DIE SCHWEIZERISCHE MIGRATIONSPOLITIK IM KONTEXT ... - Fiala
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<strong>DIE</strong> <strong>SCHWEIZERISCHE</strong> <strong>MIGRATIONSPOLITIK</strong><br />
<strong>IM</strong> <strong>KONTEXT</strong> DER NATIONALEN SICHERHEIT UND<br />
GLOBALER ZUSAMMENHÄNGE<br />
Doris <strong>Fiala</strong><br />
Nationalrätin FDP<br />
Mitglied der Schweizer Delegation im Europarat<br />
A thesis submitted to the Department of Humanities, Social and Political<br />
Sciences of the Swiss Federal Institute of Technology (ETH Zurich) in<br />
partial fulfilment of the requirements for the degree of Master of Advanced<br />
Studies in Security Policy and Crisis Management (MAS ETH SPCM).<br />
1. Oktober 2010<br />
Copyright 2010 Doris <strong>Fiala</strong><br />
All Rights Reserved
DANK<br />
Die erhaltene fachliche Unterstützung verdanke ich insbesondere<br />
folgenden Persönlichkeiten:<br />
• Gnesa Eduard, Dr. iur.<br />
Sonderbotschafter für Internationale Migrationszusammenarbeit<br />
Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA,<br />
Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA, Freiburgstrasse<br />
130, 3003 Bern, vormals Direktor des Bundesamtes für Migration<br />
• Köppel Hugo<br />
Schweizerisches Rotes Kreuz, Departement Gesundheit und Integration<br />
Leiter Abteilung Integration und Rückkehr, Werkstrasse 18, 3084 Wabern<br />
• Rohner Hannes<br />
Zukunfts- und Innovationsforscher, Privatdozent, Inhaber b4u Forecast<br />
und Innovation, Murten<br />
• Wenger Andreas, Prof. Dr.<br />
ETH Zürich Forschungsstelle für Sicherheitspolitik, Leiter des Center of<br />
Security Studies an der ETH Zürich<br />
• Zürcher Gottfried<br />
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD, Bundesamt für<br />
Migration BFM, Vizedirektor Direktionsbereich Migrationspolitik,<br />
Quellenweg 6, 3003 Bern-Wabern<br />
2
• Mitglieder des sogenannten „Runder Tisch zur<br />
Langzeitperspektive der Migrationspolitik bis 2030“; es sind<br />
dies insbesondere Vertreterinnen und Vertreter<br />
• der politischen Parteien der SVP, SP, CVP,<br />
• Schweizerischer Gewerbeverband<br />
• Arbeitgeberverband Schweiz<br />
• Avenir Suisse<br />
• Caritas<br />
• Schweizerisches Rotes Kreuz<br />
• Politische Abteilung IV des EDA<br />
• Bundesamt für Migration<br />
• Travailsuisse<br />
Meinen speziellen Dank richte ich an meine Familie, die mich in allen<br />
politischen sowie beruflichen Belangen und insbesondere während des<br />
Studiengangs MAS SPCM ETHZ unterstützt und viel Verzicht in Kauf<br />
genommen hat.<br />
3
Kapitel Seite<br />
0. Inhaltsverzeichnis 4<br />
0.1. Tabellenverzeichnis 8<br />
0.2. Abbildungsverzeichnis 10<br />
0.3. Abkürzungsverzeichnis 12<br />
Zusammenfassung 15<br />
1. Einleitung und Konzept 19<br />
Kurzübersicht zu Kapitel 1<br />
1.1. Migrationspolitik 24<br />
1.1.1. Definition Migration 24<br />
1.1.2. Definition Migrationspolitik 25<br />
1.2. Sicherheitspolitik 27<br />
1.2.1. Definition Sicherheit 28<br />
1.2.2. Definition Sicherheitspolitik 29<br />
2. Der globale Rahmen 32<br />
Kürzübersicht zu Kapitel 2<br />
2.1. Der globale Rahmen der Migration 33<br />
2.1.1. Migration und Migrationspolitik allgemein 35<br />
2.1.1.1. Migration und Fakten international 41<br />
2.1.1.2. Fakten und Hintergründe zur Migrationspolitik der EU 44<br />
2.2. Der globale Rahmen der Sicherheit 48<br />
2.2.1. Sicherheit international,<br />
am Beispiel der Grossmacht USA 54<br />
4
2.2.2. Sicherheit international, am Beispiel EU 60<br />
2.2.2.1. Zuwanderung in Zeiten des Terrors in den USA<br />
und in der EU im Vergleich 65<br />
2.2.2.2. Unterschiedliche Wahrnehmung des Ereignisses<br />
und der Gefahren 65<br />
2.2.2.3. Auswirkungen auf die sicherheitspolitische Debatte 67<br />
2.2.3. Sicherheitsrelevantes Risiko Flüchtlingsproblematik<br />
am Beispiel Subsahara-Afrika 67<br />
2.3. Schnittstellen des globalen Rahmens Migration und<br />
Sicherheit 69<br />
2.3.1. Schnittstelle Terrorismus international 69<br />
2.3.1.1. Schnittstelle Terrorismus am Beispiel, am Deutschland 70<br />
2.3.1.2. Schnittstelle Terrorismus, am Beispiel Grossbritannien 74<br />
2.3.1.3. Schnittstelle Terrorismus, am Beispiel Spanien 81<br />
2.3.1.4. Schnittstelle Terrorismus, respektive innere Sicherheit<br />
am Beispiel Italien 85<br />
2.3.1.5. Zusammenfassung und Vergleich im Bereich<br />
Sicherheitspolitik 91<br />
3. Der Rahmen Schweiz 97<br />
Kürzübersicht zu Kapitel 3<br />
3.1. Migration und Fakten Schweiz 98<br />
3.1.1. Migration Schweiz und Wahrnehmung<br />
in der Öffentlichkeit 98<br />
3.1.2. Die mediale Beeinflussung der Öffentlichkeit, insbesondere<br />
in der Wahrnehmung der Ausländerkriminalität 100<br />
3.1.2.1. Wirklichkeitskonstruktion: Rolle der Medien 100<br />
3.1.2.2. Verschiedene Kriminalitätstheorien 101<br />
3.1.3. Migration und Demografie in der Schweiz 108<br />
5
3.1.3.1. Demografische Entwicklung der Schweiz 108<br />
3.1.3.2. Überalterung prägt Migrationspolitik in der Schweiz 108<br />
3.1.4. Migration und Zulassungspolitik Schweiz 109<br />
3.1.4.1. Zulassung zum Arbeitsmarkt 110<br />
3.1.4.2. Zulassungspolitik in den letzten 30 Jahren 110<br />
3.1.4.3. Neue Zuwanderung 111<br />
3.1.4.4. Humankapital und Wettbewerb der Köpfe 112<br />
3.1.4.5. Abstiegsangst der Mittelschicht und Stimmungsmache 113<br />
3.1.4.6. Die neue Zuwanderung in Zahlen 114<br />
3.2. Sicherheit und Fakten Schweiz 118<br />
3.2.1. Sicherheitspolitischer Faktor Armee der Schweiz 119<br />
3.2.2. Sicherheitspolitischer Faktor Nachrichtendienst<br />
der Schweiz 123<br />
3.2.3. Sicherheitspolitischer Faktor Neutralität<br />
der Schweiz 127<br />
3.2.4. Sicherheitspolitischer Faktor innere Sicherheit<br />
der Schweiz 131<br />
3.2.5. Sicherheitspolitischer Faktor Verträge mit der EU und<br />
Gesetzgebung 142<br />
3.2.5.1. Das Schengener System 143<br />
3.2.5.2. Die Dublin-II-Verordnung 146<br />
3.2.5.3. Schweiz reagiert mit Verschärfung im neuen Asyl- und<br />
Ausländergesetz (AuG) 148<br />
3.2.5.4. Interpol und Europol 149<br />
3.2.6. Sicherheitspolitischer Faktor Diplomatie 151<br />
3.3. Schnittstellen Migration und Sicherheit<br />
in der Schweiz 154<br />
6
3.3.1. Schnittstelle irreguläre Migration und Sicherheit 154<br />
3.3.2. Schnittstelle Migration und Kriminalität sowie öffentliche<br />
Sicherheit 163<br />
3.3.3. Schnittstelle Integration und Sicherheit 164<br />
3.3.3.1. Schnittstelle Sans-Papier und Sicherheit 168<br />
3.3.4. Schnittstelle Friedensförderung und Sicherheit 170<br />
3.4. Fazit Schweiz 174<br />
3.4.1. Begründung der These 1 174<br />
3.4.2. Begründung der These 2 178<br />
3.4.3. Begründung der These 3 179<br />
4. Schlusswort bzw. Empfehlungen 185<br />
Kurzübersicht zu Kapitel 4<br />
4.1. Empfehlungen im Bereich Migration 186<br />
4.2. Empfehlungen im Bereich Sicherheit 189<br />
5. Bibliographie 193<br />
5.1. Nützliche Links 196<br />
6. Anhang 198<br />
Anhang 6.1. 198<br />
„360-Grad Umfeld-Sphärenanalyse“ (Hannes Rohner Modell)<br />
Entwurf des drafting Committee zuhanden des Runden<br />
Tisches zur Langzeitperspektive der Migrationspolitik<br />
bis 2030, Bericht zur schweizerischen Migrationspolitik 2030,<br />
vom 2. Juni 2010, S.39.<br />
Ein Auszug aus dem noch nicht publizierten Bericht.<br />
Anhang 6.2. 211<br />
MAS Richtfragen, Interview, am Beispiel Deutschland<br />
7
0.1. Tabellenverzeichnis Seite<br />
Tabelle 1: Migrationsentwicklung 43<br />
Tabelle 2: Wichtigste Aufnahmeländer der Migranten 43<br />
Tabelle 3: Wichtigste Herkunftsländer der Migranten 44<br />
Tabelle 4: Übersicht der Gesetzessituation der gesetzgebenden<br />
Gewalt in Frankreich, Deutschland<br />
und Grossbritannien 96<br />
Tabelle 5: Bestand der ständigen ausländischen<br />
Wohnbevölkerung nach Ausländergruppe<br />
seit Ende Dezember 1974 116<br />
Tabelle 6: Anzahl Straftaten innerhalb eines Kalenderjahres pro<br />
Herkunft der beschuldigten Person,<br />
Verstösse gegen das Strafgesetz 132<br />
Tabelle 7: Beschuldigte nach Nationalität und Aufenthaltsstatus,<br />
Jahr 2009, Verstösse gegen das Strafgesetz 133<br />
Tabelle 8: Anteil der Ausländer im schweizerischen<br />
Freiheitsentzug, seit 2004 bis 2009 134<br />
Tabelle 9: Anzahl Straftaten innerhalb eines Kalenderjahres<br />
pro beschuldigte Person, Jahr 2009,<br />
Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz 137<br />
Tabelle 10: Beschuldigte nach Nationalität und Aufenthaltsstatus,<br />
Jahr 2009,<br />
Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz 138<br />
Tabelle 11: Beschuldigte nach Altersgruppen und<br />
Staatsangehörigkeit, Jahr 2009,<br />
Verstoss gegen Betäubungsmittelkonsum 139<br />
8
Tabelle 12: Beschuldigte nach Altersgruppen und<br />
Staatszugehörigkeit, Jahr 2009, Verstoss gegen<br />
das Gesetz – Betäubungsmittelhandel 139<br />
Tabelle 13: Anzahl Straftaten innerhalb eines Kalenderjahres<br />
pro beschuldigte Person, Jahr 2009,<br />
Verstoss gegen das Ausländergesetz 140<br />
Tabelle 14: Beschuldigte nach Nationalität und Aufenthaltsstatus,<br />
Jahr 2009, Verstoss gegen das Ausländergesetz 141<br />
9
0.2. Abbildungsverzeichnis Seite<br />
Abbildung 1: Grafik der regionalen Migrationsbewegungen 37<br />
Abbildung 2: Der grosse Rahmen der Sicherheitsstrategie<br />
A Framework for Grand Strategy 55<br />
Abbildung 3: Migrationsfluss in der Schweiz seit 1860 bis 2009 114<br />
Abbildung 4: Einwanderung aus den EU-27/EFTA-Staaten<br />
und aus den übrigen Staaten, seit 1990 114<br />
Abbildung 5: Einwanderung, Auswanderung und<br />
Wanderungsbilanz, seit 1974 115<br />
Abbildung 6: Einwanderung der ständigen ausländischen<br />
Wohnbevölkerung nach Einwanderungsgrund,<br />
Jahr 2009 115<br />
Abbildung 7: Anzahl der Asylgesuche in der Schweiz pro Jahr 117<br />
Abbildung 8: Prozentuale Verteilung der Personen in der<br />
Vollzugsunterstützung nach Regionen<br />
per 31. 12 2009 117<br />
Abbildung 9: Asylgesuche nach den 10 zahlreichsten<br />
Herkunftsländern, Jahr 2009 118<br />
Abbildung 10: Beschuldigte Personen in der Schweiz nach<br />
Staatszugehörigkeit und nach Gesetzen 132<br />
Abbildung 11: Beschuldigte nach Alter und Geschlecht, Jahr 2009,<br />
Verstösse gegen das Strafgesetz 136<br />
10
Abbildung 12: Beschuldigte nach Alter und Geschlecht,<br />
Jahr 2009,<br />
Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz 137<br />
Abbildung 13: Ausländergesetz: Beschuldigte nach Alter und<br />
Geschlecht, Jahr 2009,<br />
Verstoss gegen das Ausländergesetz 140<br />
11
0.3. Abkürzungsverzeichnis<br />
ALV Arbeitslosenversicherung<br />
AuG Asyl- und Ausländergesetz<br />
BFF Bundesamt für Flüchtlingswesen<br />
BFM Bundesamt für Migration<br />
BfS Bundesamt für Statistik<br />
BWIS Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung<br />
der Inneren Sicherheit<br />
DEZA Agentur für internationale Zusammenarbeit im<br />
Eidgenössischen Departement für auswärtige<br />
Angelegenheiten<br />
CVP Chrisdemokratische Volkspartei<br />
CSS Center of Security Studies ETH Zürich<br />
EDA Eidgenössisches Departement für auswärtige<br />
Angelegenheiten<br />
EFMS/efms European Forum for Migration Studies<br />
EJPD Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement<br />
EU Europäische Union<br />
EULEX European Union Rule of Law Mission<br />
EUMC Militärausschuss der Europäischen Union<br />
EURODAC europaweites Fingerabdruckidentifizierungssystem<br />
Europol European Law Enforcement Agency<br />
EVD Eidgenössisches Volkswirtschaftdepartement<br />
EVP Evangelische Volkspartei<br />
EWR Europäischer Wirtschaftsraum<br />
12
ESVP Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
ETHZ Eidgenössische technische Hochschule Zürich<br />
Fedpol Bundesamt für Polizei<br />
Frontex Europäische Agentur für die operative<br />
Zusammenarbeit an den Außengrenzen der<br />
Mitgliedstaaten der Europäischen Union<br />
GC<strong>IM</strong> Global Commission on International Migration<br />
GLP Grün Liberale Partei<br />
IDP internally displaced person<br />
konfliktbedingte intern Vertriebene<br />
KFOR Kosovo Force<br />
KKJPD Konferenz der kantonalen Justiz- und<br />
Polizeidirektorinnen und -direktoren<br />
LMT Liaison and Monitoring Teams<br />
MuB Migration-Info.de;<br />
Migration und Bevölkerung Newsletter; ein Projekt des<br />
Netzwerks Migration in Europa, der Bundeszentrale<br />
für politische Bildung und des Hamburgischen<br />
WeltWirtschaftsinstituts<br />
NATO North Atlantic Treaty Organization<br />
NDB Nachrichtendienst des Bundes<br />
NGO Non-Governmental Organization<br />
N-SIS nationaler Schengener Informationssystem<br />
IGH Internationaler Gerichtshof<br />
ILR Interdepartementalen Leitungsgruppe<br />
<strong>IM</strong>ES Bundesamt für Zuwanderung, Integration<br />
und Auswanderung (innerhalb des BFM)<br />
IOM International Organization for Migration<br />
13
PKS Polizeiliche Kriminalstatistik<br />
SiPol-Bericht Sicherheitspolitischer Bericht<br />
SIS Schengener Informationssystem<br />
VIS Visumsinformationssystem<br />
SVG Strassenverkehrsgesetz<br />
SVP Schweizerische Volkspartei<br />
SWISSCOY Verband der Schweizer Armee (Swiss Company) im<br />
Rahmen der friedensfördernden Militärmission KFOR<br />
der NATO im Kosovo<br />
TAK Tripartiten Agglomerationskonferenz - eine politische<br />
Plattform von Bund, Kantonen, Städten und<br />
Gemeinden für eine gemeinsame<br />
Agglomerationspolitik in der Schweiz<br />
u.a. unter anderem<br />
UNDESA United Nations Department of Economic<br />
and Social Affairs<br />
UNDP United Nations Development Program<br />
UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees<br />
Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten<br />
Nationen<br />
UNO United Nations Organization<br />
USA United States of America<br />
WEF World Economic Forum<br />
WTO World Trade organization<br />
VBS Eidgenössischer Departement für Verteidigung,<br />
Bevölkerungsschutz und Sport<br />
ZIS Zollinformationssystem<br />
14
Zusammenfassung<br />
Die nachstehende Master Thesis befasst sich mit der Migrations- und der<br />
Sicherheitspolitik der Schweiz in einem internationalen Umfeld und<br />
globalen Zusammenhängen. Insbesondere interessieren dabei<br />
Schnittstellen der Migrations- zur Sicherheitspolitik, bzw. umgekehrt der<br />
Sicherheits- zur Migrationspolitik. Inwiefern sich die Politikfelder Migration<br />
und Sicherheit tangieren und gegenseitig beeinflussen, ist Gegenstand<br />
der Auseinandersetzung dieser Arbeit.<br />
Der Aufbau ist so gegliedert, dass systematisch zuerst von allgemeinen<br />
Aussagen über globale und internationale Analysen und Feststellungen<br />
beider Politiken (Migration und Sicherheit) zur EU über gegangen und erst<br />
dann der Schweizteil abgehandelt wird. Oder anders ausgedrückt: Die<br />
Überlegungen gehen vom „Grossen, Globalen zum „Kleinen, Nationalen“.<br />
Die Arbeit dokumentiert, welches die aktuellen Herausforderungen der<br />
Sicherheitspolitik sind unter Berücksichtigung der neuen globalen Risiken.<br />
Der Quervergleich neuer Migrationstendenzen und Sicherheitsstrategien<br />
geben Antworten auf die Frage, wie strategisch in der Schweiz<br />
vorgegangen werden kann.<br />
Die Autorin belegt mit ihrer Arbeit die drei von ihr formulierten Thesen:<br />
1. Die Schweizer Migrationspolitik wird auch weiterhin in erster Linie<br />
durch Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklungen beeinflusst. Die<br />
demografische Entwicklung ist dabei von grosser Relevanz.<br />
Überfremdung, der Grad der Integration von Ausländern und<br />
sicherheitspolitische Determinanten wie Kriminalität beeinflussen<br />
zwar die migrationspolitische Debatte, jedoch erst in zweiter Linie.<br />
Determinanten wie Terrorismus und Extremismus spielen bei der<br />
Formulierung einer zukünftigen Migrationspolitik unseres Landes<br />
eine verhältnismässig untergeordnete Rolle, im Gegensatz zur<br />
Situation in anderen Staaten.<br />
15
2. Insbesondere aufgrund der öffentlichen Wahrnehmung beeinflusst<br />
hingegen die Migrationspolitik Handlungsweisen und Strategien der<br />
Schweizer Sicherheitspolitik massgebend; irreguläre Migration,<br />
Ausländerkriminalität und eine steigende Zahl muslimisch Gläubiger<br />
sind Einflussfaktoren, welche die Sicherheitspolitik in unserem Land<br />
prägen.<br />
3. Der „Sonderfall Schweiz“ hat aufgrund der Direkten Demokratie mit<br />
ihrer konstanten Möglichkeit der Volksinitiativen und Referenden<br />
einen anderen Umgang mit Migrations- und Sicherheitsfragen als<br />
andere Staaten.<br />
Die Begründungen der drei Thesen lauten kurz gesagt:<br />
Recherchen und Analysen haben erstens einmal ergeben, dass die<br />
Migrationspolitik kein explizites, eigenständiges politisches Aktionsfeld in<br />
der Schweiz darstellt, wenngleich die Thematik weltweit ganz oben auf<br />
den politischen Agenden steht. Auch der überparteilich gegründete so<br />
genannte „Runde Tisch zur Migrationspolitik – Langzeitperspektiven für<br />
die Schweiz“ stellt zuerst einmal Fragen rund um die Wirtschaftspolitik, wie<br />
wir sie bereits aus der Vergangenheit kennen. Demografie (Überalterung<br />
der Bevölkerung) und ein erwarteter, wachsender Mangel an Arbeits- und<br />
insbesondere an hochqualifizierten Fachkräften dominieren die<br />
Diskussionen zum Thema in der Schweiz im Zusammenhang rund um die<br />
Sicherung des Wohlstandes des Landes. Erst in zweiter Linie benennt die<br />
Schweizerpolitik Herausforderungen rund um Flüchtlingsproblematiken<br />
sowie rund um die humanitäre Tradition unseres Landes. Die aktuelle<br />
Migrationspolitik ist geprägt vom sogenannten Zwei-Kreise-Modell, d.h.<br />
vom Freizügigkeitsabkommen mit den EU- und EFTA-Staaten sowie der<br />
Beschränkung und Zulassung Drittstaatenangehörigen auf qualifizierte<br />
Personen.<br />
Die Master-Thesis dokumentiert jedoch klar, dass, zweitens, umgekehrt<br />
die Migrationspolitik und globale Risiken die Sicherheitspolitik prägen. Ins<br />
16
Feld geführt werden können die Ausweitung durch Menschen- und<br />
Drogenhandel, illegale Migrations- und Flüchtlingsströme, ethnische<br />
Konflikte sowie die Ressourcenproblematik und der Klimawandel.<br />
Die Schweiz ist ein Land wie jedes andere. Aber darüber hinaus ist sie,<br />
was nur wenige Staaten von sich behaupten können, auch ein politisches<br />
Symbol. Sie repräsentiert ein spezielles Gedankengut, steht für direkt<br />
Demokratie, Föderalismus und Mehrsprachigkeit im Inneren und<br />
Neutralität in der Aussenpolitik, kurz, sie verkörpert eine spezifische Art<br />
von Staatswesen. Im Gegensatz zu den anderen europäischen Staaten ist<br />
die Schweiz keine rein parlamentarische Demokratie, sondern eine<br />
Demokratie mit starken direkt-demokratischen Wurzeln. Das hat<br />
weitreichende Konsequenzen. In beiden Demokratietypen entscheidet<br />
nämlich nicht die gleiche Kategorie von Leuten über die Politik. Im<br />
Ausland obsiegt in Grundsatzfragen meistens die politische Elite, in der<br />
Schweiz hingegen das Volk – zusammen mit der Elite, oder gegen diese.<br />
Oft stimmen Elite und Volk überein. Aber es kommt immer wieder vor,<br />
dass der Souverän andere Prioritäten setzt. Er zwingt den Bundesrat und<br />
Parlament, Wege zu begehen, die diese lieber meiden möchten.<br />
Die dritte These der Verfasserin wird in diesem Sinne begründet, in dem<br />
dokumentiert wird, dass Rechtsparteien und Populisten international wie in<br />
der Schweiz auf dem Vormarsch sind und insbesondere das Thema der<br />
Ausländerkriminalität und organisiertes Verbrechen massgebend die<br />
Stimmbevölkerung einer Direkten Demokratie beeinflussen. Sogenannte<br />
„Re-Nationalisierungstendenzen“ sind in weiten Teilen Europas erkennbar,<br />
in der Schweiz aufgrund der direkten Demokratie aber weitaus<br />
schwerwiegender.<br />
Die Master-Thesis schliesst mit Empfehlungen für die Schweiz, sowohl für<br />
eine künftige Migrations- wie für eine strategisch ausgerichtete<br />
17
Sicherheitspolitik. Für beide Politikfelder gilt gemäss Verfasserin die<br />
Einsicht, internationaler Kooperation nachzuleben, da die Schweiz im<br />
Alleingang die anstehenden Herausforderungen nicht zu bewältigen<br />
imstande ist. Deshalb, gemäss Masterarbeit und Ansicht der Verfasserin<br />
zusammengefasst, sowohl eine umfassende Migrations- wie auch eine<br />
umfassende Sicherheitsstrategie festzuschreiben und diese Departement<br />
übergreifend zu formulieren, was heute noch nicht der Fall ist.<br />
1. Einleitung und Konzept<br />
Kurzübersicht zu Kapitel 1<br />
18
Das erste Kapitel der Masterthesis beinhaltet eine allgemeine Einleitung<br />
zur gewählten Thematik und beschreibt die relevanten Fragestellungen,<br />
die konzeptionelle Vorgehensweise sowie die von der Verfasserin<br />
aufgestellten drei Thesen, die sie mit dieser Arbeit belegen will.<br />
Zudem werden die Definitionen zur (1.1.1,) Migration bzw. zur (1.1.2.)<br />
Migrationspolitik sowie die Definitionen zur (1.2.1.) Sicherheit und (1.2.2.)<br />
Sicherheitspolitik festgehalten.<br />
Einleitung<br />
Als Nationalrätin (u.a. als Mitglied in den nationalen Kommissionen für<br />
Aussenpolitik, APK, sowie als Mitglied der den Bundesrat beratenden<br />
Kommission für Entwicklungszusammenarbeit) und als Mitglied der<br />
Schweizer Delegation im Europarat in Strassburg (Präsidentin der<br />
Subkommission für Flüchtlingswesen), ist die Verfasserin der Thesis der<br />
Bedeutung der Migrationspolitik für die Schweizer Sicherheitspolitik, in<br />
einem globalen Umfeld nachgegangen. Die Thematik steht unbestritten<br />
international, und insbesondere in fast allen 47 Mitgliedsstaaten des<br />
Europarats, zuoberst auf den politischen Traktandenlisten. Die Frage stellt<br />
sich, inwiefern die Stabilität der Länder davon abhängt, wie den aktuellen<br />
Herausforderungen in diesem Zusammenhang und einem sich stark<br />
veränderten Umfeld begegnet werden kann. Weiter muss beantwortet<br />
werden, inwiefern die Migrationspolitik auch die Sicherheitspolitik<br />
tangieren könnte, bzw. ob umgekehrt die Sicherheitspolitik von der<br />
aktuellen Migrationpolitik beeinflusst wird, untersucht die Verfasserin<br />
dieser Arbeit umfassend. Die Frage, ob es zutrifft, dass die Schweizer<br />
Migrationspolitik wie in der Vergangenheit primär durch Wirtschafts- und<br />
Arbeitsmarktentwicklung beeinflusst wird, ist allenfalls von Relevanz und<br />
weniger neu, als der Sicherheitsaspekt in diesem Zusammenhang.<br />
Globale und neue Risiken prägen die Sicherheitsdiskussionen<br />
international. Ob diese durch die Migrationspolitik beeinflusst werden, und<br />
falls ja, inwiefern, soll nachstehend aus Sicht der Verfasserin dokumentiert<br />
19
eantwortet werden. Der sogenannte „Sonderfall Schweiz“ mit seiner<br />
direkten Demokratie birgt besondere Herausforderungen. Die<br />
Schnittstellen zu den einzelnen Politikbereichen werden daher speziell<br />
aufgezeigt und die Frage stellt sich, ob unser Land mit der Möglichkeit von<br />
permanenten Volksinitiativen, Referenden und seinem ausgeprägten<br />
Föderalismus einen anderen Weg bezüglich Migrations- und<br />
Sicherheitspolitik geht oder zu gehen hat, als das internationale Umfeld.<br />
Unterschiedliche Aspekte sind von Bedeutung: Massgeblich geht es um<br />
• sicherheitspolitische<br />
• wirtschaftspolitische und<br />
• sozialpolitische Aspekte der Migrationspolitik.<br />
Die nachfolgende Arbeit befasst sich daher speziell mit der Migrationsund<br />
der Sicherheitspolitik der Schweiz in einem internationalen Umfeld<br />
und globalen Zusammenhängen. Besonderes Augenmerk wird den<br />
Zusammenhängen nationaler Sicherheit im Kontext zur nationalen<br />
Migrationspolitik gewidmet. Insbesondere interessieren die Schnittstellen<br />
der Migrations- zur Sicherheitspolitik, bzw. umgekehrt der<br />
Sicherheitspolitik zur Migrationspolitik. Die Autorin fokussiert sich auf diese<br />
Themen und verzichtet bewusst darauf, auch die Sozialpolitik oder die<br />
Gesundheitspolitik der Schweiz näher auszuführen, wenngleich diese<br />
zweifelsfrei von Relevanz sind. Die Wirtschaftspolitik wird im<br />
Zusammenhang mit der Migrationspolitik der Schweiz, bzw. mit der<br />
Zuwanderungspolitik und den Bilateralen Verträgen aufgeführt (Schweiz –<br />
EU).<br />
Dabei gilt es aufzuzeigen, inwiefern Sicherheitspolitik in einem<br />
veränderten, globalen Umfeld gefordert ist und aufgrund veränderter<br />
Migrationstendenzen strategisch vorgegangen werden kann.<br />
20
Haben Einwanderungspolitik (gesteuerte und irreguläre), Flüchtlings- und<br />
Asylpolitik, Integrationspolitik sowie Rückführungspolitik einen Einfluss<br />
auf unsere nationale Sicherheitspolitik?<br />
Die Absicht der Verfasserin ist es zu dokumentieren, dass<br />
Sicherheitspolitik nur erfolgreich sein kann, wenn internationale<br />
Zusammenhänge und neue Risiken erkannt und verstanden werden und<br />
in den einzelnen relevanten Punkten ein Quervergleich mit anderen<br />
Ländern gemacht wird. Die Verfasserin hat daher u.a. systematische<br />
Fragen zu den Zusammenhängen der Sicherheits- und der<br />
Migrationspolitik in den Ländern Deutschland, Italien, Spanien und<br />
England gestellt, aber auch das weitere globale Umfeld in Betracht<br />
gezogen. Es handelte sich dabei um eine systematische Befragung,<br />
Recherchen und Analysen. Die äusserst unterschiedlichen<br />
Beantwortungen zeigen jedoch, dass die Politiken nicht über „einen<br />
Leisten“ gezogen werden können und es kein „Patentrezept“ gibt, die<br />
anstehenden Herausforderungen zu meistern. Die Unterschiede in den<br />
Handlungsweisen zur Bewältigung der Probleme sind gross, auch das<br />
dokumentiert die Arbeit. Die diversen Hintergründe sicherheitspolitischer<br />
Ereignisse werden in der Thesis berücksichtigt.<br />
Empfehlungen kann die Autorin nur betreffend die Schweiz geben. Sie<br />
verzichtet bewusst auf die Formulierung von Fazits für das internationale<br />
Umfeld und folgerichtig auch auf Empfehlungen für das globale Umfeld.<br />
Konzept<br />
Prinzipiell gliedert sich die Masterarbeit in vier Teile:<br />
1. Einleitung und Konzept<br />
2. Der globale Rahmen<br />
3. Der Rahmen der Schweiz<br />
4. Schlusswort und Empfehlungen<br />
21
Systematisch wird jeweils von allgemeinen Aussagen über globale,<br />
internationale Feststellungen zur EU übergegangen und erst dann<br />
der Schweizerteil abgehandelt.<br />
Es wird dabei systematisch der Frage der Ausgangslagen nachgegangen<br />
und zwar sowohl international als auch Schweiz-bezogen. Definiert<br />
werden sodann Ziele und Schnittstellen der Migrations- und<br />
Sicherheitspolitik (Schweiz) sowie unterschiedliche politische<br />
Handlungsweisen in den Bereichen Migrations- und Sicherheitspolitik<br />
international und national aufgezeigt. Die Gewichtung der einzelnen<br />
Aktionsfelder, bzw. die Schnittstellen werden festgehalten, gewichtet und<br />
ein Fazit wird gezogen mit entsprechenden politischen Empfehlungen,<br />
ausschliesslich für die Schweiz.<br />
Die Verfasserin der Thesis stellt aufgrund der Fragestellungen (siehe<br />
Einleitung) drei Hypothesen für die Schweiz auf, die sie mit der Arbeit<br />
belegen will:<br />
1. Die zukünftige schweizerische Migrationspolitik wird auch weiterhin in<br />
erster Linie durch Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklungen<br />
beeinflusst. Die demografische Entwicklung ist dabei von grosser<br />
Relevanz. Überfremdung, der Grad der Integration und<br />
sicherheitspolitische Determinanten wie Kriminalität sowie die<br />
demografische Entwicklung, beeinflussen zwar zweifellos die<br />
migrations- und die sicherheitspolitische (öffentliche) Diskussion und<br />
entsprechende Strategien massgebend, jedoch erst in zweiter Linie.<br />
Determinanten wie Terrorismus und Extremismus spielen bei der<br />
Formulierung einer zukünftigen schweizerischen Migrationspolitik nur<br />
eine verhältnismässig untergeordnete Rolle, ganz im Gegensatz zur<br />
Situation in anderen Staaten (z.B. USA, Grossbritannien, Spanien).<br />
2. Im Gegensatz zur Migrationspolitik, die primär durch Wirtschafts- und<br />
Arbeitsmarkentwicklung beeinflusst wird und erst in zweiter Linie durch<br />
sicherheitspolitische Aspekte, beeinflusst die Migrationspolitik<br />
22
umgekehrt die Sicherheitspolitik, insbesondere aufgrund der<br />
öffentlichen Wahrnehmung, massgebend: Irreguläre Migration,<br />
Ausländerkriminalität und eine wachsende Zahl muslimisch Gläubiger<br />
in der Schweiz sind Einflussfaktoren, welche die Sicherheitspolitik<br />
prägen.<br />
3. Die Schweiz hat aufgrund ihrer politischen und strukturellen<br />
Rahmenbedingungen, z.B. aufgrund der Direkten Demokratie<br />
(Volksinitiativen und Referenden), Föderalismus etc. einen anderen<br />
Umgang mit sicherheits- und migrationspolitischen Fragen als andere<br />
Staaten.<br />
Als Grundlage für ihre Ausführungen hat die Verfasserin u. a. den Ansatz<br />
der Recherche aufgrund wissenschaftlicher Literatur (national und<br />
international), direkter Interviews mit Entscheidungsträgern und<br />
Professoren bzw. deren wissenschaftlichen Arbeiten und Analysen,<br />
eigener politischer Erfahrungen und politischer nationaler und<br />
internationaler Zusammenarbeit mit entsprechenden Gremien und<br />
Verantwortlichen sowie basierend auf standarisierte Fragebogen gewählt<br />
und sich auf die Lektüre bestehender wissenschaftlicher Analysen und<br />
Recherchen (national und international) abgestützt 1 .<br />
Zudem hatte sie in ihrem Co-Referenten Dr. Eduard Gnesa einen der<br />
schweizweit erfahrensten Migrationsexperten als Unterstützung. Eduard<br />
Gnesa ist seit dem 1. September 2009 neu Sonderbotschafter für<br />
Internationale Migrationszusammenarbeit (EDA) und ehemaliger Direktor<br />
des Bundesamtes für Migration. Co-Referent und Leiter des Center of<br />
Security Studies an der ETHZ, Prof. Dr. Andreas Wenger, verhalf ihr<br />
insbesondere die generischen Elemente der Sicherheitspolitik sowie die<br />
Zusammenhänge und Aspekte der neuen Risiken zu dokumentieren.<br />
1 Die länderspezifischen Fragebogen sowie die Liste der befragten Personen befinden sich<br />
im Anhang und die Liste der verwendeten Hintergrundliteratur im Kapitel Bibliografie<br />
dieser Arbeit.<br />
23
Diese Arbeit ist wesentlich von seinen Überlegungen und einzelnen<br />
Kursblöcken der Ausbildung MAS in Washington (University of Defence)<br />
geprägt.<br />
1.1. Migrationspolitik<br />
1.1.1. Definition Migration<br />
Migration 2 (von lateinisch „migratio“, Wanderung) umschreibt in der<br />
Soziologie eine Form der Mobilität, ist im weitesten Sinne jeder<br />
längerfristige Wohnortswechsel eines Menschen. Man bezeichnet im<br />
engeren Sinn den Wechsel der Heimat mit Überschreitung einer<br />
Landesgrenze als internationale Migration 3 , innerhalb eines Landes<br />
spricht man von Binnenmigration.<br />
Prozesse der Migration sind ein wesentlicher Bestandteil der<br />
Bevölkerungsentwicklung. Für die Sozialarbeit der meisten Europäischen<br />
Länder ist die Immigration (Einwanderung von Ausländern) von grösserer<br />
Bedeutung als die Emigration (Auswanderung von Einheimischen). In<br />
Entwicklungsländern verhält es sich umgekehrt. Der so genannte „Brain<br />
Drain“ spielt dabei eine grosse Rolle. Menschen, die einzeln oder in<br />
Gruppen ihre bisherigen Wohnorte verlassen, um sich an anderen Orten<br />
dauerhaft oder zumindest für längere Zeit niederlassen, werden als<br />
Migranten bezeichnet. Pendler, Touristen und andere Kurzzeitaufenthalte<br />
fallen nicht unter die Definition von Migration, saisonale Arbeitsmigration<br />
wird jedoch manchmal einbezogen.<br />
2 UN Bericht über die menschliche Entwicklung 2009, UNDP, Genf 2009<br />
3 Wikipedia,<br />
www.efhdarmstadt.de/fuw/download/sysbertexte/11_Beratung_in_multikulturellen_Konte<br />
xtenl.pdf<br />
24
Überschreiten Menschen im Zuge ihrer Migration Ländergrenzen, werden<br />
sie aus der Perspektive des Landes, das sie betreten, Einwanderer oder<br />
Immigranten genannt. Die Soziologie bezeichnet Immigration in der Regel<br />
als Zuwanderung, Emigration entsprechend als Abwanderung.<br />
In dieser Arbeit wird der Begriff „Migration“ in Anlehnung an UN-<br />
Definitionen als grenzüberschreitenden Wechsel des Wohnortes von<br />
Personen umschrieben, die sich dauerhaft (d.h. mehr als ein Jahr)<br />
ausserhalb des Landes aufhalten, dessen Staatsangehörigkeit sie<br />
besitzen.<br />
1.1.2. Definition Migrationspolitik<br />
Migrationspolitik (auch Zuwanderungspolitik) beinhaltet die bewusste<br />
Steuerung von grenzüberschreitenden Wanderungen zwischen Staaten.<br />
Die Migrationspolitik stellt eine Querschnittaufgabe dar, die neben den<br />
eigentlichen Ausländer- und asylrechtlichen Bereichen noch weitere<br />
Politikgebiete umfasst, insbesondere die Arbeitsmarktpolitik wie auch die<br />
Migrationsaussenpolitik. Im internationalen Migrationsdiskurs wird heute<br />
vor allem der Bezug der Migration zur Entwicklung betont mit den<br />
Aktionsfeldern reguläre/zirkuläre Arbeitsmigration, Erleichterung und<br />
Valorisierung der Rücküberweisung (Remittances), verstärkter Einbezug<br />
der Akteure der Diaspora und Umgang mit den negativen Auswirkungen<br />
der Migration (z.B. Brain Drain).<br />
Dabei lässt sich Migrationspolitik in vier Aspekte zergliedern:<br />
• Regelung der Zugangsberechtigung für definierte Personengruppen<br />
im Interesse des Aufnahmestaates im Rahmen der<br />
Zulassungspolitik<br />
25
• Gestaltung der Lebensbedingungen im Aufnahmeland durch<br />
Regelungen des Zuganges zu wirtschaftlichen, sozialen und<br />
politischen Rechten (Integrationspolitik)<br />
• Festlegung und Umsetzung einer Rückkehr- und<br />
Reintegrationspolitik unter Berücksichtigung allfällig divergierender<br />
Interessen von Transit- und Herkunftsstaaten; Gestaltung der<br />
Migrationsaussenpolitik (Rückkehr-, Visapolitik, u. a.)<br />
• Langfristig angelegte, nach aussen gerichtete Entwicklungs- und<br />
Menschenrechtspolitik.<br />
Es geht somit einerseits darum, wer wann und zu welchem Zweck<br />
einreisen und wie lange ein Immigrant bleiben darf. Andererseits muss<br />
die Frage beantwortet werden, ob die Zuwanderer in die<br />
Aufnahmegesellschaft integriert, von ihr assimiliert oder von ihr separiert<br />
werden sollen.<br />
Grundlegendes Ziel von Migrationspolitik ist die Festlegung, wem ein<br />
Recht auf Aufenthalt in einem Staat zugesprochen und wem es verwehrt<br />
wird. Personen ohne Aufenthaltsrecht werden als illegale Immigranten<br />
bezeichnet. Migrationspolitik legt also fest, unter welchen Bedingungen<br />
man in ein Land einwandern darf, um dort dauerhaft zu wohnen und zu<br />
arbeiten.<br />
Die neuen, globalen Risiken tangieren die Migrationspolitik weltweit. Es ist<br />
von Relevanz für die Migrationspolitik aller Länder, globale Risiken in die<br />
Migrationspolitik einzubeziehen. Die Migrationspolitik wird von folgenden<br />
Phänomenen geprägt:<br />
• Organisiertes Verbrechen (z.B. Drogenhandel, Menschenhandel<br />
und Menschenschmuggel)<br />
• Terroristische Anschläge mit eingehenden „Vorurteilen gegenüber<br />
ethnischen Gruppen und Religionen (insbesondere Islam)<br />
• Unruhen (z.B. aufgrund ethnischer Konflikte)<br />
26
• Sezessionsbewegungen und „Warlords“<br />
• Klimawandel mit entsprechenden<br />
Naturkatastrophen und damit einhergehenden Klimamigranten<br />
• Ressourcenkonflikte (z.B. Öl, Wasser)<br />
• Überbevölkerung und wirtschaftliche Not<br />
Die Politiken sind in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Es wird<br />
meistens unterschieden zwischen:<br />
• legaler und illegaler Migration<br />
• Staatsbürgerschaft durch Abstammung (ius sanguinis) oder<br />
Geburtsort (ius solis)<br />
• Migration bei besonderen Fähigkeiten oder Eigenschaften<br />
(Wirtschafts- bzw. Arbeitsmarktimmigration)<br />
• Aufenthalt durch Asyl und/ oder humanitäre Aufenthaltsregelung<br />
• Integration oder Assimilation<br />
• Duldung der irregulären Migration (Amnestie für Sans-Papiers) oder<br />
konsequente Wegweisung illegal anwesender Ausländer<br />
• Souveräne Migrationspolitik des einzelnen Staates oder<br />
gemeinsame Migrationsregelung mehrer Staaten in gewissen<br />
Bereichen (z.B. EU)<br />
1.2. Sicherheitspolitik<br />
Die Sicherheit ist in der Schweiz in der Verfassung verankert. Sie ist erste<br />
Staatsaufgabe. Per Definition muss es in der Sicherheitspolitik darum<br />
gehen, die Menschen in ihrer Selbstbestimmung und Integrität zu<br />
schützen. Kein fremder Wille soll unserem Staat aufgedrängt oder den<br />
Menschen in der Schweiz aufgezwungen werden.<br />
27
1.2.1. Definition Sicherheit 4<br />
Sicherheit = 1 – Risiko, indirekt heisst dies, die Sicherheit wird durch<br />
bestehende Risiken definiert. Sicherheit bezeichnet den Zustand, der<br />
weitgehend frei von Risiken oder als gefahrenfrei angesehen wird. Der<br />
Zustand von Sicherheit ist ein Zustand des Unbedrohtseins, der sich<br />
objektiv im Vorhandensein von Schutz (Schutzeinrichtungen), bzw. im<br />
Fehlen von Gefahr (Gefahrenquellen) darstellt und subjektiv als<br />
Gewissheit von Individuen oder sozialen Gebilden über die Zuverlässigkeit<br />
von Sicherungs- und Schutzeinrichtungen empfunden wird. Es bietet sich<br />
an, Sicherheit als Abwesenheit bzw. Schutz vor Risiken und Gefahren zu<br />
definieren. Mit dieser Definition ist Sicherheit sowohl auf ein einzelnes<br />
Individuum als auch auf andere Lebewesen, auf unbelebte Objekte oder<br />
Systeme wie auch auf abstrakte Gegenstände bezogen.<br />
In komplexen Systemen ist es unmöglich, Risiken völlig auszuschliessen.<br />
Das vertretbare Risiko für jede mögliche Art der Beeinträchtigung hängt<br />
von vielen Faktoren ab und wird zudem subjektiv und kulturell verschieden<br />
bewertet. Im Allgemeinen werden höhere Wahrscheinlichkeiten für<br />
Beeinträchtigungen mit steigendem Nutzen (z.B. Teilnahme am<br />
Strassenverkehr) als vertretbar angesehen.<br />
Um den Zustand von Sicherheit zu erreichen, werden Sicherheitskonzepte<br />
erstellt und umgesetzt. Sicherheitsmassnahmen sind erfolgreich, wenn sie<br />
dazu führen, dass mit ihnen sowohl erwartete als auch nicht erwartete<br />
Beeinträchtigungen abgewehrt bzw. hinreichend gemacht werden.<br />
Sicherheit kann jedoch nicht mehr sein, als ein relativer Zustand der<br />
Gefahrenfreiheit, der stets für einen bestimmten Zeitraum, eine bestimmte<br />
Umgebung oder unter Berücksichtigung von bestimmten Bedingungen<br />
gegeben ist. Im Extremfall können sämtliche Sicherheitsvorkehrungen zu<br />
4<br />
Sipol-Bericht 2010, VBS; University of Defense in Washington; Wikipedia; Meyers grosses<br />
Lexikon<br />
28
Fall gebracht werden durch Ereignisse, die sich nicht beeinflussen oder<br />
voraussehen lassen. Sicherheit bedeutet daher nicht, dass<br />
Beeinträchtigungen vollständig ausgeschlossen sind, sondern nur, dass<br />
sie hinreichend (beispielsweise im Vergleich zum allgemeinen<br />
„natürlichen“ Risiko einer schweren Erkrankung) unwahrscheinlich sind.<br />
Ein prägnantes Modell für die Relativität von Sicherheitsmassnahmen<br />
beschreibt und bedeutet, zahlreiche Vorschriften, Überprüfungen und<br />
somit Risikomanagement zu formulieren und zu betreiben. Das<br />
Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit wird vor allem aus<br />
dem liberalen Standpunkt kritisch beleuchtet, da es davor warnt, stärkere<br />
Überwachung der Bürger durchzusetzen und damit die allgemeinen<br />
Bürgerrechte und die Freiheit des Einzelnen zu schwächen. In diesem<br />
Zusammenhang werden oft Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung als<br />
Argumente für eine Einschränkung der Grundrechte herangezogen.<br />
1.2.2. Definition Sicherheitspolitik<br />
Als Sicherheitspolitik werden alle Massnahmen eines Staates oder einer<br />
Gruppe von Staaten bezeichnet, die zur Abwehr bzw. Vermeidung von<br />
Bedrohungen und Gefahren ergriffen werden, deren Ursprung ausserhalb<br />
des Hoheitsgebietes des betreffenden Staates oder der Staatengruppe<br />
liegen.<br />
Die Sicherheitspolitik umfasst somit die Gesamtheit aller staatlichen Mittel<br />
und Massnahmen zur Vorbeugung und Bewältigung<br />
• der Androhung oder Anwendung von Gewalt strategischen<br />
Ausmasses gegen ein Land, seine Bevölkerung und dessen<br />
Lebensgrundlagen oder Interessen im Ausland,<br />
• von natur- und zivilisationsbedingten Katastrophen überregionaler<br />
oder nationaler Tragweite.<br />
29
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde der so genannte „erweiterte<br />
Sicherheitsbegriff“ geprägt. Es wurde festgestellt, dass künftig<br />
Bedrohungen nicht ausschliesslich militärischer Natur sind; so wurden in<br />
diesem Zusammenhang vielfältige neue Risiken ausgemacht:<br />
Internationaler Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen<br />
und deren Trägertechnologien, Destabilisierung von Staaten durch die<br />
Ausbreitung von Pandemien, illegale Migration, Umweltgefahren,<br />
organisiertes Verbrechen, vor allem Geldwäsche, Drogenkriminalität und<br />
Menschenhandel, Ressourcenknappheit wie Erdöl und Wasser,<br />
ökonomische Disparitäten und Cyber Crime, bzw. die Anfälligkeit der<br />
Informationstechnologie.<br />
Die vernetzte, zukunftsgerichtete Sicherheitspolitik bzw. eine umfassende<br />
Sicherheitsstrategie vernetzt mehrere Elemente, nämlich: die Armee<br />
mit ihrer Friedensförderung und Kooperationen im Ausland sowie in Form<br />
von Public Private Partnership im Inland, die Polizeikräfte und den<br />
Zivildienst mit der entsprechenden Katastrophenhilfe. Darüber hinaus<br />
braucht es einen starken Nachrichtendienst, die vernetzte Aussenpolitik<br />
und Diplomatie, gute Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und eine<br />
kluge Informationspolitik sowie interkulturelles Verständnis und<br />
Verhandlungsgeschick. Vorausschauendes Risikomanagement und<br />
Leadership sind auch in der Sicherheitspolitik unabdingbare<br />
Voraussetzungen für gutes Gelingen.<br />
Entscheidend ist, dass wir uns heute (in der Schweiz) nicht mit<br />
symmetrischen Bedrohungslagen konfrontiert sehen. Die neuen<br />
Sicherheitsrisiken dokumentieren eindrücklich, dass diese mit Teilgebieten<br />
