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medizin&technik 03.2017

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TITELTHEMA Laut Moritz

TITELTHEMA Laut Moritz Grosse-Wentrup vom MPI für Intelligente Systeme in Tübingen ist es noch ein langer Weg, bis BCI-Prothesen die Funktion geschädigter Hirnareale übernehmen können Bild: MPI Tübingen /Denise Vernillo schnittartig. Eine große Hürde ist das Verstehen der komplexen Hirnaktivitäten des Menschen: Bilder, Gedanken oder Gefühle lassen sich nicht ohne weiteres aus dem Hirn auslesen. Und auch, ob ein Mensch sich gerade den Buchstaben „A“ vorstellt, vermag bislang kein Algorithmus zu deuten. Doch Phänomene wie Aufmerksamkeit, Stress oder Aktivitäten in Hirnbereichen, die Bewegungen steuern, lassen sich aus EEG-Signalen auslesen. Erste, vergleichsweise einfache Produkte sind auf dem Markt. Recht bekannt sind die P300-Speller, Hilfsprogramme, mit denen querschnittgelähmte Menschen mit Sprachstörung einem Computer Worte über ihre Hirnsignale diktieren. Mit P300 bezeichnen Fachleute auffällige Schwankungen, so genannte Potenziale im Hirn, die aus dem EEG herausstechen, wenn sich die Aufmerksamkeit einer Person erhöht. Aufmerksam ist ein Mensch zum Beispiel, wenn auf einem Bildschirm ein Buchstabe erscheint, den er erwartet. Das macht sich der P300-Speller zum Diktieren eines Textes wie „Guten Tag“ zunutze. In loser Abfolge erscheinen auf dem Bildschirm Buchstaben. Erscheint der Gewünschte – in diesem Fall zuerst das „G“ – löst das ein P300-Potenzial aus, das der Computer wahrnehmen kann. Ein einzelnes Potenzial ist allerdings zu schwach, um eine sichere Information zu liefern. Deshalb gibt es mehrere Durchläufe, bei denen immer, wenn das „G“ erscheint, neue P300-Potenziale ausgelöst werden. Diese Signale summieren sich auf, bis der Computer den Buchstaben richtig erkennt. Pro Buchstabe dauert das etwa zehn Sekunden, in denen das Alphabet mehrfach durchlaufen wird. Das Interesse an solchen Lösungen ist groß – in der Medizintechnik, aber auch für den Spiel- und Freizeitmarkt, wobei die Grenzen fließend sind. So haben Experten des EU-Forschungsnetzwerkes BNCI (Brain/Neural Computer Inter - action), zu dem angesehene Institute und Universitäten gehören, herausgefunden, dass sich weltweit viele Unternehmen mit Aspekten der BCI befassen: darunter 65 Unternehmen, die auf BCI spezialisiert sind, 46 aus der Medizin- und Rehatechnik und sieben Unternehmen aus dem Automobil- und Flugzeugsektor. Hinzu kommen zehn aus der Unterhaltungsindustrie sowie 20 Unternehmen aus anderen Technikbereichen. Orthesen mit EEG-Signalen aus dem Motorcortex steuern Auf dem Markt sind unter anderem Roboter, die Schlaganfallpatienten während der Reha dabei unterstützen, Bewegungen neu zu erlernen – etwa das Greifen. Diese so genannten Roboter-Orthesen werden wie eine Art Außenskelett getragen, in dem die Hand oder das Bein fixiert wird. Sie führen dieselbe Bewegung mehrfach aus, etwa das Schließen und Öffnen der Hand, und unterstützten damit Physiotherapeuten. Für die Steuerung werden mit dem EEG Signale aus jenem Gehirnabschnitt ausgelesen, in dem Bewegungen kontrolliert und gesteuert werden – dem Motorcortex. Inzwischen können die Computer Bewegungssignale wie Greifbefehle erkennen. Sobald der Patient eine Bewegung denkt, setzt der Roboter sie um. Genutzt wird dafür meist das so genannte Alpha- Band des EEG, mit dem elektrische Beim Cybathlon- Wettbewerb hielten die Spieler still, aber ihre Gehirnaktivität verlieh den virtuellen Gestalten im Computerspiel geradezu Flügel Bild: ETH Zurich / Alessandro Della Bella 28 medizin&technik 03/2017

