volunteer at anthroposophisical<br />
and/or Waldorf pedagogical institutions throughout<br />
Germany. Supported by an experienced team, the<br />
Friends advise and supervise over 150 international volunteers<br />
annually during their social year in Germany.<br />
Numerous anthroposophical and Waldorf pedagogical<br />
institutions in Germany look forward to the international<br />
support. Projects in social therapy and curative<br />
education, biodynamical farms, Waldorf kindergartens<br />
and schools are possible placement institutions open to<br />
220
Informationen | Informations<br />
Eine Besonderheit des Incoming-Programms ist die<br />
Möglichkeit, sowohl im Februar als auch im August ein<br />
soziales Jahr beginnen zu können. Liegt ein besonderes<br />
anthroposophisches und/oder waldorfpädagogisches<br />
Anliegen vor, bietet die sechsmonatige Verlängerung<br />
des Dienstes Incoming-Freiwilligen die Möglichkeit für<br />
einen gut vorbereiteten, nahtlosen Übergang in die<br />
Ausbildung.<br />
Ein Freiwilligendienst macht die Verbindung von Helfen<br />
und Lernen zu einem besonderen Jahr in der Entwicklung<br />
meist junger Menschen, denn der interkulturelle<br />
Austausch, das soziale Engagement sowie die zwischenmenschlichen<br />
Begegnungen geben Raum für persönliche<br />
Entwicklung und Orientierung. Für die Einsatzstellen bedeutet<br />
die Aufnahme von Freiwilligen nicht nur die tatkräftige<br />
Unterstützung durch junge Erwachsene in allen<br />
Bereichen, sondern auch die Chance, neue Ideen und Lebenswelten<br />
kennen zu lernen.<br />
Und die Nachfrage nach Möglichkeiten zum Engagement<br />
wächst. Um das Interesse bedienen zu können, sind die<br />
«Freunde» auf der Suche nach weiteren Kooperationen<br />
mit anthroposophischen Einrichtungen weltweit.<br />
Voraussetzung für die aufnehmenden Institutionen ist<br />
ein waldorfpädagogischer und/oder anthroposophischer<br />
Hintergrund. Die BewerberInnen durchlaufen<br />
einen ausführlichen Auswahl- und Beratungsprozess.<br />
Dabei liegt die Personalentscheidung am Ende bei den<br />
Einrichtungen. Die «Freunde» unterstützen die Einsatzstellen<br />
selbstverständlich bei sämtlichen administrativen<br />
Fragen sowie bei der Vor- und Nachbereitung des<br />
Freiwilligendienstes.<br />
Während ihres Dienstes werden die Freiwilligen von den<br />
Freunden der Erziehungskunst begleitet, dazu gehören<br />
auch verpflichtende Seminare vor, während und nach<br />
dem Dienst. Die Seminare beinhalten u.a. eine Einführung<br />
in die Anthroposophie und den Austausch über<br />
spezifische Arbeitsanforderungen in der Sozialtherapie<br />
und Heilpädagogik sowie <strong>Spezial</strong>themen, wie beispielsweise<br />
politische Bildung.<br />
Christoph Herrmann<br />
volunteers. Requirements of the prospective volunteers<br />
for participation are: knowledge of German (at least<br />
A2 level), social engagement, and curiosity about and<br />
openness to the German way of living and working.<br />
A unique aspect of the Incoming Programme is the<br />
possibility to start a volunteer year both in February<br />
as well as in August. If a volunteer is especially interested<br />
in anthroposophy and /or Waldorf-pedagogy,<br />
a 6-month extension of the service offers the Incoming<br />
volunteer the possibility to prepare for a seamless<br />
transition into training.<br />
Interested persons can apply for a voluntary service that<br />
begins in February 2017 in Germany. All further information<br />
about the programme and application deadlines<br />
can be found at: www.freunde-waldorf.de/incoming.<br />
The connection of helping and learning turns a volunteer<br />
service into a special year in the development<br />
of most young people, because the intercultural exchange,<br />
social engagement and also interpersonal interactions<br />
offer opportunity for personal development<br />
and orientation. For the host institution, taking on volunteers<br />
means not only energetic support from young<br />
adults in all areas, but also the chance to learn about<br />
new ideas and different ways of life.<br />
And the demand for such engagement possibilities<br />
grows. In order to meet this interest, the Friends of<br />