der Migrationspoltik untrennbar verbunden sind und bei entsprechenden<br />
Problemlösungen auch die Migrationsseite berücksichtigt werden muss.<br />
30
2. Der globale Rahmen<br />
Kurzübersicht zu Kapitel 2<br />
31
Das zweite Kapitel der Masterarbeit befasst sich mit dem globalen<br />
Rahmen der Migrationspolitik (2.1.) und dem globalen Rahmen der<br />
Sicherheit (2.2.).<br />
Dabei wird zuerst der Migration bzw. der Migrationspolitik allgemein<br />
(2.1.1.), der internationalen Migration und der Aufzählung der<br />
entsprechenden Fakten (2.1.1.1.) das Augenmerk gewidmet. Den Fakten<br />
und Hintergründen der Migrationspolitik der EU (2.1.1.2.) wird in einem<br />
separaten Unterkapitel nachgegangen.<br />
Der globale Rahmen der Sicherheit (2.2.) wird umfassender beschrieben<br />
und es wird hierbei zuerst den generischen Elementen nachgegangen<br />
sowie beschrieben, wie die sicherheitspolitische Ordnung des Kalten<br />
Krieges geprägt wurde, bzw. wie die wichtigsten Trends in diesem<br />
Zusammenhang seit der Wende der 90er Jahre aufgelistet werden<br />
können. Im Anschluss an diese Ausführungen wird die internationale<br />
Sicherheit einzeln an den Beispielen der Grossmacht USA (2.2.1.), sowie<br />
der EU (2.2.2.) beschrieben und ein Vergleich gezogen (2.2.2.1.).<br />
Das sicherheitsrelevante Risiko der Flüchtlingsproblematik wird am<br />
Beispiel von Subsahara-Afrika (2.2.3.) dokumentiert. Eine spezielle<br />
Erörterung dieser Situation ist insofern angezeigt, als sich diese<br />
Problematik selbst in einschlägigen politischen Kreisen noch nicht in den<br />
Köpfen verankert hat. Die UNO beispielsweise hat bis heute keine<br />
Strategie formuliert, wie dem Phänomen der Klimamigranten begegnet<br />
werden könnte.<br />
Die diversen Schnittstellen werden allgemein, international am neuen<br />
Risiko des Terrorismus behandelt (2.3.1.) und dieselbe Problematik<br />
aufgrund systematischer Befragungen, bzw. aufgrund deren<br />
Beantwortungen an verschiedenen Beispielen dokumentiert. Dabei wählte<br />
die Verfasserin die Länder Deutschland (2.3.1.1.), Grossbritannien<br />
32
(2.3.1.2.), Spanien (2.3.1.3.) und Italien (2.3.1.4.) und verglich die Politiken<br />
der genannten Länder (2.3.1.5.).<br />
2. 1. Der globale Rahmen der Migration<br />
Generische Überlegungen zwingen, zuerst das Phänomen der weltweiten<br />
Migration global abzuhandeln: Die Migration trat zu allen Zeiten der<br />
Menschheitsgeschichte in Erscheinung, lokal, regional und<br />
interkontinental. Das hat sich auch im 20. Jahrhundert nicht geändert und<br />
wird im 21. Jahrhundert noch verstärkt durch Tendenzen der<br />
Globalisierung, wirtschaftliche Zwänge und Flucht vor totalitären Staaten,<br />
aufgrund von wirtschaftlichen Krisen, Kriegen oder auch<br />
Naturkatastrophen weiter anhalten, ja zunehmen. Insbesondere die<br />
„freiwillige Migration“ bedingt durch die Attraktivität einer wachsenden<br />
Wirtschaft der Industrieländer und Dienstleistungsgesellschaften wird<br />
weiterhin zunehmen.<br />
Nach dem Ende des Kalten Krieges eröffnete sich der Migration aufgrund<br />
der Globalisierung eine neue Dimension. Der weltweite<br />
Informationsaustausch, die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung und<br />
die Liberalisierung im Warenhandel öffnen immer mehr den Blick auf die<br />
Märkte sowie auf Attraktivität der Industrieländer. Die gleichzeitige<br />
Marginalisierung und Verarmung weiter Gebiete, insbesondere in Afrika,<br />
Asien und Lateinamerika begründen Krisen, welche „unfreiwillige<br />
Migrationsbewegungen“ verstärken. Die Kettenreaktion der globalen<br />
Finanzkrise, z.B. die potenzielle Kürzung der Entwicklungshilfegelder und<br />
Reduktion des globalen Handels, werden einen massgeblichen Einfluss<br />
auf die globale Migration haben. Weltweit gibt es zurzeit über 200<br />
Millionen internationale Migranten, davon gelten 20 bis 30 Millionen als<br />
„irregulär“. Die Anzahl Flüchtlinge beträgt rund 16 Millionen. Dazu<br />
33
kommen 26 Millionen „konfliktbedingte intern Vertriebene“ (IDP’s) und<br />
25 Millionen IDP’s auf Grund von Naturkatastrophen 5 .<br />
Was zu Vorteilen und Profiten für die Einen gewertet werden kann (z.B.<br />
Kompensation der mangelnden Arbeits- und Fachkräfte für die Schweiz),<br />
kann als so genannter „Brain Drain“, als Verlust an ausgebildeten<br />
Kräften für bestimmte Entwicklungsländer, zum Problem werden. So muss<br />
die Innenpolitik die Migration im Zusammenhang mit Fragen der<br />
Entwicklung der Bevölkerungsstruktur (vor allem in den entwickelten<br />
Ländern) sowie den Anforderungen des Arbeitsmarktes und der<br />
Integration mitberücksichtigen, und die Aussenpolitik sieht sich mit neuen<br />
Herausforderungen konfrontiert bezüglich der Organisation und Kontrolle<br />
der Migration, der Gestaltung des Verhältnisses zu Transit- und<br />
Herkunftsstaaten sowie der Verhinderung unerwünschter<br />
Zuwanderungsbewegungen.<br />
Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit<br />
Der wachsende Wanderungsdruck zwingt die industrialisierten Länder, die<br />
Planung und Entwicklung einer internationalen Zusammenarbeit im Bezug<br />
auf die Migration-Herausforderungen aktiv an die Hand zu nehmen. Nur<br />
dank guter Kooperation und aufgrund von Absprachen mit allen<br />
Betroffenen, also der Herkunfts-, der Transit- und Zielländer, kann<br />
Migrationspolitik gemeistert werden. Nie zuvor lebten so viele Menschen<br />
ausserhalb ihrer Herkunftsländer, auf der Suche nach einer sicheren und<br />
menschenwürdigen Zukunft.<br />
2.1.1. Migration und Migrationspolitik allgemein<br />
Neu sind bei der Migrationspolitik zum einen das Ausmass der<br />
internationalen Migration und die Dynamik, die angetrieben wird durch<br />
5 IOM 2008 und UNHCR Statistical Online Population Database 2007<br />
34
adikal sinkende Transportkosten und eine umfassende Kommunikation,<br />
die bis in die hintersten Winkel der Erde reicht. Tendenzen der<br />
Globalisierung, wirtschaftliche Zwänge und Flucht vor totalitären<br />
Systemen, aufgrund von wirtschaftlichen Krisen, Krieg oder auch<br />
Naturkatastrophen werden diese Entwicklungen weiter beschleunigen.<br />
Dennoch lebt insgesamt weniger als drei Prozent der Weltbevölkerung<br />
ausserhalb ihres Heimatstaates, was mit sprachlichen, kulturellen und<br />
wirtschaftlichen Gründen sowie den Steuerungsmechanismen der<br />
Herkunfts-, Transit- und Aufnahmestaaten zusammenhängt. Migration ist<br />
daher die Ausnahme und nicht die Regel. Die menschliche Mobilität wird<br />
oft als Problem angesehen, wird aber zunehmend auch als Chance<br />
wahrgenommen. Migration eröffnet neue Möglichkeiten der<br />
Lebensgestaltung, verändert Beziehungen zu anderen Menschen oder<br />
beseitigt lebensbedrohliche Situationen 6 . Im Zusammenhang mit dem –<br />
nicht zuletzt durch die Globalisierung ausgelösten - Anwachsen der<br />
internationalen Mobilität – ist auch das Thema der internationalen<br />
Migration an die Spitze der globalen politischen Agenda getreten. Dabei<br />
wurde festgestellt, dass nicht nur die wachsende Komplexität des Themas<br />
oder auch das Ausmass der Migrationsbewegungen neu grosse<br />
Herausforderungen für nationale Migrationspolitikern darstellt, sondern<br />
dass Migration durchaus auch sehr positive Auswirkungen auf eine<br />
Gesellschaft, den privaten Sektor oder auch den Staat an und für sich<br />
haben kann. Dies hat zur Folge, dass nebst Steuerungsmassnahmen<br />
auch die Regelung einer Zuwanderung, die Förderung der Integration der<br />
ausländischen Bevölkerung aber auch internationale Zusammenarbeit<br />
sowie Massnahmen zur Ursachenbekämpfung (bzw. Entwicklungs-<br />
Zusammenarbeit, Friedensförderung etc.) wichtige Komponenten einer<br />
modernen Migrationspolitik sind.<br />
6 siehe dazu auch „Barrieren überwinden: Migration und menschliche Entwicklung“<br />
Bericht über die menschliche Entwicklung 2009, UNDP, Genf 2009: das<br />
Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen hat sich in diesem Bericht erstmals mit<br />
dem Thema Entwicklung und Migration umfassend auseinandergesetzt<br />
35
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Tatsache, dass die grössten<br />
Migrationsbewegungen innerhalb einzelner Regionen stattfinden. Dies<br />
führt dazu, dass zur Bewältigung der durch diese Bewegungen<br />
hervorgerufenen Herausforderungen in regionalen und überregionalen<br />
Konzepten gedacht werden muss.<br />
Auf Initiative der Schweiz und anderer Staaten sowie auf Anregung des<br />
damaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan, wurde<br />
im Jahre 2003 die Weltkommission für Internationale Migration ins Leben<br />
gerufen. Die Kommission setzte sich aus 19 Personen aus verschiedenen<br />
Teilen der Welt zusammen, die über hochrangige internationale<br />
Erfahrungen verfügten und sowohl aus der Politik, als auch aus der<br />
Verwaltung des privaten und zivilen Sektors stammen. Die<br />
Weltkommission für Internationale Migration veröffentlichte nach<br />
umfassenden Hearings in der ganzen Welt im Oktober 2005 ihren<br />
Abschlussbericht, der im Jahre 2006 zu einer breit angelegten Diskussion<br />
in der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Verhältnis<br />
zwischen Migration und Entwicklung führte und sowohl auf regionaler und<br />
auch auf globaler Ebene wegweisend für die Ausgestaltung der<br />
zukünftigen Migrationspolitik wurde. Die Diskussionen auf höchster<br />
zwischenstaatlicher Ebene werden heute im Rahmen der globalen<br />
Initiative der Staaten „Global Forum for Migration and Development“<br />
weitergeführt 7 . An dem jährlich stattfindendem Global Forum (bisher in<br />
Belgien, auf den Philippinen, Griechenland und 2010 in Mexiko) nehmen<br />
ca. 140 Staaten, darunter auch die Schweiz teil.<br />
7 So spricht man heute nicht mehr über Arbeitsmigration oder Kriegsflüchtlinge, sondern<br />
auch von Mixed-Flows, Klimamigration, etc.<br />
36
Abbildung 1: Grafik der regionalen Migrationsbewegungen 8<br />
Die Weltkommission schlug für internationale Migration folgende<br />
Handlungsprinzipien, die in die Ausgestaltung einer Migrationspolitik<br />
einfliessen sollten, vor 9 :<br />
I. Migration als freie Wahl: Migration und Weltwirtschaft<br />
Frauen, Männer und Kinder sollten in ihrem Herkunftsland ihr Potenzial<br />
ausschöpfen, ihre Bedürfnisse erfüllen, ihre Menschenrechte<br />
wahrnehmen und ihre Ziele verwirklichen können. Sie sollten nur auf<br />
Grund ihrer freien Wahl und persönlichen Entscheidung abwandern<br />
und nicht, weil sie dazu gezwungen sind. Frauen und Männern, die<br />
8 Bericht über die menschliche Entwicklung: Barrieren überwinden; Migration und<br />
menschliche Entwicklung; UNDP 2009<br />
9 Migration in einer interdependenten Welt: Neue Handlungsprinzipien; Bericht<br />
Weltkommission für Internationale Migration; Oktober 2005, Seite 4, Deutsche Version<br />
37
auswandern und in den globalen Arbeitsmarkt eintreten, sollte es<br />
ermöglicht werden, dies auf sichere und legale Weise zu tun, und weil<br />
sie und ihre Fähigkeiten von Aufnahmestaaten und– Gesellschaften<br />
geschätzt und gebraucht werden.<br />
II. Verstärkung der positiven Auswirkungen auf Wirtschaft und Entwick-<br />
lung<br />
Die Rolle von Migranten bei der Förderung von Entwicklung sowie der<br />
Verringerung der Armut in ihren Herkunftsländern und der Beitrag, den<br />
sie zum Wohlstrand ihrer Aufnahmeländer leisten, sollten anerkannt<br />
und gestärkt werden. Internationale Migration sollte sowohl in<br />
Entwicklungsländern als auch in Industriestaaten ein integraler<br />
Bestandteil der nationalen, regionalen und globalen Strategien zum<br />
Wirtschaftswachstum werden.<br />
III. Irregulärer Migration entgegenwirken<br />
Staaten, die in souveräner Rechtsausübung bestimmen, wer ihr<br />
Territorium betreten und wer bleiben darf, sollten ihrer Verantwortung<br />
und Verpflichtung nachkommen, die Rechte von Migranten zu<br />
schützen und freiwillig oder zwangsweise zurückkehrende Bürger<br />
wieder aufnehmen. Bei der Auseinandersetzung mit irregulärer<br />
Migration sollten die Staaten zusammenarbeiten und sicherstellen,<br />
dass ihre Massnahmen die Menschenrechte nicht beeinträchtigen.<br />
Dies schliesst das Recht von Flüchtlingen auf den Zugang zu<br />
Asylverfahren ein. Bei der Auseinandersetzung mit der irregulären<br />
Migration sollten die Regierungen den Dialog mit Arbeitgebern,<br />
Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft suchen.<br />
IV. Stärkung des sozialen Zusammenhalts durch Integration<br />
Migranten und Bürger der Zielländer sollten ihre rechtlichen<br />
Verpflichtungen einhalten. Weiterhin sollten sie von einem<br />
38
wechselseitigen Prozess der Annäherung und Integration profitieren,<br />
der zugleich kultureller Vielfalt Raum bietet und den gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt fördert. Dieser Prozess sollte von den lokalen und<br />
nationalen Behörden, Arbeitgebern und Mitgliedern der<br />
Zivilgesellschaft aktiv unterstützt werden und auf einem Bekenntnis zur<br />
Nichtdiskriminierung und Geschlechtergleichheit basieren. Ausserdem<br />
sollte er durch einen objektiven Diskurs in der Öffentlichkeit, Politik und<br />
in den Medien über internationale Migration geprägt werden.<br />
V. Schutz der Rechte der Migranten<br />
Um die Menschenrechte und Arbeitsstandards, die allen Migrantinnen<br />
und Migranten zustehen, besser zu schützen, müssen die<br />
entsprechenden rechtlichen und normativen<br />
Menschenrechtsvereinbarungen gestärkt, effektiver umgesetzt und<br />
nicht diskriminierend angewandt werden. Auf der Grundlage dieser<br />
Verpflichtungen müssen Staaten und andere relevante Akteure mit<br />
dem Thema Migration in einer konsequenteren und kohärenteren<br />
Weise umgehen.<br />
VI. Gutes Regieren durch Kohärenz, konzeptionelle und organisatorische<br />
Kompetenz sowie Kooperation fördern<br />
Gutes Regieren im Bereich der internationalen Migrationspolitik sollte<br />
gefördert werden durch eine verbesserte Kohärenz und verstärkte<br />
Kapazitäten auf nationaler Ebene, durch intensivere Konsultationen<br />
und Kooperation zwischen Staaten auf regionaler Ebene, sowie durch<br />
einen effektiveren Dialog und verstärkte Kooperation zwischen<br />
Regierungen und zwischen internationalen Organisationen auf globaler<br />
Ebene. Diese Anstrengungen müssen auf einem besseren Verständnis<br />
der engen Verknüpfungen zwischen der internationalen Migration und<br />
der Entwicklungspolitik sowie anderen politischen Kernbereichen wie<br />
Handel, finanzielle Hilfe, staatliche Sicherheit, menschliche Sicherheit<br />
sowie Menschenrechten basieren.<br />
39
Diese Handlungsprinzipen prägen seit der Veröffentlichung des Berichts<br />
und der darauf folgenden Debatte über internationale Migration und<br />
Entwicklung an der Vollversammlung der UNO (High Level Dialog on<br />
Migration and Development) im Jahr 2006 10 weltweit die Diskussionen um<br />
ein zukünftige nationale und regionale Migrationspolitik.<br />
Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) gelangte im<br />
Jahre 2009 in seinem Bericht „Barrieren überwinden: Migration und<br />
menschliche Entwicklung“ (Genf) weitestgehend zu den gleichen<br />
Schlussfolgerungen wie die Weltkommission in den zitierten<br />
Handlungsprinzipien.<br />
Auch wenn diese willkommenen und notwendigen Debatten auf<br />
internationaler Ebene – die vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen<br />
wären – die internationale Migrationspolitik einen Schritt weitergebracht<br />
haben, sind wir noch weit von einer Regelung im Sinne einer weltweit<br />
verbindlichen Migrationspolitik etwa im Sinne einer bindenden Konvention<br />
entfernt. Nach wie vor prägen die souveränen Staaten die Migrationspolitik<br />
ihres Landes, oder – wie im Abschnitt 2.1.1.2. Fakten und Hintergründe<br />
zur Migrationspolitik der EU gezeigt werden soll – sind immerhin teilweise<br />
Ansätze einer regionalen verbindlichen Normierung entstanden oder im<br />
Entstehen begriffen 11 .<br />
2.1.1.1. Migration und Fakten international<br />
10 Vgl. auch http://www.un.org/esa/population/migration/hld/index.html<br />
11 Quelle: Dr. Eduard Gnesa, Referat Migrationspolitik: „Welche Massnahmen<br />
sind in der Schweiz wünschbar und vordringlich“ (gehalten am 10. März 2010, an<br />
der Tagung der Vereinigung der ehemaligen Mitglieder der Bundesversammlung)<br />
40
Von den in den internationalen Statistiken aufgeführten Migranten<br />
beherbergt Europa mit rund 60 Millionen Menschen etwas weniger als ein<br />
Drittel der über 210 Millionen Migranten. Gemessen an der<br />
Gesamtbevölkerung machen Migranten in Europa im Durchschnitt 10 %<br />
aus, verglichen mit 1,5% in Asien, 2 % in Afrika und 14 % in Nordamerika.<br />
Die grösste Zahl der Migranten wandert von weniger entwickelten Staaten<br />
in wirtschaftlich hoch entwickelte Staaten. Vor dem Hintergrund der<br />
steigenden Zahl von Migrantinnen und Migranten stellt sich für Staaten<br />
daher zunehmend die Frage nach einer wirksamen Steuerung. Um dahin<br />
zu gelangen, ist es zunächst notwendig, sich mit den Gründen<br />
auseinander zu setzen, weshalb Menschen zu welchem Zeitpunkt in<br />
welches Land oder welche Region migrieren.<br />
Hintergründe der Migration 12<br />
Die Gründe zur Migration sind entweder im Herkunftsland (sog. „push-<br />
Faktoren“), im Zielland (sog. „pull-Faktoren“) oder aber gleichzeitig in<br />
beiden zu finden. Unterschieden werden kann zwischen ökonomischen<br />
und nicht-ökonomischen Gründen. In den allermeisten Fällen ist aber<br />
keine scharfe Trennung möglich. Zudem können sich die Motive und damit<br />
auch das individuelle Migrationsprojekt im Verlaufe der Zeit ändern. Zu<br />
berücksichtigen ist ferner, dass sich die Verhältnisse rasch ändern<br />
können, sodass ein heutiges Auswanderungsland schon morgen ein<br />
Aufnahmeland wird.<br />
Das Ausmass der Migration lässt sich zu einem grossen Teil mit<br />
wirtschaftlichen und demographischen Unterschieden erklären,<br />
währenddem die Dynamik der Migration von Faktoren wie soziale<br />
Netzwerke und Entwicklungen im Transport- , Informations-<br />
Kommunikations- und Menschenrechtsbereich beeinflusst wird. Mit ihnen<br />
12<br />
Quelle: Philipp Marti/Gottfried Zürcher, Managing Migration: The Global Challange,<br />
Population Bulletin 63, Nr.1(2008)<br />
41
sowie den politischen Antworten der Regierungen lässt sich auch<br />
hinreichend darlegen, weshalb zu welchem Zeitpunkt Migration auf<br />
welchen Routen in welche Regionen und Staaten beobachtet werden<br />
kann.<br />
Die Reaktionen auf die vorgenannten Entwicklungen führen in den<br />
meisten Aufnahmeländern des industrialisierten Nordens dazu, vermehrt<br />
Steuerungsinstrumente vor allem zur besseren Kontrolle der irregulären<br />
Migrationsbewegungen einzuführen. Diese äussern sich in einer<br />
verschärften Visumspraxis, verstärkten Grenzkontrollen, dem<br />
zunehmenden Ausbau der Inlandkontrollen, dem Einsatz von<br />
Informatiklösungen zur Verknüpfung der Kontrollinstrumente und in<br />
restriktiven Regelungen des Zugangs zu sozialen Rechten. Insgesamt<br />
konnte damit eine Stabilisierung der unkontrollierten Migration zumindest<br />
zeitweise erreicht werden. Entscheidende Fortschritte brachten hingegen<br />
Anstrengungen im Bereiche der engeren regionalen Zusammenarbeit.<br />
Diese regionale Zusammenarbeit steht auch im Zentrum der<br />
Migrationsbeziehungen der EU und der Schweiz. Eine bilaterale und<br />
multilaterale Zusammenarbeit mit der EU, den Herkunftsländern- und<br />
Transitstaaten von Migranten ist unabdingbar zur Handhabung der mit<br />
Migration verbundenen Probleme und Chancen.<br />
42
Wichtigste Zahlen und Fakten der gegenwärtigen internationalen<br />
Migration 13<br />
Wie viele internationale Migranten gibt es?<br />
Jahr Anzahl der internationalen<br />
Migranten in Mio.<br />
1970 82<br />
2000 175<br />
2005 200<br />
2010 210<br />
Tabelle 1: Migrationsentwicklung<br />
Wie hoch ist der Anteil an Migrantinnen?<br />
(entspricht der Bevölkerung von Brasilien, des<br />
fünftgrössten Landes der Welt)<br />
Fast die Hälfte der internationalen Migranten weltweit sind Frauen<br />
(48,6 %).<br />
Welches sind die wichtigsten Aufnahmeländer?<br />
In folgenden Staaten wird die Anzahl der Migranten geschätzt:<br />
USA 35 Mio.<br />
Russische Föderation 13,3 Mio.<br />
Deutschland 7,3 Mio.<br />
Ukraine 6,9 Mio.<br />
Indien 6,3 Mio.<br />
Tabelle 2: Wichtigste Aufnahmeländer der Migranten<br />
13 Quelle: Statistiken UNDESA, Weltbank, IOM, ILO und UNHCR<br />
43
Welches sind die wichtigsten Herkunftsländer?<br />
Die wichtigsten Herkunftsländer der Migration sind:<br />
China 35 Mio.<br />
Indien 20 Mio.<br />
Philippinen 7 Mio.<br />
Tabelle 3: Wichtigste Herkunftsländer der Migranten<br />
Wie wirkt sich Migration auf die Demografie aus?<br />
Zwischen 1990 und 2000 waren 56 % des Bevölkerungswachstums in den<br />
entwickelten Ländern der Welt, 3 % in den Entwicklungsländern auf<br />
internationale Migration zurückzuführen. Zwischen 1995 und 2000 waren<br />
75 % des Bevölkerungswachstums in den USA auf Zuwanderung<br />
zurückzuführen.<br />
Wie viel Geld überweisen Migranten in ihre Heimatländer zurück?<br />
Über offizielle Wege geleistete Rücküberweisungen lagen im Jahre 2004<br />
bei etwa 150 Milliarden Dollar. Schätzungen besagen, dass heute etwa<br />
300 Milliarden Dollar zusätzlich über inoffizielle Kanäle transferiert werden.<br />
Der Wert der über die offiziellen Wege geleisteten Rückweisungen beträgt<br />
damit fast das Dreifache der offiziellen Entwicklungshilfe 14 ’ 15 .<br />
2.1.1.2. Fakten und Hintergründe zur Migrationspolitik der EU<br />
In den USA sind Migranten und auch religiöse Minderheiten relativ gut<br />
integriert, in den EU-Staaten sind jedoch insbesondere Muslime eher noch<br />
„randständig“ und wenig akzeptiert. Entscheidender Unterschied ist, dass<br />
14<br />
Quelle: Global Commission on International Migration (GC<strong>IM</strong>), Migration in einer<br />
interdependenten Welt, neue Handlungsprinzipien, Oktober 2005<br />
15 „Barriere überwinden: Migration und menschliche Entwicklung“, UNDP 2009<br />
44
sich die USA als Einwanderungsland verstehen und auf die<br />
Integrationskraft ihres Gesellschaftsmodells vertrauen, die Europäer sich<br />
hingegen immer noch als ethnische Nationalstaaten sehen und als<br />
säkulare Gesellschaften Mühe bekunden mit dem Wiederauftauchen des<br />
Religiösen, gerade was die muslimischen Minderheitskreise betrifft. Diese<br />
Ausgangslage prägt die Migrationspolitik der EU.<br />
Bereits seit ca. 30 Jahren entwickelt die EU eine gemeinsame Asyl- und<br />
Migrationspolitik, die sich in einer ersten Phase primär mit Fragen der<br />
Flüchtlingspolitik befasst hat. In mehreren Schritten ist diese Politik ein<br />
immer zentralerer Bestandteil der Union geworden und hat nun im<br />
Lissabonner Vertrag eine neue Grundlage gefunden 16 .<br />
Darin erhält die Union die Kompetenz, eine gemeinsame Politik in den<br />
Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen der Aussengrenzen zu<br />
entwickeln. Mit dem Stockholmer Programm 17 vom Dezember 2009 hat<br />
sich die Union zudem ein konkretes Arbeitsprogramm für die nächsten<br />
fünf Jahre gegeben (2010 bis 2014). Absehbar ist, dass weitere Bereiche<br />
der Grenzschutzpolitik, der Asylpolitik und der Einwanderungspolitik noch<br />
stärker vereinheitlicht oder mindestens harmonisiert werden.<br />
Die Strategie der EU zur Migrationspolitik ist auch massgebend im<br />
sogenannten „Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und<br />
Recht in der Europäischen Union (EU; November 2004) begründet 18 .<br />
16<br />
siehe dazu auch Quelle: Anhang Titel V des Vertrages über die Arbeitsweise der EU,<br />
Art. 67ff.<br />
17 siehe dazu Quelle: Stockholmer Programm<br />
http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/09/st17/st17024.de09.pdf<br />
18 siehe dazu auch Haager Programm<br />
http://europa.eu/legislation_summaries/human_rights/fundamental_rights_within_europea<br />
n_union/l16002_de.htm<br />
45
Das so genannte „Grünbuch“ („Angesichts des demografischen Wandels –<br />
eine neue Solidarität zwischen den Generationen“) liefert darüber hinaus<br />
ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration. Es liefert<br />
gemeinsame Kriterien für die Zulassung von Wirtschaftsmigranten und<br />
gemeinsame Kriterien, die dem Ziel dienen, den Verwaltungsaufwand für<br />
die EU-Mitgliedstaaten rund um legale und illegale Migration sowie für<br />
Drittstaaten so gering wie möglich zu halten. Insbesondere ist es Ziel des<br />
sog. Grünbuchs, Diskussionen rund um das Thema vertiefter in Gang zu<br />
bringen.<br />
Seit dem Vertrag von Amsterdam 19 verfügt die Europäische Union über<br />
die erforderliche Rechtsgrundlage, um Massnahmen in bestimmten<br />
Bereichen der Einwanderungspolitik beschliessen zu können. Dessen<br />
ungeachtet liegt das Recht zur Festsetzung von Zahlen für die Zulassung<br />
von Drittstaatangehörigen bei den Mitgliedstaaten. Eine Präferenz für den<br />
einheimischen Arbeitsmarkt wird klar formuliert, was bedeutet, dass vor<br />
der Zulassung eines Arbeitnehmers aus einem Drittstaat den<br />
Mitgliedstaaten gegenüber nachgewiesen werden muss, dass die<br />
betreffende Stelle nicht mit einer einheimischen Arbeitskraft besetzt<br />
werden kann, wobei für bestimmte Kategorien (z.B. Forscher) Ausnahmen<br />
gemacht werden. Daueraufenthaltsberechtigte haben seit 2006 die<br />
Möglichkeit, sich in einen zweiten Mitgliedstaat zu begeben und sich dort<br />
zum Studium, zur Arbeit oder zu anderen Zwecken niederzulassen. Auch<br />
flankierende Massnahmen zur Integration, Rückkehr und Zusammenarbeit<br />
mit Drittländern sind in der EU klar geregelt. Bereits gemäss den<br />
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom Oktober<br />
1999 hat die EU mit der Konzeption und Umsetzung einer umfassenden<br />
Einwanderungspolitik begonnen. Die EU regelt mit vier Richtlinien die<br />
Einreise- und Aufenthaltsbedingungen für folgende Gruppen von<br />
Erwerbstätigen:<br />
19 Siehe Link: http://www.europarl.europa.eu/topics/treaty/pdf/amst-de.pdf<br />
46
• Hoch qualifizierte Arbeitnehmer<br />
• Saisonarbeiter<br />
• Innerbetrieblich versetzte Arbeitnehmer<br />
• Bezahlte Auszubildende<br />
Darüber hinaus regelt 20 die Europäische Union<br />
• die Zusammenarbeit mit Drittländern<br />
• die Sicherung der Grenzen<br />
• eine integrierte Verwaltung der Aussengrenzen<br />
• sichere Reise- und Identitätspapiere<br />
• die Bekämpfung von Menschenhandel<br />
• den Status von illegal anwesenden Drittstaatenangehörigen<br />
• und bekämpft gemeinsam die illegale Beschäftigung<br />
• und formuliert eine gemeinsame Rückführungspolitik<br />
Seit den siebziger Jahren und dem Auftreten von Wirtschaftskrisen als<br />
zyklisches Phänomen, haben die Europäischen Staaten eine teilweise<br />
restriktivere Einwanderungspolitik entwickelt. Der verbesserte Zugang zu<br />
Information, die Entwicklung der Kommunikationsmöglichkeiten und des<br />
Verkehrs auf langen Strecken, die Zunahme von Schlepperbanden, die<br />
wachsende Mobilität im Bereich der Arbeit und die gesteigerten<br />
Forderungen der Wirtschaft stellen Aspekte der Globalisierung dar, welche<br />
die Migration auch in der EU fördern. Die weltweite Verarmung in<br />
Entwicklungsländern verstärkt insbesondere die unfreiwillige Migration,<br />
welche durch humanitäre Krisen und interne Konflikte erzeugt wird. Davon<br />
ist die EU insbesondere an ihren Aussengrenzen stark betroffen.<br />
20 Quelle:<br />
http://europa.eu/legislation_summarise/justice_freedom_security/free_movement, 2009<br />
47
2. 2. Der globale Rahmen der Sicherheit<br />
Generische Elemente<br />
Gemäss Joseph S. Nye ist der Begriff Sicherheit heute zum sozialen<br />
Wertesymbol geworden 21 . Dabei ist Sicherheit nicht als eine absolute,<br />
sondern als relative Grösse zu verstehen und enthält stark subjektive<br />
Komponenten. Gefahrenlosigkeit darf als allen semantischen<br />
Bedeutungen (des Wortes Sicherheit) unterliegendes gemeinsames<br />
Sinnelement angesehen werden 22 . Unter Gefahr versteht man<br />
demgegenüber allgemein die Möglichkeit des Eintritts eines als negativ<br />
bewerteten Ereignisses. Sicherheitspolitik ist ein dynamischer Prozess<br />
und bedarf ständiger individueller und kollektiver Evaluationsprozesse<br />
sowie der politischen Willensbildung über den Konsens nationaler<br />
23<br />
Werte .<br />
Seit Anfang der sechziger Jahre ist ein allmählicher Verlust des Primats<br />
militärischer Sicherheit feststellbar. Dieser Prozess begann mit einer<br />
Globalisierung und – nur wenig später – einer Mässigung des Ost-West-<br />
Konflikts. Die militärische Fast-Konfrontation in Kuba gilt als der<br />
entscheidende Wendepunkt in der Sicherheitspolitik.<br />
Rüstungsbeschränkungsabkommen und wirtschaftliche Komponenten<br />
(Öl,<br />
Chemie und nukleare Energie) gewannen an Bedeutung.<br />
Die Kontrahenten lernten die wechselseitige Abhängigkeit ihrer Sicherheit<br />
verstehen und trafen sich zu Rüstungskontrollverhandlungen: als Folge<br />
der militärischen Interdependenzen verlagerte sich der Schwerpunkt der<br />
Abschreckung auf die begrenzt und flexibel einsetzbaren Optionen: und<br />
21 Quelle: Joseph S. Nye, Kollektive wirtschaftliche Sicherheit, EA, BD. 29 (1974), 650ff.<br />
22 Quelle: Kaufmann, Franz-Xaver: In Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches<br />
Problem: Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften.<br />
2.umgearb. Aufl. Stuttgart 1973, S. 151f.<br />
23 Quelle: Prof. Dr. Andreas Wenger, CSS Analysen<br />
48
schliesslich hat sich durch früher nicht gekannte wirtschaftliche und<br />
soziale Modalitäten der Sicherheitsgefährdung die wahrgenommene<br />
Bedrohung von der militärischen auf die sozioökonomische Ebene<br />
verlagert 24 ’ 25 . Die Ereignisse rund um den und nach dem zweiten<br />
Weltkrieg waren noch geprägt von Abschreckungsverteidigung, nuklearen<br />
Waffenstrategien und der Rolle der Verbündeten. Erst der Strategiewandel<br />
1989/1991 leitete den effektiven Prozess der Globalisierung ein, durch<br />
den Fall der Mauer in Berlin und die Informationsrevolution.<br />
Die sicherheitspolitische<br />
Ordnung des Kalten Krieges wurde geprägt<br />
von<br />
• Bipolarität (1947)<br />
• der Teilung Deutschlands (1949)<br />
• dem System der Allianzen<br />
( NATO 1949/WTO 1955)<br />
• nukleares Patt (1961)<br />
• dem Status Quo des „langen Friedens“ (1962/63 Kuba Krise)<br />
• Wirtschaftlichem, militärischem<br />
und ideologischem Wettbewerb<br />
• globalem Antagonismus<br />
• Stellvertreterkriege (proxy wars)<br />
und andere indirekte Konflikte<br />
entlang der Ost/West-Trennlinie<br />
• Sicherheitssubjekt = Staat; Verteidigung<br />
militärisch (Armee); Bedrohung = von aussen<br />
= reaktiv, national,<br />
Wichtigste Trends seit der sogenannten Wende der 90er Jahren<br />
24 Quelle: Kaufmann, Franz-Xaver: In Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches<br />
Problem: Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften.<br />
2. umgearb. Aufl. Stuttgart 1973, S. 151f.<br />
25 Quelle: Prof. Dr. Andreas Wenger, CSS Analysen<br />
49
• Ausweitung der Gefahren und Risiken wie Terrorismus, Menschen-<br />
und Drogenhandel Migrations- und Flüchtlingsströme und<br />
verletzliche Infrastrukturen<br />
• Transnationale Probleme<br />
• Neue Risikotypen, globale Gefahren durch nichtstaatliche<br />
Akteure<br />
• Neue geografische Nähe (Erreichbarkeit) und dadurch<br />
Gefahrenurheber<br />
• Innerstaatliche Konflikte und regionale Destabilisierung<br />
• Asymmetrische Bedrohungslage und Technologielücke<br />
• Grösserer europäischer Sicherheitsraum<br />
• Internationales Krisenmanagement<br />
• Ethnische Konflikte im Balkan, Zentralasien und Kaukasus<br />
• Aufgrund innerstaatlicher Konflikte<br />
90 % zivile Opfer<br />
• Komplexe Interdependenzen<br />
erweiterte<br />
• Erfolgreiche Umwandlungsprozesse der Osteuropäischen Länder<br />
• Marginalisierungsprozesse in Afrika<br />
• Reformstau im Mittleren Osten<br />
• Kriegsgefahr der grossen Kräfte unwahrscheinlicher<br />
• Regionaler Wettbewerb (Indien - Pakistan, Iran - Saudi Arabien)<br />
• Ungleiche Kräfteverhältnisse (nicht mehr geografisch<br />
gebunden)<br />
• Globalisierung<br />
(Souveränitätsverlust)<br />
• Vergrösserung wirtschaftlicher Unterschiede<br />
• Extremismus<br />
• Proliferation<br />
vernetzt Lokales mit Globalem<br />
• Privatisierung der<br />
Gewalt durch sogenannte Warlords, korrupte und<br />
terroristische Netzwerke, Failing States<br />
• Wasserknappheit, Ressourcenkonflikte und Klimawandel<br />
• Islamisierung<br />
• Umfassende Sicherheitsstrategien<br />
(comprehensive approach)<br />
50
• Neue Formen der Kooperation (durchlässige Allianzen/Sektor-<br />
übergreifend)<br />
• Präventionskultur nimmt zu<br />
• Verstärkter Einsatz der Friedensförderung/Friedensdurchsetzung<br />
normative Grundlagen, institutionelle Eigenheiten<br />
und historische<br />
Rahmenbedingungen und Erfahrungen sowie finanzielle<br />
Rahmenbedingungen divergieren von Land<br />
zu Land und beeinflussen den<br />
Strategiebildungsprozess der Sicherheitspolitik.<br />
Ein wachsendes Sicherheitsbedürfnis<br />
wird unter anderem beeinflusst<br />
durch:<br />
• Verlust gemeinsamer<br />
Normen<br />
•<br />
sowie für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und<br />
freie Märkte<br />
• Kombination militärischer und ziviler Instrumente<br />
Bestimmungsgrössen nationaler Sicherheit sind heute gemäss Joseph S.<br />
Nye sowohl ein Mindestmass an wirtschaftlichem Wohlergehen wie auch<br />
eine gewisse politische und soziale Autonomie. Politische Prozesse,<br />
• die Schwäche der liberalen Staaten<br />
Komplexität der Gesellschaften und der Arbeit<br />
• allgemeine Beschleunigung des Wachstums<br />
• globale Risiken<br />
Am Beispiel des Klimawandels kann exemplarisch die globale Form der<br />
Risiken dokumentiert werden: Ein neueres und in der Bevölkerung noch<br />
wenig bekanntes Phänomen stellt heute die unfreiwillige Migration durch<br />
den Klimawandel dar 26 ’ 27 . Gemäss Expertenberichten erhöht der<br />
26<br />
Quelle: Dr. Christian Catrina, stellvertretender Chef der Direktion für Sicherheitspolitik<br />
in der Schweiz, VBS<br />
27<br />
„Barrieren überwinden: Migration und menschliche Entwicklung,<br />
UNDP 2009<br />
51
Klimawandel vor allem die Gefahren von Naturkatastrophen 28 . Dazu<br />
gehören schwere Stürme genauso wie Überschwemmungen, Erdrutsche<br />
als Folge ungewöhnlicher Durchnässung des Erdreichs, ebenso wie<br />
Dürre, Waldbrände und Perioden extremer Kälte oder Hitze. Laut<br />
Experten könnten der Klimawandel und seine Folgen eine Rolle bei der<br />
Verschärfung internationaler Konflikte spielen. Die Ressourcenknappheit<br />
in der Region südlich des Mittelmeers wird sich noch akzentuieren.<br />
Es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen Klimawandel und<br />
bewaffneten Konflikten. Dadurch werden Afrika, der Nahe Osten oder<br />
auch die karibischen Inseln zu so genannten „hot spots“. Diese Debatte ist<br />
nicht das Monopol von Sicherheitsexperten, auch die Vereinten Nationen<br />
und die OSZE nehmen aktiv daran teil. In Somalia befanden sich im<br />
Sommer 2010 über zwei Millionen Menschen auf der Flucht. Das hat mit<br />
der Situation der sogenannten „failing states“ genauso wie mit dem<br />
Klimawandel zu tun. Alles deutet darauf hin, dass die zunehmende<br />
Wasserknappheit bestehende zwischenstaatliche Spannungen verschärft.<br />
Die jüngsten Differenzen zwischen Ägypten und dem Sudan auf der einen<br />
und Äthiopien auf der anderen Seite scheinen darauf hinzudeuten. Die<br />
jüngsten Wettergeschehen in Pakistan (ca. 20 Millionen Menschen sind<br />
auf der Flucht) und in China (geschätzte 12 Millionen Menschen verloren<br />
ihr Obdach) wie auch Wald- und Torfbrände rund um Moskau im August<br />
2010 (siehe NZZ vom 17.8.2010) deuten darauf hin, dass<br />
Umweltmigration ernster als je zu nehmen ist und bei der Bewältigung<br />
auch sicherheitspolitische Fragen von grosser Bedeutung sind. Neben<br />
Überschwemmungen und Bränden können auch Erdbeben,<br />
wie in Haiti,<br />
oder auch Dürre Migrationsursachen sein, so sind z.B. im Norden Syriens<br />
in den letzten Jahren mehrere Tausend Personen vor der Dürre<br />
geflüchtet, z.T. in die syrischen Städte, z.T. ins Ausland.<br />
28 Think Tank New Delhi, NZZ 22. Juli 2010, Vicken Cheterian<br />
52
Klimaveränderungen werden heute als so genannte<br />
„Gefahrenmultiplikatoren“<br />
bezeichnet. Experten sprechen von sechs<br />
ökologischen Bedrohungsfeldern:<br />
1. Wasserknappheit<br />
2. Bodenerosion<br />
3. Waldzerstörung<br />
4. Klimaveränderung<br />
5. Anstieg des Meeresspiegels<br />
6. Umweltverschmutzung durch Giftmüll sowie Freisetzung<br />
radioaktiver Substanzen.<br />
Umweltbedingte Migration und entsprechende Migrationsströme werden<br />
mittelfristig zunehmen. Es wurden bereits einige Schätzungen der Anzahl<br />
der Menschen vorgestellt, die in Folge des Klimawandels gezwungen sein<br />
werden, ihre Heimat zu verlassen: sie reichen von 200 Millionen bis hin zu<br />
einer Milliarde 29 . Die Umweltveränderungen variieren nicht<br />
ausschliesslich, aber auch in Abhängigkeit des Reichtums eines Landes.<br />
Das Gleiche spielt auch innerhalb eines Landes eine Rolle. Es ist zu<br />
erwarten, dass der Verlust von Arbeitsplätzen wegen klimatisch bedingter<br />
Veränderungen (z.B. in der Landwirtschaft, mit Folgewirkungen auch auf<br />
die verarbeitende Industrie) der Migration Auftrieb geben wird. Das mag in<br />
vielen Fällen nicht der allein entscheidende Grund sein, so verschiedene<br />
Referate von Dr. Ch. Catrina, jedoch könnte auch die Schweiz mit<br />
ansteigenden Zahlen von Schutzsuchenden konfrontiert werden, was<br />
zunächst Betreuungsprobleme aufwerfen dürfte. Die sicherheitspolitischen<br />
Instrumente Aussenpolitik, Armee und Bevölkerungsschutz wären auch in<br />
der Schweiz betroffen. Die Schweiz und ihre Einwohner werden aller<br />
Voraussicht nach künftig aufgrund der Klimamigranten als Arbeitnehmer,<br />
29 „Barrieren überwinden: Migration und menschliche Entwicklung“, UNDP 2009, S.56<br />
53
Touristen, als Asylland, Entwicklungshelfer und Friedensförderer bei<br />
humanitären Aktionen betroffen sein.<br />
Die Autorin bezieht sich im Folgenden auch auf Aussagen eines<br />
bekannten Think Tanks in Indien, New Delhi. Die dort tätigen Experten<br />
bezeichneten als grösste Bedrohung ihres Landes nicht etwa die atomare<br />
Gefahr durch Pakistan, sondern den Klimawandel, der den Anstieg des<br />
Meeresspiegels verursacht und mit entsprechenden Überschwemmungen<br />
„Hunderte von Millionen Flüchtlinge“ nach Indien bringt. Den Klimawandel<br />
als Sicherheitsrisiko zu betrachten, birgt jedoch die Gefahr, dass Staaten<br />
sich der Suche nach militärischen Lösungen zuwenden (beispielsweise im<br />
Hinblick auf potenzielle Flüchtlingswellen), obwohl das Problem<br />
30<br />
ökologischer, sozialer und ökonomischer Natur ist .<br />
Wirksamste Sicherheits- und Migrationspolitik in diesem<br />
Zusammenhang ist aus Expertensicht denn auch nicht die<br />
Orientierung an einer Minderung der Immigration, sondern der Abbau<br />
der Ursachen von notgedrungener und erzwungener Migration.<br />
2.2.1. Sicherheit international, am Beispiel der Grossmacht USA<br />
Die grosse nationale Sicherheitsstrategie der USA wird wie folgt<br />
definiert 31 ’ 32 : Gemäss Dr. Alan Gropman, ist „eine grosse<br />
Sicherheitsstrategie die Kunst und Wissenschaft, die Ziele der nationalen<br />
Sicherheit zu erreichen“ oder anders ausgedrückt „die grosse<br />
Sicherheitsstrategie ist ein konstanter Prozess, welcher sich wechselnden<br />
30<br />
siehe dazu auch Kapitel 2.2.3 „Sicherheitsrelevantes Risiko Flüchtlingsproblematik am<br />
Beispiel Subsahara-Afrika“<br />
31 Quelle: Alan Gropman, US National Defense University in Washington<br />
32<br />
Prof. Dr. Andreas Wenger CSS, Dr. Victor Mauer, CSS Analysen zur Sicherheitspolitik,<br />
CSS ETHZ<br />
54
Bedingungen und Umständen bezüglich diversen Bedrohungsszenarien<br />
in einem Umfeld von Chancen und Risiken anzupassen weiss, bzw.<br />
(gemäss Hart) „die<br />
Kunst, militärische Mittel einzusetzen, die einer<br />
Sicherheitsstrategie zur<br />
Umsetzung verhelfen“. Verschiedene Instrumente<br />
müssen dabei aufeinander abgestimmt und angewandt werden. Dazu<br />
zählen die USA harte und weiche Instrumente (hard and soft power<br />
instruments)<br />
• die Diplomatie<br />
• die Wirtschaft<br />
• die Information und Informationstechnologien<br />
• sowie militärische Instrumente.<br />
Der grosse Rahmen der Sicherheitsstrategie lässt sich schematisch wie<br />
nachstehend nach Dr. Alan Gropman darstellen:<br />
Enduring Principles nachhaltige Grundsätze<br />
National<br />
Interests and Objectives nationale Interessen und Ziele<br />
Domestic Environment nationales Umfeld<br />
55
International Environment internationales Umfeld<br />
Decision-making Process Entscheidungsprozess<br />
Resources Mittel<br />
Resources Allocation Mittelzuweisung; Mittelverwendung<br />
Elements of National Power Elemente der nationalen Macht<br />
Abbildung 2: Der grosse Rahmen der Sicherheitsstrategie<br />
A Framework for Grand Strategy<br />
Die nachhaltigen Grundsätze, „Enduring<br />
Principles“, umfassen die in der<br />
Verfassung verankerten Grundsätze wie:<br />
• Alle Menschen wurden gleichwertig<br />
erschaffen<br />
• Alle Menschen haben die gleichen Grundrechte, zu diesen zählen<br />
1. Die repräsentative Demokratie<br />
2. Die Gewaltentrennung<br />
(checks and balances)<br />
3. Die Religionsfreiheit<br />
Die nationalen Interessen und Ziele, „National Interests and<br />
Objectives“, werden dabei massgebend vom nationalen und<br />
internationalen Umfeld, „Domestic and International Environment“<br />
beeinflusst.<br />