Gerät richtet sich nach der Stimmung Konzentration – damit der Computer versteht, was gewünscht ist. Trotz der Möglichkeiten, die sich mit BCI bieten, hätten es klassische EEG-Hauben im Consumer-Markt wohl schwer Schwingungen des Gehirns bezeichnet werden, die eine Frequenz zwischen 8 und 13 Hertz haben. Diese Signale entstehen, wenn der Mensch seine Aufmerksamkeit auf den Körperteil lenkt, den er bewegen will. Aktuelle Untersuchungen an der Neurochirurgischen Universitätsklinik in Tübingen zeigen, dass der Alpha-Band-Ansatz für die Reha von Schlaganfallpatienten nicht immer sinnvoll ist. Denn der eigentliche Befehl für das Greifen wird vom Motorcortex über Beta-Wellen an die Muskeln geschickt, Schwingungen mit einer Frequenz zwischen 13 und 30 Hertz. Während die Alpha-Wellen den Greifvorgang gewissermaßen vorbereiten, sind es die Beta-Wellen, die die Bewegung tatsächlich zünden. „Es wäre also sinnvoller, die Beta-Wellen für die Steuerung zu nutzen und den Patienten zu trainieren, damit die natürliche Verbindung zwischen Online weiterlesen Wie Berliner Forscher versuchen, mit Hilfe des Computers Gedanken zu lesen, und welche rechtlichen Fragen sich ergeben, wenn der Computer das Hirn anzapfen kann, lesen Sie in unserem Online-Magazin. Verfügbar bis zum 14. August 2017 – also bis die nächste Ausgabe erscheint. www.medizin-und-technik.de/ onlineweiterlesen Bild: TU Graz Gehirn und Muskeln wieder hergestellt wird“, sagt Prof. Alireza Gharabaghi, der ärztliche Leiter der Sektion Funktionelle und Restaurative Neurochirurgie in Tübingen. „Anstrengendere“ Welle würde bessere Signale liefern Da die Alpha-Wellen stärker und daher leichter über das EEG abzugreifen sind, werden sie aber bevorzugt benutzt. „Daher kommunizieren Computer und Mensch bei herkömmlichen Robotern oft über die Alpha-Wellen. Wenn man die schwächeren Beta-Wellen verwendet, kann das Wieder-Erlernen von Bewegungen zwar unterstützt werden, es stellt bislang aber eine Herausforderung dar, und die Patienten können frustriert werden.“ Mit Untersuchungen an gesunden Personen und Schlaganfallpatienten konnte Gharabaghi mit seinem Team allerdings zeigen, dass sich die Beta-Wellen durch intelligente Algorithmen trainieren und für die Steuerung des Roboters nutzen lassen, ohne die Anwender zu überfordern. Bei den ersten Patienten führte dieser Ansatz zu den erwünschten motorischen Verbesserungen – nach dem Training ganz nach dem Motto: Fordern und Fördern. Grundsätzlich unterscheidet man beim BCI drei Anwendungsgebiete. Roboter-Orthesen etwa werden dem Gebiet „Improve – verbessern“ zugeordnet, wobei es darum geht, verlorene Fähigkeiten wieder anzutrainieren. Die Experten des BNCI- Netwerks gehen davon aus, dass dazu bis 2025 eine ganze Reihe Produkte auf den Ein Beispiel für eine BCI-Anwendung im Consumer-Bereich ist das Produkt Melomind, das die Musikauswahl der Stimmung des Nutzers anpasst. Entwickelt wurde es von dem jungen Pariser Unternehmen Mybrain-Technologies. Dieses hat über die Plattform Kickstarter eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, um das Produkt auf den Markt zu bringen. Mit Erfolg: Seit Oktober 2016 wird das Gerät verkauft – ein flotter Kopfhörer mit eingebauten Elektroden. Melomind misst, wie stark der Nutzer gestresst ist und spielt dazu passende Musik ein. Gemessen wird, wie gut der Nutzer darauf reagiert – entsprechend werden die Klänge adaptiert. So passen sich Gerät und Anwender nach und nach aneinander an. Die Entwickler, die mit dem Pariser Institut du Cerveau et de la Moelle Epinière, einem Fachinstitut für Erkrankungen des Gehirns und des Rückenmarks zusammenarbeiten, gehen davon aus, dass der Nutzer im Laufe der Zeit dazu befähigt wird, entspannter auf Stress zu reagieren. Ob das tatsächlich der Fall ist, muss sich zeigen. www.mybraintech.com Über das BCI wird das Stresslevel gemessen, daran angepasst wird das musikalische Angebot zusammengestellt Bild: Mybrain 03/2017 medizin&tec hn i k 29

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