Waldorf Education is looking to expand their cooperation<br />
with anthroposophical institutions worldwide.<br />
Requirements for host institutions are a Waldorf pedagogical<br />
and/or anthroposophical background and the<br />
ability to offer applicants a continuing and complete<br />
selection and advising process. To that end, the final<br />
decision on which volunteer(s) to accept lies with the<br />
host institution. The Friends of Waldorf Education naturally<br />
supports the host institutions in answering any<br />
administrative questions and in preparation for and<br />
follow-up to the volunteer service.<br />
During the service, the volunteers will be accompanied<br />
by the Friends of Waldorf Education. Included in<br />
this are required seminars, before, during, and after the<br />
volunteer service. The seminars address, among other<br />
topics, an introduction to anthroposophy and information<br />
about specific job requirements in social therapy<br />
and curative education as well as addressing special<br />
themes like political education.<br />
Christoph Herrmann<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
221
Wer glaubt, ein Werkstattleiter<br />
leitet eine Werkstatt, der glaubt<br />
auch, ein Zitronenfalter faltet<br />
Zitronen.<br />
Michael Dackweiler<br />
Beratung, Coaching und Seminare<br />
www.iona-werkstatt.de<br />
Werkstatt<br />
222<br />
individuelle Entwicklung – soziale Kompetenz
Bernhard Schmalenbach (hg.)<br />
Dimensionen<br />
der Heilpädagogik<br />
Entwicklungsbegleitung,<br />
Gemeinschaftsbildung und Inklusion<br />
Festschrift für Rüdiger Grimm<br />
Das Aufgabenfeld der Heilpädagogik als inte grative<br />
Humanwissenschaft, als Praxis der gleitung und der Teilhabeförderung ist weit gespannt:<br />
Entwicklungsbe-<br />
Es umfasst die Erarbeitung von Grundlagen und<br />
Methoden, des Selbstverständnisses ses und des gesell-<br />
schaftlichen Ortes heilpädagogischen Handelns. Der<br />
vorliegende Band versammelt eine Fülle Beiträge aus<br />
unterschiedlichen Themen und Arbeitsfeldern der<br />
Heilpädagogik: Anregungen zur Praxis, Erkundungen<br />
zur Geschichte der Heilpädagogik, zu Gemeinschaftsbildung<br />
und Inklusion – im Dialog von Theorie und<br />
Praxis und aus unterschiedlichen Perspektiven, auch<br />
solchen der anthroposophischen Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie. 23 Autorinnen und Autoren geben Er-<br />
fahrungsberichte und Denkanstöße für diese, Rüdiger<br />
Grimm gewidmete Festschrift.<br />
360 Seiten, kartoniert, 15,8 × 23 cm<br />
40 Euro | 50 Franken<br />
ISBN 978-3-7235-1571-6<br />
Reihe: Edition Anthropos, Band 6<br />
Göschel, Jan Christopher<br />
Der biografische Mythos als<br />
pädagogisches Leitbild<br />
Transdisziplinäre Förderplanung auf<br />
Grundlage der Kinderkonferenz in der<br />
anthroposophischen Heilpädagogik<br />
Band 1 | ISBN 978-3-7235-1460-3<br />
Fischer, Andreas<br />
Zur Qualität der Beziehungs dienst leistung<br />
in Institutionen für Menschen<br />
mit Behinderungen<br />
Eine empirische Studie im Zusammenhang<br />
mit dem QM-Verfahren «Wege zur Qualität»<br />
Band 2 | ISBN 978-3-7235-1459-7<br />
Blomaard, Pim<br />
Beziehungsgestaltung in der<br />
Begleitung von Menschen mit<br />
Behinderungen<br />
Aspekte zur Berufsethik der<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
Band 3 | ISBN 978-3-7235-1461-0<br />
www.vamg.ch<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
223
Bernhard Schmalenbach unter<br />
Mitarbeit von Sören Roters-Möller<br />
Heilpädagogische<br />
Perspektiven<br />
auf das Alter<br />
Anregungen zur Aus- und<br />
Weiterbildung für die Begleitung<br />
von Menschen mit Behinderung<br />
Unsere Gesellschaft kann sich über die Tatsache<br />
freuen, dass auch Menschen mit Behinderungen<br />
immer älter werden. In gleichem Maße erweitert sich<br />
die Zielgruppe der heilpädagogischen Arbeit, was<br />
Fachkräfte sowie ehrenamtliche Begleiterinnen und<br />
Begleiter der Behindertenhilfe mit neuen Aufgaben,<br />
Erwartungen und offenen Fragen konfrontiert.<br />
Bernhard Schmalenbach legt mit seinen heilpädagogischen<br />
Perspektiven das Hauptaugenmerk auf fachlich<br />
