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Prof. Dr. Hermann Bausinger Kulturwissenschaftler im Gespräch mit ...

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http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0401/20040105.shtml<br />

Sendung vom 05.01.2004, 20.15 Uhr<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Hermann</strong> <strong>Bausinger</strong><br />

<strong>Kulturwissenschaftler</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Gespräch</strong> <strong>mit</strong> Klaus Kastan<br />

Kastan: Herzlich willkommen zu Alpha-Forum. Unser heutiger Gast kann etwas<br />

sagen zu Themen wie Fastfood oder Maultaschen, Gartenzwergen oder<br />

Hippies, Lederhosen und schrägen Witzen, VW-Käfer und Plüschtieren,<br />

schwäbischen Spätzle und friesischen Teebeuteln. Wenn Ihnen das reicht,<br />

dann können wir eigentlich gleich beginnen. Unser Gast ist emeritierter<br />

<strong>Prof</strong>essor für empirische Kulturwissenschaft. Und obwohl Sie seit elf Jahren<br />

nicht mehr <strong>im</strong> Amt sind, sind Sie eine Instanz in der Volkskunde. <strong>Prof</strong>essor<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Hermann</strong> <strong>Bausinger</strong>, herzlich willkommen in unserer Sendung.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Danke schön.<br />

Kastan: Schön, dass Sie da sind. Sie haben Germanistik, Anglistik, Geschichte und<br />

Volkskunde studiert. Warum sind Sie denn nicht <strong>Prof</strong>essor für Germanistik<br />

geworden?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ich bin in gewisser Weise sogar <strong>Prof</strong>essor für Germanistik geworden. Ich<br />

habe mich habilitiert für Germanistik und Volkskunde: Das gehörte nämlich<br />

damals sehr eng zusammen. Denn das geht <strong>im</strong> Grunde genommen auf die<br />

Brüder Gr<strong>im</strong>m zurück, die ja selbst Germanisten gewesen sind und die in<br />

gewisser Weise die Volkskunde begründet haben. Diese Tradition galt<br />

damals noch und deshalb habe ich mich in beiden Fächern habilitiert. Aber<br />

mein größeres Interesse galt doch dem Bereich, der damals allgemein als<br />

Volkskunde bezeichnet worden ist.<br />

Kastan: Was hat Sie denn an der Volkskunde so fasziniert?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Mich hat fasziniert, dass das Themen waren, die näher am Alltag waren. Ich<br />

erinnere mich z. B. daran, dass ich mal ein Seminar bei einem älteren<br />

<strong>Prof</strong>essor <strong>mit</strong>gemacht habe. Dort ging es um Bräuche. Das war <strong>im</strong> Grunde<br />

genommen nicht so enorm spannend, aber ich kam dann nach Hause und<br />

fing an meine Mutter zu befragen: "Sag mal, was habt ihr denn früher an<br />

H<strong>im</strong>melfahrt gemacht? Gab es bei euch auch den Thomastag oder ist das<br />

etwas rein Katholisches?" Es war eigentlich das erste Mal, dass ich mich <strong>mit</strong><br />

meiner Mutter über Dinge unterhalten habe und unterhalten konnte, die an<br />

der Universität gelehrt wurden. Ich konnte nämlich <strong>mit</strong> meiner Mutter nicht<br />

allzu häufig über Kafka oder über den "Mann ohne Eigenschaften" usw.<br />

sprechen, weil sie alle diese Bücher nicht gelesen hatte. Das hat mich<br />

damals eben doch fasziniert und ich denke, dass diese Bindung an den<br />

Alltag eigentlich ein Leitmotiv geblieben ist für mich.<br />

Kastan: Die Volkskunde befasst sich <strong>mit</strong> Kultur und Lebensformen in der<br />

Geschichte, aber auch in der Gegenwart.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, wobei man aber sagen muss, dass die klassische Volkskunde doch<br />

sehr stark vergangenheitsorientiert gewesen ist und dass sie <strong>im</strong> Grunde<br />

genommen nur einen kleinen Ausschnitt aus der gesamten Kultur erfasst<br />

hat. Ich meine hier<strong>mit</strong>, dass die Volkskunde natürlich die so genannte


Hochkultur - also das, was sich in Opernhäusern, in Theatern und in<br />

Konzertsälen abspielt – nicht zu ihren Gegenständen gezählt hat; auch<br />

innerhalb dessen, was man als Volkskultur bezeichnet, hat sie sich<br />

konzentriert auf das, was <strong>mit</strong> dem Stichwort "Tradition" verbunden war. Die<br />