„All politics is local“ (Tip O’Neil) oder anders ausgedrückt, die Politik wird<br />
in erster Linie vom nationalen Umfeld bestimmt.<br />
Stichworte hierzu sind:<br />
• Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit<br />
• National dominierende politische<br />
Parteien<br />
• Lokal dominierende politische Parteien<br />
• Einfluss des internationalen Handels<br />
• Ethnische, Rassen- und religiöse Bande<br />
• Migration, insbesondere illegale Einwanderung<br />
• Sämtliche freiwilligen Kräfte<br />
Zu den nationalen Zielen der USA (Sicherheit) zählen:<br />
56
• Das Überleben der USA als freies, unabhängiges Land und dessen<br />
Grundrechte sowie die Menschen zu schützen,<br />
• das Wirtschaftswachstum zu sichern,<br />
• eine freie und sichere Welt gegen grosse Bedrohungen zu<br />
verteidigen,<br />
• das Wachstum menschlicher Freiheit, der Demokratie und freie<br />
Märkte in der Welt zu fördern<br />
• sowie gesunde und<br />
kräftige Allianzen und Partnerschaften sicher zu<br />
stellen mit all jenen Kräften, die gemeinsame Besorgnis mit den<br />
USA teilen.<br />
Das internationale Umfeld beeinflusst die Interessen und<br />
Sicherheitsziele der USA ebenfalls massgebend. Stichworte in diesem<br />
Zusammenhang sind:<br />
• Regionale Spannungen<br />
• Geopolitische Lage<br />
• Allianzen und<br />
Partnerschaften<br />
• Schwerwiegende Feindseligkeiten<br />
in Schlüsselregionen<br />
• Schwerwiegender Antipathien in Schlüsselregionen<br />
• Internationaler Handel<br />
• Globaler und regionaler Terrorismus<br />
• Krankheit<br />
• Weit verbreiteter Armut<br />
• Wachsende unbefriedigte Erwartungen<br />
Der Entscheidungsprozess der USA zur Verteidigung nationaler Sicherheit<br />
wird durch die Möglichkeit<br />
zur Bereitstellung der Verteidigungsmittel<br />
geprägt.<br />
Dazu zählen jedoch nicht ausschliesslich militärische, sondern auch<br />
die nachstehenden Elemente:<br />
57
• Geografie<br />
• Natürliche Ressourcen<br />
• Bevölkerung, militärische Bereitschaft<br />
• Kapazität der Industrie<br />
• Nationaler Charakter<br />
• Nationale Moral<br />
• Qualität der Regierung<br />
• Qualität der Diplomatie<br />
• Nationaler Wille<br />
Tragende Säule der US Sicherheitspolitik ist die Abschreckung seit<br />
1945 und der klare Wille, Macht nicht nur anzudrohen, sondern auch<br />
auszuüben. Eine weitere sicherheitspolitische Konstante ist die<br />
globale Allianzenbildung. Die USA sind viele Partnerschaften<br />
eingegangen: NATO (North Atlantic Treaty Organization, ANZUS<br />
(Australien, Neuseeland, USA), BILATERALE (Philippinen, Japan, Korea,<br />
Thailand etc.), sichtbare Bündnisse (Israel, Saudi-Arabien, Kuwait,<br />
Vereinte Arabische Emirate etc.). Zudem leben die USA den globalen<br />
Krieg gegen Terrorismus und den Kampf gegen radikalen<br />
Fundamentalismus. Sie haben in diesem Zusammenhang den<br />
Geheimdienst massiv gestärkt.<br />
Die vier eingangs erwähnten Tools/Instrumente zur Erhaltung<br />
nationaler Macht (Diplomatie, Ökonomie, Militär und Information) der<br />
USA zur Verteidigung ihrer sicherheitspolitischen Ziele lassen sich wie<br />
vorgehend erwähnt in „hard und soft power“-Instrumente unterteilen.<br />
In diesem Zusammenhang ist „wahre Macht“ als so genannte „hard<br />
power“ zu verstehen, als die direkte Möglichkeit zur territorialen Kontrolle,<br />
militärische Macht, Ressourcen-Überlegenheit und die Macht<br />
Verbindungen und Kohärenz herzustellen. Demgegenüber zählen die<br />
58
Ökonomie, Information, Technologie und die Fähigkeit Konsens zu<br />
bilden als „soft power“-Instrumente.<br />
Je grösser internationale Abhängigkeiten werden, desto mehr Gewicht<br />
wird den sogenannten soft power Instrumenten zuteil sowie der Forderung<br />
nach Leadership, die zu einer grossen Sicherheitsstrategie zu führen hat.<br />
Der wachsende Bedarf an nachhaltigen Konfliktbewältigungen<br />
begünstigt die Stärkung der soft power Instrumente und der Kooperation.<br />
Der emotionalen Intelligenz, interkulturellem Bewusstsein, Biss- und<br />
Strategie- fokussiertem, umfassendem Denken und Handeln messen die<br />
US-Sicherheitsexperten heute grösseres Gewicht bei als auch schon –<br />
man hat aus den strategischen Fehlern der Vergangenheit gelernt<br />
(Stichworte hierzu sind der Krieg im Irak und die schwierige, langwierige<br />
Operation in Afghanistan).<br />
Die USA sind gemäss Expertenaussagen heute zudem mehr besorgt rund<br />
um Herausforderungen der Kräfte Russland, China, Pakistan etc., denn<br />
um transatlantische Bündnisse einer NATO, welche in schwindendem<br />
Masse gleiche Werte wie die USA vertritt und keine kohärente Meinung<br />
zur NATO-Strategie unter den Mitgliedern zu formulieren vermag. Anders<br />
als noch vor 10 Jahren ist die uneingeschränkte Führungsrolle der USA<br />
nicht mehr unumstritten. Der Wegfall der sowjetischen Bedrohung und die<br />
damit einhergehende Erweiterung des Handlungsspielraumes der<br />
Mitgliedstaaten der NATO sowie das Ringen zwischen amerikanischer<br />
Hegemonie und westeuropäischer Selbstbehauptung haben zu einer<br />
Verschiebung des Gravitationszentrums innerhalb des Bündnisses<br />
geführt. Während des Kalten Krieges lies sich die zelebrierte<br />
Sonderstellung in einer weitgehend statischen Allianz, die den Europäern<br />
aus strukturellen Gründen nur begrenzten Handlungsspielraum erlaubte,<br />
noch rechtfertigen. Als sich aber das Bündnis nach dem Zerfall der<br />
Sowjetunion als zentrale sicherheitspolitische Institution im erweiterten<br />
59
euro-atlantischen Raum etablierte, wurde der politische und militärische<br />
Preis des Abseitsstehens zunehmend unvertretbar. Die hervortretende<br />
Divergenz nationaler strategischer Kulturen wird immer deutlicher.<br />
Relativ neu sind die USA auch zunehmend beschäftigt mit der so<br />
genannten „Homeland Security“ (innere Sicherheit). Dabei spielt die<br />
illegale Migration (Mexico) eine immer dramatischere Rolle. Aufgrund der<br />
wirtschaftlichen Krise, einem wachsenden Verschuldungsgrad,<br />
Arbeitslosigkeit, Gesundheits- und Sozialkosten, wird auch in den USA<br />
das Verteidigungsbudget<br />
gekürzt.<br />
Entscheidungsträger sind zusehends<br />
auch in den USA gezwungen, in<br />
neuen Szenarien zu denken. Casimir Yost zeigt in seinem<br />
„methodologischen Fadenkreuz“ die Dimensionen „Wettbewerb“ versus<br />
Kooperation“, bzw. fragmentierte internationale Systeme versus<br />
Wachstum und Aufkommen nichtstaatlicher Akteure. Die treibenden Kräfte<br />
dabei sind<br />
• Wachsender Energiebedarf<br />
• Globale Sicherheitsherausforderungen und neue globale Risiken<br />
und die damit einhergehende<br />
• Notwendigkeit zum internationalen Mittragen der<br />
sharing“).<br />
Lasten („burden<br />
Die Wahrnehmung der USA als Akteur in der Rolle des globalen<br />
Sicherheitsgaranten wird dabei zunehmend, insbesondere durch die EU-<br />
Staaten hinterfragt (siehe dazu Kapitel 2.2.2.).<br />
2.2.2. Internationale Sicherheit, am Beispiel der EU 33<br />
33<br />
Quelle: CSS Analysen ETHZ und National University of Defense in Washington sowie<br />
Befragungen<br />
der Parlamentarier des Europarats in Strassburg, insbesondere<br />
60
Im Gegensatz zur im Kapitel 2.2.1. erörterten Sicherheitsstrategie der<br />
USA , welche die Hegemonie, den ungebrochenen Führungsanspruch<br />
der Grossmacht, nach wie vor dokumentiert, sieht sich Europa und<br />
insbesondere die EU als Sicherheitssystem einem vollends veränderten<br />
Umfeld gegenübergestellt. Der europäische Einigungsprozess hat<br />
massgebend zu einem neuen Selbstbewusstsein in diesem<br />
Zusammenhang beigetragen. Die Europäische Sicherheits- und<br />
Verteidigungspolitik hat zudem bemerkenswerte Fortschritte erzielt.<br />
Der bedeutsamste Wandel europäischer Sicherheit betrifft die<br />
Überwindung des Krieges als Mittel innereuropäischer<br />
Konfliktaustragung. Die Einigung Europas nach 1945 war eine Reaktion<br />
auf das Versagen des traditionellen Sicherheitssystems des europäischen<br />
Mächtegleichgewichts. Die EU zählt heute 27 Mitgliedstaaten mit<br />
insgesamt einer halben Milliarde Einwohner.<br />
Sie ist der weltweit grösste<br />
Binnenmarkt und eine globale Handelsmacht. Sie hat Europa Wohlstand<br />
und Frieden gebracht und beansprucht eine weltpolitische<br />
Mitverantwortung und ist mit ihrem umfassenden Ansatz der<br />
Friedensförderung zu einem wichtigen Akteur des internationalen<br />
Krisenmanagements geworden.<br />
Sicherheit durch Integration<br />
Die unter dem militärischen Schutzschirm der NATO ermöglichte<br />
wirtschaftliche Integration der EU ist zu einem zentralen<br />
sicherheitspolitischen Paradigma Europas geworden. Entscheidend für<br />
den Erfolg der Strategie „Sicherheit durch Integration“ war die<br />
fortlaufende Ausweitung des Integrationsprozesses auf weitere<br />
europäische Staaten. Die EU hat zudem die sich nach dem Fall der<br />
Justizministerin Leutheusern Schnarrenberger, Deutschland, vormals Mitglied der<br />
Liberalen Fraktion des Europarats<br />
61
Berliner Mauer eröffnende strategische Chance einer Projektion ihres<br />
Sicherheitsmodells auf Gesamteuropa konsequent genutzt.<br />
Die einst weitgehend statische Allianz der NATO wird durch eine<br />
gewisse Europäisierung des Bündnisses in Frage gestellt, wenngleich<br />
regionale Unterschiede, Komplexität und die Divergenz strategischer<br />
europäischer Kulturen und geschichtliche Vergangenheiten grosse<br />
Herausforderungen für eine gemeinsame Sicherheitsstrategie darstellen<br />
und die Bündnispartner zu überfordern und die Kompetenzregelungen der<br />
NATO zu übersteigen scheinen. Nichts desto trotz ist der europäische<br />
Wille zur Selbstbehauptung und zu neuen Verteidigungsansätzen<br />
unverkennbar.<br />
Wie eine ergänzende Partnerschaft zwischen der NATO und der EU in<br />
der Zukunft konkret ausgestaltet werden kann, bleibt vorerst noch<br />
umstritten. Denn, so sehr der amtierende Präsident der USA, Barak<br />
Obama, den Bruch mit der Vorgängerregierung<br />
betonte, so sehr stellte er<br />
sich mit seinem Appell, wonach ein Wandel der amerikanischen Position<br />
mit einer Veränderung der europäischen Haltung einhergehen müsse, in<br />
die Tradition aller US-Präsidenten der Nachkriegsjahre. Der<br />
Vertragsmultilateralismus der USA wird zwar nicht grundsätzlich in Frage<br />
gestellt, hat aber wie der Fall Afghanistan verdeutlicht, keinen Vorrang<br />
mehr, wenn er den eigenen Handlungsspielraum übermässig einschränkt<br />
und keinen markanten Mehrwert im Hinblick auf Legitimität, europäische<br />
Beiträge und europäische Selbstverpflichtung schafft.<br />
Zivil-militärischer Gesamtansatz<br />
Die EU Sicherheitsstrategie setzt - im Gegensatz zu den USA - mit seinen<br />
unterschiedlichen historischen Erfahrungen stark auf den<br />
Multilateralismus, Sicherheit dank Integration, zivile Instrumente und<br />
internationales Recht. Die so genannte „soft power“, Wirtschaftskraft,<br />
Diplomatie und Information haben Priorität. Die EU sieht sich denn<br />
auch<br />
62
mehr als „regionalen Architekten der Sicherheit“ denn als ausführende<br />
Macht. Militärische Aktionen werden nur dann eingesetzt, wenn<br />
diplomatische Instrumente versagen. Der Fokus liegt beim so genannten<br />
zivil-militärischen Gesamtansatz (comprehensive civil-military<br />
approach). Soziale Kohäsion und<br />
Integration von Immigranten sind hierzu<br />
wichtige Stichworte. Die Bedingungen für gutes Gelingen einer<br />
„comprehensive approach strategy“ sind auf politisch-strategischem sowie<br />
auf operationellem und taktischem Niveau:<br />
• Einbindung der amtierenden Regierungen in Krisenherden<br />
• Gesamt-(Regierungs-)Ansatz:<br />
Prävention, Ermittlung und<br />
Erkennung, Schutz, Management-Verbesserung- und Erholung<br />
• Gemeinsame Konzeptentwicklung<br />
• Zivile und militärische Interoperabilität, inkl. gemeinsames Training<br />
• Klare Definition der Ziele<br />
• Klare und gezielte Verteilung der möglichen Mittel<br />
• Gemeinsames operatives Vorgehen aller Beteiligten<br />
(Friedensförderung und Friedenssicherung)<br />
• Gemeinsame nationale und internationale Sicht der Aufgaben<br />
Innere Sicherheit 34<br />
Seit die Themen Justiz und Inneres mit dem Vertrag von Maastricht 1993<br />
zu einem EU-Kooperationsbereich wurden, hat sich die Zusammenarbeit<br />
in der inneren Sicherheit dynamisch entwickelt. So wurden mehrere<br />
Informationssysteme zum raschen Datenaustausch konzipiert. Mit dem<br />
Schengen-Informationssystem besitzt die EU eine elektronische<br />
Fahndungsdatei, die sich vor allem im Kampf gegen grenzüberschreitende<br />
Verbrechen bewährt hat. Daneben existieren europaweit ein<br />
Fingerabdruckidentifizierungssystem (Eurodac), ein Visums-Informations-<br />
34 siehe dazu auch die Ausführungen des Kapitels 3.2.5. Sicherheitspolitischer Faktor<br />
Verträge mit der EU und Gesetzgebung<br />
63
System (VIS) und ein Zollinformationssystem (ZIS). Zudem ist<br />
hinzuweisen auf die 2005 eingesetzte Zusammenarbeit an den<br />
Aussengrenzen (Frontex) mit Sitz in Warschau, die u. a. ein<br />
Küstenpatrouillennetz für das Mittelmeer koordiniert. Zudem wurde<br />
Europol (europäische Polizeibehörde) und eine analoge Justizbehörde<br />
(Eurojustiz) eingerichtet, um die Strafverfolgung in Bereichen wie<br />
Drogenhandel, Geldwäscherei, Schleuserkriminalität und Terrorismus zu<br />
koordinieren. Die innere Sicherheit ist eine zunehmend wichtige Säule der<br />
europäischen Einigung. Der diesbezügliche Wandel europäischer<br />
Sicherheit hat sich stark beschleunigt, seit 1998/1999 die Europäische<br />
Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) im Rahmen der<br />
gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) initiiert wurde.<br />
Ungeklärte Frage rund um die Grenzen Europas<br />
Bis heute unbeantwortet geblieben ist die Frage, wo Europas Grenzen<br />
tatsächlich liegen sollen. Innerhalb der EU ist eine Erweiterungsmüdigkeit<br />
unverkennbar. Dennoch stehen z.B. die Türkei und Kroatien in<br />
Beitrittsverhandlungen. Ohne eine europäische Perspektive dürfte der<br />
Westbalkan eine Zone der Instabilität bleiben. Viele Länder der EU<br />
stehen jedoch insbesondere einem Beitritt der Türkei äusserst skeptisch<br />
gegenüber. Themen rund um die muslimische Glaubensgemeinschaft<br />
bilden eine Debatte, deren Ausgang äusserst ungewiss ist. Viele fragen<br />
sich nicht zu Unrecht, ob die muslimische Diaspora sich an westlich<br />
aufgeklärte, säkulare Werte halten kann und will und ob eine Integration<br />
überhaupt gelinge könnte. Interessant in diesem Zusammenhang ist die<br />
geopolitische, strategische Ansicht der meisten Sicherheitsexperten der<br />
USA, welche geradezu auf einen EU-Beitritt der Türkei drängen 35 .<br />
Ein Beitritt der Türkei zur EU würde 70 Millionen Menschen integrieren,<br />
die heute keinem effektiven Sozialsystem angehören und deren religiöser<br />
35 Quelle: National University of Defense in Washington<br />
64
Hintergrund, der Islam, bereits heute zu populistischen und gefährlichen<br />
Auseinandersetzungen innerhalb der politischen EU-Landschaften führt.<br />
Experten, selbst muslimisch Gläubige<br />
(unter ihnen Prof. Bassam Tibi,<br />
Universität Göttingen), warnen vor diesem Schritt. Sie fordern<br />
insbesondere einen „europäisierten, liberalen, aufgeklärten Islam“. Die<br />
Türkei<br />
dürfte der EU die Grenzen der Möglichkeiten der Integration in aller<br />
Härte vor Augen führen und noch grosse Herausforderungen bereiten.<br />
Nicht nur aus Sicht der Autorin dieser Master-Thesis könnte ein Türkei-<br />
Beitritt zu unüberwindbaren Differenzen innerhalb der europäischen<br />
Gemeinschaft und gar zum Bruch der EU führen.<br />
2.2.2.1. Zuwanderung in Zeiten des Terrors in den USA und in der EU<br />
im Vergleich 36<br />
Seit September 2011 und den zahlreichen anderen Attentaten<br />
islamistischer Terroristen gibt es weltweit eine neue Debatte über die<br />
Frage, ob angesichts<br />
der neuen Risiken und Gefahren die Prinzipien<br />
offener<br />
Gesellschaften aufrechterhalten werden können und inwieweit<br />
Migration nebst Chancen auch Verlust von kultureller Homogenität<br />
und<br />
Identität darstellt. Internationale<br />
Debatten über Migration, Integration und<br />
Sicherheit finden unterschiedlich statt. Die Frage und Bewertung der<br />
Zusammenhänge zwischen Migration und ihrem terroristischen<br />
Bedrohungspotenzial sowie die politischen Konsequenzen werden<br />
unterschiedlich gezogen. Exemplarische Beispiele hierfür liefern die USA<br />
und Europa.<br />
36 als Basis für diese Ausführungen verwendete die Autorin insbesondere Erkenntnisse<br />
und zitiert Dr. Steffen Angenendt, Forschungsinstitut der DGAP in Berlin, Leiter<br />
Programme internationale Migration sowie Belinda Cooper, World Policy Institute er New<br />
School in New York, Koordinatiorin Programm Citizenship and Security sowie das<br />
Bundesamt für Migration in Bern<br />
65
2.2.2.2. Unterschiedliche Wahrnehmung des Ereignisses<br />
und der Gefahren<br />
Gewisse religiöse Minderheiten in den EU-Staaten und auch in der<br />
Schweiz, z.B. die Muslime sind eher wenig akzeptiert. Die USA versteht<br />
sich als Einwanderungsland, welches auf die Integrationskraft ihres<br />
Gesellschaftsmodells vertraut. Die Europäer verstehen sich hingegen<br />
immer noch als ethnische Nationalstaaten und bekunden als säkulare<br />
Gesellschaften Mühe mit dem Wiederauftauchen des Religiösen, gerade<br />
in muslimischen Minderheitskreisen. Europa und auch die Schweiz<br />
befürchtet zudem seine Aufnahmekapazität zu überschreiten und<br />
diskutiert darüber, wie verbindlich menschen-, bürgerrechtliche und<br />
demokratische Normen im Kampf gegen Terrorismus sein müssen.<br />
Besonders konservative Kreise vertreten die Ansicht, dass die Balance<br />
zwischen offenen Grenzen und Sicherheit nicht gewährleistet sei.<br />
Stellvertreterdiskussionen, gerade auch in der Schweiz (Minarett-Initiative<br />
und Burka-Diskussionen) prägen den Alltag. Die Frage, inwieweit das<br />
Zugehörigkeitsgefühl zur Aufnahmegesellschaft die Anfälligkeit zur<br />
Kriminalität und extremistischen Versuchung schmälert, ist in der<br />
öffentlichen Meinung umstritten, wenngleich von Experten immer wieder<br />
bejaht. Gemäss Letzteren kann Sicherheit in diesem Zusammenhang nur<br />
dank enormer Integrationsbemühungen gelingen.<br />
Der grundlegende Unterschied zu den klassischen Einwanderungsländern<br />
(USA, Kanada, Australien und Neuseeland) ist, dass die meisten<br />
europäischen Staaten und auch die Schweiz sich nicht als<br />
Einwanderungsland verstehen und dauerhafte Zuwanderung nur in<br />
„Ausnahmefällen“ (humanitäre und wirtschaftliche Gründe) bewilligen<br />
wollen. Eine wirkliche Offenheit für Zuwanderung in dem Sinne, dass<br />
kulturelle und ethnische Heterogenität als etwas Positives empfunden<br />
würde, ist in Europa nicht und auch in der Schweiz<br />
nur sehr beschränkt<br />
vorhanden. In Europa werden muslimische Zuwanderer vor allem deshalb<br />
66
oft mit Argwohn betrachtet, weil ihnen (zu Recht oder Unrecht) unterstellt<br />
wird, sie hätten aufgrund eines anderen Wertesystems ein geringeres<br />
Interesse als andere Zuwanderer, sich zu integrieren. Diese Debatte gilt<br />
es, in unserem Land aber auch im restlichen Europa versachlichter als bis<br />
anhin, aber schonungslos zu führen, wollen wir lösungsorientiert handeln.<br />
400‘000 muslimisch Gläubige leben allein in der Schweiz-Grund genug,<br />
mehr als Minarette und Burka zu thematisieren.<br />
2.2.2.3. Auswirkungen auf die sicherheitspolitische Debatte<br />
In der sicherheitspolitischen Debatte wird ein direkter Zusammenhang der<br />
neuen Form des Terrorismus mit Migration gesehen. Insbesondere wird<br />
dabei betont, dass es sich beim neuen Terrorismus ausschliesslich um<br />
einen „islamischen“ Terrorismus handelt, der innerhalb eines<br />
unterstützenden Netzwerkes agiere. Nach Auffassung amerikanischer<br />
Sicherheitsexperten geht die Terroristen-Rekrutierungstheorie dahin, dass<br />
vor allem in Europa Islamisten versuchen könnten, potenzielle<br />
Gefolgsleute unter legal anwesenden, aber sozial randständigen<br />
Einwanderern<br />
der zweiten und dritten Zuwanderungsgeneration, bzw. zum<br />
Islam konvertierten Einheimischen anzuwerben. Interessant ist, dass<br />
Experten darauf hinweisen, dass die<br />
Mobilitätschancen, die offenen<br />
Grenzen und Gesellschaften dazu führen, dass selbst der Touristenstatus<br />
für das Ausüben von erfolgreichen Terrorakten reiche. Dennoch führt<br />
umfassendes Verständnis rund um die Debatte der Zuwanderung nicht am<br />
Konsens vorbei, dass Sicherheit mehr bedeutet, als „harte Sicherheit“,<br />
also mehr als etwa Grenzkontrollen.<br />
2.2.3. Sicherheitsrelevantes Risiko Flüchtlingsproblematik,<br />
am Bespiel Subsahara-Afrika<br />
Am Beispiel der Konflikte in Subsahara-Afrika kann aufgezeigt werden,<br />
was mit den Aussagen gemeint ist, dass Sicherheit nur vernetzt und in<br />
67
Kooperation mit anderen Staaten gewährleistet werden kann. Von 40<br />
Subsahara-Staaten befinden sich zurzeit rund 26 Staaten in bewaffneten<br />
Konflikten. Mindestens 3 Millionen Menschen befinden sich aufgrund<br />
dieser Tatsache auf der Flucht. Auch wenn nicht alle dieser Flüchtenden<br />
vor den Küsten der mediterranen Gewässer stranden, so sind es doch<br />
Tausende, die vor Lampedusa, Malta oder Gran Canaria ankommen und<br />
auf eine bessere Zukunft hoffen. Viele unter ihnen sind unbegleitete<br />
Minderjährige (sog. „unaccompanied minors“). Sie sind aufgrund von<br />
Unruhen und hoffnungslosen Situationen in ihren Ländern auf der Flucht<br />
vor Bürgerkriegen, ethnischen Konflikten und so genannten „failing<br />
states“. Sie kennen weder Rechtsstaatlichkeit noch Demokratie und haben<br />
sozusagen nichts zu verlieren. Viele gehören aber auch zum neuen<br />
Phänomen der Klimaflüchtlinge (Merke: der Begriff „Klimaflüchtlinge“ ist<br />
nicht konform mit der Flüchtlingsdefinition der Genfer<br />
Flüchtlingskonvention von 1951. Deshalb wird in dieser Master-Thesis<br />
konsequent der Begriff „Klimamigranten“ verwendet). Die Verknappung<br />
von Wasser hat gravierende Auswirkungen. In einigen afrikanischen<br />
Ländern dürften die Erträge bis zu 50% zurückgehen (Quelle CSS). Die<br />
Verknappung von Ressourcen wie Wasser und Landwirtschaftsflächen<br />
kann die menschliche Sicherheit unterminimieren und Unter- und<br />
Mangelernährung, Krankheiten und Armut und somit die Flüchtlingsströme<br />
fördern und begünstigen. Entscheidend dafür, ob solche Konflikte politisch<br />
gelöst werden können oder Destabilisierungsprozesse auslösen, sind die<br />
lokalen Ordnungs- und Steuerungskapazitäten, sprich Governance. Die<br />
Staaten rund um Subsahara-Afrika erfahren durch den Klimawandel eine<br />
Verschärfung bereits bestehender Konflikte. Klimawandel stellt heute<br />
unbestrittenermassen eine sicherheitspolitische Herausforderung dar und<br />
ein Potenzial an Gewaltkonflikten. Mit einem erhöhten<br />
Destabilisierungsprozess ist zu rechnen. Eine umfassende zivilmilitärische<br />
Stabilisierung auch weit entfernter Konfliktherde, wird in<br />
Zukunft mehr denn je auch im Interesse der inneren Sicherheit der<br />
68
Schweiz liegen. Die Friedensförderung in Konfliktregionen wird weiter an<br />
Bedeutung gewinnen. Der Ausbau der Friedensförderung wird vor dem<br />
Hintergrund der sicherheitspolitischen Implikationen unumgänglich sein.<br />
Der<br />
Klimawandel wird künftig in sicherheitspolitische Bedrohungs- und<br />
Lageanalysen mit einzubeziehen sein. Klimawandel und Energiesicherheit<br />
sind künftig stärker zu berücksichtigen. Auch wenn dank dem Abkommen<br />
Schengen / Dublin für die Schweiz in diesem Zusammenhang<br />
grosse<br />
Probleme gemildert werden, so ist nicht davon auszugehen, dass die<br />
mediterranen Staaten auf Dauer die Problemlösung rund um die<br />
Flüchtlingsströme aus Subsahara-Afrika im Alleingang zu bewältigen<br />
gewillt sein werden.<br />
2.3. Schnittstellen des globalen Rahmens Migration und Sicherheit<br />
2.3.1 Schnittstelle Migration und Sicherheit im Allgemeinen<br />
Die USA genauso wie die EU haben den direkten Zusammenhang<br />
zwischen Migrations- und Sicherheitspolitik längst erkannt und – wenn<br />
auch auf unterschiedliche Art – entsprechend reagiert. Die Unterschiede<br />
zeigen sich insbesondere in den Antworten auf das neue Risiko des<br />
Terrorismus. Während die USA Terrorismus als Krieg und Bedrohung<br />
von<br />
aussen interpretiert und entsprechend beantwortet, sieht Europa die<br />
Terrorfrage als schwerstes Verbrechen an. Beide versuchen jedoch direkt<br />
oder indirekt mit dem so genannten „comprehensive approach“<br />
Extremismus und Islamismus anzugehen. Während die USA mehr<br />
Friedenssicherung zu erzwingen sucht, begegnet die EU der drohenden<br />
Gefahr mit Friedensförderung. Beide haben sich jedoch der<br />
Demokratisierung und der Rechtsstaatlichkeit verschrieben. Dies zeigt u.a.<br />
ihre Politik in Afghanistan genauso wie ihre Einsätze in Kosovo.<br />
Viel besser dokumentieren die Herausforderungen rund um<br />
die innere<br />
Sicherheit jedoch die Schnittstellen Migrations- und Sicherheitspolitik<br />
betreffend Flüchtlingsströme und illegale Einwanderung: Was in Europa<br />
69
die bedrängende Flüchtlingsproblematik rund um Subsahara-Afrika<br />
dokumentiert oder auch die umstrittene Einwanderung aus der Türkei<br />
(bestes Beispiel hierfür ist Deutschland), bedeutet für die USA die illegale<br />
Einwanderung aus Südamerika, insbesondere aus Mexiko. Illegale<br />
Migration bedeutet für alle betroffenen Länder eine aktuelle und<br />
anhaltende Bedrohung und Erhöhung der Kriminalitätsrate.<br />
• Die USA hat eine eigentliche Mauer erstellt zwischen ihrem Land<br />
und Mexiko. Die EU hat ihre Aussengrenzen verstärkt kontrolliert<br />
und gesichert. Beide haben<br />
zum Ziel, irreguläre Migration zu<br />
bekämpfen in der Erkenntnis, dass Sicherheit und Migration<br />
untrennbar verflochten sind.<br />
• Die USA erwartet als klassisches Einwanderungsland volle<br />
Integration der Immigranten ab initio, demgegenüber haben die<br />
einzelnen EU-Länder verschiedene Integrationskonzepte. Die<br />
Erkenntnis, dass verschiedene und vernetzte Massnahmen nötig<br />
sind, teilen die USA mit der EU, leben jedoch sehr unterschiedliche<br />
Einwanderungskriterien.<br />
• Die Klimafolgen und deren Auswirkungen auf alle Staaten, die USA<br />
wie die EU-Länder und den Rest der Welt, führen die Evidenz vor<br />
Augen, dass globale Risiken des Klimawandels Einfluss auf die<br />
Migrationsströme haben und<br />
Massnahmen im Bereich der<br />
Sicherheit zur Bewältigung unumgänglich sind. Entwicklungs- und<br />
Schwellenländer versuchen ein Recht auf Entwicklungs-<br />
und<br />
Industrieaufholbedarf in dieser Frage geltend zu machen, die USA<br />
weigern sich nach wie vor, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen<br />
währenddem die EU über weite Strecken von einer eigentlichen<br />
politischen, grünen Welle unter Druck gesetzt wird. Weltweite<br />
politische Kohärenz jedenfalls lässt sich in der Klimafrage bis heute<br />
nur sehr bedingt erkennen.<br />
2.3.1.1. Schnittstelle Terrorismus, am Beispiel Deutschland<br />
70
Das Ereignis und seine Auswirkungen auf die Sicherheitspolitik<br />
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat der deutsche<br />
Gesetzgeber umfangreiche Gesetzesänderungen zur Bekämpfung des<br />
Terrorismus vorgenommen. Die Bundesregierung hat zudem mit ihrer in<br />
die internationale Staatengemeinschaft eingebundenen Anti-Terror-Politik<br />
auf die seit dem 11.9.2001 weltweit gravierend veränderte<br />
Bedrohungsdimension des internationalen Terrorismus mit einer Vielzahl<br />
politischer, diplomatischer, polizeilicher, nachrichtendienstlicher,<br />
justizieller, humanitärer, ökonomischer, finanzieller und militärischer<br />
Massnahmen zur Bekämpfung des internationalen<br />
Terrorismus reagiert.<br />
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nennt die Verwaltung des Bundestages<br />
rund 25 Massnahmen. Kernelemente dieser neuen<br />
„Sicherheitsarchitektur“ sind das Terrorismusbekämpfungsgesetz<br />
vom 11.<br />
Januar 2007 und das entsprechende Terrorismusergänzungsgesetz vom<br />
10. Januar 2007.<br />
Die Gesetze erweitern die Kompetenzen der Sicherheitsbehörden und<br />
enthalten u. a. Regelungen zur<br />
• Verbesserung des Datenaustausches,<br />
• Verhinderung der Einreise terroristischer Straftäter,<br />
• Einführung Identität- sichernder Massnahmen im Visumsverfahren,<br />
• Verbesserung der Grenzkontrollen,<br />
• Verstärkte Überprüfung von sicherheitsempfindlichen Tätigkeiten,<br />
• Aufnahme biometrischer Merkmale in Pässen und<br />
Personalausweisen,<br />
• Beschränkung extremistischer Ausländervereine,<br />
• Erweiterung der Rasterfahndung hinsichtlich der verwendeten Daten,<br />
• Beschränkung des Schusswaffengebrauchs in zivilen Luftfahrzeugen<br />
auf Polizeibeamte,<br />
71
• Sicherstellung der Energieversorgung<br />
• und zum gemeinsamen Dateiengesetz: Anti-Terror-Datei und<br />
Projektdateien<br />
Allerdings unterstreicht Deutschland, dem Spannungsfeld zwischen<br />
Freiheit und Sicherheit gerecht werden<br />
zu wollen, das unveräusserliche<br />
Bürgerrecht des Einzelnen nicht durch diese Befugniserweiterungen an<br />
der einen oder anderen Stelle<br />
in unangemessener Weise zu<br />
beeinträchtigen-auch wenn der Staat mit seinem Gewaltmonopol Frieden<br />
und Sicherheit zu gewährleisten habe.<br />
Hauptziele und Handlungsschwerpunkte der deutschen Sicherheits<br />
Politik seit dem 11. September 2001<br />
Folgende Hauptziele der deutschen Sicherheitspolitik wurden nach dem<br />
11. September 2001 definiert:<br />
• Terroristische Strukturen zerstören – hohen<br />
Fahndungs- und<br />
Ermittlungsdruck aufbauen<br />
• Den Terrorismus bereits im Vorfeld aufklären und abwehren<br />
• Die internationale Zusammenarbeit<br />
weiter ausbauen<br />
• Die Bevölkerung schützen, vorsorgen und die Verwundbarkeit des<br />
Landes reduzieren<br />
• Die Ursachen des Terrorismus bekämpfen<br />
Als wesentliche Handlungsschwerpunkte<br />
zur Erreichung dieser Ziele<br />
werden folgende Punkte genannt:<br />
• Informationsaustausch aller Sicherheitsbehörden untereinander und<br />
mit der Justiz<br />
•<br />
Enge Zusammenarbeit des Generalbundesanwaltes mit anderen<br />
Staaten<br />
• Betreffend Informationen und Personen, Plänen und<br />
Zusammenhängen des Terror-Netzwerks Al-Qaida und anderer<br />
72
islamistischer Gruppierungen, mit allen rechtsstaatlich zur Verfügung<br />
stehenden Mitteln und Quellen beschaffen und gründlich auswerten<br />
• Bessere Ausstattung der Sicherheitsbehörden personell und finanziell<br />
Deutschland betont, dass die Bekämpfung des Terrorismus ein<br />
wesentliches Element der nationalen, bilateralen und multilateralen<br />
Aussen- und Sicherheitspolitik sei und sowohl z.B. die aktive<br />
Zusammenarbeit mit internationalen Gremien, als auch die Bekämpfung<br />
der Finanzierung des Terrorismus oder die Ausbildung der Polizisten in<br />
diesem Zusammenhang gestärkt werden müsse. Zur Erreichung des Ziels,<br />
die Bevölkerung zu schützen, vorzusorgen und die Verwundbarkeit des<br />
Landes zu reduzieren, werden die Sicherheitsvorkehrungen regelmässig<br />
untersucht und in gemeinsamen Schutzkonzepten von Staat und<br />
Betreibern der aktuellen Bedrohungslage angepasst. Hierzu gehören u. a.<br />
die erforderlichen Massnahmen zur Sicherung kerntechnischer<br />
Einrichtungen durch zusätzlich technische, personelle und<br />
organisatorische Sicherheitsmassnahmen. Die Justizministerin führt weiter<br />
aus, dass zum Schutz der Bevölkerung vor den Folgen terroristischer<br />
Angriffe auch die Bereithaltung und Einübung geeigneter<br />
Krisenbewältigungsinstrumente zur Ermöglichung einer schnellen und<br />
sicheren Erkennung von Krankheitserregern und eine gezielte<br />
Risikobewertung gehöre. Deutschland verfügt gemäss eigenen Aussagen<br />
über ein führendes System einer flächendeckenden rettungs-, notfall- und<br />
katastrophenmedizinischen Versorgung.<br />
Schwerpunkt der Bekämpfung der Ursachen des Terrorismus ist es, die<br />
Radikalisierung und Rekrutierung von Personen für Terror-Netzwerke in<br />
Deutschland zu verhindern, so die Justizministerin, und der Ausbreitung<br />
islamistischen Gedankenguts entgegenzuwirken. Islamistische<br />
Extremisten müssen innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen, aus denen<br />
sie stammen oder in die sie eingebunden sind, isoliert werden, damit<br />
ihnen von dort keine materielle oder ideelle Unterstützung zuteil wird. Die<br />
73
präventiven Massnahmen werden im In- und Ausland verfolgt. So wird ein<br />
intensiver Dialog mit den in Deutschland lebenden Muslimen,<br />
insbesondere im Rahmen der Deutschen Islamkonferenz, geführt, dessen<br />
Ziel es ist, muslimische Zuwanderer und deren Nachkommen in den<br />
demokratischen Rechtsstaat und die deutsche Zivilgesellschaft zu<br />
integrieren, um einem Abgleiten<br />
in radikale Positionen entgegenzuwirken.<br />
Parallel dazu verstärkt Deutschland die Entwicklung weltoffener<br />
Zivilgesellschaften und, um einem Abgleiten in radikale Positionen<br />
entgegenzuwirken. Parallel dazu verstärkt Deutschland die Entwicklung<br />
weltoffener Zivilgesellschaften und demokratischer und rechtsstaatlicher<br />
Strukturen in terrorismusgefährdeten Staaten.<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Deutschland hat mit einem eigentlichen Konzept auf das neue Risiko des<br />
Terrors reagiert und zwar sowohl im Bezug auf die umfassende innere<br />
Sicherheit wie auch mit verstärkter internationaler Zusammenarbeit. Die<br />
Strategie umfasst politische, diplomatische, polizeiliche,<br />
nachrichtendienstliche, justizielle, humanitäre, ökonomische, finanzielle<br />
und militärische Massnahmen. Schwerpunkt bildet dabei, die<br />
Radikalisierung und Rekrutierung von Personen für Terror-Netzwerke in<br />
Deutschland zu verhindern und islamistische Extremisten gesellschaftlich<br />
in ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft zu isolieren. Der Deutschen<br />
Islamkonferenz kommt in diesem<br />
Zusammenhang hohe Bedeutung zu.<br />
Deutschland<br />
verstärkt zudem die Entwicklung weltoffener<br />
Zivilgesellschaften und demokratische sowie rechtsstaatliche Strukturen<br />
in<br />
terrorismusgefährdeten Staaten. Bei der Integration von Ausländern im<br />
Sinne der Prävention und in der Erkenntnis, dass Migrationspolitik stark<br />
die Sicherheitspolitik prägt, handelt Deutschland gemäss einem<br />
„comprehensive approach“.<br />
2.3.1.2. Schnittstelle Terrorismus, am Beispiel Grossbritannien<br />
74
Das Ereignis und seine Auswirkungen auf die Sicherheitspolitik<br />
Am Morgen des 7. Juli 2005 kam es in London während des<br />
Berufsverkehrs innerhalb kürzester Zeit zu insgesamt vier Explosionen,<br />
ausgelöst durch Bombenträger (sogenannte Rucksackbomber) in drei U-<br />
Bahn-Zügen und einem Doppeldeckerbus. Dabei wurden 56 Menschen<br />
(inklusive der vier Selbstmordattentäter) getötet und über 700 teilweise<br />
schwer verletzt. Viele Menschen waren bis zum Nachmittag in den<br />
betroffenen Zügen eingeschlossen. Die Anschläge wurden in den<br />
britischen Medien auch unter der Abkürzung 7/7 genannt, in Anlehnung an<br />
die Terroranschläge vom 11. September 2001, 9/11, in den USA.<br />
Aufgrund der Vorfälle wurden zunächst viele U-Bahn-Stationen evakuiert<br />
und das gesamte Bus- und U-Bahn-Netz stillgelegt. Am Abend wurde der<br />
öffentliche Verkehr teilweise wieder aufgenommen. Das Bankenviertel und<br />
weit über 40 Strassen blieben zeitweise gesperrt. Der Handel an der<br />
Londoner Börse wurde ausgesetzt.<br />
Premierminister Tony Blair verliess<br />
wegen der Anschläge vorübergehend das gleichzeitig stattfindende G-8-<br />
Treffen in Schottland, um sich in London ein Bild der Situation zu machen.<br />
Es ist unklar, ob die Anschläge in Zusammenhang mit dem gleichzeitig<br />
stattfindenden G-8-Gipfel in Gleneagles oder der am Vortrag getroffenen<br />
Entscheidung über London als Austragungsort der Olympischen<br />
Sommerspiele 2012 standen.<br />
Eine angebliche Gruppe namens „Geheime Gruppe von Al-Qaidas<br />
Dschihad in Europa“, die bisher noch nie in Erscheinung getreten war,<br />
hatte sich im Laufe des Vormittags im Internet zu den Anschlägen<br />
bekannt. In der Erklärung hiess es, die Anschläge seien eine Vergeltung<br />
für britische Militäreinsätze in Afghanistan und im Irak. Die Gruppe drohte<br />
mit weiteren Anschlägen in Dänemark und Italien. Das Bekenntnis war<br />
jedoch nicht auf einer der üblichen Al-Qaida-Webseiten erschienen,<br />
wodurch der Verdacht eines Trittbrettfahrers aufkam. Die Echtheit konnte<br />
bisher nicht richtig überprüft werden. Nachdem es zuerst nicht als<br />
75
gesichert galt, dass es sich bei den Anschlägen um Selbstmordattentate<br />
gehandelt hatte, da die mutmasslichen Täter Parkscheine und<br />
Rückfahrtkarten gekauft und Ausweispapiere bei sich hatten, wurden die<br />
vier mutmasslichen Attentäter auf Videoaufnahmen gefunden. Drei der<br />
vier Täter waren Briten pakistanischen Ursprungs, die aus dem Raum<br />
Leeds stammten. Bei der Durchsuchung ihrer Häuser wurde Sprengstoff<br />
gefunden. Im Bekennervideo klagte einer der Attentäter die britische<br />
Gesellschaft und die Regierung Tony Blair an, unmittelbar verantwortlich<br />
zu sein. Er führte aus, dass seine Terrorgruppe einen regulären Krieg<br />
gegen die demokratische britische Gesellschaft führe, er sei ein Soldat. In<br />
der darauffolgenden Woche fanden zahlreiche Verhaftungen in Pakistan<br />
und Ägypten statt. Am 9. April 2006 veröffentlichte die britische Zeitung<br />
„The Observer“ Schlussfolgerungen aus einem Untersuchungsbericht,<br />
demzufolge man eine Verbindung zu Al-Qaida nicht habe ermitteln<br />
können. Nach den Anschlägen kam es im Land zu verschiedenen<br />
Zwischenfällen, die von der Polizei als mögliche Racheakte interpretiert<br />
wurden. Mehrere Moscheen wurden angegriffen und teilweise mit<br />
Brandsätzen beworfen. Am 13. Juli wurde in Nottingham ein Pakistaner<br />
von einer Gruppe Jugendlicher zu Tode geprügelt.<br />
Nach den Anschlägen vom 7. Juli 2005 wuchs die Sorge in<br />
Grossbritannien und insbesondere in Anti-Rassismus-Kreisen, dass<br />
einzelne Personen und politische Parteien den religiösen Hintergrund der<br />
Bombenleger instrumentalisieren und als Vorwand für rassistische<br />
Übergriffe und Beschimpfungen von Minderheiten, insbesondere britischer<br />
Muslime, nutzen könnten. Dies ist der Hintergrund für den entsprechenden<br />
Bericht des EUMC 37 . Der Bericht bestätigt, dass die Zahl der<br />
glaubensbedingten Hassverbrechen in der Zeit der Anschläge überall im<br />
Vereinigten Königreich zeitweilig in Besorgnis erregendem Ausmass<br />
37 Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Stelle_zur_Beobachtung_von_Rassism<br />
us_und_Fremdenfeindlichkeit<br />
76
wuchs. Auf längere Sicht besteht jedoch Hoffnung: Nachdem<br />
Spitzenpolitiker und Führer von Religionsgemeinschaften die Anschläge<br />
übereinstimmend aufs Schärfste verurteilten und zugleich für die legitimen<br />
Rechte von Muslimen eintraten, ging die Zahl wieder rasch zurück,<br />
insbesondere liessen die Führer muslimischer Glaubensgemeinschaften<br />
Europas keinerlei Sympathie für die Bombenleger erkennen. All diese<br />
Faktoren erwiesen sich als entscheidend für die zurückgehende Zahl von<br />
Übergriffen und Vorurteilen gegenüber Minderheiten und trugen dazu bei,<br />
dass einem zunehmenden Trend zu Angriffen und Anschlägen von Beginn<br />
an den Nährboden entzogen werden kann. Die wahre Prüfung besteht<br />
jedoch darin, diese ersten ermutigenden Reaktionen in langfristige<br />
wirksame Massnahmen münden zu lassen, die sich mit den<br />
grundlegenden Fragen befassen, die in der Zeit nach den Ereignissen in<br />
London aufgeworfen wurden:<br />
Wie können Ausgrenzung und Diskriminierung aus Gründen der Rasse,<br />
ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung bekämpft werden?<br />
Politische Führer und Einrichtungen sowie auch die Medien tragen hier<br />
eine besondere Verantwortung, Antworten auf diese Fragen zu finden. Der<br />
Bericht des EUMC zeigt auf, dass ein<br />
positiver Wandel möglich ist, sofern<br />
eine klare politische Führung, Unterstützung durch die Institutionen und<br />
Bürgergesellschaft und eine besonnene Berichterstattung in den Medien<br />
gewährleistet sind. Solche gemeinsame Anstrengungen sind von<br />
überragender Bedeutung für die Arbeit auf ein gemeinsames Europa, das<br />
seine kulturelle Vielfalt wertschätzt, ohne die damit verbundenen<br />
Herausforderungen zu ignorieren.<br />
Initiativen der Regierung und der muslimischen<br />
Gemeinschaft nach<br />
den Anschlägen<br />
Im Wesentlichen wurden zwei Initiativen zur Erörterung weiterer<br />
Massnahmen gestartet:<br />
77
1. Staatsminister des Innenministeriums trafen sich im Sommer mehrmals<br />
mit Vertretern der muslimischen Gemeinschaften im ganzen Land zu<br />
einem Meinungsaustausch.<br />
2. Der Innenminister veranlasste die Bildung von sieben Arbeitsgruppen,<br />
denen Führer der muslimischen Gemeinde und islamische Gelehrte<br />
sowie Beamte des Innenministers<br />
angehörten und die Vorschläge zur<br />
Stärkung des Zusammenhalts und zur Bekämpfung des<br />
Extremismus<br />
entwickeln sollten.<br />
Ergänzend zum Beratungsprozess<br />
erörterten die sieben von der<br />
Regierung gebildeten Arbeitsgruppen<br />
die folgenden Themen:<br />
• Einbeziehung der Jugend<br />
• Bekämpfung von Extremismus und Radikalisierung<br />
• Unterstützung regionaler und lokaler Initiativen und<br />
Gemeinschaftsaktionen<br />
• Einbeziehung von Frauen<br />
• Schulung und Akkreditierung von Imamen<br />
sowie die Rolle der<br />
Moscheen als Glaubensquelle für die gesamte Gemeinde<br />
• Bereitstellung umfassender Bildungsleistungen im Vereinigten<br />