fundierte Einschätzungen dazu, über welche nisse und Fähigkeiten Mitarbeiter heilpädagogischer<br />
Kennt-<br />
Einrichtungen verfügen sollten, um ältere Menschen<br />
mit Behinderung angemessen begleiten zu können.<br />
Neben den Altersperspektiven aus Soziologie,<br />
Philosophie und Psychologie werden unterschiedliche<br />
Zugänge und methodische wie inhaltliche Schwerpunktsetzungen<br />
im Themenfeld Behinderung und<br />
Alter skizziert. Besondere Berücksichtigung findet<br />
dabei der biografische Zugang in Form von Biografiearbeit<br />
und der Präsentation von Erkenntnissen aus<br />
biografischen Interviews zu Vorstellungen vom Altern.<br />
Mit dem Blick auf Spiritualität und Tod sowie einem<br />
Kapitel zu Impulsen aus der Kunst erweitert diese<br />
Publikation die bisherigen Darstellungen<br />
192 Seiten, kartoniert, 15,8 × 23 cm,<br />
20 Euro | 25 Franken<br />
ISBN 978-3-7235-1561-7<br />
Reihe: Edition Anthropos, Band 5<br />
Frielingsdorf, Volker | Grimm, Rüdiger |<br />
Kaldenberg, Brigitte<br />
Geschichte der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
Entwicklungslinien und<br />
Aufgabenfelder 1920 — 1980<br />
Band 4 | ISBN 978-3-7235-1478-8<br />
www.vamg.ch<br />
224
magazine for anthroposophical curative education and social therapy<br />
EDITOR: Philip Haddon 22 Devonshire Street Birmingham, B18 5DL, UK phil_n@<br />
hushmail.com<br />
Editorial Group; Philip Haddon, Belinda Heys, Christoph Hanni and Maria Mountain.<br />
Four times a year, the present issue being a special double issue, we publish in depth<br />
main articles, reports from around the world movement, book reviews, stories of<br />
human achievements, tales of community life, signs of the times, medical reports<br />
and more.<br />
pointandcircle is published on behalf of the Council for Curative Education and Social<br />
Therapy within the Medical Section of the School for Spiritual Science at the<br />
Goetheanum, Dornach; and in association with the Anthroposophical Curative Education<br />
and Social Therapy Association (ACESTA).<br />
SUBSCRIPTIONS: Belinda Heys Treetop, Post Horn Lane Forest Row, East Sussex RH18<br />
5DD, UK pandcsubs@gmail.com<br />
We would be pleased to send you a subscription (£18.00 for four issues a year including<br />
postage) or an individual copy (£4.50 + postage).<br />
Please contact: Belinda Heys (Subscriptions) at pandcsubs@gmail.com or send the form<br />
below to: Treetop, Post Horn Lane, Forest Row, East Sussex, RH18 5DD, UK<br />
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I include a cheque of GB £18 made out to pointandcircle<br />
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Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
225
Fondazione La Motta<br />
La Motta ist eine von Dr. Ita Wegman gegründete sozialtherapeutische Institution im Tessin mit<br />
anthroposophischem Hintergrund. Es leben dort 46 interne und 10 externe Menschen mit speziellen<br />
Bedürfnissen und Begleitungsbedarf im Wohnheim mit integrierter Beschäftigungsstätte.<br />
Auf Mai 2017, oder nach Vereinbarung, suchen wir eine(n)<br />
Heimleiter(in)/Direktor(in)<br />
der/die mit Unterstützung eines erfahrenen Leitungsteams die Führungsverantwortung übernimmt,<br />
den Bewohnern die grösstmögliche Unterstützung in allen Lebensbereichen bietet und die Institution<br />
gemäss ihrem Leitbild nach innen und aussen vertritt.<br />
Sie haben<br />
• Einen Fachhochschulabschluss im Bereich Sozialpädagogik oder verwandten Disziplinen<br />
• Betriebswirtschaftliche Kenntnisse und Kompetenzen<br />
• Berufs- und Führungserfahrung in sozialtherapeutischen Einrichtungen<br />
• Konkrete Kenntnisse und Erfahrungen in anthroposophischer Sozialtherapie<br />
Sehr gute Kenntnisse in italienischer und deutscher Sprache<br />
• Schweizer Nationalität oder Aufenthaltsbewilligung<br />
Wir können bieten<br />
• <strong>Seelenpflege</strong>-bedürftige Menschen aller Altersstufen mit Hilfsbedarf und speziellen<br />
Bedürfnissen<br />
• Ein angenehmes Arbeitsklima in einer interessanten und seit vielen Jahren bestehenden<br />
Institution<br />
• Engagierte und kompetente Mitarbeiter<br />
• Eine angemessene Vergütung<br />
Schriftliche Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis Ende Oktober <strong>2016</strong> an den<br />