Volkskunde lief deshalb Gefahr, dass sie allmählich nur noch über<br />

Trachtenvereine und über alte Bauernschränke spricht. Dies hat zwar <strong>mit</strong><br />

der Gesamtheit der Volkskultur durchaus zu tun, deckt aber eben doch nur<br />

einen kleinen Ausschnitt davon ab.<br />

Kastan: Das war Ihnen also eindeutig zu verstaubt.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Das war mir zu wenig. Wir haben uns zwar für diese Dinge auch<br />

interessiert, zumal sie ja z. T. auch politisch verwendet, politisch ins Bild<br />

gerückt wurden, aber wir haben dann doch gesehen, dass eigentlich ganz<br />

andere Dinge eine Rolle spielten. Wenn ich damals z. B. ein<br />

volkskundliches Lexikon aufgeschlagen habe, dann gab es dort<br />

meinetwegen einen Artikel über den Hund. In diesem Artikel über den Hund<br />

war dann die Rede davon, dass in Schleswig-Holstein in Mondnächten ein<br />

Hund <strong>mit</strong> drei Beinen gesichtet wurde usw. Solche Beispiele fanden sich<br />

mehrere in solchen Büchern. Nichts stand jedoch in diesen Büchern<br />

darüber, dass der Hund eines der liebsten Spielzeuge der Deutschen ist,<br />

dass die Haltung gegenüber den Hunden sehr viel über die Bevölkerung<br />

aussagen kann, dass der Hund z. T. als Kommunikations<strong>mit</strong>tel fungiert,<br />

dass also die Menschen <strong>mit</strong> ihrem Hund nur deshalb spazieren gehen, um<br />

dabei <strong>mit</strong> anderen Hundebesitzern in Kontakt zu kommen. All diese Dinge<br />

waren bis dahin nicht Gegenstand der Volkskunde gewesen. Wir waren<br />

damals jedoch der Meinung, dass gerade das einen wesentlichen Teil der<br />

Kulturwissenschaft ausmacht: nicht nur speziell der Hund, sondern eben<br />

diese Alltagsdinge, die jenseits von Bauernschränken und alten Trachten zu<br />

finden sind.<br />

Kastan: Sie wollten es einfach ein bisschen realistischer haben, Sie wollten sich <strong>mit</strong><br />

Dingen beschäftigen, die das Leben wirklich ausmachen.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, realistischer.<br />

Kastan: In einem Artikel habe ich über Sie gelesen: "<strong>Bausinger</strong> unterzog sein Fach<br />

einer systematischen Kritik. Die Ablösung der traditionellen Volkskunde<br />

durch eine kulturanalytische Methode hat er durchgesetzt." Sie selbst<br />

bezeichnen sich ja als <strong>Kulturwissenschaftler</strong>: Wenn man Sie als<br />

Volkskundler bezeichnen würde, würden Sie dann sagen, dass das gerade<br />

noch durchgeht? Oder würden Sie sich wehren?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Nein, das geht schon durch. Der Name "Volkskunde" wurde z. T. ja auch<br />

beibehalten. Es gibt nach wie vor eine "Deutsche Gesellschaft für<br />

Volkskunde", deren Vorsitzender ich eine ganze Zeit lang gewesen bin. Es<br />

gibt eine "Zeitschrift für Volkskunde" usw. Das ist also ein Dachbegriff, unter<br />

dem sich nun andere Begriffe angesiedelt haben wie "Europäische<br />

Ethnologie", "Kulturanthropologie" und eben auch, wie wir das in Tübingen<br />

genannt haben, "empirische Kulturwissenschaft". Wir wollten nämlich <strong>mit</strong><br />

diesem Stichwort "empirisch" andeuten, dass wir nicht in erster Linie eine<br />

Museumswissenschaft sind, obwohl wir natürlich auch sehr viel <strong>mit</strong> Museen<br />

zu tun haben, sondern dass uns das un<strong>mit</strong>telbare Leben angeht.<br />

"Empirisch" heißt ja, dass das etwas <strong>mit</strong> Erfahrung zu tun hat: Es sollte also<br />

klar werden, dass wir als Erfahrungswissenschaftler Leute befragen, Leute<br />

beobachten, Situationen beobachten und daraus unsere Schlüsse ziehen.<br />

Kastan: Sie haben, als Sie Chef in Tübingen wurden, auch gleich Ihr Institut<br />

umbenannt in Ludwig-Uhland-Institut.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Nein, nicht gleich. Ich bin 1960 dort Chef geworden und die Umbenennung<br />

war erst 1970. Das ist vielleicht ganz interessant, das hier zu erwähnen: Ich<br />

dachte zehn Jahre lang, man müsse diese Volkskunde nur richtig betreiben,


man müsse nur die richtigen Gegenstände haben, dann wäre auch dieser<br />

Ausdruck "Volkskunde" wieder akzeptabel, dann könne ich <strong>mit</strong> dem Begriff<br />