Königreich, die auf die Erfordernisse der muslimischen Gemeinde<br />
zugeschnitten sind<br />
• Sicherheit, Islamfeindlichkeit, Schutz der Muslime vor Extremismus<br />
und Vertrauen der Gemeinde zur Polizei<br />
Im September 2005 legten die Arbeitsgruppen ihre Vorschläge vor.<br />
Darunter fanden sich auch die folgenden Vorschläge, die vom britischen<br />
Innenminister besonders begrüsst wurden:<br />
• Einrichtung eines nationalen Beirats für Imame und Moscheen:<br />
Dieser soll Moscheen Empfehlungen geben, wie sie verhindern<br />
78
können, von Extremisten instrumentalisiert zu werden; wie sie ihre<br />
Abhängigkeit von Religionsministern aus dem Ausland verringern,<br />
Massstäbe setzen und den Zusammenhalt und die<br />
Führungsfähigkeiten von Imamen verbessern können<br />
• Schaffung eines nationalen Forums gegen Extremismus und<br />
Islamfeindlichkeit: Diese unabhängige Initiative würde ein<br />
regelmässiges Forum für verschiedene Mitglieder der britischen<br />
muslimischen Gemeinde zur Erörterung von Themen und<br />
Zusammenhängen mit der Bekämpfung von Islamfeindlichkeit und<br />
Extremismus schaffen, die sich auf die muslimische Gemeinde<br />
auswirken. Erfahrung und Wissensaustausch könnten sichergestellt<br />
werden.<br />
• Landesweite Roadshow mit einflussreichen, volksnahen<br />
Religionsgelehrten: Darin könnten der westlichen Welt die Lehre<br />
des Islams erklärt und zugleich Extremismus verurteilt werden.<br />
Zugleich kündigte das Innenministerium Beratungen über Vorschläge für<br />
eine Kommission zu Fragen der Integration und Kohäsion an, d.h. ein<br />
beratendes Gremium, das sich auf die Ermittlung und Umsetzung von<br />
Möglichkeiten zur Überwindung der<br />
Integrationsbarrieren und somit zur<br />
Überwindung eines drohenden „homegrown Terrorismus“ konzentriert.<br />
Muslime sollten stolz sein, Britische Staatsbürger zu sein, und sich<br />
integriert fühlen.<br />
Nach den Plänen des Innenministers sollte sich die Kommission mit den<br />
folgenden vier Fragestellungen befassen, welche der so genannten Social<br />
38<br />
Identity Theory Rechnung tragen<br />
38 Quelle : Studie von Dr. Werner Wirth, IPMZ – Institut für Publizistikwissenschaft und<br />
Medienforschung der Universität Zürich, 2005<br />
« Medien, Migration und Kriminalität. Eine Inhaltsanalyse von Schweizer Tageszeitungen,<br />
Juni 2005<br />
79
• Wie kann ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen<br />
werden, das alle Gemeinschaften einschliesst?<br />
• Wie kann ein gemeinsames Bekenntnis zu kulturellen Normen und<br />
•<br />
•<br />
Verhaltensweisen geschaffen werden, insbesondere bei Personen<br />
unterschiedlicher Glaubensrichtungen und kultureller Identitäten?<br />
• Wie können Ungleichheiten,<br />
die Menschen unter Umständen an<br />
den Rand der Gesellschaften drängen, entschlossener bekämpft<br />
werden?<br />
Wie können Gemeinschaften, die ein abgeschottetes Leben führen,<br />
dazu ermutigt und ermuntert werden, sich in der Gesellschaft<br />
umfassender zu engagieren?<br />
Ein Bestandteil der Strategie als Beantwortung der Fragen ist der<br />
Fonds „Faith Communities Capacity Building Fund“. Mit insgesamt<br />
5 Mio. £, die in diesem Sektor investiert werden, verfolgt der Fonds<br />
das Ziel, das staatsbürgerliche Engagement innerhalb von<br />
Glaubensgemeinschaften und die Beziehungen zwischen den<br />
Glaubensgemeinschaften zu verbessern. Besondere Priorität<br />
erhalten Projekte für den Kompetenzaufbau von Jugendlichen und<br />
Frauen innerhalb der Glaubensgemeinschaften; eine weitere<br />
Priorität gilt Projekten, die in den 88 am stärksten benachteiligten<br />
Gebieten und in den 50 Gebieten mit der grössten Glaubensvielfalt<br />
durchgeführt werden 39 .<br />
Insgesamt kann gesagt werden, dass Grossbritannien eine Strategie der<br />
Integration und Prävention verfolgt, die mit Recht als „Comprehensive<br />
Approach“ bezeichnet werde kann. Im Kampf gegen Terrorismus wählt die<br />
Regierung den Ansatz der<br />
so genannten 4P’s: Persue, Protect, Prevent,<br />
Prepare, wobei der Prävention das grösste Gewicht beigemessen wird.<br />
39 Quelle: http://communities.homeoffice.gov.uk/raceandfaith<br />
80
Genannt werden Prävention gegen Radikalisierung, Prävention gegen<br />
mangelnde Identität, Prävention gegen Armut, und Prävention gegen<br />
mangelnde politische Einbindung und gegen Arbeitslosigkeit.<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Die Erkenntnis, dass so genannter „homegrown terrorism“ vor allem bei<br />
der zweiten Generation muslimisch Gläubiger, also bereits eingebürgerter<br />
ehemaliger Migranten im Sinne der Prävention in Angriff genommen<br />
werden muss, prägt die Antiterror-Massnahmen Grossbritanniens und ihre<br />
Migrationspolitik. Der Einbezug der Jugend, Gemeinschaftsaktionen,<br />
Einbezug von Frauen, die Schulung und Akkreditierung und die<br />
Bereitstellung umfassender Bildungsleistungen sowie der Schutz der<br />
Muslime vor Extremismus sind dabei tragende Säulen. Wie Deutschland<br />
setzt<br />
aber auch Grossbritannien zudem stark auf die internationale<br />
Zusammenarbeit und in diesem Sinne auf die Stärkung so genannter<br />
„failing states“, die Demokratisierung sowie die Förderung der<br />
Rechtsstaatlichkeit gefährdeter Länder. Sicherheit Dank Kooperation mit<br />
der globalen Welt zeigen sich in ihrem militärischen Ansatz, im<br />
Engagement in Krisenherden und der Friedensförderung.<br />
2.3.1.3. Schnittstelle Terrorismus, am Beispiel Spanien<br />
Die Bombenexplosion,<br />
die am Morgen des 11. März 2004 in der Zeit von<br />
7:35 Uhr und 7:55 Uhr von zehn islamistischen Terroristen in eng<br />
besetzten Madrider Vorortzügen ausgelöst wurden, forderten 191 Tote<br />
und etwa 1500 Verletzte. Der dramatische Terrorakt vom 11. März 2004<br />
ist jedoch gemäss Experten nicht direkt auf die mit der spanischen<br />
Migrationspolitik vor den Anschlägen damals bestehenden Probleme<br />
zurückzuführen.<br />
Die dafür verantwortlichen islamistischen Terroristen stammten nicht aus<br />
Kreisen der in Spanien lebenden Migranten, also nicht aus Kreisen bereits<br />
in Spanien wohnhafter Muslime, sondern insbesondere aus Marokko. 3<br />
81
Tage vor der Wiederwahl des amtierenden rechtsbürgerlichen<br />
Staatspräsidenten José Maria Aznar der Partido Popular, wurde das Land<br />
durch den Terrorakt schwer erschüttert und der Anschlag wurde als<br />
symbolischer Akt gegen die politische Unterstützung Aznars zugunsten<br />
des Irak-Kriegs gewertet. Die Informationspolitik nach den verheerenden<br />
Madrider Anschlägen wurde durch die amtierende Regierung von<br />
vornherein einseitig auf die baskische Untergrundorganisation ETA<br />
gelenkt. Die sozialistische Arbeiterpartei PSOE wertete Aznars vorschnelle<br />
Schuldzuweisung als gezielte Lüge, um angesichts der Unterstützung der<br />
USA im Irakkrieg einer drohenden Abstrafung bei der Wahl am 14. März<br />
zu entgehen. Aznars konsequenter Kurs an Seite des amerikanischen<br />
Präsidenten Bush war von grossen Teilen der spanischen Bevölkerung<br />
abgelehnt worden. Experten sind sich einig, dass der brutale Vorfall den<br />
amtierenden Präsidenten zu Fall brachte und der Linken bei den Wahlen<br />
Vorschub leistete, die seither das Land unter José Louis Zapatero (PSOE)<br />
regieren.<br />
Bis auf den Versuch der linken Regierung, mittels einer Politik der „offenen<br />
Türe“ und der darin eingeschlossenen Regulierung des Aufenthalts von<br />
illegalen Migranten weiteren islamistischen Terror zu bekämpfen,<br />
scheinen die Anschläge von Madrid keine weiteren direkten Auswirkungen<br />
auf die Sicherheitspolitik gehabt zu haben.<br />
Das Ereignis und seine Auswirkungen auf die Migrationspolitik<br />
Bis 1960 war Spanien vor allem ein Land der Emigration (unter Emigration<br />
versteht man das Auswandern aus der eigenen Heimat). Erst 1995,<br />
nachdem ein grosser Immobilienboom und so genanntes „fast<br />
money/schnelles Geld“ einsetzte, war das Land neu auf Arbeitskräfte<br />
durch Zuwanderung/Migration angewiesen. In nur 6 Jahren wuchs die<br />
Bevölkerung aufgrund starker Arbeitskräftenachfrage von 40 Millionen<br />
Einwohnern auf 46 Millionen. Insbesondere spanisch sprechende<br />
Migranten, vor allem aus Lateinamerika und vor allem aus Ecuador<br />
82
lieferten in ihre Herkunftsländer rund 12% des BIP’s (Beispiel Ecuador).<br />
Viele Migranten stammten auch aus den Maghreb-Staaten; insgesamt<br />
wanderten über 2 Millionen Muslime ein, und interreligiöse Probleme<br />
begannen relativ rasch ein Gesicht zu bekommen. Vor allem im Süden<br />
nahmen Konflikte rasant zu. Der Crash in der Region von Salt, wo 43 %<br />
der Bewohner heute muslimischen Hintergrunds sind, dokumentiert die<br />
Situation der eigentlicher Ghettos, die aber auch in Grossstädten wie<br />
Barcelona und Madrid Realität sind. Die Ghettobildung und die damit<br />
einhergehende Kriminalität zählen zu den eigentlichen grossen<br />
Herausforderungen der spanischen Migration seit 1995. Auch illegale<br />
Einwanderer stellen in Spanien eine sehr grosse Herausforderung dar.<br />
Ganz offensichtlich gelang es zudem wenig bis gar nicht, Integration<br />
zufriedenstellend zu verwirklichen.<br />
Die Amtszeit von José Louis Zapatero (PSOE) ist geprägt von einer<br />
starken Polarisierung der spanischen Innenpolitik durch<br />
Auseinandersetzungen mit der grössten Oppositionspartei PP und einigen<br />
gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere der katholischen Kirche. Die<br />
Linke Spaniens hat als Folge der Terroranschläge der Islamischen<br />
Kampfgruppe Marokkos, Al-Quaida und als Lösungsansatz im Kampf<br />
gegen islamistischen Terror im Migrationsbereich eine Politik der „offenen<br />
Türen“ propagiert und umgesetzt. Insbesondere wurden rund 700‘000<br />
irreguläre Migranten regularisiert. Ganz offensichtlich glaubte man daran,<br />
mit einer entgegenkommenden, migrationsfreundlichen Politik die<br />
Gefahren weiterer Terrorakte und muslimischer Unruhen in Spanien<br />
selber entgegen treten zu können.<br />
Erst seit der Wirtschaftskrise, ab 2006, wurde die Politik geändert und im<br />
Bezug auf Ausländer- und Asylrecht verschärft verfahren, nachdem man<br />
festgestellt hatte, dass die Gefängnisse Spaniens mit kriminellen<br />
Migranten überfüllt waren. Die grösste Gruppe unter den in Spanien<br />
lebenden Ausländern sind die Marokkaner mit etwa 600‘000, gefolgt von<br />
83
Ecuadorianern, 400‘000. Aus den nordafrikanischen Ländern kommen fast<br />
ausschliesslich Männer aus ländlichen Gebieten. Unter den Marokkanern<br />
ist die Kriminalitätsrate höher als bei den Iberoamerikanern. Hingegen<br />
sind jugendliche Schlägerbanden in Grossstädten ein gravierendes<br />
Problem, bei welchem auch die Südamerikaner eine wesentliche Rolle<br />
spielen. Rumänische Kinder üben sich zudem im Strassendiebstahl und<br />
haben die einheimischen Bettler schon fast alle von den in diesem<br />
Wirtschaftszweig üblichen Arbeitsplätzen verdrängt. Madrid hat in diesem<br />
Zusammenhang die Regierungen Ungarns, Österreichs und Italiens<br />
ersucht, ihre Grenzen besser zu kontrollieren. Spanien hält sich streng an<br />
Schengen. An Quoten und Einladungen besonderer Berufsgruppen hat<br />
man trotz der Probleme noch nicht gedacht. Man weiss in Madrid<br />
allerdings, dass viele Afrikaner über die Pyrenäen-Grenze nach Norden<br />
ziehen, auch wenn das den Franzosen nicht passt. In Spanien wächst<br />
derzeit die Angst in der Bevölkerung vor unkontrollierter Zuwanderung,<br />
insbesondere an den spanischen Aussengrenzen.<br />
Interessant ist, dass die Linke nach wie vor Integrationsprobleme schön<br />
redet und wenig auf die wachsende Ausländerarmut eingeht: Nachdem<br />
die Hälfte der in Spanien lebenden Ausländer aus dem spanisch<br />
sprechenden Amerika stammen, gelingt aufgrund ähnlichem kulturellem<br />
Hintergrund und gleicher Sprache die Integration gemäss der amtierenden<br />
Regierung gut. Sie erhalten ziemlich schnell die spanische<br />
Staatsbürgerschaft und alle Rechte der in Spanien geborenen Personen.<br />
Die anhaltenden Flüchtlingsströme aus den Subsahara-Staaten Afrikas<br />
überfordern das Land jedoch immer mehr. Der Ruf nach einem erhöhten<br />
„Burden Sharing“ der EU-Länder (gemeinsames Tragen der Lasten)<br />
betreffend Flüchtlingsströme wird lauter und stellt auch für die<br />
Europäische Union Herausforderungen dar, die letztlich nur gemeinsam<br />
und vernetzt gemeistert werden können. In diesem Zusammenhang muss<br />
daran erinnert werden, dass allein von rund 40 Staaten der Subsahara<br />
84
sich zurzeit rund 26 in bewaffneten Konflikten befinden. Sogenannte<br />
„failing states“, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, Korruption aber auch die<br />
Klimaproblematik weisen den schwierigen Weg der Zukunft: Es kann nicht<br />
damit gerechnet werden,<br />
dass die Flüchtlingsproblematik künftig<br />
abnehmen wird. Ganz im Gegenteil ist davon auszugehen, dass die<br />
Probleme zunehmen werden. Der Ruf nach einer kohärenten<br />
europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik und vernetzten<br />
Entwicklungshilfemassnahmen wird lauter. Das Thema steht denn auch in<br />
den allermeisten Ländern zuoberst auf der Traktandenliste.<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Die Bombenexplosion vom 11. März 2004 hat Spanien massiv erschüttert.<br />
Allerdings durchlebte das Land bereits seit Jahrzehnten Terroranschläge<br />
aufgrund eigener, innerer Konflikte und verfügte in diesem Sinne über eine<br />
gewisse „Katastrophenerfahrung“. Auch illegale Einwanderung und<br />
Ghettobildung mit der einhergehenden Kriminalität zählen zu den<br />
aktuellen, eigentlichen grossen Herausforderungen des Landes. Bis heute<br />
gelang es wenig bis gar nicht, Integration zufriedenstellend herzustellen.<br />
Erst seit der Wirtschaftskrise ab 2006 wurde der Versuch, irreguläre<br />
Migranten dank Regularisierung zu integrieren, gestoppt.<br />
Jugendliche<br />
Schlägerbanden<br />
z.B., stellen auch heute noch eine grosse<br />
Herausforderung dar. In Spanien wächst die Angst der Bevölkerung<br />
vor<br />
unkontrollierter Zuwanderung.<br />
Anhaltende Flüchtlingsströme aus den<br />
Subsahara-Staaten Afrikas überfordern die Regierung immer mehr. Eine<br />
kohärente, Sicherheitspolitik, wie es die Beispiele Deutschland und<br />
Grossbritannien zeigen, ist in Spanien nicht festzumachen.<br />
2.3.1.4. Schnittstelle Terrorismus, respektive innere Sicherheit<br />
am Beispiel Italien<br />
Am 30. Oktober 2007 schockierte der brutale Sexualmord, verübt durch<br />
einen 24-jährigen rumänischen Roma, der den Mord zuerst bestritt, an<br />
einer 47-jährigen Soldatengattin, Giovanna Reggiani, in der Nähe eines<br />
85
von rumänischen Flüchtlingen bewohnten Lagers in der römischen<br />
Vorstadt Tor di Quinto nicht nur Italien sondern auch Rumänien. Der<br />
Ehemann des Opfers war Chef der Antiminen-Einheit der italienischen<br />
Marine. Der Fall erlangte Brisanz, weil er die heftigen, momentan nicht nur<br />
in Italien, sondern in ganz Europa geführten, öffentlichen Debatten über<br />
den Status von Flüchtlingen und legalen Ausländern weiter anheizte.<br />
Manche Italiener reagierten mit hasserfüllter Gewalt: Nach dem Tod<br />
Reggianis wurden in Rom drei Rumänen überfallen und mit Schlagstöcken<br />
verprügelt. Die Politik beeilte sich zu betonen, dass das Problem der<br />
illegalen Migration geregelt werden müsse. Der italienische Präsident<br />
Giorgio Napolitano hatte unverzüglich ein Dekret unterzeichnet, das die<br />
sofortige Ausweisung straffälliger EU-Bürger vorsah. Das Argument dieser<br />
Sofortmassnahme seitens der Regierung war, dass nur mit harten<br />
politischen Massnahmen gegen ausländische Straftäter die Ruhe in Italien<br />
gewahrt und Selbstjustiz verhindert werden könne. Italiens Regierung<br />
erinnerte an die gesetzlichen Verschärfungen nach den Anschlägen in<br />
Madrid und argumentierte mit Vergleichen, die faktisch schwer zu<br />
verteidigen waren, in der Bevölkerung aber ankamen und die drastische<br />
Ausländerstrategie zu rechtfertigen suchten. Die Argumentationslinie<br />
verlief dahingehend, dass erstens viel mehr zu befürchten sei, als einzelne<br />
Gewalttaten (in Anspielung an islamischen Terrorismus), und dass<br />
zweitens die Ausschaffung einzelner Individuen die allgemeine innere<br />
Sicherheit verstärke. Die rumänische Regierung ihrerseits willigte ein, eng<br />
mit Italien zusammenarbeiten. Übergriffe auf Migranten scheinen in Italien<br />
eine Art „Nebenbeschäftigung“ für Jugendliche zu werden und die heutige<br />
politische Rechte (Lega Nord) äussert sich öffentlich und rassistisch über<br />
Muslime. Der Lega Nord-Bürgermeister scheute sich beispielsweise nicht,<br />
Muslime öffentlich aufzufordern, in „ihre eigenen Moscheen zu pinkeln“<br />
(September 2008). Seine Äusserungen begründete er damit, dass der Bau<br />
von Moscheen ein „nationales Problem“ darstelle. In diesem<br />
86
Zusammenhang darf an die vom Schweizer Volk mit grosser Mehrheit<br />
angenommene Anti-Minarett-Initiative erinnert werden.<br />
Heute leben schätzungsweise 550‘000 Rumänen in Italien, viele von ihnen<br />
gehören der Volksgruppe der Sinti und Roma an. Seit Rumänien am 1.<br />
Januar 2007 der EU beigetreten ist, hat die Zahl der Rumänen in Italien<br />
drastisch zugenommen. Einige italienische und rumänische Politiker,<br />
erpicht darauf, rasche und rigorose Lösungen durchzusetzen, gaben<br />
skandalöse Stellungnahmen ab, die an die fremdenfeindlichen und<br />
totalitären Slogans der Vergangenheit erinnerten. Eine groteske Art und<br />
Weise des neuen „Nationalstolzes der Italiener“ konnte wahrgenommen<br />
werden. Verärgerte Stimmen über die EU-Erweiterung wurden in Italien<br />
lauter und die dadurch entstehenden Spannungen nahmen zu.<br />
Tatsächlich ist die stärkere Migration ein alltägliches Faktum einer<br />
zentrifugalen und globalen Modernität geworden. Nebst<br />
sicherheitspolitischen Bedenken äussern sich italienische Politiker<br />
dahingehend, dass wachsende Zuwanderung auch eine kulturelle<br />
Herausforderung darstelle, die Diskussion um politische Rechte,<br />
insbesondere rund um Asylrecht und Menschenrechte gesamteuropäisch<br />
geführt werden müssten. Ein unkontrollierter Zuwachs an Ausländern<br />
bedrohe zudem das Sozialsystem Italiens, dessen Sicherung längst auch<br />
für Bürgerinnen und Bürger Italiens zu den täglichen politischen<br />
Fragezeichen und zum besorgten Diskurs gehöre. Illegale Einwanderung<br />
stützt Schwarzarbeit, welche dem Land Steuern und Sozialleistungen<br />
entzieht. Nicht nur in Privathaushalten, auch im Gastgewerbe und in<br />
Gewerbeunternehmen der Industrie sowie in der Betreuung alter<br />
Menschen stellt die Schwarzarbeit ein wachsendes Problem Italiens dar.<br />
Lohndumping aufgrund Schwarzarbeit findet insbesondere in jenen Jobs<br />
statt, die von Italienern nicht ausgeführt werden wollen.<br />
Anders als in der Schweiz wird das Dekret von Romano Prodi, dass selbst<br />
EU-Bürger innert kürzester Zeit ausgeschafft werden können, in Italien<br />
87
selbst von Linken unterstützt. Die „Vertreibung“ kann praktisch sofort<br />
vollstreckt werden, und es gibt kein Recht auf einen Rechtsbehelf<br />
innerhalb des Landes. Was erstaunt ist, dass die schweizerische Presse<br />
wenig bis nichts über die Gesetzesänderungen Italiens berichtet hatte. Der<br />
UN-Ausschuss gegen Folter hat sich kürzlich besorgt über „die sofortige<br />
Vollziehung der italienischen Ausweisungsverfügungen ohne gerichtliche<br />
Überprüfung“ ausgedrückt.<br />
Das Ereignis und seine Auswirkungen auf die Migrationspolitik<br />
Historisch zählte Italien zu den Auswanderungsländern. Erst nach der<br />
Ölkrise 1973 und den gleichzeitig restriktiveren Aufnahmebedingungen in<br />
traditionellen Einwanderungsländern Europas wird Italiens Migrationssaldo<br />
positiv. Damals traf die Zuwanderung auf eine Politik der offenen Türen.<br />
Kriminelle Mafia-Organisationen und Italien interner Terrorismus der Roten<br />
Brigaden prägte das Land<br />
seit jeher weitaus mehr als Migrationsfragen.<br />
Das erste Ausländergesetz des Landes wurde denn auch erst 1986<br />
verabschiedet, als Einwanderung noch nicht als Problem angesehen<br />
wurde. Daher beschränkte sich das Gesetz grundsätzlich auf die<br />
Regelung der Arbeitsbedingungen und den Zugang zum Arbeitsmarkt.<br />
Es<br />
folgten weitere Gesetze:<br />
• 1990 das Zuwanderungsgesetz Nr. 39 als eigentliche<br />
Legalisierungskampagne<br />
• 1995 eine weitere Legalisierungskampagne per „DINI-Dekret“<br />
• 1998 das Zuwanderungsgesetz Nr. 40, „Turco-Napolitano“<br />
• 2002 das Zuwanderungsgesetz Nr. 189, die fünfte<br />
Legalisierungskampagne, „Bossi-Fini“<br />
Heute besteht die Praxis der Gesetzeserlassung per Rundschreiben, die<br />
alle darauf abzielen, die illegale Einwanderung einzuschränken und die<br />
illegale Einwanderung wirksamer zu bekämpfen. Italien ist besonders in<br />
den Küstenregionen Ziel von<br />
so genannten Flüchtlingsbooten. Im 1998er<br />
88
Gesetz wurden u. a. das System der jährlichen Einreisequoten für<br />
ausländische Arbeitnehmer und die Abschiebehaft für Ausreisepflichtige<br />
eingeführt. Interessant sind Aussagen der Caritas, die angibt, dass<br />
quantitativ ca. 650‘000 Zuwanderer mehr zu verzeichnen seien, als<br />
offizielle Quellen angeben.<br />
Offizielle Schätzungen besagen, dass in Italien rund 2,5 Millionen<br />
Ausländer leben, inklusive derjenigen, die sich illegal im Land aufhalten,<br />
bzw. auf die Entscheidung über ihren Legalisierungsantrag warten (vergl.<br />
MuB 9/02). Italien hat somit einen Ausländeranteil von 4,2 %, der EU-<br />
Durchschnitt liegt bei rund 5 %. Die meisten Ausländer mit legalem<br />
Aufenthaltsstatus kommen aus Marokko, Albanien, von den Philippinen<br />
und aus Tunesien. Stark vertreten sind auch Rumänien (Roma), China,<br />
Senegal, Sri Lanka und Ex-Jugoslawien,<br />
wobei in der Zwischenzeit die<br />
Rumänen zur grössten Ausländergruppe in Italien geworden sind. Eine<br />
besondere Herausforderung stellt der Anteil Romas dar, welcher zu<br />
eigentlichen Hetzkampagnen führte.<br />
„Verlässliche“ Aussagen zur Charakteristik der Zuwanderung in Italien<br />
beschreiben diese wie folgt 40 :<br />
• Einwanderung konzentriert sich im Norden wegen Arbeitsplatzangebot<br />
• Einwanderung findet<br />
hauptsächlich aufgrund Arbeitssuche statt<br />
• Die Zugewanderten befinden sich vorwiegend im arbeitsfähigen Alter<br />
• Eine wachsende Anzahl an Aufenthaltsgenehmigungen aus familiären<br />
Gründen und ein steigender Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund<br />
in Italiens Schulen zeigen Stabilisierungstendenzen, v. a. in<br />
Emilia-Romagna<br />
• Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika stellen eine der grossen<br />
Herausforderungen dar<br />
40 Quelle: efms, european forum for migration studies<br />
89
• Die Roma-Problematik führt zu Rassismus und sogar zu Selbstjustiz.<br />
Mit dem Gesetz, das im September 2002 in Kraft trat (vergl. MuB 6/02 41 ),<br />
wurden verschiedene Neuerungen wirksam: Die Erteilung einer<br />
Aufenthaltsbewilligung zwecks Arbeitssuche wurde abgeschafft, die<br />
jährlichen Einreisequoten wurden auf Staatsbürger von Ländern<br />
beschränkt, mit denen Rückübernahmeabkommen bzw.<br />
Kooperationsabkommen bestehen. Ferner wurde die Durchsetzung der<br />
Ausreispflicht verschärft, die maximale Dauer der Abschiebehaft von 30<br />
auf 60 Tage verlängert und die obligatorische Abnahme von<br />
Fingerabdrücken für alle Ausländer eingeführt, die eine<br />
Aufenthaltsbewilligung bzw. deren Verlängerung beantragten. Heute ist<br />
eine legale Einwanderung zum Zweck der Arbeitsaufnahme nur noch<br />
möglich, wenn für Ausländer schon vor der Einreise ein konkretes<br />
Stellenangebot im Rahmen der von der Regierung festgelegten<br />
Einreisequoten vorliegt. Die drei Säulen der heutigen italienischen<br />
Migrationspolitik beinhalten:<br />
1. Staatliche Steuerung der Zuwanderung (Quotenregelung)<br />
2. Bekämpfung illegaler Migration<br />
3. Förderung der Integration ansässiger Zuwanderung<br />
Italien kann illegalen Einwanderern auch nicht mehr mit Amnestien<br />
die<br />
Aufenthaltsbewilligung erteilen.<br />
Die EU hat sich klar gegen Amnestien<br />
ausgesprochen, weil damit keine Probleme gelöst werden. Amnestien<br />
bewirken eine Sogwirkung für andere illegale Zuwanderer 42 .<br />
Fazit und Gewichtung<br />
41 Migration-Info.de; Migration und Bevölkerung Newsletter; ein Projekt des Netzwerks<br />
Migration in Europa, der Bundeszentrale für politische Bildung und des Hamburgischen<br />
WeltWirtschaftsinstituts, Ausgabe 6 in 2002<br />
42 siehe gleiche Problematik nachstehend bezüglich Spaniens, Abschnitt 2.3.1.3.<br />
90
Wie Spanien hat auch Italien aufgrund innerpolitischer Konflikte<br />
langjährige Erfahrung mit Terroranschlägen. Die Roten Brigaden prägten<br />
das Land weit mehr als Migrationsfragen. Wie Spanien war auch Italien<br />
lange mehr Aus- als Einwanderungsland. Das erste Ausländergesetz<br />
entstand erst 1986. Und wie Spanien hat auch Italien heute mit der<br />
Flüchtlingsproblematik der Subsahara- Afrika-Staaten zu kämpfen. Die<br />
Roma-Problematik schürt zudem eigentlichen Rassenhass bei<br />
Einheimischen, und die italienische Regierung hat erkannt, dass<br />
Integration<br />
ansässiger Zugewanderter und die Bekämpfung illegaler<br />
Migration prioritär sind. Die innere Sicherheit wurde auch in Italien<br />
aufgrund einer zu langen und zu unklaren Migrationspolitik stark<br />
beeinträchtigt.<br />
2.3.1.5. Zusammenfassung und Vergleich im Bereich<br />
Sicherheitspolitik<br />
Bereits nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden<br />
weltweit in demokratischen Staaten Anti-Terrorismusgesetze mit dem Ziel<br />
erlassen, sich gegen ähnliche Ereignisse auf eigenem Territorium zu<br />
schützen. Beschränkungen der individuellen Versammlungs-, Religions-,<br />
und Redefreiheit sowie des Schutzes der Privatsphäre liessen in der<br />
Öffentlichkeit schon bald den Verdacht aufkommen, dass Regierungen die<br />
angsterfüllte Stimmung unter den Bürgern ausnutzten, um übermässig<br />
autoritäre Gesetze einzuführen. Während Regierungen die Massnahmen<br />
als notwendiges Mittel rechtfertigten, um staatliche Fähigkeiten im Bereich<br />
Anti-Terrorismus und Sicherheit auszubauen, sahen<br />
Menschenrechtsorganisationen in den Gesetzen eine gefährliche<br />
Einschränkung des Schutzes der Menschenrechte.<br />
Untersuchungen zu<br />
diesen zwei entgegen gesetzten Gesichtspunkten wurden bislang nur sehr<br />
begrenzt vorgenommen, so dass sich weiterhin die Frage stellt, welches<br />
Gleichgewicht zwischen Sicherheit und demokratischer Freiheit mit diesen<br />
Gesetzen tatsächlich erreicht worden ist.<br />
91
Vergleichende Analysen der Gesetzgebungen in Frankreich, Deutschland<br />
und Grossbritannien zeigen, dass Grossbritannien härter durchgegriffen<br />
hat als vergleichbare Staaten, werden die drei Länder hinsichtlich ihrer<br />
Auswirkungen auf acht Kategorien von Freiheitsrechten (Privatsphäre und<br />
informationelle Selbstbestimmung, Personenfreiheit, Freie<br />
Meinungsäusserung, privates Eigentum, Bewegungsfreiheit (Asyl und<br />
Immigration), Zuständigkeit der Geheimdienste, persönliche Identifikation<br />
und Anderem) miteinander verglichen und es werden einige<br />
Schlussfolgerungen möglich, um die bestehenden Unterschiede zwischen<br />
den Ländern zu erklären. Nachdem Spanien und Italien mehr einen<br />
„internen Terrorismus“ erlebten, konkretisiert die Autorin der Master Thesis<br />
insbesondere Deutschland und Grossbritannien. Aufgrund der besonderen<br />
liberalen Werte Frankreichs wurden aber auch diesem Lande<br />
Überlegungen gewidmet.<br />
Trotz der unvermeidlichen Unterschiede, wenn Systeme des Zivilrechts<br />
mit denen des Gewohnheitsrechts verglichen werden, sind die drei<br />
ausgewählten Länder in drei Aspekten ausreichend ähnlich, um ihre<br />
Auswahl für diese Untersuchung nahe zu legen:<br />
1. Ihre Gesetze haben sich aus einem bewährten politischen Konsens<br />
liberaler und demokratischer Überlieferungen entwickelt, welche das<br />
Individuum vor ungerechtfertigter Einmischung durch den Staat<br />
schützen. Grosse Denker aller drei Länder (Deutschland: Althuisius<br />
und Kant, Frankreich: Voltaire, Diderot und Rousseau,<br />
Grossbritannien: Locke, Paine und Mill) errichteten ihre Theorien auf<br />
dem Grundsatz der Dualität von Subjekt<br />
und Objekt, vom Individuum<br />
als Gegensatz zu Staat und Gesellschaft. Sie trugen massgeblich zur<br />
Einbeziehung von Idealen wie Rede- und Pressefreiheit in die<br />
jeweiligen nationalen Rechtstexte bei.<br />
2. Alle drei Staaten hatten ihren jeweiligen Anteil an der Planung und<br />
Ausführung der Anschläge 9/11, wodurch ähnliche Sorgen über<br />
92
Europas, Brutstätte für religiösen Extremismus, Aufstände<br />
eingewanderter Jugendlicher in Vorstätten; D: Mohammed Atta von<br />
1992 - 1999 in Deutschland lebend, studierte an der Universität<br />
Hamburg).<br />
3. Die dritte Ähnlichkeit zwischen den drei Staaten war, dass sie es als<br />
einzige europäische Staaten unter die ersten fünf (nebst Kanada und<br />
den USA) in eine „Schand-Liste“ brachten, welche von mehreren<br />
nichtstaatlichen, dem Schutz von Menschenrechten verpflichteten<br />
Organisationen veröffentlicht wurden.<br />
Vergleich der Auswirkungen auf die bürgerlichen Freiheiten<br />
In der Zeit unmittelbar nach den Anschlägen war die plötzliche und<br />
umtriebige Geschäftigkeit staatlicher Stellen in den drei Ländern nicht nur<br />
auf Polizeiuntersuchungen beschränkt. Die Legislative – alarmiert durch<br />
die Möglichkeit weiterer, unmittelbar folgender Angriffe auf ihre eigenen<br />
Territorien und bedrängt durch ungeduldige Exekutiven – vergeudete<br />
keine Zeit, die als notwendig erachteten Änderungen in ihre nationalen<br />
Gesetze einzubringen. Ein bemerkenswerter Aspekt dieser Gesetze ist<br />
zweifelsohne die Geschwindigkeit, mit der sie durch die nationalen<br />
Gesetzgebungsvorlagen, welche die Einschränkung<br />
bürgerlicher<br />
Freiheiten mit sich bringen konnten,<br />
ohne jahrelange Verhandlungen<br />
zwischen verschiedenen Interessensgruppen,<br />
politischen Parteien und<br />
Fachausschüssen durchgeboxt<br />
werden konnten.<br />
93
Fazit und Gewichtung<br />
Grossbritanien<br />
• Grosse Besorgnis, stärkste Einschränkung der Grundfreiheiten<br />
• Besondere Beziehung zu den USA<br />
• Ihre Vergangenheit und fortgesetzte Unterstützung für die<br />
amerikanischen militärischen<br />
Operationen in der arabischen Welt<br />
• Ihre kulturelle und rechtliche Verwandtschaft, welche im Vergleich zu<br />
Frankreich und Deutschland, besonders empfindlich als Ziel für weitere<br />
Terroranschläge machte<br />
• GB Geschichte und Erfahrungen mit Terrorismus, durch den<br />
territorialen Streit über Nordirland (nahtlose und erweiterte Fortsetzung<br />
der Anti-Terror-Massnahmen)<br />
• Grundsatz der Parlamentarischen Souveränität, nur schwacher<br />
Einfluss der Justiz<br />
(Jahr 2000, Human Rights Act, Europäische<br />
Menschenrechtskonvention erstmals verankert)<br />
• Fehlen einer schriftlichen Verfassung zwecks formalisierter Kontrolle<br />
der Exekutive.<br />
Deutschland<br />
• Besorgt<br />
• Deutsche Geschichte, vier Jahrzehnte „Halbherrscherstatus“, eher<br />
neutrales und<br />
nicht-militärisches Engagement in auswärtigen<br />
Angelegenheiten<br />
• Grosser Anteil der türkischen Staatsangehörigen unter der deutschen<br />
Bevölkerung<br />
94
• Liberalstes Asyl Gesetz auf dem Kontinent, welches dazu führte, dass<br />
das Recht restriktiver zu verfassen um zu verhindern, dass<br />
Ressentiments nicht auf Deutschland überschwappten<br />
• Parlamentarische Souveränität als wesentlich eingeschränkteres<br />
Prinzip (Verfassungsgericht)<br />
• Verfügt über eine schriftliche Verfassung seit 1949.<br />
Frankreich<br />
• Wenig besorgt<br />
• Frankreichs Geschichte gegenüber USA seit dem Ende des<br />
Zweiten Weltkriegs<br />
• Opponent gegen das hegemonistische Bestreben der USA in<br />
politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen, inkl. NATO<br />
Kommando und Führungsstrukturen<br />
• Verschiedene Handelsstreitigkeiten (WTO) zwischen Frankreich<br />
und den USA<br />
• Beherbergt mehr als ein Drittel der muslimischen Bevölkerung<br />
Europas (kontraproduktive Folgen bezüglich Antiimmigration und<br />
Anti-Asylpolitik)<br />
• Parlamentarische Souveränität ein wesentlich eingeschränktes<br />
Prinzip (Verfassungsrat)<br />
• Verfügt über eine schriftliche Verfassung seit 1958<br />
95
Gesetz der<br />
gesetzgebenden Gewalt<br />
vorgelegt<br />
Gesetz durch gesetzgebende<br />
Gewalt gebilligt<br />
Frankreich Deutschland Grossbritannien<br />
16.10.2001 15.11.2001 12.11.2001<br />
31.10.2001 20.12.2001 13.12.2001<br />
Gesetz ausser Kraft treten 31.12.2003 11.01.2007 bis heute<br />
Privacy X X unbeschränkt<br />
Freedom of the Person X - X<br />
Freedom of Expression - - X<br />
Private Property - - X<br />
Freedom of Movement - X X<br />
Jurisdiction of Secret<br />
Services<br />
- X X<br />
Personal Identification - X -<br />
Miscellaneous X X X<br />
Tabelle 4: Übersicht der Gesetzessituation der gesetzgebenden<br />
Gewalt in Frankreich, Deutschland und Grossbritannien<br />
96
3. Der Rahmen Schweiz<br />
Kurzübersicht zu Kapitel 3<br />
Den Rahmen Schweiz unterteilt die Verfasserin im Wesentlichen in die<br />
Unterkapitel „Migration und Fakten Schweiz“ (3.1.), „Sicherheit und Fakten<br />
Schweiz“ (3.2.) sowie die „Schnittstellen zwischen der Migration und der<br />
Sicherheit in der Schweiz“ (3.3.). Sie zieht im Unterkapitel „Fazit Schweiz“<br />
(3.4.) ein entsprechendes Fazit aus ihrer Sicht.<br />
Ausführlich wird dabei zuerst die Migrationspolitik in den Bereichen<br />
Wahrnehmung der Öffentlichkeit (3.1.1.) beschrieben und der<br />
Ausländerkriminalität besonderes Augenmerk gewidmet (3.1.2.). Auch die<br />
Rolle der Medien (3.1.2.1.) und verschiedene Kriminalitätstheorien werden<br />
beschrieben (3.1.2.2.). Demografische Fakten (3.1.3), Zulassungspolitik<br />
(3.1.4.) und neue Zuwanderung (3.1.4.3.) zeigen den Rahmen der<br />
Schweizer Migrationspolitik ebenfalls erklärend auf.<br />
Sechs sicherheitspolitische Faktoren (Armee, Nachrichtendienst,<br />
Neutralitätspolitik, innere Sicherheit, Verträge mit der EU und Diplomatie)<br />
werden unter Kapitel 3.2.1. bis 3.2.6. beschrieben. Am Ende der einzelnen<br />
Unterkapitel werden Fazits gezogen und Gewichtungen vorgenommen.<br />
Schliesslich werden unter Kapitel 3.3. die diversen Schnittstellen der<br />
Migration zur Sicherheitspolitik beschrieben. Dabei wird das Augenmerk<br />
auf vier, bzw. fünf relevante Schnittstellen gerichtet und zwar in den<br />
Unterkapiteln 3.3.1. bis 3.3.4. Die Verfasserin der Masterarbeit erachtet<br />
die Themenblöcke „Irreguläre Migration und Sicherheit“ (3.3.1.), „Migration<br />
und Kriminalität sowie öffentliche Sicherheit“ (3.3.2.), „Integration und<br />
Sicherheit“ (3.3.3) und in diesem Zusammenhang insbesondere auch die<br />
„Schnittstelle Sans-Papiers“ (3.3.3.1.) sowie die „Friedensförderung und<br />
Sicherheit“ (3.3.4.) von besonderer Relevanz.<br />
97
3.1. Migration und Fakten Schweiz<br />
3.1.1. Migration Schweiz und Wahrnehmung der Migration in der<br />
Öffentlichkeit<br />
In den migrationspolitischen Auseinandersetzungen in der Schweiz nimmt<br />
das Thema individuelle und nationale Sicherheit eine zentrale Rolle ein.<br />
Insbesondere steht Migration und Kriminalität immer wieder an der Spitze<br />
der politischen Auseinandersetzungen. So ist oft festzustellen, dass das<br />
Thema Ausländerkriminalität und neuerdings auch Arbeitsplatzsicherheit<br />
und soziale Sicherheit (am Beispiel ALV) gezielt auch von den politischen<br />
Parteien regelrecht zu ihren Gunsten bewirtschaftet wird. In diesem<br />
Diskurs spielen auch die Medien eine ganz zentrale Rolle.<br />
Gerade bei Themen wie Migration und Kriminalität, wo direkte Vergleiche<br />
mit der unmittelbaren Umwelt fehlen, beziehen wir den grössten Teil<br />
unserer Informationen aus den Massenmedien. Diese Informationen sind<br />
durch charakteristische Züge vorselektioniert, einerseits durch die<br />
Medienstelle der Polizei, anderseits durch die Massenmedien. Diese<br />
Selektion ist nötig, damit sich der Rezipient in seiner Umwelt orientieren<br />
kann, jedoch können sich durch eine problematische und allenfalls<br />
einseitige Berichterstattung daraus ganz bestimmte, unter anderem auch<br />
fremdenfeindliche Vorstellungen herausbilden. Bei der Darstellung der<br />
Ausländerkriminalität ist die isolierte Interpretation von „nackten Zahlen“<br />
wie beispielsweise die Tatsache der Zunahme schwerer Gewalttaten<br />
durch Ausländer, die selten Auskunft über Veränderungen im<br />
Anzeigeverhalten geben, in der Rechtsprechung sowie wirtschaftlichen<br />
und sozialen Bedingungen, schwierig. So ist beispielsweise das<br />
Nationalitätsmerkmal straftatverdächtiger und strafverfolgter Personen<br />
neben Alter und Geschlecht eines der wenigen Merkmale, das mit<br />
ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit in allen Polizei- und Gerichtsstatistiken<br />
erscheint. Über viele andere Merkmale wie sozioökonomischer Status,<br />
Lebenslage oder den spezifischen Handlungskontext ist es viel<br />
98
schwieriger irgendwelche Informationen zu erhalten. Löst man die<br />
Statistiken nur nach dem Indikator Nationalität auf, dann ergibt sich das<br />
Bild einer Gesellschaft, in der Ausländer massiv krimineller sind als<br />
Einheimische. Jedoch kann man diesen Befund nicht direkt mit der<br />
Bevölkerungsstatistik vergleichen, denn auch Touristen und Asylbewerber<br />
werden straffällig. Betrachtet man zusätzlich noch andere Faktoren, wie<br />
Alter und sozioökonomischer Status, so lässt sich kaum mehr ein<br />
Unterschied zwischen Einheimischen und Ausländern feststellen. Es muss<br />
aber klar darauf hingewiesen werden, dass die Kriminalstatistik nur einen<br />
Teil aller Delikte erfasst. Vor allem Delikte, die nicht von Amtes wegen<br />
verfolgt werden müssen, werden oft nicht angezeigt, zusätzlich ist zu<br />
erwähnen, dass ein Ausländer eher angezeigt wird als ein Einheimischer.<br />
Die im Rahmen der Studie untersuchten Selektionskriterien von<br />
Journalisten zeigen offenbar, dass ein Ereignis von Nachrichtenfaktoren<br />
und bestimmten Nachrichtenwerten mitgeprägt ist 43 . Bezüglich der<br />
Kriminalität kann allgemein festgehalten werden, dass Medien eher selten<br />
über Kriminalität im Alltag, sonder vornehmlich über besonders<br />
spektakuläre und dramatische Vorfälle berichten. Wollte man Kriminalität<br />
von Ausländern in einem weiteren Kontext verstehen, bräuchte es Artikel,<br />
welche Hintergründe der Tat bzw. des Täters aufzeigen. Jedoch wird über<br />
Kriminalität vorwiegend in Kurzmeldungen berichtet.<br />
Wird nun Migration in den Medien vor allem über negative Themen wie<br />
Ausländerkriminalität etc. definiert, so kann es sehr schnell dazu kommen,<br />
43 Galtung und Ruge (1965) stellten folgende Nachrichtenfaktoren auf: Frequenz,<br />
Schwellenfaktor, Eindeutigkeit, Bedeutsamkeit, Konsonanz, Kontinuität, Variation, Bezug<br />
zu Elite-Nationen, Bezug Elite-Personen, Personalisierung sowie Negativismus<br />
(vergleiche Kunczik / Zipfel 2001: 247f). Galtung und Ruge unterzogen ihre Theorie einer<br />
Prüfung, indem sie die Berichterstattung norwegischer Zeitungen über Kongo-, die Kuba-<br />
und die Zypern-Krise bezüglich ihrer Nachrichtenwerte untersuchten und stellten fest:<br />
dass: „Je entfernter eine Nation ist, desto eher wird nur über Handlungen der Elite<br />
berichtet; je niedriger der soziale Rang einer Person ist, desto negativer ist das Ereignis,<br />
je weniger kultureller Nähe gegeben ist, desto bedeutsamer muss ein Ereignis sein, um<br />
berichtet zu werden. Nicht bestätigt werden konnte der Zusammenhang zwischen<br />
Entfernung einer Nation und Negativismus des Ereignisses“.<br />
99
dass gerade bei der direkten Demokratie solche Ereignisse sehr schnell<br />
die Migrationspolitik beeinflussen können 44 .<br />
Im Kontext Kriminalität und öffentliche Sicherheit wird deutlich, welche<br />
Wichtigkeit im Sinne der Prävention das Thema Integration von<br />
Ausländern hat. Im nachstehenden Kapitel wird näher darauf<br />
eingegangen.<br />
3.1.2. Die mediale Beeinflussung der Öffentlichkeit, insbesondere<br />
in der Wahrnehmung der Ausländerkriminalität<br />
Es lässt sich leicht dokumentieren, dass die Schweiz zwar ein<br />
Einwanderungsland ist, die Schweizer Bevölkerung sich jedoch mit dieser<br />
Tatsache schwer tut, und insbesondere die Parteien ganz links und rechts<br />
des politischen Spektrums Stimmung machen und davon zu profitieren<br />
suchen, die Probleme medial für sich auszunutzen, bzw. die Probleme<br />
rund um die Ausländerkriminalität zu ihren Gunsten bewirtschaften. Die<br />
wissenschaftliche Studie des Teams rund um Prof. Dr. Werner Wirth 45<br />
liefert relevante Erkenntnisse.<br />
3.1.2.1. Wirklichkeitskonstruktion: Rolle der Medien<br />
In einer komplexen, pluralistischen und ausdifferenzierten Gesellschaft<br />
kommt den Massenmedien in Bezug auf die Wirklichkeitskonstruktion eine<br />
44 Der Labeling Approach ist ein kritischer Ansatz und besagt, dass vor allem Akteure,<br />
welche an der Macht sind, Normen durchsetzen können, welche in ihrem Interesse<br />
stehen. Wenn man unter diesem Aspekt die direkte Demokratie beleuchtet, haben<br />
Schweizer Bürger, welche durch Abstimmungen den Gesetzgebungsprozess<br />
beeinflussen können mehr Macht und erhalten dadurch ihre Vormachtstellung vor den<br />
Ausländern (vergleiche dazu auch erleichterte Einbürgerung, Asylgesetzgebung, usw.).<br />
45 Quelle: Studie von Dr. Werner Wirth, IPMZ – Institut für Publizistikwissenschaft und<br />
Medienforschung der Universität Zürich, 2005<br />