Präsidenten der Stiftung La Motta, Dr. Erdmut J. Schädel, Via Costa di Dentro 5, CH 6614 Brissago.<br />
Für weitere Auskünfte steht Ihnen auch der bisherige Stelleninhaber, Herr Kurt Bitterli, gerne zur<br />
Verfügung (Tel: +41 91 786 80 20; k.bitterli@la-motta.ch)<br />
226
Peter Heusser<br />
Anthroposophie<br />
und Wissenschaft<br />
Eine Einführung<br />
Erkenntniswissenschaft, Physik, Chemie,<br />
Genetik, Biologie, Neurobiologie,<br />
Psychologie, Philosophie des Geistes,<br />
Anthropologie, Anthroposophie, Medizin<br />
Dieses Buch ist die erste gründliche Einführung in die Wissenschaftsgrundlagen der<br />
Anthroposophie und der anthroposophischen Medizin im Kontext der akademischen<br />
Wissenschaft. Dabei ermöglicht die Erkenntniswissenschaft Rudolf Steiners eine bisher<br />
kaum beachtete solide Grundierung der modernen Wissenschaften. Physik, Chemie,<br />
Genetik, Morphogenese, Biologie, Neurobiologie,<br />
Psychologie, Anthropologie und Philosophie des<br />
Geistes werden durch sie ihrer reduktionistischen<br />
Form entkleidet und bilden so die empirische Grundlage<br />
eines neuen, geistgemäßen wissenschaftlichen<br />
Verständnisses von Mensch und Natur. Das wird an<br />
aktuellen Grundfragen nach dem Wesen der Substanz,<br />
des Lebens, der Wechselwirkung von Leib und Seele<br />
und der Freiheit des menschlichen Geistes aufgezeigt.<br />
Das Resultat ist eine nicht-reduktionistische<br />
Anthropologie, die die emergenten Eigenschaften<br />
von Körper, Leben, Seele und Geist als verschiedene,<br />
aber gleichermaßen reale Wesensschichten des<br />
Menschen anerkennt. Das ist kongruent mit den<br />
grundlegenden Konzepten der Anthroposophie<br />
und anthroposophischen Medizin, aber auch mit der<br />
klassischen Anthropologie des Abendlandes. Es wird<br />
gezeigt, wie sich diese Anthropologie historisch und<br />
erkenntnismethodisch in die moderne Anthroposophie<br />
weiterentwickelt hat, und wie sich deren Erkenntnisresultate<br />
zur modernen naturwissenschaftlichen<br />
Forschung verhalten, besonders in der Medizin.<br />
Das Buch ist auch als Wissenschaftsgrundlage der<br />
Pädagogik sowie anderer Fachgebiete geeignet,<br />
die es mit dem Menschen als Ganzem zu tun haben.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
227
<strong>Seelenpflege</strong> in Heilpädagogik und Sozialtherapie 35. Jahrgang <strong>2016</strong> Heft 3 & 4<br />
Impressum<br />
Herausgegeben von der Konferenz für Heil pädagogik und Sozialtherapie<br />
in der Medizinischen Sektion der Freien Hochschule für<br />
Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach (Schweiz) www.<br />
khsdornach.org<br />
Redaktion<br />
Dr. Rüdiger Grimm<br />
Dr. Bernhard Schmalenbach<br />
Gabriele Scholtes (Dipl.-Heilpädagogin)<br />
Administration<br />
Pascale Hoffmann<br />
Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich.<br />
Abonnementspreise CHF Euro<br />
Abonnement 42.-- 32.--<br />
Studierende/Senioren 27.-- 20.--<br />
Einzelheft (zuzügl. Porto) 15.-- 10.--<br />
Organisationsabonnement<br />
ab fünf Hefte 300.-- 250.--<br />
Weitere Informationen unter: www.seelenpflege.info<br />
Layout<br />
Roland Maus<br />
Satz<br />
Gabriele Scholtes, Rüdiger Grimm<br />
Druck<br />
Uehlin Druck und Medienhaus<br />
Inh. Hubert Mößner<br />
Hohe-Flum-Strasse 40<br />
DE-79650 Schopfheim<br />
Anschrift<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong><br />
Ruchti-Weg 9, CH-4143 Dornach<br />
Telefon: +41 61-701 84 85<br />
eMail: zs@khsdornach.org<br />
Website: www.seelenpflege.info<br />
Verlag der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie, Dornach<br />
ISSN 1420-5564<br />
Mediadaten: www.seelenpflege.info<br />
Das Abonnement ist jederzeit kündbar.<br />
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die Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong><br />
in Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
zum Preis von CHF 42.-- | Euro 32.-- (Studierende und Senioren 27.-- | 20.--) pro Jahr. Das Abonnement ist jederzeit kündbar.<br />
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228
Anthroposophical<br />
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