"Volkskunde" wieder etwas anfangen. Aber das war mindestens teilweise<br />

ein Irrtum, denn wenn z. B. in der Presse von der Volkskunde die Rede war,<br />

dann meinte man da<strong>mit</strong> <strong>im</strong> Allgemeinen nicht unsere Wissenschaft, nicht<br />

unser Institut. Stattdessen war dort dann die Rede davon, dass<br />

meinetwegen der "Volkstanzkreis Stuttgart-Echterdingen" sein 25-jähriges<br />

Jubiläum gefeiert hat usw.<br />

Kastan: Es ist ja ganz schön, wenn die das feiern, aber das war dann einfach nicht<br />

Ihr Begriff.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, das st<strong>im</strong>mt, dieser Begriff deckte nicht mehr unbedingt diese<br />

Wissenschaft ab, wie wir sie verstanden. Es war einfach so, dass diese<br />

angewandte Seite sehr stark in den Wissenschaftsbegriff hineingespielt hat.<br />

Insofern schien uns daher eine Trennung akzeptabel bzw. sinnvoll.<br />

Kastan: Tübingen galt doch irgendwie als Zentrum der Veränderung in der<br />

Volkskunde – und gilt vielleicht heute noch als dieses Zentrum, obwohl Sie<br />

ja schon seit vielen Jahren emeritiert sind. Haben denn damals alle<br />

volkskundlichen Institute in Deutschland <strong>mit</strong>gezogen? Oder gibt es auch<br />

heute noch in Deutschland Institute an den Universitäten, von denen Sie<br />

sagen, sie seien <strong>im</strong>mer noch ein bisschen verstaubt?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Es gibt sicherlich Unterschiede, was die Gegenstandsorientierung betrifft.<br />

Wenn z. B. ein Student oder eine Studentin über das Wallfahrtswesen<br />

forschen will, dann würde ich ihm oder ihr empfehlen, dafür nicht unbedingt<br />

nach Tübingen zu gehen. Dies nicht alleine deshalb, weil dort eine eher<br />

protestantische Tradition vorhanden ist, sondern weil sie oder er für so eine<br />

Forschung besser nach Freiburg, nach Würzburg oder nach Münster gehen<br />

sollte. Auch die Bauernhausforschung z. B. ist bei uns nie <strong>im</strong> Zentrum<br />

gestanden: Dafür steht beispielsweise Münster. Was aber diese<br />

Modernisierung betrifft, wenn ich das mal so ausdrücken darf, ist es so,<br />

dass sie sich <strong>im</strong> Grunde genommen überall durchgesetzt hat. Es ist auch<br />

nicht so gewesen, dass das eine rein Tübinger Erfindung gewesen wäre:<br />

Nein, auch anderswo hat man gemerkt, dass man andere Bereiche<br />

unbedingt <strong>mit</strong> einbeziehen muss in diese Wissenschaft. Heute spielen sich<br />

die Gegensätze eigentlich nur noch gewissermaßen irreal <strong>im</strong> Überbau ab:<br />

Es gibt <strong>im</strong>mer noch <strong>Prof</strong>essoren ungefähr meines Alters, die sagen, dass<br />

sie da<strong>mit</strong> nichts zu tun haben wollen. Wenn ich aber dann nachlese, was<br />

bei diesen <strong>Prof</strong>essoren an Magister- oder Doktorarbeiten geschrieben wird,<br />

dann sind das die gleichen Themen oder zumindest vergleichbare Themen<br />

wie die, die in Tübingen behandelt werden.<br />

Kastan: Das heißt, die Studenten hören nicht <strong>im</strong>mer unbedingt auf ihre <strong>Prof</strong>essoren,<br />

sondern haben ihren eigenen Kopf.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, bzw. es ist so, dass das, was sich in den Köpfen der <strong>Prof</strong>essoren<br />

festgesetzt hat, auch nicht <strong>im</strong>mer ihrer eigenen Realität entspricht: Sie<br />

selbst forschen z. T. schon anders, sagen aber <strong>im</strong>mer noch, das hätte <strong>mit</strong><br />

dem nichts zu tun.<br />

Kastan: Sie haben viel geforscht, Sie haben viel geschrieben, deswegen die Frage<br />

an Sie: Was haben Teebeutel, VW-Käfer und Fastfood <strong>mit</strong> Volkskunde oder<br />

Kulturwissenschaft zu tun?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Das Fach läuft ständig Gefahr, dass es überhaupt keine Grenzen mehr<br />

kennt. In Tübingen sagt man ja auch: "Die da oben" – wir sitzen nämlich<br />

oben <strong>im</strong> Schloss – “schrecken vor überhaupt nichts zurück!" Da ist schon<br />

etwas Richtiges dran. Das hängt einfach da<strong>mit</strong> zusammen, dass wir uns<br />

eben nicht nur <strong>mit</strong> einem ganz spezifischen Ausschnitt aus der Kultur<br />

befassen, sondern dass wir sagen, uns interessiert die Alltagskultur. Und<br />

die Dinge, die Sie aufgezählt haben, gehören eben alle in diese


Alltagskultur.<br />

Kastan: Gibt es da nicht auch die Gefahr der Beliebigkeit?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Es gibt da eine gewisse Gefahr der Beliebigkeit. Wobei diese Gefahr jedoch<br />

dadurch korrigiert bzw. beherrscht wird, dass wir problemorientiert arbeiten.<br />