« Medien, Migration und Kriminalität. Eine Inhaltsanalyse von Schweizer Tageszeitungen,<br />
Juni 2005<br />
100
sehr wichtige, in gewissen Bereichen sogar die entscheidende Rolle zu.<br />
Gerade bei Themen wie Migration und Kriminalität, wo direkte Vergleiche<br />
mit der unmittelbaren Umwelt fehlen, beziehen wir den grössten Teil<br />
unserer Informationen aus den Massenmedien. Diese Informationen sind<br />
durch charakteristische Züge vorselektioniert, einerseits durch die<br />
Medienstelle der Polizei, anderseits durch die Massenmedien. Diese<br />
Selektion ist nötig, damit sich der Rezipient in seiner Umwelt orientieren<br />
kann, jedoch können sich durch eine problematische und allenfalls<br />
einseitige Berichterstattung daraus ganz bestimmte, unter anderem auch<br />
fremdenfeindliche Vorstellungen herausbilden.<br />
Zusätzliche Relevanz erhält das Thema Kriminalität durch die stetige<br />
Zunahme von gemeldeten Delikten, insbesondere der schweren<br />
Gewalttaten. Im Kanton Zürich zum Beispiel hat die Anzahl der Straftaten<br />
in den letzten 24 Jahren um 55.8% zugenommen, während die<br />
Bevölkerung nur um 12,5 % gewachsen ist. Es ist klar, dass diese Zahlen<br />
aus der Kriminalitätsstatistik nicht isoliert betrachtet werden dürfen, denn<br />
auch das Anzeigeverhalten und die Rechtsprechung sowie die<br />
wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen haben sich stark verändert.<br />
Nicht weniger als 50% dieser schweren Gewaltdelikte im Kanton Zürich<br />
werde von ausländischen Staatsangehörigen verübt. Dies lässt sich zwar<br />
einerseits durch den Kriminaltourismus und anderseits durch die Altersund<br />
Geschlechterstruktur der ausländischen Wohnbevölkerung erklären,<br />
ist aber bezüglich fremdenfeindlichen Einstellung schwerwiegend, da die<br />
„nackten Zahlen“ selbst einen falschen Eindruck vermitteln.<br />
3.1.2.2. Verschiedene Kriminalitätstheorien<br />
Die Arbeit von Prof. Dr. Werner Wirth beschäftigt sich in erster Linie mit<br />
der Darstellung von Kriminellen in Schweizer Tageszeitungen. Wer sind<br />
diese Kriminellen, aus welchen Gründen sind sie kriminell geworden und<br />
101
welche Rolle spielt dabei die Migration, bzw. der einzelne Migrant in der<br />
Kriminalität? Die Studie geht prinzipiell von vier allgemeinen Kriminali-<br />
tätstheorien aus:<br />
• Biologische Kriminalitätstheorie (Geschlechts spezifisch)<br />
• Sozialpsychologische Kriminalitätstheorie (soziale Lerntheorien und<br />
Kontrolltheorien)<br />
• Sozialstrukturelle Kriminalitätstheorie (Anomie-Theorie, Labeling-<br />
Theorie und Theorie der sozialen Desorganisation)<br />
• Multifaktorielle Kriminalitätstheorie<br />
sowie von drei speziellen Kriminalitätstheorien<br />
• Kriminalität und Massenmedien<br />
• Fremdenfeindliche Gewalt<br />
• Ausländerkriminalität.<br />
Von besonderer Bedeutung ist gemäss Prof. Dr. Wirth die Erkenntnis,<br />
dass innerhalb einer Gesellschaft kulturelle Handlungsziele vorgegeben<br />
werden und die soziale Struktur die Mittel zur Realisierung dieser Ziele zur<br />
Verfügung stellt oder eben auch nicht; dabei steht nicht allen<br />
Gesellschaftsmitgliedern der gleiche Zugang zu eben den legitimen Mitteln<br />
von Handlungszielen zu. Diese Teile der Gesellschaft sind einem starken<br />
Druck ausgesetzt, welcher durch Konformität (legitime Mittel zur<br />
Zielerreichung), Innovation (illegitime Wege der Zielerreichung durch<br />
leichtere Delikte), Rebellion (Ziele wie auch Mittel werden durch andere<br />
ersetzt), Rückzug (Ziele und Mittel werden ersatzlos verworfen) und<br />
Ritualismus (Ziele werden durch andere ersetzt, jedoch mit legitimen<br />
Mitteln erreicht) ersetzt wird.<br />
102
Sozialisationstheorien und Terroristen der zweiten Einwanderungsgeneration<br />
Die Sozialisationstheorien gehen davon aus, dass bei Kriminellen die<br />
Sozialisation der Person fehlgeschlagen ist und sie deshalb kriminell wird.<br />
Als Sozialisation wird dabei die Anpassung an Normen und Werte der<br />
sozialen Umwelt verstanden. Dieser Ansatz ist vor allem bei Ausländern<br />
zweiter oder dritter Generation interessant, da diese oft in zwei Welten<br />
leben. Einerseits in der durch die Eltern vermittelten Welt des<br />
Herkunftslandes und anderseits im Einwanderungsland. Dabei können<br />
Identitätskrisen ausgelöst werden. In Kapitel 3.2. hat die Autorin der<br />
Master-Thesis am Beispiel der Terrorismus-Problematik Grossbritannien<br />
auf eben diesen Umstand hingewiesen.<br />
Subkulturtheorie und Jugendkriminalität<br />
Die Subkulturtheorie ist eine Fortentwicklung der Theorie zur<br />
Bandenkriminalität (Ansatz der Chicagoer Schule, Im Zentrum der Theorie<br />
steht die Devianz, also die Abweichung von allgemein akzeptierten<br />
Verhaltenserwartungen. Für ein Individuum besteht ein<br />
Spannungszustand zwischen Situation, in der es sich befindet, z.B.<br />
schlechte Ausbildung und dem angestrebten Ziel, z.B. Wunsch nach einer<br />
„guten“ Arbeit. Daraus ergibt sich das Problem der Anpassung. Konkret<br />
heisst das, dass die Person, die eine schlechte Arbeit annehmen muss,<br />
durch diese Stellung im Subsystem Arbeit auch im Subsystem Prestige<br />
eine schlechte, niedrige Stellung innehat und somit im ganzen sozialen<br />
System „schlecht“ dasteht und unzufrieden mit der eigenen Lage ist.<br />
Befinden sich mehrer Personen in einer ähnlichen Lage und können sich<br />
darüber verständigen, besteht die Möglichkeit der Bildung einer Subkultur.<br />
Es werden aufgrund der gemeinsamen Versager-Gefühle neue Normen<br />
und Werte formuliert, und somit kann Aggression gegen das<br />
gesellschaftliche System gerechtfertigt werden. Die Subkulturtheorie ist<br />
zentral für das Verständnis von Jugendkriminalität.<br />
103
Kulturkonflikttheorie und Ausländerkriminalität<br />
Die Kulturkonflikttheorie geht auf den amerikanischen Soziologen Sellin<br />
zurück, sie wird im Zusammenhang mit der Frage der Erklärung von<br />
Ausländerkriminalität verwendet. Die Theorie beruht auf der Vorstellung<br />
von Relativität der kulturellen Werte. Bei Migrationsbewegungen werden<br />
kulturell vorgeprägte Verhaltensmuster mitgenommen. In einer kulturell<br />
anders strukturierten Umgebung kann es dann zu Konflikten von<br />
kulturellen Wert- und Verhaltensnormen kommen. Die Situation verlangt<br />
eine Anpassungsfähigkeit gegenüber den neuen Werten und Normen auf<br />
der einen und Toleranz auf der anderen Seite. Die Bewältigung dieser<br />
Situation läuft nicht immer konfliktfrei ab. Aus der Konfliktsituation, sich<br />
dem Normensystem des Gastlandes anzupassen, entstehen Aussen- und<br />
Innenkonflikte:<br />
Aussenkonflikte sind dann gegeben, wenn sich der Ausländer weiterhin an<br />
dem Normensystem seines Heimatlands orientiert. Aussenkonflikte sind<br />
auch alle Straftaten, die bei Ausländern durch Frustration ausgelöst<br />
werden, bei der der Ausländer erkennt, dass er die Ziele und Normen des<br />
Gastlandes mit seinen Kenntnissen und Fähigkeiten auf dem legalen Weg<br />
nur bedingt oder gar nicht erreichen kann. Bei Innenkonflikten handelt es<br />
sich um einen Konflikt in der Gruppe der Ausländer selbst (z.B. auch in<br />
den Familien), der destabilisierend wirkt. Im Gegensatz zu ihren Eltern<br />
verinnerlichen die Kinder durch ihren ständigen und engen Kontakt mit der<br />
Umwelt weitgehend die Ziele, Normen und Wertvorstellungen des<br />
Gastlands und rebellieren gegen vermeintlich rückständige Ansichten und<br />
Auffassungen ihrer Eltern. Insbesondere erfolgt Rebellion gegen die<br />
Moralvorstellungen und Erziehungsmethoden. Verstärkt werden die<br />
Konflikte noch durch Sprachprobleme innerhalb der Familien und die<br />
damit verbundenen unterschiedlichen Wertvorstellungen.<br />
104
Polizeiliche Kriminalitätsstatistik und Merkmale, die zur Kriminalität<br />
führen<br />
Das Nationalitätsmerkmal straftatverdächtiger und strafverfolgter<br />
Personen ist neben Alter und Geschlecht eines der wenigen Merkmale,<br />
das mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit in allen Polizei- und<br />
Gerichtsstatistiken erscheint. Über viele andere Merkmale, wie<br />
sozioökonomischer Status, Lebenslage oder den spezifischen<br />
Handlungskontext ist es viel schwieriger irgendwelche Informationen zu<br />
erhalten. Löst man die Statistiken nur nach dem Indikator Nationalität auf,<br />
dann ergibt sich das Bild einer Gesellschaft, in der Ausländer massiv<br />
krimineller sind als Einheimische. Jedoch kann man diesen Befund nicht<br />
direkt mit der Bevölkerungsstatistik vergleichen. denn auch Touristen und<br />
Asylbewerber werden straffällig. Betrachtet man zusätzlich noch andere<br />
Faktoren, wie Alter und sozioökonomischer Status, so lässt sich kaum<br />
mehr ein Unterschied zwischen Einheimischen und Ausländern feststellen.<br />
Eine Studie aus Stuttgart, welche sich mit straffälligen Jugendlichen<br />
befasst, berücksichtigt z.B. nur eine weitere Komponente, nämlich die der<br />
Schulbildung, und kam zu einem völlig anderen Ergebnis, so dass gesagt<br />
werden kann, dass die Staatsangehörigkeit keinen Einfluss auf die<br />
Straffälligkeit von Jugendlichen hat. Daraus können wir schliessen, dass<br />
Schulbildung weitaus wichtiger ist zur Vermeidung von Kriminalität als die<br />
Nationalität. Es muss aber klar darauf hingewiesen werden, dass die<br />
Kriminalstatistik nur einen Teil aller Delikte erfasst. Vor allem Delikte, die<br />
nicht von Amtes wegen verfolgt werden müssen, werden oft nicht<br />
angezeigt. Zusätzlich ist zu erwähnen, dass ein Ausländer eher angezeigt<br />
wird als ein Einheimischer (vergleiche dazu den „Labeling Approach“).<br />
Ein wichtiger Hinweis zur Strafurteilsstatistik ist der, dass 26% der<br />
verurteilten Täter Ausländer ohne Schweizer Wohnsitz sind, also nicht zur<br />
ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz zählen. Es bleiben gemäss<br />
Statistik 20 % als verurteilte Ausländer mit Schweizer Wohnsitz. Verändert<br />
105
man nun die Grundgesamtheit so, dass nur Täter mit Schweizer Wohnsitz<br />
betrachtet werden, so liegt der Ausländeranteil bei rund 27 %, also ist die<br />
Gefahr als Ausländer in der Schweiz wohnend kriminell zu werden beim<br />
Faktor 1,3. Bei den Asylanten sieht das Bild leicht anders aus, bereinigt<br />
man Alter und Geschlecht, haben junge männliche Asylanten eine<br />
1,7fache 30 bis 39-jährige eine 1,3fache und über 40-jährige eine 2,6fache<br />
Verurteiltenbelastung. Abschliessend kann gesagt werden, dass bei<br />
Verurteilten nicht das Merkmal „Ausländer“, sondern der Aufenthaltsstatus<br />
ausschlaggebend ist.<br />
„Labeling Approach“ und wichtige Akteure<br />
Der „Labeling Approach“ ist ein kritischer Ansatz und besagt, dass vor<br />
allem Akteure, welche an der Macht sind, Normen durchsetzen können,<br />
welche in ihrem Interesse stehen 46 . Wenn man unter diesem Aspekt die<br />
direkte Demokratie beleuchtet, haben Schweizer Bürger, welche durch<br />
Abstimmungen den Gesetzgebungsprozess beeinflussen können, mehr<br />
Macht und erhalten dadurch ihre Vormachtstellung vor den Ausländern<br />
(vergleiche dazu auch erleichterte Einbürgerung, Asylgesetzgebung,<br />
usw.).<br />
Nachrichtenwerttheorie<br />
Dass die Medien nicht nur im Abstimmungsprozess grosse Einflussnahme<br />
auf die Meinungsbildung haben können, dürfte unbestritten ein. Die<br />
Selektionskriterien von Journalisten zeigen offenbar, dass ein Ereignis von<br />
Nachrichtenfaktoren, bestimmten Nachrichtenwerten mitgeprägt ist.<br />
Galtung und Ruge (1965) stellten folgende Nachrichtenfaktoren auf:<br />
Frequenz, Schwellenfaktor, Eindeutigkeit, Bedeutsamkeit, Konsonanz,<br />
46 Quelle: Studie von Dr. Werner Wirth, IPMZ – Institut für Publizistikwissenschaft und<br />
Medienforschung der Universität Zürich, 2005<br />
« Medien, Migration und Kriminalität. Eine Inhaltsanalyse von Schweizer Tageszeitungen,<br />
Juni 2005<br />
106
Kontinuität, Variation, Bezug zu Elite-Nationen, Bezug zu Elite-Personen,<br />
Personalisierung sowie Negativismus. Galtung und Ruge unterzogen ihre<br />
Theorie einer Prüfung, indem sie die Berichterstattung norwegischer<br />
Zeitungen über Kongo-, die Kuba- und die Zypern-Krise bezüglich ihrer<br />
Nachrichtenwerte untersuchten und stellten fest: dass: „Je entfernter eine<br />
Nation ist, desto eher wird nur über Handlungen der Elite berichtet; je<br />
niedriger der soziale Rang einer Person ist, desto negativer ist das<br />
Ereignis, je weniger kulturelle Nähe gegeben ist, desto bedeutsamer muss<br />
ein Ereignis sein, um berichtet zu werden. Nicht bestätigt werden konnte<br />
der Zusammenhang zwischen Entfernung einer Nation und Negativismus<br />
des Ereignisses“. Ganz allgemein wird festgehalten, dass Medien eher<br />
selten über Kriminalität im Alltag, sondern vornehmlich über besonders<br />
spektakuläre und dramatische Vorfälle berichten (vergleiche Wassermann<br />
1997). Wollte man Kriminalität von Ausländern in einem weiteren Kontext<br />
verstehen, bräuchte es Artikel, welche Hintergründe der Tat bzw. des<br />
Täters aufzeigen. Jedoch wird über Kriminalität vorwiegend in<br />
Kurzmeldungen berichtet.<br />
Dieser Labeling-Ansatz ist auch insofern interessant, dass die<br />
Normabwendung nicht ausschliesslich auf abweichendes Verhalten<br />
bezogen wird, sondern auch von aktiven Vorgängen der Definition,<br />
Selektion, Zuschreibung und Stigmatisierung begleitet wird. In der Realität<br />
zeigt es sich daran, dass mehr Ausländer in der Tatverdächtigungsstatistik<br />
aufgeführt sind, ohne dass später eine Anklage erhoben wird oder eine<br />
Verurteilung stattfindet. Dieser Tatbestand verdeutlicht, dass Ausländer<br />
eher verdächtigt werden als Einheimische. Der „Labeling Approach“ ist<br />
relevant, da er auf der Mikroebene die Normanwendung von Anzeige,<br />
Verhaftung bis zum Urteil beleuchtet und eine Stereotypisierung vorwirft,<br />
sowie auf der Makroebene die erhöhte registrierte Kriminalität von<br />
Ausländern in der Gesellschaft auf einen sozial-instanzlichen<br />
Definitionsvorgang zurückführt.<br />
107
3.1.3. Migration und Demografie in der Schweiz<br />
Zwei Besonderheiten sind hervorzuheben: zunächst die Entwicklung<br />
generell und vor allem die Überalterung.<br />
3.1.3.1. Demografische Entwicklung der Schweiz<br />
Bei der ersten Zählung im Jahr 1860 hatte die Schweiz 2,5 Millionen<br />
Einwohner und Einwohnerinnen. Heute sind es weit über 7 Millionen.<br />
Parallel zu dieser Zunahme stellt man eine Alterung der Bevölkerung fest,<br />
d.h. anteilsmässig eine Abnahme der jüngeren und eine Zunahme der<br />
älteren Personen. Diese Tendenz wird sich gemäss Bundesamt für<br />
Statistik innerhalb der nächsten Jahrzehnte fortsetzen. Die sogenannten<br />
Babyboomer kommen in die Jahre und bei wachsender Wirtschaftskraft<br />
dürfte sich innert weniger Jahre ein markanter Arbeitskräftemangel<br />
einstellen. Auch in diesem Sinne hat die Migration eine grosse Auswirkung<br />
auf die Bevölkerungsstruktur der Schweiz, genauso wie auf die Sicherung<br />
der Arbeitsplätze.<br />
3.1.3.2. Überalterung prägt Migrationspolitik in der Schweiz 47<br />
Für die Schweiz und die schweizerische Wirtschaft waren Ein- und<br />
Auswanderungen immer sehr wichtig. Sie waren je nach der<br />
Wirtschaftslage unterschiedlich und hatten einen grossen Einfluss auf die<br />
bevölkerungsstatistische Dynamik des Landes. So hat zwischen 1986 und<br />
1994 die Migrationsdifferenz 48 (Differenz zwischen der Zahl der<br />
Einwanderungen und derjenigen der Auswanderungen) die natürliche<br />
Differenz (Differenz zwischen Geburten und Todesfällen) überstiegen.<br />
47<br />
Quelle: Schweizerischer Arbeitsgeberverband, gestützt auf Zahlen des Bundesamtes<br />
für Statistik<br />
48 Quelle: Jahresstatistik 1994, Bundesamt für Migration<br />
108
Eine Abnahme der Bevölkerung ab ungefähr 2030 dürfte ein<br />
wahrscheinliches Szenario darstellen und die Migrationspolitik,<br />
insbesondere die Zulassungspolitik prägen. Im Jahre 2035 wird einer von<br />
vier Einwohnern 65 Jahre alt oder älter sein und bereits im Jahre 2015<br />
werden wir mit einer abnehmenden berufstätigen Bevölkerung konfrontiert<br />
sein. Die Frage stellt sich daher, ob die Einwanderung ein Mittel gegen die<br />
Überalterung der Wohnbevölkerung sein kann. Zudem lassen sich<br />
Migrationsbewegungen nur teilweise lenken. Es gilt ferner zu bedenken,<br />
dass Migranten und Migrantinnen künftig selbst auch einmal Pensionierte<br />
sein werden. Es gilt daher, in diesem Zusammenhang an<br />
Produktionssteigerung und bessere Ausnutzung des Arbeitspotenzials der<br />
Frau und der älteren Menschen zu denken.<br />
3.1.4. Migration und Zulassungspolitik Schweiz<br />
Die Migrationspolitik und insbesondere die Zulassungspolitik sind infolge<br />
der unterschiedlichen Ansprüche aus verschiedenen Politikbereichen<br />
gewissen Zielkonflikten ausgesetzt. Bei der Zulassung von<br />
Ausländerinnen und Ausländern stehen gesamtwirtschaftliche Interessen<br />
in Vordergrund, nicht in erster Linie humanitäre Aspekte. Umgekehrt sind<br />
für humanitäre Überlegungen die allgemeinen wirtschaftlichen Interessen<br />
der Schweiz nicht ausschlaggebend, auch wenn es immer gilt, die<br />
souveränen Entscheide des Landes – unter Vorbehalt der<br />
völkerrechtlichen Verpflichtungen – zu beachten. Es gibt in diesem Sinne<br />
grundsätzlich keinen Rechtsanspruch auf Einreise und Gewährung des<br />
Aufenthalts. Besondere Bedeutungen kommen der Einhaltung der<br />
Menschenrechte zu. Diesem Aspekt wird ein spezielles Kapitel in dieser<br />
Master-Thesis gewidmet. Die Schweiz ist Mitglied im Europarat und der<br />
humanitären Tradition seit jeher verpflichtet.<br />
109
3.1.4.1. Zulassung zum Arbeitsmarkt<br />
In der Schweiz wird das so genannte duale Zulassungssystem verfolgt.<br />
Dieses basiert auf dem Konzept der sogenannten Öffnung zwischen der<br />
Schweiz und den EU-Staaten im Rahmen der Umsetzung des<br />
Freizügigkeitsabkommens. Dieses Abkommen wird auf die EFTA-Staaten<br />
ausgedehnt. Eine Aufenthalts- oder Kurzaufenthaltsbewilligung zur<br />
Ausführung eine Erwerbstätigkeit soll in erster Linie Angehörigen von<br />
Mitgliedstaaten der EU und der EFTA in Anwendung des<br />
Freizügigkeitsabkommens erteilt werden. Nur wenn keine geeigneten<br />
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen aus der Schweiz oder einem<br />
Mitgliedstaat der EU und der EFTA gefunden werden, können<br />
Bewilligungen an Führungskräfte, Spezialisten oder andere qualifizierte<br />
Arbeitskräfte aus Drittstaaten (Nicht-EU-Staaten) erteilt werden. Bei der<br />
Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen müssen zusätzlich die beruflichen<br />
Qualifikationen, die berufliche Anpassungsfähigkeit, die Sprachkenntnisse<br />
und das Alter eine nachhaltige Integration in den schweizerischen<br />
Arbeitsmarkt und in das soziale Umfeld erwarten lassen.<br />
3.1.4.2. Zulassungspolitik in den letzten 30 Jahren<br />
Die Migrationspolitik der letzten 30 Jahre hat wegen der grosszügigen<br />
Zulassung von Hilfskräften und Saisonniers zu einem kontinuierlich<br />
steigenden Anteil niedrig qualifizierter Arbeitskräfte bei der ausländischen<br />
Wohnbevölkerung geführt. Dies hat die Ausländerarbeitslosigkeit erhöht,<br />
den strukturellen Wandel gehemmt und die Produktionsentwicklung<br />
verlangsamt. Heute haben wir es allerdings mit einer neuen Zuwanderung<br />
zu tun, die ein echter Trendbruch darstellt. Dieser wird in einem Buch des<br />
Think Tanks Avenir Suisse untersucht und namhafte Wissenschaftler<br />
beschreiben wissenschaftlich belegt wirtschaftliche und gesellschaftliche<br />
Aspekte. Die Zahl der Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten ging gegen<br />
110
2001 deutlich zurück. Der Anteil der Nord- und Westeuropäer nimmt<br />
bereits seit 1997 deutlich zu.<br />
3.1.4.3. Neue Zuwanderung<br />
Die neue Zuwanderung unterscheidet sich von der alten vor allem in<br />
geografischer Zusammensetzung, im Qualifikationsniveau und den<br />
Migrationsmotiven. Ein migrationspolitischer Paradigmawechsel hat<br />
(Personenfreizügigkeit gegenüber der EU einerseits und striktere<br />
Ausländer- und Asylgesetzgebung auf der anderen Seite) zu einem<br />
Zuwanderungsmix geführt. Der Zuzug ist ein wichtiger Wachstumsmotor,<br />
von welchem die einheimische Bevölkerung stark profitiert. Mit ca. 22 %<br />
Migrationsanteil liegt die Schweiz höher als in klassischen<br />
Einwanderungsländern wie z.B. Kanada und gar doppelt so hoch wie in<br />
den USA. Eine ehemals unterschichtende Zuwanderung hat sich in eine<br />
durch- und überdurchschnittliche Zuwanderung gekehrt.<br />
Heute stammen zudem 70 % der Zugewanderten aus Ländern der<br />
Europäischen Union 49 .<br />
Der Schwerpunkt des Zuzugs hat sich somit in Regionen verlagert, die der<br />
Schweiz sprachlich und kulturell nahestehen. Das erleichtert die<br />
Integration. Während unter Migranten, die seit über zehn Jahren in der<br />
Schweiz leben, weniger als 20 % einen tertiären Bildungsabschluss<br />
haben, sind es unter neu Zugewanderten 58 %, eine Quote, die doppelt so<br />
hoch ist, wie unter den Schweizern selbst. Die Zuwanderung führt in<br />
diesem Sinne in den Arbeitsmarkt und nicht mehr in die Sozialsysteme.<br />
Darüber hinaus gab es beim Aufenthaltsstatus eine Verschiebung von<br />
Fremdarbeitern, Saisonniers und Flüchtlingen hin zu Jahresaufenthaltern<br />
und Niedergelassenen.<br />
49 siehe dazu Statistiken im Abschnitt 3.1.4.6.<br />
111
Auslöser der neuen Zuwanderung sind der Strukturwandel im<br />
Arbeitsmarkt und migrationspolitische Reformen. Zusammenfassend<br />
könnte man sagen, dass wir den neuen Schweizer Einwanderungsmix<br />
also einem Zusammenspiel zwischen veränderter Arbeitskräftenachfrage<br />
und migrationspolitischen Reformen verdanken. Die Migrationspolitik von<br />
heute kann dank der Personenfreizügigkeit als erfolgreiche liberale<br />
Einwanderungspolitik bezeichnet werden: Die gesamte Zunahme der<br />
Arbeitsproduktivität von 0,5 % jährlich lässt sich auf die Zuwanderung<br />
zurückführen. Dies entspricht einem Beitrag zum BIP von 2,4 Milliarden<br />
Schweizerfranken gemäss Avenir Suisse.<br />
Inzwischen werden 27 % aller Arbeitsstunden in der Schweiz durch<br />
Ausländer erbracht. 43 % der hier wirkenden Professoren sind Ausländer<br />
und 60 % der Führungskräfte der SMI Schweizer Unternehmen sind<br />
Ausländer. Die Migrationspolitik, die neue Zuwanderungspolitik kann mit<br />
Recht als strategischer volkswirtschaftlicher Faktor betrachtet werden.<br />
Personenfreizügigkeit wird von der Avenir Suisse denn auch als beste<br />
„Antimigrationspolitik“ dargestellt.<br />
3.1.4.4. Humankapital und Wettbewerb der Köpfe<br />
Die Schweiz steht im Wettbewerb um die besten Köpfe. Humankapital ist<br />
in diesem Zusammenspiel von grosser Bedeutung für den Wohlstand und<br />
die wirtschaftliche Sicherheit des Landes. Die Wettbewerbsfähigkeit von<br />
Ländern wird zunehmend von hochqualifizierten Mitarbeitern bestimmt, die<br />
in wissensbasierten Volkswirtschaften etwa 20 bis 30 % der Beschäftigten<br />
ausmachen. Björn Johansson, der internationale Personalberater, sagt,<br />
dass die Schweiz das Land der höchsten Ausländerquote im<br />
Topmanagement ist, und dass diese Internationalisierung innerhalb<br />
weniger Jahre stattgefunden habe. Die neue Zuwanderung wird sogar<br />
von Roger Köppel (Chefredaktor der Weltwoche) als wirtschaftlichen<br />
112
„Glücksfall für unser Land“ genannt. Die Schweiz wird in den grösseren<br />
Zusammengang der europäischen Integration gestellt und für ihre<br />
Integrationskraft als Schmelztiegel gelobt.<br />
3.1.4.5. Abstiegsangst der Mittelschicht und Stimmungsmache<br />
Dennoch ist aufgrund dieses Migrationsphänomens der vergangenen<br />
Jahre in der Schweiz eine gewisse „Abstiegsangst der Mittelschicht“ zu<br />
beobachten. Es steht ausser Frage, dass die SVP in diesem<br />
Zusammenhang seit Jahren Stimmungsmache betreibt. Neustes Bespiel<br />
liefert sie mit der Broschüre (in alle Haushalte, Ende Juli 2010): „Welche<br />
Ausländerpolitik wollen Sie?“ Mit den Suggestivfragen „Wie viel<br />
Ausländerkriminalität wollen Sie? Wie viel Islam wollen Sie? Wie viel<br />
Asylgesuche wollen Sie?“ werden aus Politmarketing-Gründen ganz<br />
bewusst ungute Gefühle gegenüber der ausländischen Wohnbevölkerung<br />
geschürt.<br />
113
3.1.4.6. Die neue Zuwanderung in Zahlen<br />
250'000<br />
200'000<br />
150'000<br />
100'000<br />
50'000<br />
0<br />
-50'000<br />
-100'000<br />
Solde migratoire<br />
Immigrations<br />
Emigrations<br />
Les scénarios de l‘évolution de la population de la Suisse, 2010-2060<br />
Raymond Kohli, OFS, Avril 2010<br />
Eidgenössisches Departement des Innern EDI<br />
Bundesamt für Statistik BFS<br />
Migrationsfluss in der Schweiz seit 1860 bis 2009<br />
Les flux migratoires en Suisse depuis 1860-2009<br />
-150'000<br />
1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010<br />
Abbildung 3: Migrationsfluss in der Schweiz seit 1860 bis 2009<br />
Die nachstehenden Darstellungen stammen aus den Statistiken des BfS –<br />
Bundesamt für Statistik.<br />
Abbildung 4: Einwanderung aus den EU-27/EFTA-Staaten und aus<br />
den übrigen Staaten, seit 1990<br />
114<br />
3
Abbildung 5: Einwanderung, Auswanderung und Wanderungsbilanz,<br />
seit 1974<br />
Abbildung 6: Einwanderung der ständigen ausländischen<br />
Wohnbevölkerung nach Einwanderungsgrund,<br />
Jahr 2009<br />
115
Tabelle 5: Bestand der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung<br />
nach Ausländergruppe seit Ende Dezember 1974<br />
116
Abbildung 7: Anzahl der Asylgesuche in der Schweiz pro Jahr<br />
Abbildung 8: Prozentuale Verteilung der Personen in der<br />
Vollzugsunterstützung nach Regionen per 31. 12 2009<br />
117
Abbildung 9: Asylgesuche nach den 10 zahlreichsten<br />
Herkunftsländern, Jahr 2009<br />
3.2. Sicherheit und Fakten Schweiz<br />
Ausrichtung der schweizerischen Sicherheitspolitik<br />
Unter der schweizerischen Sicherheitspolitik ist der koordinierte Einsatz<br />
aller Kräfte der Nation zu verstehen, der Gefahren und Bedrohungen<br />
strategischen Ausmasses präventiv und operativ begegnet. Sie umfassen<br />
sowohl die Instrumente und Mittel der Aussen-, Wirtschafts-, Migrationsund<br />
der Ressourcenpolitik wie diejenigen von Armee, Polizei und des<br />
Staatsschutzes, insbesondere auch des Schweizerischen<br />
Nachrichtendienstes. Aufgrund des Verfassungsauftrages (Artikel 2, BV -<br />
Bundesverfassung) hat der Bund die Freiheit und die Rechte des Volkes<br />
zu schützen, die Unabhängigkeit und Sicherheit des Landes zu wahren<br />
118
und sich für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung<br />
einzusetzen. Die Schweiz verfolgt deshalb die folgenden<br />
sicherheitspolitischen Ziele:<br />
1.) Unversehrtheit der Bevölkerung und nachhaltig gewährleistete<br />
Lebensgrundlagen<br />
2.) Internationale Stabilität im Rahmen des Völkerrechts.<br />
3.2.1. Sicherheitspolitischer Faktor Armee der Schweiz<br />
Im Rahmen des Sicherheitsverbundes Schweiz ist die Armee ein<br />
strategisches Mittel in der Hand der Landesregierung zur Wahrung ihrer<br />
Handlungsfähigkeit. Sie bleibt auf absehbare Zeit die einzige<br />
sicherheitspolitische Reserve des Landes. Im Falle eines militärischen<br />
Angriffs ist sie somit das entscheidende Instrument. Qualitativ erbringt sie<br />
Schlüsselbeiträge, z.B. den Schutz des Luftraums, Aufklärungen aus der<br />
Luft, ABC-Abwehr, Katastrophenhilfe und Führungsinfrastruktur. Die<br />
Aufgaben der Armee sind in Artikel 58 Absatz 2 der Bundesverfassung<br />
definiert und in Artikel 1 des Bundesgesetzes von 1995 über die Armee<br />
und die Militärverwaltung umschrieben. Sie umfassen Kriegsverhinderung<br />
und Erhaltung des Friedens, Verteidigung, Unterstützung der zivilen<br />
Behörden und Friedensförderung. Die definierten Aufgaben sind die<br />
längerfristigen Vorgaben für die Armee, und aus ihnen werden auf Grund<br />
einer jährlichen Überprüfung der Bedrohungen und Gefahren die Aufträge<br />
an die Armee abgeleitet. Kurz könnte der ursprüngliche Zweck der Armee<br />
auch dahingehend definiert werden, potenzielle Gegner davon abzuhalten,<br />
die Schweiz militärisch anzugreifen. Seit geraumer Zeit dient die Armee<br />
aber auch weiteren Zwecken. Sie dient zum Schutz von Bevölkerung und<br />
deren Lebensgrundlagen und leistet schliesslich auch einen<br />
vorbeugenden Beitrag im Ausland, um Auswirkungen bewaffneter<br />
Konflikte auf die Schweiz zu verringern. Die Landesverteidigung leistet<br />
Abwehr gegen einen militärischen Angriff und die Unterstützung der zivilen<br />
119
Behörden zum umfassenden Schutz des Landes und dessen Bewohnern.<br />
Die Armee leistet schon allein durch ihre Existenz, ihre Bereitschaft und<br />
ihre Ausrüstung einen präventiven Beitrag zu Sicherheit, Frieden und<br />
Stabilität im sicherheitspolitischen Umfeld der Schweiz. Dieser Beitrag<br />
erfolgt teilweise in Zusammenarbeit, einerseits mit den<br />
sicherheitspolitischen Partnern im Inland und anderseits durch<br />
internationale Kooperation in der militärischen Ausbildung und der<br />
Rüstungsbeschaffung, in der militärischen Friedensförderung und in der<br />
Unterstützung humanitärer Hilfeleistung.<br />
Auch wenn wir neue Risiken zu verkraften haben, und diesen zu<br />
begegnen wissen, sind bewaffnete Konflikte zwischen staatlichen<br />
Streitkräften nach wie vor eine wiederkehrende Realität. Beispiele dafür<br />
sind der Angriff einer von den USA geführten Koalition auf den Irak im<br />
Jahre 2003 und der Krieg in Georgien im August 2008. Aber auch im<br />
europäischen Umfeld bestehen militärische Bedrohungspotentiale. Ein<br />
umfassendes Gesamtsystem ist unumgänglich. Dieses umfasst Führung,<br />
Führungsunterstützung und Aufklärung bis hin zum Kampf und der<br />
Kampfunterstützung am Boden, in der Luft und aus der Luft sowie in den<br />
Informations- und Kommunikationstechnologien. Der Wandel der<br />
Bedrohung legt aber auch nahe, die Zweckmässigkeit der bisherigen<br />
Mittel, Massnahmen und Einrichtungen zu überprüfen und zu<br />
hinterfragen.<br />
Entgegen der Darstellung des Sicherheitspolitischen Berichts 2010<br />
(SiPol- Bericht) hat sich auch das sicherheitspolitische Umfeld der<br />
Schweiz stark verändert: Heute sind wir von einem soliden Ring<br />
befreundeter und friedlicher Länder umgeben, die miteinander in<br />
weiträumigen Allianzen, namentlich der NATO und der EU, verbunden<br />
sind und für Sicherheit und Stabilität in Europa sorgen. Auch die<br />
Migrationspolitk wird von der EU über weite Strecken gemeinsam<br />
formuliert und es bestehen erste Ansätze eines “burden sharing“ (z.B.<br />
120
Dublin-System) in Angelegenheiten der Flüchtlingsthematik. und in der<br />
Migrationsaussenpolitik (Prävention irreguläre Migration, Hilfe vor Ort,<br />
Rückkehrprogramme, Aussengrenzenfonds, Frontex, etc). Mit der<br />
Ausdehnung der EU und der NATO auf eine Reihe osteuropäischer<br />
Staaten – heute 27 Mitglieder, ist der Sicherheitsraum um die Schweiz<br />
noch grösser geworden. Ein allfälliger Angreifer müsste ihn zunächst<br />
durchbrechen, bevor er die Schweizergrenze erreichen könnte. Sollte das<br />
gelingen, hätte auch die beste autonome Landesverteidigung keine<br />
Chance mehr. Die Landesgrenze ist nicht mehr unsere Sicherheitsgrenze,<br />
weder aus verteidigungs- noch aus migrationspolitischer Sicht. Die<br />
Bedeutung entfernter Konfliktherde hat hingegen auch für unser Land<br />
zugenommen. Am schnellsten verletzlich ist unser Luftraum, denn<br />
Luftangriffe können praktisch ohne Vorwarnung in kriegerischer oder<br />
terroristischer Absicht auf strategisch sensible Objekte wie<br />
Kernkraftwerke, Staumauern, Transversalen und andere<br />
infrastrukturanlagen erfolgen. Entfernte Konflikte (zum Beispiel in<br />
Subsahara-Afrika) zeigen aber auch auf, inwiefern Flüchtlingsströme die<br />
mediterranen Gewässer erreichen und in der Folge unser Land betreffen<br />
können. Die Bedrohung des Terrorismus wird zwar im SiPol-Bericht<br />
erwähnt, doch werden daraus zu wenig konkrete Schlussfolgerungen<br />
gezogen. Der zerstörerische Luftangriff auf die Twin Towers von New York<br />
vom 11. September 2001 wie auch die terroristischen Anschläge auf Züge<br />
und Bahnhöfe in London und Madrid haben die Verletzlichkeit von<br />
vermeintlich sicheren Staaten mit aller Deutlichkeit illustriert. In dieser<br />
Master-Thesis geht die Autorin explizit auf diese neuen Risiken ein und<br />
zeigt explizit auch den Zusammenhang zur Migrationspolitik auf (Beispiel<br />
des sogenannten „Homegrown Terrorismus“ in England).<br />
Die heutige und auch die im sicherheitspolitischen Bericht vorgesehene<br />
Armee entspricht dem sicherheitspolitischen Umfeld wie erwähnt nicht<br />
mehr. Gemäss dem SiPol-Bericht ist der Hauptauftrag der Armee jedoch<br />
121
noch immer die klassische Landesverteidigung. Auslandeinsätze und<br />
Friedenswahrung sollen zwar möglich sein, aber nur mit sehr<br />
bescheidenen Mitteln erfüllt werden. Dies ist ein deutlicher Widerspruch<br />
zur Militärdoktrin in fast allen anderen europäischen Staaten. Selbst<br />
bevölkerungsmässig kleine europäische Staaten leisten mehr. In den<br />
letzten fünf Jahren befanden sich durchschnittlich 280 schweizerische<br />
Armeeangehörige in Auslandeinsätzen zur Friedensförderung. Das ist die<br />
Hälfte von Slowenien mit seinen bloss 2 Millionen Einwohnern, etwa<br />
dreimal weniger als im Fall Finnlands und Schwedens und fast fünfmal<br />
weniger als im Fall Österreichs. Eine Reihe kleiner Länder wie etwa<br />
Belgien, Dänemark, Estland, Kroatien, Norwegen und die Slowakei stellen<br />
sogar Kräfte für die Stabilisierung Afghanistans zur Verfügung, dies in der<br />
Einsicht, dass der Kampf gegen den Terrorismus uns alle etwas angeht.<br />
Ganz offensichtlich haben diese Länder zudem auch die Einsicht<br />
gewonnen, dass die grossen Herausforderungen in der<br />
Flüchtlingsproblematik nur dann gemeistert werden können, wenn wir vor<br />
Ort, also im Konfliktland selber einen Beitrag leisten und dies insgesamt<br />
nicht nur finanziell günstiger ist, sondern auch innerpolitische Konflikte<br />
rund um die Flüchtlingsproblematik mindert.<br />
Aufgrund der Bilateralen Verträge arbeiten wir in einer ganzen Anzahl von<br />
Bereichen eng mit der EU zusammen: wirtschaftlich, im Polizei- und<br />
Asylwesen, in der Forschung, der Bildung etc. (siehe dazu auch die<br />
Ausführungen der Autorin dieser Master-Thesis betreffend<br />
Schengen/Dublin). Es gibt über 100 Abkommen und weitere sind<br />
unterwegs. Nur im eminent wichtigen Bereich der Sicherheit leben wir<br />
dieser Politik nicht nach. Es ist schwer einzusehen, was uns daran hindert,<br />
das Prinzip der Bilateralen Verträge auf die Sicherheitspolitik<br />
auszudehnen. Je knapper die finanziellen Mittel sind, desto mehr ist die<br />
Sicherheitspolitik auf internationale Zusammenarbeit angewiesen und je<br />
122
mehr die Armee im europäischen Umfeld kooperiert, desto grösser dürften<br />
ihre Erfolgschancen im Konfliktfall sein.<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Wenngleich die Schweizer Bevölkerung mehrmals an der Urne deutlich ja<br />
gesagt hat zu einer starken, modernen Armee, werden die Budgets seit<br />
Jahren gekürzt, und der Wille des Souveräns in diesem Sinne nicht<br />
respektiert. Innert 20 Jahren hat sich das Verteidigungsbudget von 1,8 %<br />
auf 0,8 % des Bruttoinlandproduktes reduziert – was einen eigentlichen<br />
Sinkflug bedeutet. Der neuste Sicherheitspolitische Bericht 2010 macht<br />
besonders für Insider deutlich, dass ein Ringen im Gange ist zwischen der<br />
Generation im Sinne einer „Armee von 1961“ (im Volksmund auch<br />
„Stahlhelmfraktion“ genannt) und einer zukunftsgerichteten Optik, welche<br />
Sicherheit dank Kooperation propagiert. Unheilige Allianzen zwischen<br />
Kräften ganz links und ganz rechts verweigern eine Lageanalyse, die den<br />
neuen Bedrohungslagen gerecht würde. Die Armee hat bei der<br />
Bevölkerung nicht zuletzt aufgrund dieser unklaren Haltung und aufgrund<br />
einer fehlenden umfassenden Sicherheitsstrategie massiv gelitten, was<br />
der Sicherheitsfrage in einem Land der direkten Demokratie nicht eben<br />
zuträglich ist.<br />
3.2.2.. Sicherheitspolitischer Faktor Nachrichtendienst der<br />
Schweiz 50<br />
Der SiPol-Bericht äussert sich wenig konkret über die Möglichkeiten und<br />
Effizienz des Nachrichtendienstes 51 , Mängel benennt er nicht. So steht im<br />
Bericht etwa Folgendes:<br />
„Die diffuse Bedrohungslage, mit der die Schweiz konfrontiert ist, erhöht<br />
die Bedeutung nachrichtendienstlicher Aufklärung und Früherkennung.<br />
Bundesrat und Parlament forderten angesichts der zunehmenden<br />
50 Quelle: Entwurf Sicherheitspolitischer Bericht 2010, Abschnitt zum Nachrichtendienst<br />
51 Quelle: Diskussionen mit Dr. Markus Seiler, Direktor Nachrichtendienst Schweiz<br />
123
Interdependenzen von innerer und äusserer Sicherheit seit Längerem eine<br />
verbesserte Zusammenarbeit zwischen dem Dienst für Analyse und der<br />
Prävention (Inlandnachrichtendienst) und dem Strategischen<br />
Nachrichtendienst (Auslandnachrichtendienst). Im Zuge der folgerichtigen<br />
Fusion vom 1. Januar 2010 wird es auch darum gehen, Synergiepotentiale<br />
zu suchen und zu nutzen. Der NDB ist das Kompetenzzentrum für<br />
sämtliche nachrichtendienstliche Belange der inneren und äusseren<br />
Sicherheit. Er unterstützt die politische und militärische Führung und<br />
weitere Dienststellen bei Bund und Kantonen und trägt mit seinen<br />
Erkenntnissen und Beurteilungen zu bedrohungsgerechten und breit<br />
abgestützten Entscheiden bei. Der NDB richtet den Einsatz seiner Mittel<br />
nach den Bedürfnissen und Erwartungen seiner Partner und<br />
Leistungsbezüger. Der NDB hat den generellen gesetzlichen Auftrag, die<br />
Lage umfassend zu beurteilen. Dazu gehören nicht nur die Aufklärung,<br />
Beschreibung und Beurteilung der aktuellen Situation, sondern auch die<br />
Früherkennung möglicher Gefährdungen. In erster Linie interessieren<br />
dabei Entwicklungen, die direkt oder indirekt die Interessen der Schweiz,<br />
insbesondere ihre Sicherheit und Handlungsfähigkeit betreffen.<br />
Früherkennung ermöglicht es der politischen und militärischen Führung<br />
und anderen Dienststellen der Verwaltung von Bund und Kantonen,<br />
zweckmässige Entscheide zu treffen. Der NDB gewährleistet mit dem<br />
Bundeslagezentrum die fortlaufende Lagedarstellung und Lagebeurteilung<br />
im Bereich innere und äussere Sicherheit sowie die Warnung und<br />
Alarmierung im Ereignisfall. Eine besondere Aufgabe hat der NDB mit der<br />
Bearbeitung von Informationen der inneren Sicherheit. Er ist ein<br />
wesentlicher Teil des Staatschutzes. Der Bund trifft zusammen mit den<br />
Polizeiorganen der Kantone vorbeugende Massnahmen zur frühzeitigen<br />
Verhinderung und Bekämpfung solcher Gefahren. Da sich innere und<br />
äussere Sicherheit kaum noch voneinander unterscheiden lassen, tragen<br />
sicherheitspolitisch relevante Informationen über das Ausland auch zur<br />
Wahrung der inneren Sicherheit bei“.<br />
124
Die Beschreibung der Aufgabenweise ist wenig konkret und benennt<br />
lediglich, dass der NDB Informationen beschaffen muss, die andere<br />
Bundesstellen mit ihren Rechtsgrundlagen und Mitteln nicht besorgen<br />
können, und dass er diese unter Berücksichtigung öffentlich zugänglicher<br />
Informationen auswerte. Der NDB erhalte, so liest man, exklusive<br />
Informationen aus menschlichen Quellen, der Aufklärung von<br />
Kommunikationsmitteln im Ausland und einem grossflächigen Netz<br />
ausländischer Partnerdienste.<br />
Der SiPol-Bericht verzichtet, darauf einzugehen, dass der<br />
Nachrichtendienst in der Schweiz seit der Fichenaffäre unter „stumpfen<br />
Waffen“ leidet. So ist es ihm verwehrt, in private Räume einzudringen,<br />
Telefone abzuhören etc. Das scheint ein grosses Problem zu sein, denn<br />
so kann er sich kein umfassendes Bild über die Bedrohungslage<br />
verschaffen. Wir sprechen hierbei weniger von Monitoring als von<br />
Prävention im Gegensatz zur Aufklärung von begangenen Attentaten.<br />
Wenn man zudem weiss, dass das ND-Geschäft äusserst stark nach dem<br />
Prinzip von Geben und Nehmen lebt, so läuft die Schweiz Gefahr, dass<br />
sie auch auf internationalem Parkett kein attraktiver Partner sein kann.<br />
Schliesslich ist davon auszugehen, dass sich Kriminelle, kriminelle<br />
Organisationen (z.B. die Mafia) und Terroristen die Lücken im<br />
Abwehrdispositiv der Schweiz ebenso zu Nutze machen wie fremde<br />
Nachrichtendienste.<br />
Was die Bedrohung durch Terrorismus betrifft, so ist die Lage durch die<br />
Annahme der Minarett-Initiative und den Versuch der Instrumentalisierung<br />
dieses Volksentscheids durch Libyen zur Diskreditierung der Schweiz in<br />
der muslimischen Welt in der Tat komplexer geworden. Auch ist offenbar<br />
zu beobachten, dass islamistische Homepages zunehmend in Deutsch<br />
und Französisch abgefasst werden, was das Potenzial für Radikalisierung<br />
vergrössert. Das überhöhte mediale Interesse an (konvertierten)<br />
Extremisten kann ebenfalls dazu führen, dass das Risiko zunimmt,<br />
125
wonach ein in der Schweiz lebender, radikalisierter Einzeltäter in Aktion<br />
treten könnte. In diesem Falle hätten wir es mit dem so genannten<br />
„homegrown Terrorismus“ zu tun. Einmal mehr muss daher gefordert<br />
werden, dass man auch in der Schweiz, ohne zu übertreiben, die<br />
Zusammenhänge zwischen Migration, sich verändernder<br />
Bevölkerungsstruktur und den neuen Bedrohungen noch vertiefter<br />
analysiert, akzeptiert und politisch die richtigen Folgerungen zieht: Eine<br />
davon wäre, die präventive Tätigkeit (Dschihadismus Monitoring,<br />
erweiterte Möglichkeiten zur Überwachung von mutmasslichen<br />
Gewaltextremisten oder Terroristen gemäss Vorschlag des Bunderates<br />
zur Revision des BWIS, welches leider vom Parlament abgelehnt wurde)<br />
der Nachrichtendienste und der Kriminalpolizeien (Titel „Staatsschutz“) zu<br />
stärken und auszubauen. Es kann nicht sein, dass Datenschutz zu<br />
Täterschutz wird. Experten, gestützt auch auf internationale Erfahrungen<br />
vieler Staaten, betonen in diesem Zusammenhang einmal mehr, dass die<br />
politische Führung analog zu Deutschland eine Strategie entwickeln sollte,<br />
wie sie mit dem Phänomen Sicherheit / Migration gesamthaft umgehen<br />
will. In Kapitel 3.2. dieser Thesis wird der „Comprehensive Approach“<br />
Deutschlands beschrieben.<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Auch beim Nachrichtendienst zeigt sich das Fehlen einer umfassenden<br />
Sicherheitsstrategie des Landes. Zwar wurden die zivilen<br />
Nachrichtendienste im Januar 2010 fusioniert, jedoch ist der<br />
Nachrichtendienst der Armee nach wie vor nicht unter der gleichen<br />
Führung angesiedelt. Die Beschreibung der Aufgabenweise ist im neusten<br />
sicherheitspolitischen Bericht wenig konkret und verzichtet auch darauf,<br />
dass der Nachrichtendienst der Schweiz seit der „Fichenaffäre“ unter<br />
„stumpfen Waffen“ leidet. Wenn man weiss, dass der Nachrichtendienst<br />
stark nach dem Prinzip von Geben und Nehmen lebt, so läuft die Schweiz<br />
Gefahr, dass sie auch auf internationalem Parkett kein attraktiver Partner<br />
sein kann. Schliesslich ist davon auszugehen, dass sich Kriminelle,<br />
126
kriminelle Organisationen (z.B. die Mafia) und Terroristen sowie fremde<br />
Nachrichtendienste die Lücken im Abwehrdispositiv der Schweiz zu Nutze<br />
machen können.<br />
3.2.3. Sicherheitspolitischer Faktor Neutralität der Schweiz<br />
Die CSS Analyse der ETHZ zur Sicherheitspolitik vom September 2007<br />
beschreibt eindrücklich Differenzen, bzw. wie sich in der Schweiz<br />
Traditionalisten und Öffnungsbefürworter um die Deutungshoheit der<br />
Neutralität „streiten“. Die Omnipräsenz der Neutralität verdecke die<br />
Tatsache, dass deren sicherheitspolitische Relevanz stark abgenommen<br />
habe. Gleichzeitig behindere sie, so die Autoren der Analyse, eine<br />
fundierte Diskussion über die sehr unterschiedlichen Visionen, deren<br />
Unvereinbarkeit die Schweizer Handlungsfähigkeit beeinträchtige.<br />
Erforderlich sei ein vom Neutralitätsbegriff losgelöster Strategieprozess,<br />
der eine Festlegung der zentralen Interessen und Prioritäten und eine<br />
bessere Koordination der zivilen und militärischen Mittel ermöglichen<br />
könnte.<br />
Die Neutralität geniesst in der Schweiz ungebrochene Zustimmung. In<br />
Meinungsumfragen sprachen sich im Februar 2007 noch 92 % der<br />
Schweizer für die Neutralität aus. Die Popularität dieses Konzepts<br />
widerspiegelt sich auch in der Politik und insbesondere traditionell<br />
konservative Kreise und unheilige Allianzen der Parteien ganz rechts und<br />
ganz links des politischen Spektrums nutzen das Thema zur Verhinderung<br />
von Armee-Reformen im Sinne der „Sicherheit dank Kooperation“. Sie<br />
verhindern so gemeinsam eine interessensgeleitete Sicherheitspolitik. In<br />
der Vergangenheit erwies sich die Neutralität für den multiethnischen<br />
Kleinstaat als eine erfolgreiche Sicherheitsstrategie, um sich den<br />
dynastisch, konfessionell und später nationalistisch geprägten Kriegen in<br />
Europa zu entziehen und die innere Kohäsion zu wahren. Im<br />
europäischen Gleichgewichtssystem des 19. und frühen 20. Jahrhunderts<br />
127
wurde sie denn auch von den Grossmächten als Stabilitätsfaktor<br />
anerkannt. Nicht zuletzt deshalb blieb die Schweiz von beiden Weltkriegen<br />
verschont. Diese Argumentation wird noch heute von klassischen<br />
Neutralitätsbefürwortern argumentativ ins Feld geführt. Während des<br />
Kalten Kriegs verlor die Schutzfunktion der Neutralität jedoch an<br />
Bedeutung. Die Schweiz positionierte sich im Ost-West-Antagonismus<br />
ideell klar auf Seiten der westlichen Wertegemeinschaft. So beliebt die<br />
Neutralität in der Schweiz nach wie vor sein mag, so umstritten ist heute<br />
ihre konkrete inhaltliche Bedeutung, denn gegensätzliche Konzepte von<br />
„aktiver“ und „integraler“ Neutralität prallen aufeinander und machen<br />
deutlich, dass Neutralität losgelöst von ihrem völkerrechtlich definierten<br />
militärischen Kern zu einem politischen Kampfbegriff geworden ist.<br />
Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat sich die bereits in<br />
den 1990er Jahren erkennbare Asymmetrie als Wesensmerkmal des<br />
Bedrohungsbildes akzentuiert. Angesichts der fortschreitenden<br />
Entstaatlichung und Entterritorialisierung aktueller Gefahren und Risiken<br />
hat die Bedeutung der Neutralität als Sicherheitsstrategie weiter<br />
abgenommen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Neutralität vor<br />
islamistischem Terrorismus schützt, der gegen westliche Werte ebenso<br />
wie gegen muslimische Andersgläubige gerichtet ist. Dieser Meinung ist<br />
auch eine Mehrheit der Bevölkerung. Gemäss der Jahresstudie<br />
„Sicherheit 2007“ gehen 66 % der Befragten davon aus, dass die<br />
Neutralität eines Landes für Terroristen bei der Beurteilung möglicher<br />
Anschlagsziele kein relevanter Faktor ist. Die auf zwischenstaatliche<br />
Kriege ausgerichtete Neutralität kann aber auch auf andere aktuelle<br />
Bedrohungen wie die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, das<br />
Scheitern von Staaten mit entsprechenden Flüchtlingswellen oder die<br />
organisierte Kriminalität keine Antworten liefern. Dass die Neutralität<br />
trotzdem populärer denn je ist, hat offenbar mit der anhaltenden<br />
Identifikationsfunktion der Neutralität zu tun. 80 % der Bevölkerung hält<br />
die Neutralität als untrennbar mit dem helvetischen Staatsgedanken<br />
128
verbunden. Die Traditionalisten anerkennen zwar durchaus, dass sich das<br />
Bedrohungsbild seit 1989 stark verändert hat. Eine Anpassung des<br />
aussen- und sicherheitspolitischen Instrumentariums lehnen sie aber ab.<br />
Rechtskonservative Kreise in der Schweiz suggerieren deshalb nach wie<br />
vor, dass eine Rückkehr zur integralen Neutralität der Nachkriegszeit die<br />
nationale Sicherheit erhöhen würde. So sprechen sie sich gegen<br />
sicherheitspolitische Kooperation aus, gegen militärische Auslandeinsätze,<br />
einen EU-Beitritt und eine Einmischung in Konflikte mit nichtstaatlichen<br />
Akteuren, da alle diese Massnahmen in ihren Augen die Neutralität der<br />
Schweiz gefährden. Entgegen einem breiten internationalen Konsens,<br />
wonach die heute dominierenden Risiken und Krisen nur im Verbund zu<br />
bewältigen sind, sehen sie im nationalen Alleingang die beste<br />
Überlebensstrategie. Dennoch erachtet gemäss Studien nur eine<br />
Minderheit der Bevölkerung eine autonome Sicherheitsbewältigung als<br />
machbar.<br />
Die Vorsteherin des EDA, Bundesrätin Micheline Calmy Rey hat auf die<br />
Traditionalisten mit dem Gegenkonzept der“ aktiven Neutralität“ reagiert.<br />
Sie verwendet die Neutralität zur Legitimierung einer aktiven Aussenpolitik<br />
mit der Begründung, dass gerade weil die Schweiz neutral sei,<br />
Friedensförderung und aktives Verteidigen von Menschenrechten und das<br />
Verteidigen des Völkerrechts der Solidaritätsmaxime entspreche und das<br />
„Abseitsstehen“ der Schweiz kompensiere. Die Differenzen der ideellen<br />
Überzeugungen spiegeln sich ganz konkret auch im Prozess rund um den<br />
SiPol-Bericht 2010. Bundesrat Ueli Maurer (Vorsteher des VBS) und das<br />
EDA schienen über gewisse Strecken regelrecht gelähmt ob der<br />
Differenzen. Anstatt sich in einen fruchtlosen Deutungsstreit um die<br />
„wahre Neutralität“ zu verstricken, sollten die politischen<br />
Entscheidungsträger die dem Streit zugrunde liegenden grundsätzlichen<br />
Differenzen bezüglich der Ausrichtung der Aussen- und Sicherheitspolitik<br />
diskutieren und eine klare und kohärente sicherheitspolitische Strategie<br />
129
formulieren. Gefragt wäre ein vom Neutralitätsbegriff losgelöster nationaler<br />
Strategieprozess, in welchem die Schweiz aufgrund einer umfassenden<br />
Bedrohungsanalyse ihre aussen- und sicherheitspolitischen Interessen<br />
und Prioritäten festlegt und daraus klare Aufträge für geeignete<br />
Instrumente ableitet. Interessant bei dieser Diskussion ist der Vergleich mit<br />
unserem ebenfalls neutralen Nachbarn Österreich, der Neutralitätspolitik<br />
aktiv lebt, sich ebenfalls zu den neutralen und Allianz-freien Staaten in<br />
Europa zählt und (bis 2006) 1236 Truppen in Friedensmissionen engagiert<br />
hat (die Schweiz dem gegenüber lediglich 274 Truppen im vergleichbaren<br />
Zeitrahmen).<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Traditionalisten (umfassende Neutralität) und Öffnungsbefürworter (aktive<br />
Neutralität) stehen miteinander in der Thematik rund um die<br />
Deutungshoheit der Neutralität im Widerspruch. Erforderlich wäre ein vom<br />
Neutralitätsbegriff losgelöster Strategieprozess, der eine Festlegung der<br />
zentralen Interessen und Prioritäten und somit eine bessere Koordination<br />
der zivilen und militärischen Mittel ermöglichen könnte. Die Neutralität<br />
geniesst zwar in der Schweiz ungebrochene Zustimmung des Souveräns.<br />
Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat sich<br />
die Asymmetrie als Wesensmerkmal des Bedrohungsbildes allerdings<br />
akzentuiert. Angesichts der fortschreitenden Entstaatlichung und<br />
Entterritorialisierung aktueller Gefahren und Risiken hat die Bedeutung der<br />
Neutralität als Sicherheitsstrategie weiter abgenommen. Es gibt jedenfalls<br />
keine Anzeichen dafür, dass Neutralität z.B. vor islamistischem<br />
Terrorismus schützen würde. Die Bevölkerung scheint sich bewusst zu<br />
werden, dass eine autonome Sicherheitsbewältigung nicht mehr machbar<br />
ist. Es gilt daher zu verdeutlichen, dass eine aktivere<br />
Neutralitätsauslegung neue Staatsmaxime sein müsste. Interessant wäre<br />
ein Vergleich mit unserem Nachbarn Österreich, der Neutralitätspolitik<br />
aktiv lebt und sich dennoch als neutrales Land versteht und ebenfalls<br />
ohne Allianz Partner agiert.<br />
130
3.2.4. Sicherheitspolitischer Faktor Polizeikräfte der Schweiz und<br />
innere Sicherheit<br />
Die Schweiz ist verglichen zu anderen Ländern eine Heimat für ihre<br />
Menschen, die grosse Sicherheit und öffentliche Ordnung gewährt. Der<br />
Schutz vor kriminellen Übergriffen ist als gut zu bezeichnen, wenngleich<br />
die effektiven Zahlen an Delikten nicht zu verharmlosen sind. Gewalttaten,<br />
Sexualstraftaten, Vermögensstraftaten und der Verstoss gegen das<br />
Betäubungsmittelgesetz sowie gegen das Ausländergesetz nehmen<br />
insbesondere in der Öffentlichen Wahrnehmung einen hohen Stellenwert<br />
ein.<br />
Für diese Master-Thesis von Relevanz ist insbesondere die Frage<br />
nach dem Anteil beschuldigter Ausländer und inwiefern<br />
Migrationspolitik die Sicherheitspolitik beeinflusst.<br />
Die neuste polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) gibt Auskunft über Fakten<br />
und Zahlen über die im Jahr 2009 erfassten, gesamthaft 446‘505 Delikt-<br />
Fälle. Von diesen Straftaten entfallen<br />
• 82 % auf das Strafgesetzbuch<br />
• 13 auf das Betäubungsmittelgesetz<br />
• 4 % auf das Ausländergesetz<br />
• 1 % auf weitere strafrechtlich relevante Bundesnebengesetze<br />
In diesen Zahlen nicht berücksichtig sind Widerhandlungen gegen<br />
kantonale Gesetze oder das Strassenverkehrsgesetz (SVG).<br />
Das Bundesamt für Statistik erhebt jährlich im September die Daten zur<br />
inneren Sicherheit, bzw. zu den Delikten und veröffentlicht die Zahlen<br />
Anfang des Folgejahres. Es handelt sich bei der Statistik 2009 in diesem<br />
Sinne um die neusten Zahlen der Schweiz, die zurzeit zur Verfügung<br />
stehen, und in diese Arbeit integriert wurden. Die nachstehenden<br />
Darstellungen stammen aus den Statistiken des BfS – Bundesamt für<br />
131
Statistik, Neuchâtel, Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) Jahresbericht<br />
2009.<br />
Abbildung 10: Beschuldigte Personen in der Schweiz nach<br />
Staatszugehörigkeit und nach Gesetzen<br />
Tabelle 6: Anzahl Straftaten innerhalb eines Kalenderjahres pro<br />
Herkunft der beschuldigten Person,<br />
Verstösse gegen das Strafgesetz<br />
132
Tabelle 7: Beschuldigte nach Nationalität und Aufenthaltsstatus,<br />
Jahr 2009, Verstösse gegen das Strafgesetz<br />
133
Im nachstehenden Excel-Dokument werden auch die Anteile der<br />
einzelnen Regionen ausgewiesen. Die Kantone haben sich in Fragen<br />
des Straf- und Massnahmevollzugs in drei Regionen zusammen<br />
geschlossen:<br />
• Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz<br />
• Strafvollzugskonkordat der Ostschweiz<br />
• Strafvollzugskonkordat lateinischen Schweiz<br />
Einerseits zeigen die Daten aus der Erhebungsreihe Fakten zum<br />
Ausländeranteil im Freiheitsentzug der Jahre 2004 – 2009. Andererseits<br />
wird der Ausländeranteil in der Untersuchungshaft für das Jahr 2009<br />
separat ausgewiesen.<br />
Tabelle 8: Anteil der Ausländer im schweizerischen Freiheitsentzug,<br />
seit 2004 bis 2009<br />
Beschuldigte Personen<br />
Der Anteil der aufgeklärten Straftaten ist insbesondere in Bezug auf die<br />
Beschuldigten von Interesse. Je höher die Aufklärungsquote, desto<br />
repräsentativer die Aussagen zu den beschuldigten Personen. Einmal<br />
mehr betätigt sich repräsentativ die kriminologisch bereits gefestigte<br />
Erfahrung, dass männliche Personen im Alter zwischen 18 und 30<br />
Jahren besonders häufig polizeilich auffallen. Der Vergleich mit den<br />
Bevölkerungszahlen zeigt aber, dass die 15- bis 17- jährigen<br />
Beschuldigten die höchste Belastung aufweisen.<br />
Neu werden Beschuldigte ohne Schweizer Staatszugehörigkeit auch nach<br />
ihrem rechtlichen Aufenthaltsstatus unterschieden. Eine differenzierte<br />
134
Betrachtung nach jeweiligem Gesetz oder sogar Straftatbestand ist dabei<br />
wichtig. Der Anteil der ausländischen Beschuldigten bleibt im Bereich<br />
des Strafgesetzbuches mit 47,8% im Rahmen der Vorjahre, auch<br />
wenn zu berücksichtigen ist, dass früher noch nicht alle<br />
Straftatbestände des Strafgesetzbuches enthalten waren.<br />
Beschränkt man den Blick auf die ständige Wohnbevölkerung der<br />
Schweiz, so sind 64 % der Beschuldigten Schweizer Staatsangehörige<br />
und rund 36 % Ausländer mit Niederlassungs- oder<br />
Jahresaufenthaltsbewilligungen. Der Ausländeranteil in der ständigen<br />
Wohnbevölkerung betrug 2008 rund 22 %, ihr Anteil an den<br />
Beschuldigten liegt mit 14 Prozentpunkten deutlich über ihrem<br />
Bevölkerungsanteil. Inwiefern dies mit dem durchschnittlichen<br />
tieferen sozioökonomischen Status der ständigen ausländischen<br />
Wohnbevölkerung zusammenhängt, wird sich mit dem zukünftigen<br />
Integrationsindikatorensystem des BFS bald besser eruieren lassen.<br />
Mit 4,4 % aller Beschuldigten sind auch Personen aus dem Asylbereich<br />
bei den Straftaten, gegen das Strafgesetzbuch gemessen, an ihrer<br />
Zahl zu der Gesamtbevölkerung, übervertreten. Von den insgesamt<br />
rund 9’300 Straftaten mit mutmasslichen Beteiligungen dieser<br />
Beschuldigungsgruppe handelt es sich zum grössten Teil um<br />
Vermögensstraftaten, Ladendiebstahl 2’243, allgemeinem Diebstahl 611<br />
und Einbruchdiebstahl 537.<br />
14,2% der registrierten Beschuldigten entfallen schliesslich auf die Gruppe<br />
Ausländer ohne längerfristige Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Bei<br />
dieser Personengruppe fällt trotz möglicherweise verkürzter<br />
Aufenthaltsdauer und erschwerter Identifikationsmöglichkeiten auf, dass<br />
der Anteil wiederholt registrierter Personen im Vergleich zu anderen<br />
Beschuldigtengruppen erhöht ist: 5,1 % der Beschuldigten,<br />
minderjährige Ausländer ohne längerfristige Aufenthaltsberechtigung<br />
wurden innerhalb 2009 für mehr als 10 Straftaten polizeilich registriert.<br />
Dieser Anteil liegt bei den beschuldigten erwachsenen Schweizern resp.<br />
135
Ausländern der Wohnbevölkerung bei 2,1 %. 21,6 % der aufgeklärten<br />
152‘417 Straftaten gegen das Strafgesetzbuch sind gemäss aktuellem<br />
Wissensstand den Beschuldigten mit mehr als zehn registrierten<br />
Straftaten zuzuschreiben.<br />
Die Verteilung der Beschuldigten nach Nationalitäten entspricht<br />
weitgehend den jeweiligen Bevölkerungsanteilen, insbesondere wenn man<br />
sich auf die Beschuldigten der ständigen Wohnbevölkerung bezieht. Bei<br />
den Beschuldigten ohne längerfristige Aufenthaltsbewilligung fallen im<br />
Bereich Strafgesetzbuch in absoluten Zahlen hauptsächlich<br />
Staatsangehörige von Frankreich (eingebürgerte Algerier, Tunesier etc.),<br />
Serbien/Montenegro/Kosovo und Rumänien auf. Je nach Gesetz und<br />
Kanton variiert die Verteilung der Nationalität der Beschuldigten jedoch<br />
beträchtlich.<br />
Abbildung 11: Beschuldigte nach Alter und Geschlecht, Jahr 2009,<br />
Verstösse gegen das Strafgesetz<br />
136
Abbildung 12: Beschuldigte nach Alter und Geschlecht, Jahr 2009,<br />
verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz<br />
Tabelle 9: Anzahl Straftaten innerhalb eines Kalenderjahres<br />
pro beschuldigte Person, Jahr 2009, Verstösse gegen<br />
das Betäubungsmittelgesetz<br />
137
Tabelle 10: Beschuldigte nach Nationalität und Aufenthaltsstatus,<br />
Jahr 2009, Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz<br />
138
Tabelle 11: Beschuldigte nach Altersgruppen und<br />
Staatsangehörigkeit, Jahr 2009,<br />
Verstoss gegen Betäubungsmittelkonsum<br />
Tabelle 12: Beschuldigte nach Altersgruppen und<br />
Staatszugehörigkeit; Jahr 2009,<br />
Verstoss gegen das Gesetz - Betäubungsmittelhandel<br />
Ausländergesetz<br />
Erstmals liegen nun auch die Zahlen zu den polizeilichen Registrierungen<br />
von Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz vor.<br />
Erwartungsgemäss betrifft ein Grossteil die illegale Einreise oder den<br />
unrechtmässigen Aufenthalt in der Schweiz (69 %, 18‘543 Straftaten) –<br />
Widerhandlungen, die sich gemäss rechtlichen Rahmenbedingungen auf<br />
139
spezifische Nationalitäten beschränken. Daneben ist insbesondere noch<br />
der Bereich der unrechtmässigen Beschäftigten resp. Erwerbstätigkeit mit<br />
17 % resp. 4499 Straftaten zu erwähnen.<br />
Tabelle 13: Anzahl Straftaten innerhalb eines Kalenderjahres<br />
pro beschuldigte Person, Jahr 2009,<br />
Verstoss gegen das Ausländergesetz<br />
Abbildung 13: Ausländergesetz: Beschuldigte nach Alter und<br />
Geschlecht, Jahr 2009,<br />
Verstoss gegen das Ausländergesetz<br />
140
Tabelle 14: Beschuldigte nach Nationalität und Aufenthaltsstatus,<br />
Jahr 2009, Verstoss gegen das Ausländergesetz<br />
141
Eine abschliessende Würdigung der Zahlen ist nur eingeschränkt möglich,<br />
da der Jahresbericht noch teilweise unter dem Einfluss der Umstellungen<br />
gegenüber Vorjahren erfolgte.<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Es kann erhärtet festgestellt werden, dass der Anteil von Ausländern an<br />
erfassten Delikten gross ist und die Migrationspolitik in diesem Sinne die<br />
Sicherheitspolitik zweifellos stark beeinflusst (siehe dazu auch Kapitel<br />
Integration und Kriminalitätstheorien).<br />
Es besteht seit Jahren die Forderung nach mehr Polizeikräften. Innerhalb<br />
von Expertenkreisen geht man davon aus, dass in der Schweiz der<br />
Bestand um 1600 Polizisten erhöht werden und diese Forderung endlich<br />
auch politisch Nachhall finden müsste. Dies wiederum bedingt höhere<br />
Sicherheitsbudgets in den einzelnen Gemeinden und Kantonen. Auch die<br />
Forderung nach erhöhten Mitteln zur besseren Integration, insbesondere<br />
jugendlicher Ausländer und Ausländerinnen, erhärtet sich beim Lesen der<br />
neusten polizeilichen Kriminalstatistik 2009 erneut. Dem Ruf nach einer<br />
härteren Gangart gegenüber kriminellen Ausländern wird mit dem neuen<br />
und verschärften Ausländer- und Asylgesetz Rechnung getragen. Die<br />
Ausschaffungsinitiative betreffend kriminelle Ausländerinnen und<br />
Ausländer sowie die neuste Initiative privater Kreise, gemäss derer die<br />
Einführung der Todesstrafe gefordert wird, zeigt die Stimmung einer nicht<br />
zu unterschätzenden Teilöffentlichkeit in der Schweiz – „ Perception is<br />
reality“! Diesem Umstand hat die Politik Rechnung zu tragen.<br />
3.2.5. Sicherheitspolitischer Faktor Verträge mit der EU und<br />
Gesetzgebung<br />
Diese werden als wichtige Elemente zur Schnittstelle irreguläre Migration<br />
und Sicherheit betrachtet.<br />
142
3.2.5.1. Das Schengener-System<br />
Die Schengener Abkommen stehen für eine inzwischen weitverzweigte<br />
Rechtsentwicklung, deren Kernbereich die Abschaffung der stationären<br />
Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Schengenstaaten darstellt. Die<br />
ursprünglichen Schengener Abkommen werden jedoch inzwischen fast<br />
vollständig durch verschiedene andere Rechtsakte ersetzt oder überlagert.<br />
Die Rudimente dieser Abkommen und das darauf aufbauende Recht<br />
bilden den so genannten Schengener Besitzstand, der häufig auch als<br />
Schengen-Acquis bezeichnet wird.<br />
Mit dem Beitritt der Schweiz und des Fürstentums Liechtenstein zu<br />
Schengen ist der Schengener Rechtsraum in Westeuropa geschlossen.<br />
Das Schengener System, wie auch Dublin ist am 12.12.2008 für die<br />
Schweiz in Kraft getreten.<br />
Mobilität in Europa und Freizügigkeit in der Europäischen Union sind<br />
damit endgültig Alltag – allerdings auch für Tatverdächtige. Weil Letztere<br />
an der Grenze nicht mehr kontrolliert werden, ergeben sich daraus<br />
Sicherheitsprobleme, die durch eine verstärkte grenzüberschreitende<br />
Zusammenarbeit der Schengen-Staaten kompensiert werden müssen.<br />
Der Vertrag über die Vertiefung der grenzüberschreitenden<br />
Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der<br />
grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration (Prümer<br />
Vertrag) wird gelegentlich als Schengen II bezeichnet, da er die mit dem<br />
Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) verstärkte polizeiliche<br />
und justizielle Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten weiterführt.<br />
Personenkontrollen fallen weg<br />
Während innerhalb des Schengen-Gebietes die Personenkontrollen<br />
weggefallen sind, werden Personen an den Aussengrenzen zu<br />
Drittstaaten nach einem einheitlichen Standard kontrolliert. Dazu wurde<br />
ein elektronischer Fahndungsverbund (Schengener Informationssystem)<br />
143
geschaffen und einheitliche Einreisevoraussetzungen für Drittausländer<br />
festgelegt. Daher ist an jedem Punkt der Schengen-Aussengrenze die<br />
Einreise zu verweigern, wenn kein Schengen-Visum vorhanden ist oder<br />
aus anderen Gründen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit eines<br />
Schengenstaates festgestellt wird. An den Flughäfen gibt es getrennte<br />
Abfertigungen für Flüge aus den Schengen-Mitgliedstaaten und aus<br />
Drittstaaten. Ist ein so genanntes einheitliches Schengen-Visum von<br />
einem Mitgliedstaat erteilt worden, besteht Reisefreiheit für einen<br />
Kurzaufenthalt von max. 3 Monaten in allen Schengen-Staaten. Auch die<br />
Inhaber eines Aufenthaltstitels eines Schengenstaates geniessen<br />
Reisefreiheit in den anderen Mitgliedstaaten. Vor allem wurde die<br />
grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit intensiviert, um der<br />
erleichterten Mobilität der Straftäter begegnen zu können. Dazu gehören<br />
der erleichterte Informationsaustausch, gemeinsame Streifen im<br />
Binnengrenzraum, die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Observation<br />
oder Verfolgung von Straftätern.<br />
Aufenthaltsverbote<br />
Das Schengen-System beinhaltet ferner unter anderem<br />
Aufenthaltsverbote für den gesamten Schengen-Raum. Diese<br />
Ausschreibungen zur Einreiseverweigerung im SIS, beruhen auf einer<br />
nationalen Entscheidung wie beispielsweise der Wiedereinreisesperre<br />
nach Ausweisung oder Abschiebung. Dem liegt der Gedanke zu Grunde,<br />
dass Straftäter, die aus einem Schengenstaat wegen einer dauerhaften<br />
Gefahr für die öffentliche Sicherheit fernzuhalten sind, grundsätzlich auch<br />
in den anderen Schengenstaaten unerwünschte Personen sind. Dies ist<br />
insbesondere auch für die im Kapitel „Sicherheitspolitische Schnittstelle<br />
Terrorismus“ betreffend die Argumente und Aussagen zur neuen<br />
Terrorismusgefahr relevant. Aber auch betreffend Ausnahmefälle, zum<br />
Beispiel für Grossveranstaltungen (z.B. Fussball Europa und<br />
Weltmeisterschaften, G8-Gipfel in Genua oder das WEF in der Schweiz)<br />
144
ist das Aufenthaltsverbot von grosser Bedeutung für die Sicherheit, aber<br />
auch für Sichercherheitsmassnahmen im Migrations- und<br />
Flüchtlingswesen.<br />
Zollkontrollen bleiben<br />
Nicht weggefallen sind im Schengen-Gebiet die Zollkontrollen. Wer aus<br />
einem Schengen-Staat in einen anderen Schengen-Staat einreist, der<br />
nicht Mitglied der Zollunion ist (die Schweiz), hat die mitgeführten Waren<br />
am Zoll zu deklarieren, wenn diese nicht innerhalb der Freigrenze des<br />
Einreisestaates liegen. Die Nichtbeachtung des Prinzips der<br />
Selbstdeklaration wird auch in der Schweiz hart bestraft.<br />
Illegale Einwanderung: Kritik und gleichzeitig Nachweis, dass das<br />
System „funktioniert“?<br />
Die Folgen und Auswirkungen des Schengener Übereinkommens sind seit<br />
den 1980er Jahren der Kritik ausgesetzt. Entgegen der zum Teil<br />
populistischen aktuellen Stimmungsmache konservativer Kreise in der<br />
Schweiz ist festzuhalten, dass der Wegfall von Grenzkontrollen zwischen<br />
den Teilnehmerstaaten mit der Verpflichtung einhergeht, dass die<br />
Aussengrenzen zum Zwecke der Fluchtabwehr, der Bekämpfung illegaler<br />
Einwanderungen, angemessen, das heisst meist verstärkt, zu sichern<br />
sind. Personen, die eine derartige Grenze dennoch rechtswidrig<br />
überwinden wollen, nehmen teure und kriminelle Schleuser-Unternehmen<br />
in Anspruch oder riskieren beim Grenzübertritt ihr Leben. Nach Angaben<br />
von Pro Asyl sind z.B. an der Schengen-Südgrenze, insbesondere an der<br />
Meerenge von Gibraltar und in der Ägäis, zwischen 1994 und 2004 mehr<br />
als 5000 Menschen beim versuchten Grenzübertritt ums Leben<br />
gekommen (Quellennachweis jungle-world.com). Allerdings muss dem<br />
entgegen gehalten werden, dass das System nur funktioniert, wenn<br />
Staaten ihren Verpflichtungen zur Grenzüberwachung nachkommen, weil<br />
sonst automatisch andere Staaten betroffen sind: so gab es wiederholt<br />
Vorwürfe, dass z.B. Italien sich illegaler Einwanderer entledige, die auf die<br />
145
Insel Lampedusa gelangen (so genannte „Boat People“). Durch die<br />
Zunahme illegaler Einwanderung in europäische Staaten, wie etwa aus<br />
Spanien oder Italien, insbesondere aus afrikanischen Staaten, wird das<br />
illegale Geschäft dahinter verstärkt und teilweise echtes Kapital daraus<br />
geschlagen, indem die Rechtlosigkeit illegaler Einwanderer für Billigarbeit<br />
ausgenutzt wird. Im Juni 2008 erklärte der damalige deutsche<br />
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, die Erweiterung des Schengen-<br />
Raums nach Osten habe keine Zunahme der illegalen Einwanderung und<br />
der Kriminalität gebracht. Zugleich erklärte der Sprecher des Ministeriums<br />
allerdings, dass ein Vergleich zum Vorjahr aufgrund der unterschiedlichen<br />
Kontrollen nicht möglich sei.<br />
3.2.5.2. Die Dublin-II-Verordnung<br />
Gemäss der Dublin-Verordnung sind die Mitgliedstaaten gehalten, anhand<br />
objektiver und hierarchischer Kriterien zu ermitteln, welcher Mitgliedstaat<br />
für die Prüfung eines im Gebiet der Mitgliedstaaten gestellten Asylantrags<br />
zuständig ist. Das System soll „Asyl-Shopping“ verhindern und gleichzeitig<br />
sicherstellen, dass für einen Asylbewerber nur ein Mitgliedstaat zuständig<br />
ist. Wird unter Zugrundlegung der Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als<br />
zuständig bestimmt, kann dieser andere Mitgliedstaat ersucht werden, den<br />
Asylbewerber aufzunehmen und den Asylantrag zu prüfen. Wenn der<br />
ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit anerkennt, hat der erste<br />
Mitgliedstaat für die Überstellung des Asylbewerbers in den anderen<br />
Mitgliedstaat zu sorgen. Hat ein Mitgliedstaat einen Asylantrag bereits<br />
geprüft oder bereits mit der Antragsprüfung begonnen, so kann er ersucht<br />
werden, den sich unerlaubt in einem anderen Mitgliedstaat aufhaltenden<br />
Asylbewerber wieder aufzunehmen. Der zuständige Mitgliedstaat, in den<br />
der Bewerber überstellt wird, muss dann die Prüfung des Asylantrags<br />
abschliessen.<br />
146
Kriterien im Bezug auf den Grundsatz der Einheit der Familie<br />
Handelt es sich bei dem Asylbewerber um einen unbegleiteten<br />
Minderjährigen („Unacompanied Minor“), so ist der Mitgliedstaat, in dem<br />
sich ein Angehöriger seiner Familie rechtmässig aufhält, für die Prüfung<br />
seines Antrags zuständig, sofern dies im Interesse des Minderjährigen<br />
liegt. Ist kein Familienangehöriger anwesend, so ist der Mitgliedstaat, in<br />
dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, zuständig.<br />
Kriterien im Bezug auf illegale Einreise oder Aufenthalt in einem<br />
Mitgliedstaat<br />
Hat ein Asylbewerber die Grenze eines Mitgliedstaates illegal<br />
überschritten, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags<br />
zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des<br />
illegalen Grenzübertritts. Wird festgestellt, dass sich der Asylbewerber<br />
zum Zeitpunkt seiner Antragsstellung zuvor während eines<br />
ununterbrochenen Zeitraums von mindestens fünf Monaten in einem<br />
Mitgliedstaat aufgehalten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung<br />
des Asylantrags zuständig. Hat der Asylbewerber sich für einen Zeitraum<br />
von mindestens fünf Monaten in verschiedenen Mitgliedstaaten<br />
aufgehalten, so ist der Mitgliedstaat, wo er sich zuletzt aufgehalten hat, für<br />
die Prüfung des Asylantrags zuständig. Stellt ein Drittstaatenangehöriger<br />
(z.B. aus einem afrikanischen Land) einen Asylantrag in einem<br />
Mitgliedstaat, in dem kein Visumszwang besteht, so ist dieser Mitgliedstaat<br />
für die Prüfung zuständig. Im internationalen Transitbereich eines<br />
Flughafens ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags<br />
zuständig.<br />
Herausforderungen rund um das Dublin-Abkommen, auch für die<br />
Schweiz<br />
Diese Rechtslage zeigt eindrücklich, wie umfassend und kompliziert sich<br />
das Dublin-Abkommen für einzelne Länder darstellen kann. Insbesondere,<br />
wenn Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen (wie es<br />
147
z.B. Italien oder Spanien vorgeworfen wird) und illegal Eingewanderte in<br />
Nachbarländer „abschieben bzw. durchwinken“, wie es unter Kapitel<br />
Schengen „Kritik“ ausgeführt wurde, kann die Belastung für<br />
Mitgliedstaaten, auch für die Schweiz, von grossem Ausmass sein.<br />
Die Zwischenbilanz für die Schweiz zeigt erste Erfolge: so hat z.B. die<br />
Schweiz 2009 im Fall von ca. 6’000 Personen einen andern Dublin-Staat<br />
um Übernahme eines Asylsuchenden ersucht, weil dieser für die<br />
Behandlung des Gesuchs zuständig ist; in ca. 4’600 Fällen erklärte sich<br />
der betreffende Staat zuständig und zur Übernahme bereit (siehe<br />
Asylstatistik BFM 2009).<br />
Zu Schengen und Dublin kann festgehalten werden: Je enger sich die<br />
Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten entwickelt, desto weniger<br />
kann sich die Schweiz – sicherlich auch in Zukunft – ein Abseitsstehen<br />
leisten, sei dies in sicherheitspolitischer Hinsicht, sei dies, um nicht zum<br />
„Reserve-Asylland“ zu werden.<br />
3.2.5.3. Schweiz reagiert mit Verschärfung im neuen Asyl- und<br />
Ausländergesetz (AuG)<br />
Ein Teil der Massnahmen zur Verbesserung der Situation im Migrations-<br />
sprich Sicherheitsbereich sind durch das neue Ausländergesetz in<br />
Sachen Missbrauchsbekämpfung abgedeckt und bereits erfolgt (das neue<br />
Ausländergesetz trat am 1.1.2008 in Kraft). Als Beispiele können genannt<br />
werden: Das Strafmass bei rechtswidriger Einreise, Aufenthalt und<br />
Ausreise wie auch die Bekämpfung des Schlepperwesens werden<br />
verschärft. Der Datenaustausch zwischen den Behörden wird verstärkt<br />
(Art. 97 AuG bezüglich Scheinehen und Art. 118 AuG Scheinehe als<br />
Straftatbestand). Carrier-Sanktionen für Luftfahrtunternehmen (neu nur<br />
noch für Personen mit gültigem Ausweis möglich, Art. 92 AuG). Um den<br />
Menschenhandel zu bekämpfen können heute Zeugen grundsätzlich<br />
Aufenthaltsbewilligung erhalten (Art. 30 AuG). Die Bekämpfung für<br />
148
Schwarzarbeit ist in Art. 117 des AuG geregelt, und das neue<br />
Schwarzarbeitsgesetz ist seit Januar 2008 in Kraft. Ergänzungen der<br />
Haftbestimmungen (z.B. Ausschaffungshaft) sind in Kraft, z.B. die<br />
Durchsetzungshaft, die in Art. 78 geregelt wurde, für Personen, die die<br />
Schweiz nach rechtskräftigem Urteil nicht verlassen wollen.<br />
Das neue Asylgesetz (in Kraft seit 1.1.2008) regelt die Nothilfe an<br />
Personen neu, indem nur noch Personen mit einem rechtskräftigen<br />
Wegweisungsentscheid Nothilfe erhalten.<br />
3.2.5.4. Interpol und Europol<br />
Die internationale kriminalpolizeiliche Organisation Interpol ist eine 1923 in<br />
Wien gegründete und von den Vereinten Nationen als Völkerrechtssubjekt<br />
anerkannte Organisation mit Sitz in Lyon, Frankreich (mit 182<br />
Mitgliedstaaten). Das europäische Polizeiamt Europol mit Sitz in Den<br />
Haag ist wie die Schengener Polizeizusammenarbeit Teil des<br />
Sicherheitsdispositivs der EU, deren Hauptaufgabe es ist, die EU-<br />
Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung von international organisierter<br />
Kriminalität zu unterstützen. Die Errichtung von Europol wurde 1992 im<br />
Vertrag von Maastricht beschlossen. Als Herzstück der Sicherheit wird oft<br />
das Schengener Informationssystem, SIS, genannt. Es besteht aus einem<br />
Zentralrechner in Strassburg und den nationalen Schengener<br />
Informationssystemen, den sog. N-SIS.<br />
Die Schweiz hat in diesem Zusammenhang -einmal mehr- zwar ein<br />
Mitspracherecht, jedoch kein Mitentscheidungsrecht. Unser Land ist<br />
allerdings verpflichtet, neue Rechtsakte der EG und der EU, die<br />
Schengen-relevant sind, zu übernehmen und, soweit diese nicht<br />
unmittelbar anwendbar sind, im nationalen Recht umzusetzen.<br />
Die Zusammenarbeitsverträge mit Agenturen, einerseits der<br />
Internationalen kriminalpolizeilichen Organisation Interpol und anderseits<br />
149
der Europol, welche den Informationsaustausch unter den Mitgliedstaaten<br />
erleichtern soll, sind für die internationale Zusammenarbeit und die<br />
internationale Sicherheit und Bekämpfung von internationalen kriminellen<br />
Handlungen von grosser Bedeutung betreffend die Kooperation rund um<br />
die Rechtshilfe. Schengen ist heute als multidisziplinäres Konzept und<br />
Dispositiv zu verstehen, welches auf die Erhöhung der Sicherheit im<br />
„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ausgerichtet ist. Die<br />
polizeiliche Zusammenarbeit beruht bekanntlich auf den nachstehenden<br />
Säulen: Grenzkontrolle, Terrorismusbekämpfung, Visa, Einreise und Asyl.<br />
Informationsaustausch, grenzüberschreitende Observation und<br />
grenzüberschreitende Kommunikationsverbindungen (Informationssystem<br />
SIS) sind dabei zentral. Besonders ist auf das Dreiecksverhältnis<br />
zwischen der Schweiz, Europol und EU hinzuweisen.<br />
Dass alle Massnahmen zur Bekämpfung der Kriminalität und damit zur<br />
Verbesserung der Sicherheit als Teil der Freiheit auch zu Beschränkungen<br />
von Freiheitsrechten führen können, ist unbestreitbar (vergleiche dazu<br />
auch Alexander Ruch, Sicherheit in der freiheitlichen, rechtsstaatlichen<br />
Demokratie). Das Risiko unnötiger Freiheitsbeschränkungen von Seiten<br />
derer, welche die Aufgabe haben, Sicherheit und damit Freiheit zu<br />
gewährleisten, so gering als möglich zu halten, ist in erster Linie<br />
Verpflichtung des Gesetzgebers und der Exekutive.<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Seit dem Inkrafttreten der Abkommen Schengen und Dublin ist die<br />
Mobilität und Freizügigkeit in der Europäischen Union auch für die<br />
Schweiz endgültig Alltag. Die europäische Zusammenarbeit zur<br />
Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und<br />
der illegalen Migration sind für die Schweiz von grosser Bedeutung. Die<br />
Verträge bringen nur dann grosse Sicherheit, wenn sich alle Mitglieder an<br />
die Vereinbarung halten. Damit dies geschieht und richtig vollzogen wird,<br />
ist es prioritär, dass sich alle Mitglieder an die Vereinbarungen halten. Nur<br />
150
dann kann die Sicherheit für unser Land gewährleistet werden. Ein aktives<br />
und kritisches Zusammenarbeiten ist Bedingung für ein Gelingen. Auch<br />
die Schweiz muss sich bewusst sein, dass es ein Geben und Nehmen ist.<br />
Das neue Ausländergesetz mit Verschärfungen in Sachen<br />
Missbrauchsbekämpfung ist richtig, die mangelnde politische Bereitschaft,<br />
mehr Lasten mitzutragen, kann die Kooperation jedoch gefährden.<br />
3.2.6. Sicherheitspolitischer Faktor Diplomatie<br />
Die Macht bestimmt über weite Strecken das Kräftefeld der Aussenpolitik<br />
der Staaten. Für die Schweiz als Kleinstaat gelten andere Kräftefelder in<br />
der Aussenpolitik. Hier kommt ganz besonders die Diplomatie zum Zuge.<br />
Sie ist Machtpolitik mit anderen Mitteln. Sie hat zu versuchen, die<br />
Projektion der Gewalt, die Demonstration der Stärke der Grossmächte,<br />
das Diktat der Macht zurückzudrängen und durch die Kraft des Wortes<br />
und durch ein verbindliches Netz des Völkerrechts zu „zähmen“. Denn in<br />
einem Land wie der Schweiz ist die Aussenpolitik letztlich der Innenpolitik<br />
untergeordnet. Wer den Vorrang der Aussenpolitik verföchte, würde schon<br />
bei der nächsten Volksabstimmung zur Vernunft gebracht. Unser Land tat<br />
sich lange sehr schwer, sich mit Aussenpolitik und Diplomatie<br />
anzufreunden und sie als wichtigen sicherheitspolitischen Faktor zu<br />
anerkennen. Erst in der Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierte sich die<br />
Diplomatie effektiv in unserem Land. Mit heute über 300 Aussen-<br />
Vertretungen verfügt sie jedoch über ein ebenso dichtes Netz wie andere<br />
europäische Staaten vergleichbarer Grösse. Aktuell unterscheidet sich die<br />
Diplomatie in ihrer äusseren Erscheinung kaum von anderen Ländern.<br />
Die Diplomatie zählt innerhalb einer Sicherheitsstrategie zu den so<br />
genannten „weichen Faktoren“ (siehe dazu auch Ausführungen unter<br />
Kapitel 2.2.1. „Sicherheit international am Beispiel der Grossmacht USA“),<br />
innerhalb den Bemühungen eines Landes Konsens zu bilden, Länder<br />
151
übergreifend Beziehungen zu pflegen und eigene Werte zu verteidigen. Je<br />
grösser internationale Abhängigkeiten werden, desto mehr Gewicht wird<br />
den weichen Faktoren, u. a. der Diplomatie als so genanntes „soft power<br />
Instrument“ beigemessen.<br />
Die Ausgangslage der Schweiz umfasst insbesondere:<br />
• Freie, direkt demokratische Strukturen und Gesetzgebungen<br />
• Unabhängigkeit und Neutralität (Allianz freies Land)<br />
• Wohlfahrt/Wohlstand<br />
• Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte Verfassungsbasis.<br />
Ziele der Diplomatie sind:<br />
1. Territoriale Integrität<br />
• Erhalten und erweitern der bilateralen Beziehungen<br />
• Aktive Neutralitätspolitik<br />
2. Garantie einer sicheren Umwelt für die Bevölkerung<br />
• Stärkung der Informationsbeschaffungskapazität<br />
• Multinationales Netzwerk für den Schweizer Nachrichtendienst<br />
• Vernetzung nationaler Instrumente<br />
• Internationale Organisationen in der Schweiz, Rolle als Mediator<br />
3. Förderung und Verteidigung der demokratischen Werte, Stärkung der<br />
internationalen Rechtsstaatlichkeit und respektvolle Konfliktlösungen<br />
• Aktive Teilnahme bei gemeinsamen internationalen Bemühungen<br />
• Lancierung und Förderung von Initiativen bezüglich<br />
Menschenrechte und deren Verankerung in den Gesetzgebungen<br />
4. Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der globalen Märkte<br />
• Abbau von Handelshemmnissen<br />
152
• Stärkung des Finanz- und des Industrieplatzes Schweiz<br />
• Beitragsleistungen im Sinne der Stärkung des Verständnisses für<br />
den „Sonderfall Schweiz“ mit seiner direkten Demokratie<br />
5. Erhalt der Fähigkeit, die Schweiz als unabhängiges Land zu bewahren<br />
(siehe dazu obige Argumente).<br />
Die direkt vorgesetzte Stelle der Schweizer Diplomatie ist das<br />
Departement des Äusseren, jedoch auch das Sicherheitsdepartement, die<br />
Wirtschaft sowie die Justiz sind Einfluss nehmend.<br />
Das diplomatische Corps besteht aus allen bei der gleichen Regierung<br />
akkreditierten Missionschefs (Botschaft). Es wird vom Doyen präsidiert.<br />
Doyen ist normalerweise der ranghöchste Missionschef, der am längsten<br />
im betreffenden Land akkreditiert ist. Einige Staaten räumen dem Nuntius<br />
einen Sonderstatus hinsichtlich seiner Rangfolge ein. Er wird oft als Doyen<br />
des diplomatischen Corps anerkannt. Bei offiziellen Anlässen ist der<br />
Doyen der Sprecher des diplomatischen Corps. Er ist auch derjenige, der -<br />
im Namen und nach Konsultation des diplomatischen Corps- allfällige an<br />
den Residenzstaat gerichtete Protestnoten übergibt. Der Begriff<br />
"Diplomatisches Corps" kann auch die Gesamtheit des diplomatischen<br />
Personals in einem Staat bezeichnen.<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Der sicherheitspolitische Faktor Diplomatie prägt die Schnittstelle<br />
Migration- und Sicherheitspolitik vor allem indirekt und weniger messbar.<br />
Die Diplomatie zählt denn auch zu den sogenannten „weichen Faktoren“<br />
einer umfassenden Sicherheitsstrategie, deren Fehlen die Autorin<br />
bemängelt. Die guten Beziehungen zum globalen Umfeld zu pflegen, darf<br />
allerdings nicht unterschätzt werden. Insbesondere bei der Rückführung<br />
illegal eingereister Migranten spielt sie eine gewichtige Rolle. Auch bei<br />
populistischen Ausländerthemen, z.B. Islamophobie (Anti-Minarett-<br />
Initiative) hat die Diplomatie eine aufklärende, wichtige Rolle im<br />
153
internationalen Umfeld zu spielen und insbesondere unsere direkte<br />
Demokratie und die Neutralitätspolitik unseres Landes, bzw. „den<br />
Sonderfall Schweiz“, zu erklären, damit Goodwill erhalten bleibt. Zudem ist<br />
die Diplomatie und der Nachrichtendienst in enger Verknüpfung zu sehen<br />
und in diesem Sinne wichtiger Faktor der Sicherheitspolitik. Den im<br />
Ausland tätigen Botschaftern unterstehen bekanntlich unsere<br />
Militärattachées, was den direkten Bezug zur Armee, der<br />
Friedensförderung und auch zur Terrorismusabwehr tangiert.<br />
3.3. Schnittstellen Migration und Sicherheit in der Schweiz<br />
3.3.1. Schnittstelle irreguläre Migration und Sicherheit<br />
Der Begriff „irreguläre Migration“ wird verwendet, um eine Vielzahl<br />
unterschiedlicher Phänomene zu beschreiben. Er bezieht sich auf<br />
Personen, die gesetzeswidrig in ein fremdes Land einreisen oder sich dort<br />
illegal aufhalten. Dazu zählen Migranten, die ein Land unerlaubt betreten<br />
oder dort unerlaubt verbleiben, Personen, die über eine internationale<br />
Grenze geschleust wurden, Opfer von Menschenhändlern sowie<br />
abgelehnte Asylbewerber, die ihrer Verpflichtung zur Ausreiche nicht<br />
nachkommen. Sie werden auch einfach als Migranten mit irregulärem<br />
Status bezeichnet. Die Analyse der irregulären Migration wird weiterhin<br />
durch den ernsthaften Mangel an präzisen Daten behindert. Dies<br />
erschwert es, auch Trends zu identifizieren oder das Ausmass des<br />
Phänomens in unterschiedlichen Teilen der Welt zu vergleichen. Gesichert<br />
ist allerdings, dass die Zahl irregulärer Migranten ständig steigt. Die<br />
Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)<br />
schätzt, dass zwischen 10 bis 15 % der 56 Millionen Migranten in Europa<br />
einen irregulären Status haben, und dass jährlich etwa eine halbe Million<br />
undokumentierte Migranten in der EU ankommen. Was diese Zahlen<br />
exakt für die Schweiz bedeuten, kann nur geschätzt werden.<br />
154
Die irreguläre Migration untergräbt das souveräne Recht der Staaten zu<br />
entscheiden, welche Personen ihr Staatsgebiet betreten dürfen und<br />
welche nicht. Dieser Mangel an Kontrolle wirkt sich direkt oder indirekt auf<br />
eine Vielzahl von Politikbereichen (z.B. Sicherheit, Gesundheit,<br />
Arbeitsmarkt) aus.<br />
Um ihre Souveränität und Sicherheit zu verteidigen, investieren Staaten<br />
immense Mühen und Ressourcen in die Verhinderung der irregulären<br />
Migration. Der Erfolg dieser Anstrengungen ist jedoch begrenzt. Die<br />
Zunahme der irregulären Migration hängt zum Teil auch mit einem Mangel<br />
an regulären Möglichkeiten der Zuwanderung zusammen. Sie wird<br />
ausserdem durch kriminelle Netzwerke begünstigt, die von<br />
Menschenschmuggel und -handel profitieren. Ferner hat die Zunahme von<br />
Diasporagemeinschaften und transnationalen sozialen Netzwerken es für<br />
Menschen leichter gemacht, irregulär von einem Land in ein anderes zu<br />
reisen. Irreguläre Migration hat eine Reihe negativer Konsequenzen.<br />
Wenn sie in grösserem Ausmass auftritt und die Aufmerksamkeit der<br />
Medien auf sich zieht, kann irreguläre Migration das Vertrauen der<br />
Öffentlichkeit in die Integrität und Effizienz der Migrations- und Asylpolitik<br />
eines Staates untergraben. Sie stellt die Ausübung der staatlichen<br />
Souveränität in Frage und kann insbesondere in den Fällen, in denen sie<br />
mit Korruption und organisiertem Verbrechen einhergeht, zu einer<br />
Bedrohung der öffentlichen Sicherheit werden. Wenn irreguläre Migration<br />
zu schärferem Wettbewerb um knappe Arbeitsplätze führt, kann sie auch<br />
zum Entstehen fremdenfeindlicher Gefühle beitragen, die nicht nur gegen<br />
Migranten mit irregulärem Status, sondern oft auch gegen länger<br />
ansässige Migranten und anerkannte Flüchtlinge und ethnische Minderheiten<br />
gerichtet sind.<br />
155
Gemäss dem im Juni 2004 veröffentlichten Bericht des Bundes zur<br />
irregulären Migration 52 sind für die Schweiz Aussagen und Angaben über<br />
die Ursachen, das Ausmass und die Auswirkungen der illegalen Migration<br />
nur teilweise vorhanden. Dementsprechend können auch nur teilweise<br />
sicherheitsrelevante Aussagen gemacht werden. Illegal Anwesende sind<br />
offenbar insbesondere in strukturschwachen Branchen wie der<br />
Landwirtschaft, dem Baugewerbe, in privaten Haushalten und dem<br />
Sexgewerbe tätig. Trotz Arbeitslosigkeit existiert nach wie vor eine<br />
Nachfrage nach billiger Arbeit. Gemäss Studie von Prof. Schneider<br />
(Universität Linz) sind Zehntausende ausländischer Arbeitskräfte illegal<br />
beschäftigt 53 . Gemäss dieser Studie sind dies Zehntausende mehr als<br />
noch vor 10 Jahren. Erfahrung zeigen, dass illegale Einreisende und<br />
Aufenthalte insbesondere in folgenden Situationen vorkommen:<br />
• Selbstständige<br />
Schwarzarbeit<br />
Einreise zur Suche und Aufnahme einer<br />
• Illegaler Nachzug von Verwandten und Bekannten (Erschleichen<br />
von Visum und vermitteln von Arbeitsplatz (Kettenmigration)<br />
• Persönliche Voraussetzung für den legalen Aufenthalt fehlen<br />
(fehlende Finanzmittel nach Scheidung oder nichtbewilligter<br />
Aufenthalt beim Konkubinatspartner oder beim<br />
gleichgeschlechtlichen Partner)<br />
• Nach einem befristeten legalen Aufenthalt erfolgt keine Ausreise<br />
(z.B. nach abgeschlossener Ausbildung, nach Ablauf einer<br />
Kurzaufenthaltsbewilligung etc.)<br />
52 Bericht zur illegalen Migration (<strong>IM</strong>ES, BFF; fedpol und Grenzwachtkorps; Juni 2004)<br />
53 Illegale und deren Arbeitgeber bezahlen oft/meist keine Beiträge für die Sozialversicherungen<br />
und keine Steuern. Wissenschaftliche Schätzungen sprechen von<br />
Verlusten in der Höhe von bis zu 10 Milliarden Schweizerfranken pro Jahr!<br />
156
• Illegale Einreise und illegaler Aufenthalt im Asylbereich (Umgehung<br />
von Grenzkontrollen, Untertauchen während eines Asylverfahrens<br />
oder nach negativem Asylentscheid) 54<br />
• Schlepper-Organisationen ermöglichen illegale Einreise (kriminelle<br />
Organisationen).<br />
Irreguläre Migration kann auch mit einer Bedrohung des Lebens der<br />
betroffenen Migranten verbunden sein: Das internationale Zentrum für<br />
Entwicklung von Migrationspolitik schätzt, dass etwa 2000 Migranten<br />
jedes Jahr bei dem Versuch sterben, das Mittelmeer aus Richtung Afrika<br />
nach Europa zu überqueren. Menschenhändler beuten Migranten<br />
skrupellos aus. Sie werden häufig für Tätigkeiten eingesetzt, die schlecht<br />
bezahlt oder gar nicht bezahlt sind, oder sie werden zu erniedrigenden<br />
Arbeiten gezwungen. Menschen, die unerlaubt in ein Land einreisen oder<br />
sich dort aufhalten, sind dem Risiko der Ausbeutung auf verschiedenen<br />
Ebenen ausgesetzt (Arbeitgeber, Vermieter etc.).<br />
Die Mehrzahl der als Haushalthilfen und in der Sexindustrie tätigen<br />
Migranten sind Frauen. In diesen Arbeitsfeldern besteht ein besonderes<br />
Missbrauchsrisiko. Auch in der Schweiz ist heute das Thema<br />
emotionsgeladen: Migrantenkinder mit irregulärem Status, die von ihren<br />
Eltern getrennt sind, stellen eine besonders verletzliche Gruppe dar. Sie<br />
können Opfer von Menschenhandel und zur Arbeit in der Sexindustrie<br />
gezwungen werden. Ausserdem riskieren sie staatenlos zu werden. Opfer<br />
von Menschenhandel sind schliesslich oft illegal anwesende Migrantinnen<br />
im Bereich der Prostitution. Es handelt sich nach Schätzungen des fedpol<br />
um mehrere tausend Personen, z.B. 6’000 im Jahre 2003.<br />
54 Gemäss Asylstatistik des Bundesamts für Migration sind im Jahr 2009 2‘788<br />
Personendes Asylbereichs untergetaucht<br />
http://www.bfm.admin.ch/etc/medialib/data/migration/statistik/asylstatistik/jahresstatistik/k<br />
ommentierte_jahresstatistik.Par.0003.File.tmp/statistik-jahr-2009-kommentar-d.pdf<br />
157
Fazit und Gewichtung<br />
Grenzkontrollpolitik muss als Teil einer langfristigen Strategie im<br />
Zusammenhang mit anderen Massnahmen zur Bekämpfung der<br />
irregulären Migration verstanden werden. Die EU-Staaten, aber auch die<br />
Schweiz haben aufgrund ihrer Erfahrungen eingesehen, dass allein mit<br />
strengen Grenzkontrollen die irreguläre Migration nicht gebremst werden<br />
kann. Im Umgang mit irregulärer Migration muss sich das Augenmerk<br />
sowohl auf soziale und wirtschaftliche Defizite als auch auf Mängel in der<br />
Regierungspraxis und bei der Gewährleistung von Menschenrechten<br />
richten, die Ursachen dafür sind, dass Menschen ihre Heimatländer<br />
verlassen.<br />
Die Strategie zur Eindämmung irregulärer Migration muss auf<br />
zwischenstaatlichem Dialog und auf Kooperation beruhen. Staaten sollten<br />
die Situation der Migranten mit irregulärem Status durch Rückkehr oder<br />
bei Härtefällen durch Legalisierung lösen. Generalamnestien wie vor<br />
einigen Jahren in Italien oder Spanien lösen das Problem nicht, im<br />
Gegenteil, die irreguläre Migration wird durch die mit einer Amnestie<br />
verbundene Sogwirkung nur noch gefördert. Amnestien sind auch zutiefst<br />
ungerecht, denn sie benachteiligen jene, die nach irregulärem Aufenthalt<br />
das Land vorschriftsgemäss verlassen.<br />
Jede Rückkehr sollte aber so durchgeführt werden, dass sie sicher und<br />
menschenwürdig verläuft und die grundlegenden Menschenrechte<br />
lückenlos berücksichtigt werden. Die betroffenen Migranten tragen<br />
ebenfalls Verantwortung für ihre Rückkehr und sind verpflichtet, mit den<br />
Behörden zusammenzuarbeiten, wenn sie aus legitimen Gründen dazu<br />
aufgefordert werden, das Land zu verlassen. Es ist zudem allgemein<br />
anerkannter Grundsatz, dass Staaten die Verpflichtung haben, ihre<br />
eigenen Staatsangehörigen wieder in ihr Territorium aufzunehmen. In der<br />
Praxis gestaltet sich dieser Grundsatz allerdings oft schwierig und<br />
158
erfordert viel Zeit und Recherchen, die effektive Identität der Migranten<br />
gesichert zu erheben.<br />
In der EU und in der Schweiz haben die Verantwortlichen diese<br />
Schnittstelle irreguläre Migration/Sicherheit seit geraumer Zeit erkannt und<br />
verschiedene Abkommen, Gesetze und Reglemente mit diversen<br />
Massnahmen erlassen, die den genannten Forderungen weitgehend, aber<br />
nicht vollständig Rechnung tragen:<br />
a) Mit dem Inkrafttreten der Schengen- und Dublinassoziierung am 12.12.<br />
2008 ist die Schweiz ganz (Grenzschutzpolitik via Schengen) oder<br />
teilweise (Asylpolitik via Dublin) in diese Politiken eingebunden und<br />
übernimmt auch die entsprechenden Weiterentwicklungen. Diese<br />
Zusammenarbeit ermöglicht der Schweiz, zusammen mit den EU-Staaten<br />
die irreguläre Migration verstärkt zu bekämpfen. Eine Zwischenbilanz zeigt<br />
erste Erfolge.<br />
b) Die Schweiz ist an der Kontrolle und Sicherung der Aussengrenzen der<br />
EU beteiligt (Frontex und Aussengrenzenfonds)<br />
c) Über Schengen ist die Schweiz auch an der EU-Visumspolitik beteiligt<br />
d) Auch auf der Basis der neuen schweizerischen Ausländer- und<br />
Asylgesetze wurden in den letzten Jahren erfolgversprechende<br />
Instrumente erarbeitet, die den Entwicklungen irreguläre<br />
Migration/Sicherheit Rechnung tragen: Mit dem Konzept der<br />
Migrationspartnerschaft (Art.100 des Ausländergesetzes) hat die Schweiz<br />
ein Instrument geschaffen, das eine partnerschaftliche Migration mit den<br />
Staaten und anderen Akteuren (internationale Organisationen, NGO`s,<br />
Diaspora, Privatwirtschaft) ermöglichen soll. Mit diesem Instrument sollen<br />
schweizerische migrationspolitische Interessen unter Einbezug der<br />
Interessen des Partnerlandes durchgesetzt werden. Je nach Bedürfnis<br />
kann eine Migrationspartnerschaft verschiedene Aktionsfelder beinhalten:<br />
so z. B. polizeiliche Kooperation, Rückkehr, Rückkehrhilfe, Kampf gegen<br />
159
Menschenhandel, Entwicklungszusammenarbeit, Visapolitik, Rechtshilfe<br />
etc). Ein „Memorandum of Understanding“ konnte in diesem Sinn schon<br />
mit Bosnien (14.4.2009), Serbien (30.6.2009) und dem Kosovo (3.2.2010)<br />
unterzeichnet werden. Die Gespräche über ein ähnliches Abkommen mit<br />
Nigeria schreiten voran (siehe dazu und zum Folgenden Stellungnahme<br />
des Bundesrates zur Motion der Fraktion CVP/EVP/GLP „Verstärkung der<br />
Migrationsaussenpolitik“ vom 9.3.2010)<br />
e) Zur Bewältigung internationaler Migrations- und Flüchtlingsströme, die<br />
zu irregulärer Migration oder gefahrvoller Weiterwanderung führen<br />
können, hat der Bund ferner das Konzept des Schutzes von Flüchtlingen<br />
in den Herkunftsregionen („protection in the region“) erarbeitet. Damit wird<br />
das Engagement zugunsten Schutzbedürftiger im Erstaufnahmeland<br />
verstärkt, indem die nationalen Schutzkapazitäten zugunsten von<br />
Flüchtlingen verbessert werden. Verschiedene Bundesstellen (DEZA,<br />
BFM, etc) haben z.B. in Jemen, einem wichtigen Aufnahmeland von<br />
Flüchtlingen aus dem Horn von Afrika mit der Umsetzung von Projekten<br />
begonnen. In Syrien, dem wichtigsten Aufnahmeland für Flüchtlinge aus<br />
dem Irak, beginnt zurzeit die Umsetzung eines Programms.<br />
f) Das Asylgesetz (Art. 93) sieht sodann die Förderung der freiwilligen<br />
Rückkehr in Herkunfts- und Transitregionen vor, was ebenfalls ein<br />
Element der Prävention irregulärer Migration darstellt. Die Schweiz hat<br />
vor allem seit dem Krieg in Ex-Jugoslawien die Rückkehrhilfe gekoppelt<br />
mit der nötigen Strukturhilfe drastisch verstärkt. So bewilligte der<br />
Bundesrat z.B. im Jahre 1999 einen Verpflichtungskredit von 235 Mio.<br />
Franken für solche Projekte, die in der Regel vom BFM zusammen mit der<br />
DEZA erfolgreich realisiert wurden (siehe dazu im Einzelnen „Die Arbeit<br />
der Interdepartementalen Leitungsgruppe Rückkehrhilfe ILR“, BFM/DEZA,<br />
Bern 1999).<br />
160
g) Der Schwerpunkt des schweizerischen Engagements zur Bekämpfung<br />
des Menschenhandels liegt bei der Prävention sowie dem Schutz<br />
betroffener und potenzieller Opfer. Dazu wurden v. a. Massnahmen zur<br />
Steigerung von Kapazitäten von in- und ausländischen Akteuren<br />
umgesetzt. Im Rahmen der UNO und der OSZE setzt sich die Schweiz<br />
proaktiv für die Schaffung von Standards ein. Beim Einsatz im Ausland<br />
geht es vor allem darum, die Herkunftsstaaten oder die Transitländer von<br />
Menschenrechtsopfern in der Schweiz, wie z.B. Nigeria oder Serbien zu<br />
unterstützen.<br />
Staaten müssen ihre Bemühungen zur Bekämpfung der unterschiedlichen<br />
kriminellen Phänomene der Schleuse-Tätigkeiten und des<br />
Menschenhandels verstärken. In beiden Fällen müssen die Täter<br />
strafrechtlich verfolgt, die Nachfrage an ausbeuterischen Dienstleistungen<br />
unterbunden und den Opfern angemessener Schutz und Hilfe gewährt<br />
werden. Menschenhändler- und Schmuggler werden selten angezeigt, da<br />
die Opfer aus Angst vor Repression keine Aussagen machen. Die<br />
Aufklärung wird insofern erschwert, als die Opfer von Menschenhandel bis<br />
vor kurzem umgehend aus der Schweiz ausgewiesen wurden 55 . Eine<br />
Gesetzesänderung von 2009 sieht nun vor, dass die Opfer aus wichtigen<br />
Gründen in der Schweiz bleiben können, namentlich während der Dauer<br />
des Prozesses oder aus humanitären Gründen.<br />
Der Bundesrat und das Parlament haben zur Lösung der<br />
Schnittstellenproblematik irreguläre Migration/Sicherheit den richtigen<br />
Weg eingeschlagen; die Umsetzung seiner Strategie müsste aber rascher<br />
erfolgen, weil auf politischer Ebene hiezu ein Grundkonsens besteht, was<br />
verschiedene parlamentarische Vorstösse belegen. Ebenso müsste die<br />
departementsübergreifende Zusammenarbeit bei internationalen<br />
55<br />
Vgl. auch Bericht zur illegalen Migration (<strong>IM</strong>ES, BFF; fedpol und Grenzwachtkorps;<br />
Juni 2004)<br />
161
Migrationsfragen im Sinne einer ganzheitlichen, wirkungsvollen und<br />
kohärenten Politik verbessert werden (z.B. bei der Bekämpfung der<br />
irregulären Migration, bei der „protection in the region“, den<br />
Migrationspartnerschaften, bei der Bekämpfung des Menschenhandels,<br />
des Einbezugs der Entwicklungszusammenarbeit, etc.). Ebenso sollte der<br />
Bund mit gezielten Informations- und Aufklärungsprojekten, v.a. in Afrika,<br />
potenzielle Migranten auf die legalen Möglichleiten und die Risiken einer<br />
Zuwanderung in die Schweiz aufmerksam machen. Bezüglich der<br />
Schnittstelle Migration/Sicherheit müsste sich die Schweiz auch dringend<br />
Überlegungen machen, wie mit sich abzeichnenden gemischten<br />
Wanderungsströmen umzugehen ist – manche Personen fallen unter den<br />
Flüchtlingsschutz, andere kommen irregulär als Arbeitsmigranten oder in<br />
Zukunft womöglich als Umweltmigranten. Der Konnex zur Sicherheit ist<br />
vor allem bei grösseren Wanderungsströmen evident.<br />
Vermutlich zeigt sich nirgends der enge Zusammenhang zwischen<br />
Migration- und Sicherheitspolitik so deutlich wie bei der irregulären<br />
Migration. Irreguläre Migration untergräbt das souveräne Recht der<br />
Staaten zu entscheiden, welche Personen ihr Staatsgebiet betreten dürfen<br />
und welche nicht. Dieser Mangel an Kontrolle wirkt sich direkt und indirekt<br />
auf den Politikbereich der Sicherheit aus. Dabei haben wir nicht nur an<br />
Korruption, Menschenhandel und Menschenschmuggel zudenken,<br />
sondern vielmehr auch die hohe Anzahl delinquenter Personen. Auch die<br />
Schwarzarbeit ist dazu gewichtiges Stichwort. Nebst illegal arbeitenden<br />
Haushalthilfen sind auch das Sexgewerbe sowie die Bauindustrie<br />
betroffen. Die Strategie zur Eindämmung muss auf zwischenstaatlichem<br />
Dialog und auf Kooperation beruhen. Nur in enger Zusammenarbeit mit<br />
der EU kann es der Schweiz gelingen, eine kohärente Sicherheitspolitik in<br />
diesem Bereich umzusetzen. Die Verträge Schengen und Dublin spielen<br />
eine tragende Rolle in diesem Zusammenhang.<br />
162
3.3.2. Schnittstelle Migration und Kriminalität sowie öffentliche<br />
Sicherheit<br />
In der Debatte um die öffentliche Sicherheit wird immer wieder die so<br />
genannte Ausländerkriminalität als ein wichtiger Faktor, der das<br />
Sicherheitsempfinden der Bevölkerung negativ beeinflusst, erwähnt. So<br />
wird per Statistik nachgewiesen, dass sich einzelne Ausländergruppen<br />
überdurchschnittlich an kriminellen Taten beteiligen, insbesondere bei<br />
Drogenhandel, Diebstahl und Gewaltdelikten 56 .<br />
In einer vom Team von Prof. Dr. Werner Wirth der Universität Zürich im<br />
Jahr 2005 veröffentlichten wissenschaftlichen Studie zur Rolle der Medien<br />
im Zusammenhang mit der Ausländerkriminalität 57 wird auch auf<br />
verschiedene Theorien über die Ursachen eingegangen. Die Studie geht<br />
prinzipiell von vier allgemeinen und drei speziellen Kriminalitätstheorien<br />
aus 58 .<br />
Von besonderer Bedeutung bezüglich der Kriminalität von Ausländern ist<br />
gemäss Prof. Dr. Wirth die Erkenntnis, dass innerhalb einer Gesellschaft<br />
kulturelle Handlungsziele vorgegeben werden und die soziale Struktur die<br />
Mittel zur Realisierung dieser Ziele zur Verfügung stellt oder eben auch<br />
nicht; dabei steht nicht allen Gesellschaftsmitgliedern der gleiche Zugang<br />
zu eben den legitimen Mitteln von Handlungszielen zu. Diese, nicht in die<br />
Gesamtgesellschaft integrierten Teile der Gesellschaft sind einem starken<br />
Druck ausgesetzt, welcher durch Konformität (legitime Mittel zur<br />
56 Bereits die Kriminalstatistik im Jahre 2003 wies bei den Verzeigungen einen<br />
Ausländeranteil von 55,3 % auf, was den höchsten Stand der letzten zehn Jahre<br />
bedeutet hatte. Eine gesamtschweizerische Auswertung neueren Datums, die auch den<br />
Status der Ausländer berücksichtigte, bestand nicht, da die entsprechenden Daten von<br />
den meisten Kantonen gar nicht erhoben wurden.<br />
57 „Medien, Migration und Kriminalität: Eine Inhaltsanalyse von Schweizer<br />
Tageszeitungen“ vom Juni 2005; IPMZ - Institut für Publizistikwissenschaft und<br />
Medienforschung der Universität Zürich, 2005<br />
58 Biologische (Geschlechts spezifisch), Sozialpsychologische (soziale Lerntheorien und<br />
Kontrolltheorien), sozialstrukturelle (Anomie-Theorie, Labeling-Theorie und Theorie der<br />
sozialen Desorganisation) und multifaktorielle Kriminalitätstheorie sowie als spezielle<br />
Theorie Kriminalität und Massenmedien; fremdenfeindliche Gewalt und<br />
Ausländerkriminalität<br />
163
Zielerreichung), Innovation (illegitime Wege der Zielerreichung durch<br />
leichtere Delikte), Rebellion (Ziele wie auch Mittel werden durch andere<br />
ersetzt) Rückzug (Ziele und Mittel werden ersatzlos verworfen) und<br />
Ritualismus (Ziele werden durch andere ersetzt, jedoch mit legitimen<br />
Mitteln erreicht) ersetzt wird.<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Das Kapitel 3.2.4. der inneren Sicherheit liefert dazu die wichtigsten<br />
Erkenntnisse. So wird beispielsweise nachgewiesen, dass einzelne<br />
Ausländergruppen überdurchschnittlich an kriminellen Taten beteiligt sind<br />
(Drogenhandel, Diebstahl und Gewaltdelikte). Der Integration kommt in<br />
diesem Punkt prioritäre Bedeutung zu.<br />
3.3.3. Schnittstelle Integration und Sicherheit<br />
Im Bericht „Probleme der Integration von Ausländerinnen und Ausländern<br />
in der Schweiz“ 59 des Bundes von 2006 wird Integration als<br />
Chancengleichheit verstanden. Integration ist dann gelungen (Soll-<br />
Zustand), wenn Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz in den<br />
verschiedenen Integrationsbereichen vergleichbare Kennzahlen aufweisen<br />
wie Schweizerinnen und Schweizer, die sich insbesondere im Hinblick auf<br />
Alter, das Geschlecht, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage, die<br />
Familiensituation sowie die berufliche Ausbildung in ähnlichen<br />
Lebenssituationen befinden. Im Bericht werden folgende zentrale<br />
Integrationsbereiche aufgeführt:<br />
• Schulbildung<br />
• Berufsbildung<br />
• Arbeitsmarkt<br />
59<br />
Vgl. Bericht „Probleme der Integration von Ausländerinnen und Ausländern in der<br />
Schweiz“ , EJPD, Juli 2006<br />
164
• Soziale Sicherheit<br />
• Gesundheit<br />
• Sprache<br />
• Quartierentwicklung<br />
• Teilnahme am gesellschaftlichen Leben<br />
• Religion und Kultur<br />
• Öffentliche Sicherheit<br />
Die Schnittstelle Integration / Sicherheit spielt nach Ansicht der Autorin in<br />
folgenden Bereichen eine wichtige Rolle:<br />
a) Eine besondere Bedeutung kommt nach den Terroranschlägen in New<br />
York, Madrid und London der Integration betreffend Religion und Kultur<br />
zu. Seit den Anschlägen haben sich Diskussionen über religiöse und<br />
kulturelle Differenzen auch in der Schweiz zu einer eigentlichen „Islam-<br />
Debatte“ entwickelt, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Annahme der<br />
Anti-Minarett-Initiative fand. Das Spannungsfeld betrifft aber auch<br />
Bekleidungsvorschriften (Kopftuch und Burka), der Teilnahme der Kinder<br />
am Schulunterricht (Sport, Schullager), der Friedhöfe und Sakralräume<br />
sowie weiterer Bereiche wie Zwangsheiraten. Das föderalistische System<br />
hat über viele Jahre angepasste Lösungen ermöglicht. Die Abstimmung<br />
zur Minarett-Initiative hat aber scharf vor Augen geführt, dass man in<br />
Zukunft eine Gefährdung der Sicherheit nicht ausschliessen kann, wenn<br />
nicht durch verbesserte Integration, durch ein kontrolliertes<br />
Zulassungssystem, aber auch durch klares Aufzeigen der Rechte und der<br />
Pflichten der Ausländerinnen und Ausländer fremdenfeindlichen<br />
Tendenzen entgegengewirkt wird.<br />
b) Gut integrierte Ausländerinnen und Ausländer gefährden die<br />
Sicherheit in der Regel nicht. Auch wenn der erwähnte Bericht des<br />
Bundes von 2006 zu Recht festhält, dass die Ausländerintegration in der<br />
Schweiz angesichts des hohen Ausländeranteils (ca. 21,5 %) im Grossen<br />
und Ganzen gelungen ist (S.103 spricht von grösstenteils friedlichen und<br />
165
problemlosen Zusammenleben) werden auch die Probleme ungeschminkt<br />
dargestellt. Der Konnex Ausländerkriminalität – Sicherheit – Integration ist<br />
augenfällig. Gut Integrierte gefährden die Sicherheit nicht. Wo liegen somit<br />
die Probleme?<br />
Die Übersicht über die wichtigsten Ursachen für Integrationsprobleme<br />
zeigt, dass eine schwierige sozio-ökonomische Lage und Bildungsferne<br />
die wichtigsten Ursachen für Integrationsprobleme darstellen. Der Zugang<br />
zu einer Erwerbstätigkeit ist dabei die zentrale Bedingung für eine<br />
gelungene Integration, und folglich muss der Sprachkompetenz(lokale<br />
Sprache) grosses Gewicht beigemessen werden. Zudem ist daher auch<br />
die Integrationsförderung in den Bereichen Berufsbildung sowie<br />
Arbeitsmarkt in den bestehenden Institutionen, den Berufsschulen und<br />
Betrieben zu stärken. Besondere Risikogruppen sind ausländische<br />
Jugendliche aus bildungsfernen Familien, insbesondere der zweiten<br />
Zuwanderungsphase. Es zeigt sich, dass auf allen Ebenen (Bund, Kanton<br />
und Gemeinden) bereits grosse Anstrengungen zur Integration<br />
unternommen werden. Der Zeitgeist entspricht heute dem Credo von<br />
„fordern und fördern“. Wir sprechen nicht nur von den Rechten der<br />
Ausländerinnen sondern klar auch von ihren Pflichten.<br />
Aufgrund der Problemanalyse von 2006 hat der Bundesrat am 22. August<br />
2007 ein Massnahmepaket verabschiedet, das 46 Massnahmen<br />
umfassen. Diese wurden von 15 Bundesstellen erarbeitet und sollen die<br />
Integration der Ausländerinnen und Ausländer verbessern. Diese<br />
Massnahmen setzen in den Bereichen Sprache, Bildung, Arbeit, soziale<br />
Sicherheit und Förderung der gesellschaftlichen Integration im<br />
Wohnumfeld an. Die Gewaltprävention und die Bereiche Sport,<br />
Gesundheit oder Rassismusbekämpfung sind weitere ergänzende<br />
Massnahmen im Kompetenzbereich des Bundes 60 . Der Bundesrat hat im<br />
60 Quelle: Interdepartementale Arbeitsgruppe Migration IAM unter der Federführung des<br />
Bundesamts für Migration BFM hat den Bericht "Umsetzung Massnahmenpaket<br />
166
Januar 2010 die zweite Berichtserstattung zur Umsetzung des<br />
Massnahmepakets zur Kenntnis genommen: der grösste Teil der<br />
Massnahmen wurde planmässig umgesetzt. Zurzeit erarbeitet der<br />
Bundesrat zuhanden des Parlaments einen Bericht zur Frage der<br />
Weiterentwicklung der Integrationspolitik des Bundes 61 .<br />
Fazit und Gewichtung<br />
In der aktuellen Debatte muss es darum gehen, die wirtschaftlichen und<br />
gesellschaftlichen Akteure noch stärker einzubinden. In diesem Sinne<br />
empfiehlt beispielsweise die Tripartite Agglomerationskonferenz 62 ’ 63 (TAK)<br />
richtigerweise, die schweizerische Integrationspolitik auf folgender Basis<br />
weiter zu entwickeln:<br />
Bund, Kantone sowie die Städte und Gemeinden bezeichnen die Stärkung<br />
des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf der Grundlage der Werte der<br />
Bundesverfassung als gemeinsames Integrationsziel. Zur Verfolgung<br />
dieses Ziels stützen sie ihre Integrationspolitik auf vier gleichwertige<br />
Grundprinzipien ab: „Chancengleichheit verwirklichen“, „Potenziale<br />
nutzen“, „Vielfalt berücksichtigen“ und „Eigenverantwortung einfordern“.<br />
Im föderalistischen Staat ist es gerade bei der Integrationspolitik in<br />
Zusammenhang mit Sicherheitsfragen zentral, dass die drei Ebenen<br />
Gemeinde, Kanton, Bund eng miteinander zusammenarbeiten. Das<br />
bedingt eine gute Koordination. Mit der Schaffung der Tripartiten<br />
Agglomerationskonferenz sind diese Ebenen vertreten, was ein guter Start<br />
Integration 2009" publiziert,<br />
www.bfm.admin.ch/etc/medialib/data/migration/integration/berichte.Par.0036.File.tmp/ber<br />
-ums-integration-2009-d.pdf<br />
61 Quelle: Die Medienmitteilung EJPD vom 27.01.2010,<br />
www.bfm.admin.ch/bfm/de/home/dokumentation/medienmitteilungen/2010/ref_2010-01-<br />
27.html<br />
62 Bei der Tripartiten Agglomerationskonferenz handelt es sich um eine politische<br />
Plattform von Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden für eine gemeinsame<br />
Agglomerationspolitik in der Schweiz (www.tak-cta.ch)<br />
63 Vgl. „Weiterentwicklung der schweizerischen Integrationspolitik“, Bericht und<br />
Empfehlungen der TAK vom 29. Juni 2009<br />
167
ist. Hingegen müsste in diesem Gremium wohl auch die Sicherheitspolitik<br />
vermehrt zur Sprache kommen. Die Autorin ist überzeugt, dass der<br />
Integrationsfaktor eine zentrale Rolle spielt im Zusammenhang mit der<br />
Bekämpfung von Terrorismus und Ausländerkriminalität.<br />
Gut integrierte Ausländer und Ausländerinnen gefährden die Sicherheit in<br />
der Regel nicht. Auch wenn die Ausländerintegration in der Schweiz<br />
angesichts des hohen Ausländeranteils im Grossen und Ganzen gelungen<br />
ist, sind Probleme im Konnex zur Ausländerkriminalität augenfällig. Eine<br />
schwierige sozio-ökonomische Lage und Bildungsdefizite sind die<br />
wichtigsten Ursachen für Integrationsprobleme. Im föderalistischen Staat<br />
Schweiz ist es gerade bei der Integrationspolitik im Zusammenhang mit<br />
Sicherheitsfragen zentral, dass die drei Ebenen Gemeinde, Kanton und<br />
Bund eng zusammenarbeiten. Mit der Schaffung einer Tripartiten<br />
Agglomerationskonferenz sind diese Ebenen vertreten. Die<br />
Sicherheitspolitik müsste jedoch vermehrt zur Sprache kommen.<br />
3.3.3.1. Schnittstelle Sans-Papiers und Sicherheit<br />
Im Jahre 2005 wurde in einer Studie, die das BFM beim Politologen<br />
Claude Longchamp in Auftrag gegeben hat, festgestellt, dass ca. 100‘000<br />
so genannte Sans-Papiers in der Schweiz leben 64 . Insbesondere die<br />
Landwirtschaft und die Bauwirtschaft sollen davon profitiert haben. 6<br />
Teilstudien wurden von den Kantonen Zürich, Baselstadt, Thurgau, Genf,<br />
Waadt und Tessin erstellt aufgrund von Befragungen. Schliesslich wurden<br />
die nationalen Expertenschätzungen auf die nationale Ebene<br />
hochgerechnet.<br />
Sans-Papiers, Papierlose und Schwarzarbeitende wurden in dieser Studie<br />
als Menschen definiert, die sich länger als einen Monat ohne geregelte<br />
Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz aufhalten und keine feste Absicht<br />
64 Longchamp, Claude et al. (2005). Sans Papiers in der Schweiz: Arbeitsmarkt, nicht<br />
Asylpolitik ist entscheidend. Bern: gfs.bern.<br />
168
zur Ausreise aus der Schweiz haben. Die Diskussion dreht sich vor allem<br />
um abgewiesene und untergetauchte Asylsuchende, die aber nicht à priori<br />
mit Schwarzarbeitenden gleich gesetzt werden können, da Schwarzarbeit<br />
auch verrichtet werden kann, wenn man legal in der Schweiz lebt.<br />
Interessant ist, dass das Problem in der Romandie akuter ist als in der<br />
Deutschschweiz. Auf den ersten Blick erscheint das Phänomen der Sans-<br />
Papiers als reines Problem des städtischen Raums. Die eher anonymen<br />
Lebensverhältnisse in städtischen Ballungsgebieten erlauben es Sans-<br />
Papiers, sich nicht oder nur wenig erkannt in der Schweiz aufzuhalten.<br />
Zudem ist das Bewusstsein um das Phänomen in der Romandie grösser<br />
als in der deutschsprachigen Schweiz. Tatsache ist, dass gemäss<br />
Auffassung von Experten Sans-Papiers vielerorts Spuren hinterlassen.<br />
Insbesondere auch in Gebieten ausgeprägter Landwirtschaft. In diesem<br />
Sinne sind Sans-Papiers ein Phänomen, das mit dem Arbeitsmarkt<br />
verbunden ist. Sie arbeiten meist in prekären Arbeitsverhältnissen mit<br />
schlechter Bezahlung und mit hoher Wochenstundenzahl. Sie sind nach<br />
Expertenmeinung überwiegend nicht kriminell, denn sie wollen es nicht<br />
riskieren, erkannt zu werden. Sans-Papiers kommen vor allem dort vor, wo<br />
das Volkseinkommen überdurchschnittlich ist und/oder wo viele Ausländer<br />
und Ausländerinnen leben. Ein systematischer Zusammenhang mit der<br />
Asylpolitik lässt sich gemäss Studie Claude Longchamp dagegen für die<br />
Zeit bis 2005 nicht belegen. Weder sind Sans-Papiers zahlreicher, wo es<br />
viele Flüchtlinge gibt, noch kommen sie bisher auffällig häufig dann vor,<br />
wenn es viele abgewiesene Asylsuchende gibt. Interessant ist, dass sich<br />
die Experten einig sind, dass die Zahl der Sans-Papiers weiter steigen<br />
wird. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Zuteilung<br />
der Asylsuchenden in proportionalem Verhältnis zur kantonalen<br />
Bevölkerung und nicht zum Arbeitsmarkt erfolgt. Dies erklärt auch die Zahl<br />
der Sans-Papiers in den einzelnen Kantonen. Im Kanton Zürich sollen<br />
gemäss Expertenschätzungen gegen 20‘000 Sans-Papiers wohnen, in<br />
Genf gegen 10‘000 und im Tessin rund 2’000. Die Gesamtschätzung liegt<br />
169
ei rund 90‘000 Sans-Papiers schweizweit und nicht wie Experten vorerst<br />
befürchteten bei 300‘000. Die Sicherheit scheint verhältnismässig wenig<br />
von Sans-Papiers betroffen. Die finanziellen Konsequenzen sind hingegen<br />
beachtlich (keine Steuereinnahmen, keine Abgabe von Sozialleistungen!).<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Die Sicherheit ist verhältnismässig wenig tangiert von den Sans-Papiers,<br />
aber der Faktor Quantität spielt natürlich eine zentrale Rolle. Sollte die<br />
Anzahl Sans-Papiers stark zunehmen, könnte die Sicherheit ernsthaft<br />
gefährdet sein (Anonymität, soziale Unruhen, Proteste, etc). Deshalb ist<br />
alles daran zu setzen, dass dieser Zustand in überschaubarem Ausmass<br />
bleibt und keine kollektiven Gruppen-Regularisierungen oder Amnestien<br />
für alle vorgenommen werden. Die Schwarzarbeit der Sans-Papiers führt<br />
überdies zu Wettbewerbsverzerrungen, zu Steuerausfällen und wegen<br />
Ausbleiben von Sozialleistungen zu Mehrbelastungen von einheimischen<br />
und legal in der Schweiz erwerbstätigen Ausländerinnen und Ausländern.<br />
3.3.4. Schnittstelle Friedensförderung und Sicherheit<br />
Die Schweiz leistet in verschiedenen Ländern friedensfördernde Einsätze.<br />
Zurzeit sind Soldaten und Soldatinnen im Libanon, in Korea, in Bosnien<br />
und in Kosovo stationiert. Um die Schnittstelle „Friedensförderung und<br />
Sicherheit“ zu dokumentieren, wählt die Autorin das Beispiel Kosovo, wo<br />
im Sommer 2010, zur Zeit der Fertigstellung dieser Master-Thesis, rund<br />
220 Angehörige der SWISSCOY (davon 20 Frauen) im Camp „Casa<br />
Blanca“ stationiert waren.<br />
Die sicherheitspolitischen Ereignisse in den Sommermonaten 2010 zeigen<br />
auf, dass die Lage im Kosovo weiterhin angespannt ist.<br />
• Die aktuelle Lage wird durch Machtkämpfe innerhalb der kosovoalbanischen<br />
Parteien und Clanstrukturen die organisierte<br />
Kriminalität, die weit verbreitete Korruption in Regierungskreisen<br />
170
• Weiterhin sorgen aber auch interethnische Spannungen für einen<br />
anhaltenden Unsicherheitsfaktor. Durch die Existenz serbischer<br />
Parallelstrukturen ist die Lage im Norden des Kosovos sowie in den<br />
wenigen verbleibenden serbischen Enklaven besonders<br />
angespannt. Das Hauptkonfliktpotenzial liegt darin, dass der von<br />
kosovo-serbischen Parallelstrukturen dominierte Norden nicht<br />
gewillt ist, sich dem Diktat der Hauptstadt Pristina zu unterwerfen.<br />
Beim Versuch Pristinas, oder der internationalen Gemeinschaft<br />
(EULEX), die Strukturen des Staates Kosovo auch im Norden zu<br />
implementieren, droht die Lage zu eskalieren. Die „hot spots“<br />
befinden sich in der ethnisch geteilten nordkosovarischen Stadt<br />
Mitrovica und an den Grenzübergängen zu Serbien.<br />
• Dass sich die Lage im Kosovo zu einem weiteren bewaffneten<br />
Regionalkonflikt entwickeln kann, wird jedoch als wenig<br />
wahrscheinlich erachtet.<br />
• Auch die NATO geht derzeit davon aus, dass der Abbau der KFOR<br />
fortgesetzt wird und die weitere Lageentwicklung mit reduzierten<br />
Kräften überwacht und beobachtet werden kann.<br />
• Die Schweizer Armee wird ihr Engagement bis Ende 2011 im<br />
bisherigen Rahmen (rund 220 Männer und Frauen) weiterführen.<br />
Anstelle von Infanteriekräften werden jedoch vermehrt<br />
nachrichtendienstliche Elemente, so genannte LMT’s („Liaison and<br />
Monitoring Teams“) eingesetzt.<br />
Beurteilung seitens der Armee<br />
Der Entscheid des IGH (Internationaler Gerichtshof), Kosovo als<br />
eigenständigen Staat zu akzeptieren, kann als politische Niederlage für<br />
171
Serbien gedeutet werden. Dass es im Nachgang des Entscheids bisher zu<br />
keinen sicherheitsrelevanten Ereignissen gekommen ist, lässt darauf<br />
schliessen, dass Belgrad die lokalen kosovo-serbischen Politiker nördlich<br />
des Ibar unter seiner Kontrolle hat und die Aufforderung des serbischen<br />
Präsidenten zum Gewaltverzicht seine Wirkung zeigte. Sollte Pristina<br />
jedoch das Urteil des IGH zum Anlass für einseitige<br />
Souveränitätsansprüche im Norden nehmen, sind Protestaktionen seitens<br />
der Kosovoserben zu erwarten. Daneben könnte auch eine allfällige<br />
Ausweitung der Aktivitäten der EULEX im Nordkosovo zu Protesten<br />
führen. Derzeit ist unklar, ob der Entscheid des IGH tatsächlich eine<br />
internationale Anerkennungswelle auslösen wird.<br />
Politische Beurteilung und Schnittstelle zur Sicherheit<br />
Dass die Schweiz heute 400‘000 muslimisch Gläubige beheimatet<br />
(gegenüber 40‘000 vor rund 20 Jahren), hat massgebend mit den Unruhen<br />
und dem Krieg in Ex-Jugoslawien zu tun. Aber auch die grosse türkische<br />
Diaspora zählt zu den muslimisch Gläubigen in der Schweiz. In der Phase<br />
der schwersten Unruhen (1999) flüchteten innert weniger Monate rund<br />
150‘000 Menschen in unser Land- inzwischen haben bereits über 60‘000<br />
die Schweiz wieder verlassen und sind in ihre Heimat Kosovo<br />
zurückgekehrt. Nicht zu Unrecht fragen sich viele Schweizer Bürgerinnen<br />
und Bürger, ob sich die muslimische Kosovo Diaspora an unsere<br />
Verfassung und Werte halten will und sich zu integrieren weiss. Die<br />
Kriminalitätsstatistik weist eine hohe Prozentzahl Gesetzesbrecher aus<br />
Ex-Jugoslawien auf (über 50 % aller ausländischen Delinquenten). Die<br />
Stimmung in unserem Land gegenüber den Ausländern und insbesondere<br />
gegenüber muslimisch Gläubigen und Ex-Jugoslawen ist kritisch, was<br />
insbesondere die SVP aus Politmarketing-Gründen für sich zu nutzen<br />
weiss und zusätzlich Stimmung macht, sich gleichzeitig jedoch<br />
sicherheitspolitisch gegen Friedensförderungen im Ausland stellt. Aus<br />
Sicht der Autorin gilt es die einfache Frage zu stellen, ob die Schweiz<br />
172
einen internationalen Beitrag zu leisten gewillt ist, neue Flüchtlingsströme<br />
zu verhindern und vor Ort in diversen so genannten „failing states“ Einsatz<br />
zum Staatsaufbau und zur Friedenssicherung zu leisten. Das Beispiel des<br />
Kosovos sowie das Beispiel Bosnien zeigen klar 65 , dass ein enger<br />
Zusammenhang zwischen den politischen Spannungsfeldern<br />
Auslandeinsätze und Flüchtlingsstrom-Verhinderung bestehen, und die<br />
Schweiz nebst humanitären Gründen allein schon aus „Eigennutz“ an<br />
solchen Langzeitoperationen sowie an der Strukturhilfe (z.B. dank<br />
notwendigen Projekten seitens des DEZA) im Sinne des internationalen<br />
„burden sharings“ beteiligt sein sollte. Gerade unsere<br />
Rückführungsprogramme leisten einen wichtigen Beitrag, den Flüchtlingen<br />
die Rückkehr in ihre Heimat zu erleichtern und langfristig zu sichern.<br />
Fazit und Gewichtung<br />
Die politische Rechte in der Schweiz kämpft vehement gegen<br />
Auslandeinsätze/Friedensförderung. Einerseits wird in der Schweiz<br />
Stimmung gemacht gegen irreguläre Migration und Flüchtlinge, anderseits<br />
wird verweigert, die Hilfe zur Ursachenbekämpfung aktiv anzugehen. Die<br />
Schweiz versteckt sich in diesem Sinne hinter einer Neutralitätspolitik, die<br />
bei genauer Betrachtung den heutigen Bedrohungslagen nicht mehr<br />
standhält. „Burden Sharing“ (Mittragen der Lasten) ist in diesem<br />
Zusammenhang ein wichtiges Stichwort. Zur Erhaltung der Sicherheit der<br />
Schweiz scheint der Autorin das Thema sicherheitspolitische<br />
Kooperation, insbesondere mit Europa, von zentraler Bedeutung.<br />
65 Quelle: Diskussionen mit VBS, Divisionär Peter Stutz und Geri Bezzola, leitender<br />
Kommandant der SWISSCOY in Kosovo sowie eigene Beurteilung, insbesondere nach<br />
dem Truppenbesuch vom 1. August 2010<br />
173
3.4. Fazit Schweiz<br />
3.4.1. Begründung der These 1<br />
Die genaue Beobachtung und Recherchen zur nationalen Schweizer<br />
Politik machen deutlich, dass die Migrationspolitik kein explizites,<br />
eigenständiges politisches Aktionsfeld darstellt. Auch der 2009,<br />
überparteilich, gegründete so genannte „Runde Tisch zur<br />
Langzeitperspektive der Migrationspolitik bis 2030“ stellt zuerst<br />
einmal Fragen rund um die Wirtschaftspolitik in diesem<br />
Zusammenhang. Massgebende Fragen 66 wurden wie folgt<br />
identifiziert:<br />
Auf Grundlage der eruierten Szenarien zu den Entwicklungen der<br />
Demografie und der Migrationsflüsse in der Schweiz lassen sich gewisse<br />
Fragestellungen und Herausforderungen für die Schweizer<br />
Migrationspolitik 2030 ableiten.<br />
• Eine andauernde Migration von jungen Personen in die Schweiz<br />
verursacht generell eine Verlangsamung der demografischen<br />
Alterung und der Abnahme des Erwerbsquotienten. Gleichzeitig<br />
ermöglicht sie durch eine Erhöhung an Erwerbstätigen eine<br />
Zunahme an AHV-Beitragszahlern. Es stellt sich folglich die Frage,<br />
ob die Migrationspolitik 2030 ein Mindestmass an Einwanderung<br />
von der EU oder von Drittstaaten sicherstellen muss, um diesen<br />
Herausforderungen zu begegnen.<br />
• Zudem stellt sich die Frage, welche Rolle die Migrationspolitik mit<br />
Blick auf den erwarteten Mangel an gut und hochqualifizierten<br />
Arbeitskräften spielen soll. Sind Massnahmen notwendig, um die<br />
Attraktivität des Schweizer Arbeitsplatzes für EU-Bürger zu<br />
erhöhen? Oder ist eine Öffnung des Arbeitsmarktes gegenüber<br />
66 Quelle: Bericht zur Schweizerischen Migrationspolitik 2030<br />
174
hochqualifizierten Arbeitskräften aus Drittstaaten erforderlich?<br />
Welche Rolle spielt bei diesem internationalen Talentwettbewerb<br />
der Privatsektor und welche die Migrationspolitik? Und welche<br />
Massnahmen oder Unterstützungsprogramme sind angesichts einer<br />
Dequalifizierung von einem bedeutenden Anteil der<br />
hochqualifizierten Migranten notwendig, damit die Schweiz vom<br />
ausländischen Humankapital (Brain Gain) verstärkt profitieren<br />
kann?<br />
• Oder kann durch Bildungsreformen ein genügender Nachwuchs<br />
bereit gestellt werden, sodass solche Überlegungen in Bezug auf<br />
eine zukünftige Migrationspolitik an sich überflüssig sind?<br />
• Im Kontext der prognostizierten Tertiärisierung der erwerbstätigen<br />
Bevölkerung stellt sich die Frage, ob bei einer gleich bleibenden<br />
Migrationspolitik die Bedürfnisse nach niedrig qualifizierten<br />
Arbeitskräften weiterhin gedeckt werden können. Bedeutet dies,<br />
dass eine auf die demografischen Entwicklungen sensibilisierte<br />
Migrationspolitik 2030 eine gewisse Öffnung bezüglich der<br />
Zulassung von Arbeitskräften aus Drittstaaten vollziehen müsste?„<br />
Den ersten aufgeführten Punkt zu den Zielen der geltenden<br />
Migrationspolitik der Schweiz definiert die Expertengruppe des<br />
Runden Tisches wie folgt:<br />
1. Sie sichert und fördert den Wohlstand unseres Landes.<br />
Dafür braucht es Arbeitskräfte aus dem Ausland. Ohne sie<br />
könnten viele Wirtschaftszweige wie die Bauwirtschaft, der<br />
Tourismus, das Gesundheitswesen oder der Finanz- und<br />
Werkplatz Schweiz das aktuelle Niveau nicht halten.<br />
• Während die Migrationspolitik der USA oder auch jene Europas<br />
über weite Strecken Friedenssicherung im Ausland als äusserst<br />
175
gewichtig beurteilen und Friedenssicherung (USA Beispiel<br />
Afghanistan) zu erzwingen suchen, bzw. (z.B. Deutschland) mit<br />
ihrer in die internationale Staatengemeinschaft eingebundenen<br />
Anti-Terror-Politik und einer eigentlichen Islamkonferenz die<br />
Prävention von Terrorismus zu beeinflussen und zu minimieren<br />
suchen, formuliert die Schweiz nicht einmal explizit die Terrorgefahr<br />
im Zusammenhang mit der geführten Debatte rund um die<br />
Migrationspolitik unseres Landes.<br />
• Fragen rund um das Zusammengehörigkeitsgefühl werden in der<br />
Willensnation Schweiz eher aus Sicht der vier Schweizer<br />
Sprachregionen gestellt als, denn im Sinne der Prävention gegen<br />
Kriminalität und Radikalisierung ausländischer Wohnbevölkerung.<br />
Das Verständnis, Migrationsströme auch in diesem Zusammenhang<br />
zu erfassen, scheint weitgehend zu fehlen. Das mag entscheidend<br />
damit zusammen hängen, dass unser Land bisher vor Terrorakten<br />
verschont geblieben ist. Gemäss Ausführungen von Bundesrat Ueli<br />
Maurer (vom 20. September 2010) hat die Sensibilisierung rund um<br />
Terrorakte nur unmittelbar nach dem Ereignis 9/11 zugenommen,<br />
jedoch nicht nachhaltig. Entsprechend wird Prävention in<br />
Krisengebieten im Sinne von „Ursachen bekämpfen und nicht<br />
Symptome bewirtschaften“ sogar von wichtigen politischen Kreisen<br />
vollends in Abrede gestellt. Dies begründet und dokumentiert, dass<br />
Terrorismus und Radikalisierung keinen namhaften Einfluss auf<br />
unsere Migrationspolitik finden.<br />
Erst in zweiter Linie hält die aktuelle schweizerische<br />
Migrationspolitik als angestrebtes Ziel fest:<br />
• Sie gewährt den Verfolgten Schutz, wie es der humanitären<br />
Tradition der Schweiz entspricht. Wer vor Krieg, Verfolgung und<br />
Folter fliehen muss, soll Aufnahme finden. Jedoch: längst nicht alle,<br />
176
die ein Asylgesuch stellen, werden als Flüchtlinge anerkannt oder<br />
vorläufig aufgenommen. Abgewiesene müssen das Land wieder<br />
verlassen; diesem Zweck dient die Rückkehrhilfe.<br />
• Der Runde Tisch mit seiner Expertengruppe führt ganz spezifisch<br />
aus, dass die aktuelle Migrationspolitik primär geprägt sei von<br />
einem Zwei-Kreise-Modell (Auszug aus dem migrationspolitischen<br />
Bericht des Runden Tisches): Freizügigkeit mit den EU- und EFTA-<br />
Staaten und Beschränkung und Zulassung von<br />
Drittstaatsangehörigen auf qualifizierte Personen Übersetzt könnte<br />
man „emotionslos“ sagen, dass der Arbeitsmarkt die<br />
Migrationspolitik an erster Stelle prägt, vor anderen Kriterien.<br />
• Selbstverständlich trägt der Expertenbericht umfassend unserer<br />
humanitären Tradition Rechnung. Dennoch wird deutlich, dass die<br />
erste Überlegung dem Arbeitsmarkt gilt. Diese Aussage ist nicht als<br />
Kritik zu verstehen, Denn ohne prosperierenden Arbeitsmarkt kann<br />
die Schweiz auch der humanitären Tradition nur in geringerem<br />
Masse gerecht werden.<br />
Sicherheitspolitische Aspekte werden jedoch erst in zweiter Linie<br />
aufgeführt und tangieren die Migrationspolitik nur indirekt.<br />
Demgegenüber kann gesagt werden, dass umgekehrt die<br />
Migrationspolitik die Sicherheitspolitik ganz direkt tangiert, was in<br />
der zweiten These der unter Kapitel 1 aufgeführten drei Thesen<br />
festgehalten wurde.<br />
177
3.4.2. Begründung der These 2<br />
Die Master-Thesis der Verfasserin dokumentiert jedoch klar, dass<br />
umgekehrt die Migrationspolitik und globale Zusammenhänge die<br />
Sicherheitspolitik der Schweiz prägen.<br />
Bereits in Kapitel 2.2. („Der globale Rahmen Sicherheit“), werden die<br />
„wichtigsten internationalen Trends seit der sogenannten Wende der 90er<br />
Jahre“ aufgelistet. Unter anderem ist dabei Folgendes von Relevanz, nicht<br />
nur für das globale Umfeld, sondern vielmehr auch gültig für die Schweiz:<br />
• Die Ausweitung der neuen Risiken durch Menschen- und<br />
Drogenhandel<br />
• Illegale Migrations- und Flüchtlingsströme<br />
• Ethnische Konflikte, z.B. im Balkan und entsprechende<br />
Flüchtlingsströme<br />
• Ressourcenkonflikte und Klimawandel sowie<br />
Marginalisierungsprozesse in Afrika und so genannte „failing states“<br />
mit entsprechender Flüchtlingsproblematik etc.<br />
Eine auffällig hohe ausländische Kriminalitätsrate in der Schweiz<br />
dokumentiert die Bedrohung der inneren Sicherheit aufgrund der Migration<br />
und insbesondere ungenügender Integration in diesem Zusammenhang.<br />
Sicherheitsaspekte werden denn insbesondere von populistischen<br />
Parteivertretern permanent im Zusammenhang mit illegaler Migrationsund<br />
Flüchtlingswesen ins Feld geführt. Der Druck,<br />
Sicherheitsvorkehrungen und Gesetze zu verschärfen, ist eine Folge<br />
davon, genauso wie ein verschärftes Asyl- und Ausländergesetz. Der Ruf<br />
nach einer grösseren Zahl Polizeikräfte wird aber auch von gemässigteren<br />
Parteien geteilt. Schärfere Grenzkontrollen werden insbesondere auch<br />
nach den Verträgen mit der EU („Schengen“) gefordert.<br />
178
Im krassen Widerspruch zu dieser Realität steht die Tatsache, dass sich<br />
die gleichen politischen Kräfte, welche die Ausländerkriminalität<br />
permanent „bewirtschaften“, konsequent gegen Ursachenbekämpfung in<br />
Krisengebieten (z.B. Friedensmissionen im Kosovo oder anderen „failing<br />
states“) aussprechen und dabei die sogenannt umfassende Neutralität<br />
über Gebühr bemühen, d.h. einer „Sicherheit dank Kooperation“ eine<br />
Absage erteilen. Selbst den mit der EU vereinbarten Verträgen „Dublin“<br />
zur gemeinsamen Bewältigung der Flüchtlingsproblematik attestieren die<br />
Kreise rund um die SVP kein gutes Zeugnis. Sie betonen zwar unentwegt,<br />
dass die Migrationspolitik unseres Landes versagt habe und fordern mehr<br />
Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung, stellen jedoch die Prävention im<br />
Ausland (z.B. Friedensförderung und Entwicklungshilfe) in Abrede. Die<br />
öffentliche Meinung wird durch ein eigentliches „Campaining“ in diesem<br />
Sinne geprägt, was zur Begründung der These 3 führt.<br />
3.4.3. Begründung der These 3<br />
Nicht nur in der Schweiz, auch international sind populistische<br />
Rechtsparteien auf dem Vormarsch. Sie alle bewirtschaften das<br />
Ausländerthema und insbesondere das Thema der<br />
Ausländerkriminalität massgebend und erreichen die<br />
Stimmbevölkerung mit ihren Aussagen.<br />
Die Schweiz mit ihrer weltweit einzigartigen direkten Demokratie kann an<br />
der obgenannten Tatsache nicht unbeteiligt vorbei sehen. Die öffentliche<br />
Meinung, die öffentliche Stimmungsmache auch, beeinflusst in unserem<br />
Lande mehr als im umliegenden Ausland. Nicht primär der ausgeprägte<br />
Föderalismus ist hier ins argumentarische Feld zu führen, sondern die<br />
mehrmals jährlichen Abstimmungen, die Möglichkeit der<br />
Stimmbevölkerung, Referenden und Initiativen zu ergreifen. Als Beispiel<br />
sind die Bilateralen Verträge mit der EU zur Personenfreizügigkeit sowie<br />
179
Schengen und Dublin zu nennen. Die Androhung der Kündigung der<br />
Verträge durch das Stimmvolk stellt ein reales Risiko dar und kann die<br />
Schweiz nicht nur sicherheitspolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch<br />
bedrohen. Diesem Umstand gilt es vermehrt Rechnung zu tragen. Die<br />
verantwortlichen Politiker gemässigter Lager haben die Pflicht, mehr<br />
Aufklärungsarbeit zu betreiben und der Bevölkerung die Zusammenhänge<br />
und Schnittstellen der Sicherheits- und Migrationspolitik aufzuzeigen.<br />
Permanente Budgetkürzungen im Sicherheitsbereich stehen im krassen<br />
Widerspruch zur Forderung nach mehr Sicherheit. Nirgends kann wohl<br />
derart direkter Schaden angerichtet werden in diesem Zusammenhang<br />
wie in der Schweiz. Nirgends kann die bewusst gesteuerte öffentliche<br />
Meinungsbildung derart direkt auf künftige Politiken, Massnahmen und<br />
Mittel Einfluss nehmen.<br />
Demgegenüber muss festgehalten werden, dass illegale Migrationsströme<br />
und Flüchtlingswesen gemäss Experten weiterhin zunehmen dürften und<br />
nur sehr beschränkt beeinflusst werden können, was bedeutet, dass<br />
Diskussionen rund um Kriminalität und organisiertes Verbrechen noch<br />
vermehrt die politische Landschaft in unserer direkten Demokratie prägen<br />
werden. Eine ausgewogene Handlungsweise und umsichtiges<br />
Stimmverhalten stellen eine grosse Herausforderung dar.<br />
Allgemeinere abschliessende Feststellungen<br />
Wird die Verbindung / Schnittstelle zwischen Migration und Sicherheit<br />
bzw. umgekehrt also genauer untersucht, so kann festgestellt werden,<br />
dass die Migration die Sicherheit eines Landes oft nicht nur in einem<br />
Gebiet wie z.B. Arbeitsplatzsicherheit oder soziale Sicherheit beeinflussen<br />
kann. Beispielsweise kann irreguläre Migration gleichzeitig die Sicherheit<br />
des Arbeitsmarktes durch Schwarzarbeit, die öffentliche Sicherheit durch<br />
Kriminalität und die innere Sicherheit durch terroristische Aktivitäten<br />
negativ beeinflussen. Dies zeigt sich beispielweise auch in der<br />
unterschiedlichen Wahrnehmung der Probleme. So kann es durchaus<br />
180
vorkommen, dass beispielsweise aus der Sicht des Staates wegen der<br />
Einkommensverluste die von irregulären Migranten verrichtete<br />
Schwarzarbeit als grosses Problem angesehen wird, währenddessen<br />
gewisse Sektoren der Wirtschaft je nach Konjunkturlage nur dank dieser<br />
Schwarzarbeit überleben können und parallel dazu nimmt die Bevölkerung<br />
diese Migranten als einen Teil der Kriminalität wahr 67 . Aufgrund dieser<br />
Tatsachen kann davon ausgegangen werden, dass sich in der Regel<br />
durch Migration ausgelöste Probleme im Bereich Sicherheit gegenseitig<br />
beeinflussen und daher auch als Gesamtes angegangen werden müssen.<br />
Eine zentrale Herausforderung für die Schweiz<br />
Die Schweiz als europäisches Binnenland profitiert zwar von der<br />
Sicherheitsgemeinschaft in Europa, tut sich jedoch nach wie vor schwer<br />
mit der Frage, inwieweit sie am europäischen Einigungsprozess<br />
partizipieren soll. Neben strukturellen Eigenheiten wie der direkten<br />
Demokratie und dem ausgeprägten Föderalismus stehen einer EU-<br />
Mitgliedschaft auch Befürchtungen bezüglich einer Schwächung der<br />
Wirtschafts- und Finanzstandorts im Wege. Dazu kommt das historisch<br />
geprägte Rollenverständnis der Schweiz als abseits stehender<br />
Sonderfall 68 ’ 69 . Von ihrer traditionellen, durch die Erfahrung einer<br />
konfliktreichen Nachbarschaft bestimmten Strategie „Sicherheit durch<br />
Neutralität“ und autonome Landesverteidigung hat sich die Schweiz<br />
mental erst begrenzt verabschiedet, obwohl deren Logik wohl durch den<br />
im Kern irreversiblen europäischen Integrationsprozess und das sich seit<br />
1989 stark veränderte Bedrohungsbild unterminiert worden ist. Die grosse<br />
Zahl der Bilateralen Abkommen ist jedoch Ausdruck eines engen<br />
Beziehungsgeflechts. Allerdings führen Steuerstreit und<br />
Flüchtlingsproblematik vor Augen, wie krisenanfällig dieser technische<br />
Bilateralismus ohne effektiven politischen Rahmen ist. Während Brüssel<br />
67<br />
Vgl. dazu z.B. die Vorfälle um die irregulären Plantagenarbeiter in Süditalien Ende<br />
2009<br />
68<br />
Quelle: Botschafter Dr. Paul Widmer, Autor „Die Schweiz, ein Sonderfall“<br />
69<br />
Quelle: CSS Analysen zur Sicherheitspolitik März 2007<br />
181
im Gegenzug für die selektive schweizerische Partizipation am<br />
Einigungsprozess eine Respektierung europäischer Regelungen auch in<br />
nicht durch die bilateralen Verträge abgedeckten Gebieten erwartet,<br />
beharrt Bern auf einer strikt rechtlichen Interpretation des Sachverhaltes.<br />
Die Frage der langfristigen Tragfähigkeit des bilateralen Weges stellt<br />
neuerdings der Think Tank Avenir Suisse in Frage. Avenir Suisse stellt zur<br />
Diskussion, ob ein EWR II oder ein EU-Beitritt nicht trotz allen Vorbehalten<br />
für die Zukunft den einzig richtigen Schritt darstellt.<br />
Im Bereich der inneren Sicherheit kooperiert die Schweiz unter<br />
Federführung des EJPD bemerkenswert intensiv mit der EU. Auch hier<br />
sind Nachteile einer Nichtmitgliedschaft in der EU sichtbar. So hat die<br />
Schweiz bezüglich des sich dynamisch entwickelnden Schengenrechts<br />
kein Stimmrecht. Eine Annäherung der Schweiz an die EU-<br />
Aussensicherheitspolitik ist bisher ebenfalls weitgehend ausgeblieben,<br />
trotz der im Sicherheitspolitischen Bericht formulierten „Sicherheit dank<br />
Kooperation“. Der neuste Sicherheitspolitische Bericht ist zögerlich und<br />
nicht umfassend. Der amtierende Bundesrat Ueli Maurer, SVP, tut sich<br />
besonders schwer mit allem, was internationale Kooperation bedeuten<br />
würde und beinhalten könnte. Anders als andere neutrale EU-Staaten,<br />
z.B. Österreich, Schweden, Finnland und Irland, hat die Schweiz auch<br />
davon abgesehen, ihre militärische Einsatz- und Fähigkeitsplanung<br />
vermehrt auf die ESVP und das Konzept der sogenannten „Battle Groups“<br />
auszurichten.<br />
Wer sich mit internationaler Sicherheitspolitik beschäftigt (siehe dazu die<br />
Kapitel 2.2.1 und insbesondere Kapitel 2.2.2 (Sicherheit international am<br />
Beispiel der EU), kommt nicht umhin in aller Härte zu bemängeln, dass die<br />
Schweiz zwar über einen sicherheitspolitischen Bericht 2010, nicht jedoch<br />
über eine Sicherheitsstrategie verfügt. Dies ist für die Sicherheit und<br />
insbesondere auch für die Migrationspolitik von Nachteil. Die Autorin<br />
dieser Master-Thesis ist überzeugt, dass sich die Schweiz künftig, will sie<br />
glaubwürdig und schlagkräftig Handlungsspielraum bewahren und<br />
182
Sicherheit für unser Land gewährleisten und im Rahmen einer<br />
bedrohungsgerechten Aussensicherheitspolitik handeln, verstärkt am<br />
veränderten europäischen Sicherheitsumfeld zu orientieren hat (siehe<br />
dazu auch Empfehlungen im Bereich Sicherheit unter Kapitel 4.2.). Im<br />
Wahljahr 2011 dürften diese Themen äusserst kontrovers debattiert<br />
werden.<br />
Parallel zur Einführung des freien Personenverkehrs in der EU erfolgte ein<br />
Sicherheitsabbau durch die Aufhebung der Grenzkontrollen (an den<br />
Innengrenzen der EU). Dieser Sicherheitsabbau wurde weitgehend<br />
kompensiert durch den Aufbau neuer Sicherheitsstrukturen (Verbindung<br />
SIS II – VIS- EURODAC / Europol, Frontex, etc.)<br />
Was in der Migrationspolitik verbunden mit Teilen der inneren<br />
Sicherheitspolitik (Grenzsicherheit, Kriminalitätsbekämpfung, Visapolitik,<br />
etc.)- somit weitgehend gelungen ist v. a. wegen der Einbindung der<br />
Schweiz in die wichtigsten Migrationsinstrumente der EU (freier<br />
Personenverkehr in Verbindung mit Schengen/Dublin, Frontex, Europol,<br />
Aussengrenzenfonds, etc), kann von der Aussensicherheitspolitik auf die<br />
ganze Welt bezogen leider nicht gesagt werden. Gerade der wichtige<br />
Aspekt "Sicherheit durch Kooperation" und friedenserhaltende<br />
Massnahmen würden dazu beitragen, im Verbund mit anderen Staaten mit<br />
gleichen Interessen unkontrollierte, unerwünschte und schädliche<br />
Migrationsströme zu verhindern. Eine kluge Aussensicherheitspolitik<br />
müsste im Interesse der Schweiz das Engagement der Armee im Sinne<br />
der Beteiligung an Friedensmissionen stark erhöhen, sei es in<br />
Krisenregionen, sei es in Regionen, wo Umweltmigration entsteht. Ein<br />
solches Verständnis der Aussensicherheitspolitik würde in Krisenregionen<br />
mit grossem Migrationspotenzial einmal zur Stabilität der Region und zur<br />
Hilfe vor Ort beitragen, und gleichzeitig die irreguläre Migration-mit den<br />
bekannten Folgen auch für die Schweiz-eindämmen. Ein solches<br />
Verständnis der Sicherheitsaussenpolitik würde Hand in Hand mit der<br />
Migrationsaussenpolitk der Schweiz einhergehen: Sicherheit durch<br />
183
Kooperation, friedenserhaltende Massnahmen, Migrationspartnerschaften,<br />
Schutz und Hilfe vor Ort, humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit,<br />
Rückkehrprojekte mit Strukturhilfe. Aktuell liesse sich dieser Ansatz sehr<br />
gut am Horn von Afrika anwenden, wo das enorme Sicherheitsmanko den<br />
Frieden in der Region stark gefährdet zu irregulärer Migration führt, was<br />
auch für die Schweiz nachteilige Folgen hat (siehe z.B. auch Abschnitt<br />
2.2.3. zu Subsahara-Afrika).<br />
184
4. Schlusswort bzw. Empfehlungen<br />
Kurzübersicht zu Kapitel 4<br />
In Kapitel 4 stützt sich die Verfasserin dieser Master-Thesis auf die<br />
Ausführungen und Überlegungen der vorgängigen drei Kapitel und zieht<br />
einzeln Schlüsse bzw. formuliert Empfehlungen für die Bereiche<br />
Migrations- und Sicherheitspolitik der Schweiz.<br />
Unter Kapitel 4.1. finden sich Empfehlungen zum Bereich der Migration.<br />
Im Wesentlichen geht es darum zu unterstreichen, dass die Schweiz mit<br />
gleichgesinnten Staaten im Bereich der Migration kooperieren sollte, will<br />
sie die grossen Herausforderungen der Zukunft in diesem Bereich<br />
meistern. Es wird aber auch die Erkenntnis verdeutlicht, dass<br />
Ausländerkriminalität als Schwerpunktthema der Integrationspolitik zu<br />
verstehen ist. Und „last but not least“ werden u. a. Empfehlungen im<br />
Bereich der Zuwanderungspolitik formuliert. Insgesamt werden 6<br />
Empfehlungen zum Ausdruck gebracht, die alle vor Augen führen, dass<br />
Verbesserungen dank Kooperation (international und national)<br />
unausweichlich scheinen.<br />
Dem von der Verfasserin der Masterarbeit ins Leben gerufene so<br />
genannte „Runde Tisch zur Formulierung einer künftigen Migrationspolitik<br />
für die Schweiz bis 2030) wird spezielles Augenmerk gewidmet.<br />
Unter Kapitel 4.2. werden Empfehlungen zur Sicherheitspolitik der<br />
Schweiz formuliert. Insbesondere bemängelt die Autorin das Fehlen einer<br />
eigentlichen und umfassenden Sicherheitsstrategie und bedauert die<br />
Tatsache, dass Finanzmittel im Bereich der Sicherheit sich nicht an einer<br />
solchen Gesamtstrategie orientieren, sondern eher an parteipolitischen<br />
Differenzen, welche wiederum die Wahrnehmung der Öffentlichkeit<br />
negativ beeinflussen. Die Autorin stellt in diesem Zusammenhang sowohl<br />
die innere wie auch die äussere Sicherheit zur Debatte mit ihren<br />
185
Empfehlungen und plädiert dafür, Sicherheit als erste Staatsaufgabe nicht<br />
zum Stiefkind der Schweizer Politik verkommen zu lassen.<br />
4.1. Empfehlungen im Bereich Migration<br />
Im Bereich Migration werden seitens der Autorin der Master-Thesis<br />
folgende Empfehlungen formuliert:<br />
1. Die Schweiz unterstützt mit gleichgesinnten Staaten internationale<br />
Instrumente zur Lenkung von legalen und irregulären Migrationsbewegungen<br />
• Der Bund hat eine noch aktivere Migrationsinnen- und<br />
Aussenpolitik zu betreiben unter Einbezug der sicherheitspolitisch<br />
verknüpften Interessen und Massnahmen.<br />
• Eine vermehrte bilaterale und multilaterale Kooperation mit der EU,<br />
den Herkunfts- und Transitstaaten von Migranten ist notwendig zur<br />
Handhabung der mit Migration verbundenen Probleme und<br />
Chancen.<br />
• Die Zusammenarbeit mit der EU in sicherheits- und migrationspolitischer<br />
Sicht ist weiterzuführen. Bei der Bekämpfung der<br />
irregulären Migration, der Ausländerkriminalität, und der<br />
Verhinderung, dass die Schweiz zum "Reserve-Asylland" Europas<br />
wird, sind die künftigen Instrumente der EU (wie bisher) soweit<br />
immer möglich zu übernehmen. Dies deshalb, weil die EU in der<br />
Migrations- und Sicherheitspolitik weitestgehend die gleichen<br />
Interessen hat wie die Schweiz.<br />
2. Die Schweiz soll sich an einem "burden sharing" bei Asylsuchenden<br />
noch aktiver beteiligen.<br />
3. Die Schweiz muss die Integration der ausländischen Bevölkerung<br />
verstärken, dies vermindert Kriminalität und trägt zu einer Verbesserung<br />
186
des Zusammenlebens der einheimischen und ausländischen Bevölkerung<br />
bei.<br />
• Die Bekämpfung der Ausländerkriminalität und allgemein die<br />
Gewaltbekämpfung ist als Schwerpunkt der Integrationsförderung<br />
des Bundes aufzunehmen.<br />
• Die Niederlassungsbewilligung soll erst nach bestandenem<br />
Sprachtest erteilt werden. Die gesetzlich vorgesehenen<br />
Integrationsvereinbarungen (Art. 54 Ausländergesetz) sind<br />
konsequent einzusetzen, v.a. bei schwer integrierbaren Personen.<br />
• Für Ausländer, die eine Betreuungs- und Lehrtätigkeit ausüben,<br />
zum Beispiel religiöse Betreuungspersonen (z.B. Imame) oder<br />
Lehrer für heimatliche Sprache und Kultur sind besondere<br />
Zulassungsregeln einzuführen, die durch den Bund erlassen und<br />
streng kontrolliert werden.<br />
4. Der Bund soll zusammen mit den Kantonen, der Wirtschaft und den<br />
Gewerkschaften rasch prüfen, inwieweit das Zwei-Kreise-Modell bei<br />
Zuwanderung in die Schweiz auch noch in den kommenden Jahren zur<br />
Anwendung kommen soll (Freizügigkeit mit der EU bei der Rekrutierung<br />
von qualifizierten und weniger qualifizierten Erwerbstätigen und in Nicht-<br />
EU- Staaten bloss von Hochqualifizierten). Angesichts der<br />
demografischen Entwicklung in der Schweiz und in den EU-Staaten<br />
(Alterung der Gesellschaft) ist absehbar, dass die Rekrutierung von<br />
Arbeitskräften aus der EU nicht mehr genügt. Nach Bedarf muss auch<br />
Erwerbstätigen aus Nicht-EU-Staaten in gewissen Berufen – nicht nur den<br />
Hochqualifizierten - die Zulassung ermöglicht werden, selbstverständlich<br />
kontingentiert und nach genau definierten Kriterien (z.B. bei der<br />
Rekrutierung von Pflegepersonal).<br />
187
5. Der Abschluss von Migrationspartnerschaften, die in erster Linie der<br />
Schweiz dienen, aber auch die Interessen des Partnerstaates<br />
miteinbeziehen, ist zu erhöhen. Folgende Aktionsbereiche stehen dabei im<br />
Vordergrund: Rückübernahme, Visapolitik, Prävention irregulärer<br />
Migration, Kampf dem Menschenhandel, legale Arbeitsmigration, Hilfe vor<br />
Ort, Entwicklungszusammenarbeit, Entschuldungsmassnahmen,<br />
Polizeizusammenarbeit.<br />
• Die Schweiz soll mehr Projekte „protection in the region“, v.a. in<br />
Afrika unterstützen. Dies dient dem Schutz von Verfolgten und<br />
Vertriebenen in der Herkunftsregion und verhindert die irreguläre<br />
Weiterwanderung.<br />
• Die Schweiz soll mit gezielten Informations- und<br />
Aufklärungsprojekten potenzielle Migranten auf die legalen<br />
Möglichkeiten und auf die Risiken illegaler Einwanderung in die<br />
Schweiz aufmerksam machen.<br />
• Die departementsübergreifende Zusammenarbeit in internationalen<br />
Migrationsfragen im Sinne einer ganzheitlichen, wirkungsvollen und<br />
kohärenten Politik ist zu verbessern (z.B. bei den<br />
Migrationspartnerschaften, der Bekämpfung des Menschenhandels,<br />
des Einbezugs der Entwicklungszusammenarbeit, der Bekämpfung<br />
der irregulären Migration). Die involvierten Dienststellen im<br />
EJPD/EDA/EVD haben in Zukunft vermehrt auch mit den<br />
sicherheitspolitischen Stellen des VBS zusammenzuarbeiten, damit<br />
die Synergien bei Massnahmen im Interesse der Schweiz besser<br />
genutzt werden können.<br />
• Die Schweiz soll vermehrt mit der EU bei Projekten und<br />
Programmen, wie z.B. die gemeinsame Rückführung von<br />
abgewiesenen Asylbewerbern in den Heimatstaat, oder bei der<br />
Prävention irregulärer Migration sowie der Hilfe vor Ort kooperieren.<br />
188
6. Die Schweiz soll sich aktiv an Lösungsvorschlägen betreffend<br />
Klimamigranten beteiligen. Es sind rasch Vorschläge zu erarbeiten, die<br />
die rechtliche Situation, die Ursachenbekämpfung sowie den<br />
Zusammenhang mit sicherheitspolitischen Fragen enthalten.<br />
Die künftige Migrationspolitik der Schweiz steht auch im Zentrum der<br />
Debatten des „Runden Tisches zur Langzeitperspektive der<br />
Migrationspolitik bis 2030 “, der bis Ende 2010 einen Bericht zur<br />
schweizerischen Migrationspolitik in den Jahren 2020 bis 2030<br />
vorstellen wird.<br />
Die Autorin nimmt an diesem Runden Tisch teil und ist sehr zuversichtlich,<br />
dass die migrationspolitischen Perspektiven innovativ sind, und dass der<br />
Bericht auch realistische und umsetzbare Empfehlungen enthalten wird.<br />
Die Autorin erhofft sich, dass der Bericht auch die Zusammenhänge<br />
Migration und Sicherheit darlegt und entsprechende Massnahmen enthält,<br />
die zu einer Verbesserung der heutigen Situation führen werden.<br />
4.2. Empfehlungen im Bereich Sicherheit<br />
Zur Zeit der Verfassung dieser Master-Thesis steht der<br />
sicherheitspolitische Bericht 2010 in den politischen Gremien zur Debatte<br />
und wurde noch nicht abschliessend beurteilt. Ein Bericht ist aus Sicht der<br />
Verfasserin dieser Masterarbeit allerdings noch keine Strategie.<br />
Diese Tatsache führt zu folgenden Empfehlungen im Bereich Sicherheit:<br />
1. Es ist eine umfassende Sicherheitsstrategie zu formulieren, welche so<br />
genannte „hard power“ (Armee und Polizei) und „soft power“ (Diplomatie,<br />
Aussenpolitik, Information inkl. Nachrichtendienst und Wirtschaftspolitik)<br />
vernetzt darstellt. Dazu ist eine Gesamtlageanalyse zu erstellen, „worst<br />
case“-Fälle sind zu berücksichtigen und in Szenarien denkend sollen die<br />
Mittel- und Langzeitperspektiven im Bereich Sicherheit aufgezeigt werden.<br />
Dabei ist den neuen globalen Risiken vermehrt Rechnung zu tragen.<br />
189
2. Eine umfassende Sicherheitsstrategie denkt in verschiedenen<br />
Szenarien und Bedrohungsbildern. Einflussfaktoren müssen in der<br />
Analyse der Ausgangslage entsprechend gewichtet werden. Ist die<br />
Lageanalyse nicht in Szenarien bearbeitet und auch ein so genannter<br />
„worst case“ formuliert, werden oft falsche Fazits gezogen und allenfalls<br />
nicht die richtigen Massnahmen eingeleitet, was die Empfehlung<br />
begründet:<br />
3. Die Einflussfaktoren, so genannte „Driver“ und „Wild Cards“, analog zur<br />
„360-Grad Umfeld-Sphärenanalyse“ (Hannes Rohner-Modell), sind in die<br />
Langzeitüberlegungen zu den Schnittstellen Migration- und<br />
Sicherheitspolitik einzubeziehen. (siehe im Anhang „360-Grad Umfeld-<br />
Sphärenanalyse“)<br />
Aus Sicht der Verfasserin findet vernetztes und Departement<br />
übergreifendes Handeln zu wenig statt. Die Empfehlung lautet daher:<br />
4. Die Autorin empfiehlt, eine Expertengruppe zu den Schnittstellen<br />
Migrationspolitik/Sicherheitspolitik auf nationaler Ebene zu bilden, welche<br />
vernetzt die Schnittstellen der Departements Justiz, Armee, Aussenpolitik<br />
in Zusammenarbeit mit der KKJPD an die Hand nimmt. Nach wie vor ist<br />
sie als Nationalrätin der Meinung, es müsse in diesem Sinne ein<br />
eigentliches Sicherheitsdepartement geschaffen werden.<br />
Die Schweiz ist nicht zuletzt aufgrund ihrer geografischen Lage inmitten<br />
der EU „sicher“. Niemand ist eine Insel – auch die Schweiz nicht.<br />
5. Die internationale Zusammenarbeit und Kooperation soll deshalb<br />
gestärkt werden unter Berücksichtigung der Neutralitätspolitik der<br />
Schweiz. Die Autorin empfiehlt daher einen bilateralen Vertrag zum<br />
Thema Sicherheit mit der EU an die Hand zu nehmen.<br />
190
6. Der Begriff der Neutralität muss dabei umfassender definiert werden.<br />
Aktive Neutralitätspolitik ist moderne Sicherheitspolitik. Die Beispiele<br />
anderer Länder (z.B. Österreich) zeigen, dass wir als neutrales Land und<br />
ohne Allianzpartner dennoch aktiver und globaler vernetzt handeln<br />
könnten. Es ist zu prüfen, in welcher Form und in welchem Umfang<br />
bilaterale Verträge mit der EU im Bereich Sicherheit und Migration<br />
bestehen oder neu, bzw. umfassender in Angriff genommen werden<br />
müssten.<br />
7. Der Finanzmittelbedarf im Bereich der Sicherheit hat sich an einer<br />
entsprechenden Gesamtstrategie zu orientieren und nicht am politischen<br />
Kalkül, wo man vordergründig am ehesten sparen könnte.<br />
Das Thema der inneren Sicherheit ist nicht nur in der Schweiz aktuell.<br />
Neue Risiken sind global und können weder im schweizerischen<br />
Alleingang noch von der Armee allein gemeistert werden. In überwiegend<br />
vielen Szenarien der Bedrohung innerer Sicherheit sind insbesondere die<br />
Polizeikräfte gefordert. Die Autorin unterstützt daher jene politischen<br />
Stimmen, welche eine Stärkung der polizeilichen Mittel fordern.<br />
8. Die innere Sicherheit sollte gestärkt werden: Die finanziellen Mittel zur<br />
Aufstockung der Polizeikräfte müssten auf Gemeinde- und Kantonsebene<br />
aufgrund eines transparenten und genau analysierten Bedarfs aufgestockt<br />
werden. Experten sprechen von 1’600 fehlenden Polizeikräften<br />
gesamtschweizerisch.<br />
9. Die Wahrnehmung einer grossen Teilöffentlichkeit im Bereich Sicherheit<br />
ist negativ. Es gilt mit Fakten und nicht mit Emotionen intensiver<br />
Aufklärungsarbeit zu betreiben. Die Schweizer Stimmbevölkerung hat<br />
mehrmals an der Urne „JA“ zu einer modernen, starken Armee<br />
191
(verstanden als wichtiger Bestandteil der Sicherheitspolitik) gesagt. Es gilt<br />
den Willen des Souveräns in diesem Zusammenhang zu respektieren.<br />
Abschliessend kann festgehalten werden, dass gemäss Verfassung die<br />
Sicherheit erste Staatsaufgabe ist.<br />
10. Es gilt daher, dieser Tatsache gebührender Rechnung zu tragen.<br />
192
5. Bibliographie<br />
Bereich Thema Literatur<br />
Situation<br />
Schweiz<br />
Situation<br />
Schweiz<br />
Allgemein<br />
Elemente der<br />
schweizerischen<br />
Migrationspolitik<br />
▪ Paul Widmer: Die Schweiz als<br />
Sonderfall. Verlag Neue Zürcher<br />
Zeitung, Zürich 2007<br />
▪ Referat - Dr. Paul Widmer,<br />
Botschafter, ständiger Vertreter der<br />
Schweiz beim Europarat in Strassburg<br />
«Historische Perspektiven der<br />
Aussenpolitik der Schweiz», Grächner<br />
aussenpolitische Herbsttagung, 2010<br />
▪Botschaft zum Bundesgesetz über<br />
Ausländerinnen und Ausländer (März<br />
2002)<br />
▪Botschaft zum Bundesgesetz über<br />
Ausländerinnen und Ausländer,<br />
Beitrag des EDA zur Migrationspolitik<br />
2009 bis 2010 (EDA 2009).<br />
Sicherheit ▪„Schlussbericht der Arbeitsgruppe<br />
Ausländerkriminalität, AGAK“ (EJPD,<br />
KKJPD; März 2001)<br />
Zuwanderung ▪„Die neue Zuwanderung: Die Schweiz<br />
zwischen Brain-Gain und<br />
Überfremdungsangst“ (Avenir Suisse,<br />
Oktober 2008)<br />
Irreguläre Migration ▪ „Sans Papiers in der Schweiz:<br />
Arbeitsmarkt, nicht Asylpolitik ist<br />
entscheidend“ (gfs.bern / BFM, April<br />
2005)<br />
▪ „Bericht zur illegalen Migration<br />
(<strong>IM</strong>ES, BFF; fedpol und<br />
Grenzwachtkorps; Juni 2004)<br />
▪ „Wichtigste Massnahmen zur<br />
Bekämpfung der illegalen Migration“<br />
(<strong>IM</strong>ES, BFF, fedpol. GWK; Juni 2004)<br />
▪ „Aufnahme von Flüchtlingsgruppen<br />
und Hilfe vor Ort“ (Bericht und<br />
Empfehlungen der Eidgenössischen<br />
Kommission für Migrationsfragen<br />
EKM; 2008).<br />
193
Internationale<br />
Migration<br />
EU-<br />
Migrationspolitik<br />
Integration ▪ „Probleme der Integration von<br />
Ausländerinnen und Ausländern in der<br />
Schweiz“ (BFM, Juli 2006)<br />
▪„Weiterentwicklung der<br />
schweizerischen Integrationspolitik<br />
(Tripartite Agglomerations-konferenz;<br />
Mai 2009)<br />
▪„Frühförderung“ und „Jahresberichte<br />
2008 und 2009 der EKM“,<br />
(Empfehlung der Eidgenössischen<br />
Kommission<br />
EKM; 2009).<br />
für Migrationsfragen<br />
▪Studie von Dr. Werner Wirth, IPMZ –<br />
Institut für Publizistikwissenschaft und<br />
Medienforschung der Universität<br />
Zürich, 2005, « Medien, Migration und<br />
Kriminalität. Eine Inhaltsanalyse von<br />
Schweizer Tageszeitungen, Juni 2005<br />
▪Longchamp, Claude et al. (2005).<br />
Sans Papiers in der Schweiz:<br />
Arbeitsmarkt, nicht Asylpolitik ist<br />
entscheidend. Bern: gfs.bern.<br />
Allgemeines ▪ „Migration in einer interdependenten<br />
Welt: Neue Handlungsprinzipien“<br />
(Weltkommission für Internationale<br />
Migration; Oktober 2005)<br />
▪ „Bericht über die menschliche<br />
Entwicklung 2009; Barrieren<br />
überwinden: Migration und<br />
menschliche Entwicklung“ (United<br />
Nations Development Programme,<br />
UNPD; 2009)<br />
▪OSZE Bericht<br />
Generelle Strategie ▪ „Haager Programm zur Stärkung von<br />
Freiheit, Sicherheit und Recht in der<br />
Europäischen Union“ (EU; November<br />
2004)<br />
Wirtschaftsmigration ▪ „Grünbuch über ein EU-Konzept zur<br />
Verwaltung der Wirtschaftsmigration“<br />
(EU-Kommission; Januar 2005)<br />
▪„International Migration Outlook<br />
(SOPEMI 2009)"Umsetzung<br />
Massnahmenpaket Integration 2009"<br />
194
Legale<br />
Zuwanderung<br />
▪ „Strategischer Plan zur legalen<br />
Zuwanderung“ (EU-Kommission;<br />
Dezember 2005)<br />
Irreguläre Migration ▪Prioritäten bei der Bekämpfung der<br />
illegalen Einwanderung“ (EU-<br />
Kommission; Juli 2006)<br />
Migration und<br />
Entwicklung<br />
Demografischer<br />
Wandel<br />
▪ „Migration und Entwicklung: konkrete<br />
Leitlinien“ (EU-Kommission;<br />
September 2005)<br />
▪ „Zirkuläre Migration und<br />
Mobilitätspartner-schaften zwischen<br />
der Europäischen Union und<br />
Drittstaaten“ (EU-Kommission; Mai<br />
2007)<br />
▪ „Bericht über die menschliche<br />
Entwicklung 2009 – Barrieren<br />
überwinden: Migration und<br />
menschliche Entwicklung“<br />
(Veröffentlichung für das<br />
Entwicklungsprogramm der Vereinten<br />
Nationen, UNDP).<br />
▪ „Grünbuch angesichts des<br />
demografischen Wandels – eine neue<br />
Solidarität zwischen den<br />
Generationen“ (EU-Kommission; März<br />
2005)<br />
Sicherheit ▪Kaufmann, Franz-Xaver: In Sicherheit<br />
als soziologisches und<br />
sozialpolitisches Problem:<br />
Untersuchungen zu einer Wertidee<br />
hochdifferenzierter Gesellschaften. 2. ,<br />
umgearb. Aufl. Stuttgart 1973,<br />
195
5.1. Nützliche Links<br />
Allgemein<br />
http://www.who.int/hrh/migration/code/WHO_global_code_of_practice_EN.<br />
pdf<br />
http://www.internationalepolitik.de/ip/archiv/2006/maerz2006/zuwanderung<br />
-in-zeiten-des-terrors--hilft-erfolgreiche-integration-gegen-dieislamistische-bedrohung-.html<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/Schengener_Abkommen<br />
http://europa.eu/legislation_summaries/justice_freedom_security/free_mov<br />
ement_of_persons_asylum_immigration/l33153_de.htm<br />
http://db.jhuccp.org/ics-wpd/exec/icswppro.dll?BU=http://db.jhuccp.org/icswpd/exec/icswppro.dll&QF0=DocNo&QI0=239877&TN=Popline&AC=QBE<br />
_QUERY&MR=30%25DL=1&&RL=1&&RF=LongRecordDisplay&DF=Long<br />
RecordDisplay<br />
http://www.bfm.admin.ch/bfm/de/home/dokumentation/reden/2003/2003-<br />
03-29.html<br />
http://de.wikinews.org/wiki/Ausschreitungen_gegen_Roma_in_Italien<br />
http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/19.html<br />
Deutschland<br />
Bundesakademie für Sicherheitspolitik:<br />
http://www.baks.bundeswehr.de/portal/a/baks/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPL<br />
MnMz0vM0Y_QjzKL9403dXcHSYGZbq76kTCxoJRUfV-<br />
P_NxUfW_9AP2C3IhyR0dFRQCYXSE1/delta/base64xml/L3dJdyEvd0ZN<br />
QUFzQUMvNElVRS82X01fNUcx<br />
Italien<br />
Council of Refugees: http://www.cir-onlus.org/m<br />
196
Grossbritannien<br />
http://www.liberty-human-rights.org.uk/index.shtml ;<br />
http://www.liberty-human-rights.org.uk/issues/2-terrorism/index.shtml<br />
http://www.justice.org.uk/enterb/index1.html<br />
http://www.icmpd.org/default.asp?nav=home<br />
Schweiz<br />
www.bfm.admin.ch/etc/medialib/data/migration/integration/berichte.Par.00<br />
36.File.tmp/ber-ums-integration-2009-d.pdf<br />
www.bfm.admin.ch/bfm/de/home/dokumentation/medienmitteilungen/2010<br />
/ref_2010-01-27.html<br />
197
6. Anhang<br />
Anhang 6.1.<br />
„360-Grad Umfeld-Spärenanalyse“ (Hannes Rohner Modell)<br />
Ausgangslage, Rahmenbedingungen, Perspektiven,<br />
Entwurf des drafting Committee zuhanden des Runden Tisches zur<br />
Langzeitperspektive der Migrationspolitik bis 2030, Bericht zur<br />
schweizerischen Migrationspolitik 2030, vom 2. Juni 2010, S.39.<br />
Ein Auszug aus dem noch nicht publizierten Bericht.<br />
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
Anhang 6.2.<br />
MAS Richtfragen, Interview, am Beispiel Deutschland<br />
_______________________________________________________________<br />
MAS interview guidelines on policy of Germany<br />
National security policy is the subject, especially public safety<br />
(terrorism) but also economic safety (threat to hack into computers).<br />
I would want to know what the strategic goals of the national security<br />
policy and what the specific measures are. This leads to the<br />
following key questions:<br />
National security policy before the terror attacks in New York,<br />
9. September 2001<br />
1. What were the main goals of the national security policy before the<br />
incident (main approaches, strategic objectives, etc.)?<br />
2. Principal axes of intervention to attain the goals?<br />
3. How were the results of the implementations assessed before the<br />
incident (SWOT if relevant)?<br />
National security policy after the terror attacks in New York,<br />
9. September 2001<br />
1. What have been the main goals of the national security policy since<br />
the incident (main approaches, strategic objectives, etc.)?<br />
2. Principal axes of intervention to attain the goals?<br />
3. How the results of this implementation are assessed (SWOT if<br />
relevant)?<br />
National migration policy is the subject, especially in the field of<br />
immigration, integration, asylum\refugees and repatriation. I would<br />
want to know what the strategic goals of the national migration<br />
policy and what the specific measures are.<br />
This leads me to the following key questions:<br />
National migration policy before the terror attacks in New York,<br />
9. September 2001<br />
1. What were the main goals of the national migration policy before<br />
the incident (main approaches, strategic objectives, etc.)?<br />
2. Principal axes of intervention to attain the goals?<br />
211
3. How the results of implementation were assessed (SWOT if<br />
relevant)?<br />
National migration policy after the terror attacks in New York, 9.<br />
September 2001<br />
1. What have been the main goals of the national migration policy<br />
since the incident (main approaches, strategic objectives, etc.)?<br />
2. Principal axes of intervention to attain the goals?<br />
3. How have the results of implementation been assessed (SWOT if<br />
relevant)?<br />
Linking of national security policy and national migration policy<br />
Before the terror attacks in New York, 9. September 2001<br />
1. What were the main links between the national security policy and<br />
the national migration policy before the incident (map of<br />
connections, for example economic safety and immigration, etc.)?<br />
2. How did the national security policy influence the national migration<br />
policy in the context of these links (list of contents\measures for<br />
each connection)<br />
3. What were the results of the links and<br />
4. How did you assess the effectiveness of the links?<br />
After the terror attacks in New York, 9. September 2001<br />
1. What have been the main links between the national security policy<br />
and the national migration policy after the incident?<br />
2. How has the national security policy influenced the national<br />
immigration policy in the context of these links?<br />
3. What were and are the results of these links and<br />
4. How do you assess the effectiveness of these links?<br />
5. As a part of migration policy what measures in terms of security<br />
policy should be implemented to tackle the challenges and<br />
6. How will those measures be assessed (SWOT if relevant)?<br />
212
<strong>DIE</strong> <strong>SCHWEIZERISCHE</strong> <strong>MIGRATIONSPOLITIK</strong><br />
<strong>IM</strong> <strong>KONTEXT</strong> DER NATIONALEN SICHERHEIT UND<br />
GLOBALER ZUSAMMENHÄNGE<br />
THESIS FOR MAS ETHZ SPCM DEGREE<br />
By<br />
Doris <strong>Fiala</strong><br />
Approved: __________________________________________________<br />
Prof. Dr. Andreas Wenger,<br />
ETH Zürich Forschungsstelle für Sicherheitspolitik<br />
Leiter des Center of Security Studies an der ETH Zürich<br />
Approved: __________________________________________________<br />
Dr. iur. Eduard Gnesa<br />
Sonderbotschafter für Internationale Migrationszusammenarbeit<br />
Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten<br />
EDA, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA<br />
Freiburgstrasse 130, 3003 Bern<br />
(vormals Direktor des Bundesamtes für Migration)<br />
213