Es ist nicht so, dass da jemand zwei Jahre lang an einer Doktorarbeit über<br />

friesische Teebeutel sitzt. Wohl aber forscht jemand über die<br />

Veränderungen <strong>im</strong> Essverhalten bei uns. Heutzutage hängt man ja <strong>im</strong>mer<br />

gleich das Wort "Kultur" hintendran: Man kann also sehr wohl über die<br />

Esskultur oder über die gastronomische Orientierung der Esskultur<br />

forschen. Da mögen dann auch Teebeutel eine Rolle spielen.<br />

Kastan: Apropos Esskultur - ein Zitat, ich glaube, es stammt von Ihnen: "Was dem<br />

Schwaben seine Spätzle, ist dem Friesen sein Teebeutel und dem<br />

Düsseldorfer niemals sein Kölsch."<br />

<strong>Bausinger</strong>: Das stammt nicht von mir, aber ich kann da<strong>mit</strong> leben.<br />

Kastan: Man liest einfach so viel, auch über Sie, und da mag es schon passieren,<br />

dass da ein falsches Zitat hineingerät.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Richtig ist, dass gerade <strong>im</strong> Bereich der Esskultur diese regionalen und z. T.<br />

lokalen Orientierungen ganz, ganz wichtig sind. Man spricht ja<br />

beispielsweise bei uns von Nationalspeisen. Wenn man dann aber fragt,<br />

was diese Nationalspeisen sind, dann sind das in Nürnberg Bratwürste, in<br />

München wahrscheinlich Weißwürste...<br />

Kastan: Und in Aalen in Württemberg?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Wohl eher Spätzle und Maultaschen. Wobei es hier freilich die charmante<br />

Geschichte gibt, dass das ganz sicher keine schwäbischen Erfindungen<br />

sind, sondern dass sie wahrscheinlich aus Italien kommen. Maultaschen<br />

sind nun einmal nichts anderes als große Ravioli. Es gibt sogar die These,<br />

dass die Maultaschen aus Russland eingeführt worden sind, weil es dort<br />

auch so ähnliche Teigspeisen gibt. Es gibt noch die ganz kühne These,<br />

dass sie aus China stammen. In Wirklichkeit gibt es natürlich derartige<br />

Teigspeisen <strong>mit</strong> irgendeiner Einlage wie z. B. Fleisch vermutlich auf der<br />

halben Welt.<br />

Kastan: Ich habe Aalen deshalb soeben erwähnt, weil Sie dort geboren sind.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, das ist mein Geburtsort.<br />

Kastan: Sind Sie selbst sehr he<strong>im</strong>atverbunden?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Jein. Ich bin ja nun schon seit 50 Jahren von Aalen weg. Aber ich habe<br />

<strong>im</strong>mer noch eine enge Beziehung zu dieser Stadt. Diese Beziehungen sind<br />

natürlich ein bisschen ausgedünnt, was die Kommunikationskreise betrifft:<br />

Meine Eltern leben nicht mehr, viele Freunde sind weggezogen oder<br />

ebenfalls bereits verstorben. Aber zur Stadt selbst und zu den kulturellen<br />

Dingen in der Stadt habe ich <strong>im</strong>mer noch eine enge Beziehung. Ich habe z.<br />

B. jahrelang die Jury für den Schubart-Literaturpreis geleitet: Schubart ist<br />

zwar nicht in Aalen geboren, aber er ist <strong>mit</strong> einem Jahr oder <strong>mit</strong> eineinhalb<br />

Jahren nach Aalen gekommen und hat dann in Aalen gelebt und sich auch<br />

<strong>im</strong>mer als Aalener gefühlt. Die Stadt Aalen, obwohl das eine kleine Stadt ist,<br />

hat schon 1956 diesen Literaturpreis geschaffen. Er wird seither regelmäßig<br />

verliehen.<br />

Kastan: Das nächste Zitat stammt nicht von Ihnen, aber es ist über Sie: "Er lebt in<br />

der Spannung von he<strong>im</strong>atlicher Nähe und grenzüberschreitender Weite."<br />

Könnten Sie sich vorstellen, in New York zu leben?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ich könnte es mir vorstellen, aber mich zieht es nicht unbedingt dorthin.<br />

Irgendjemand hat einmal über mich geschrieben, ich sei ein freiwilliger<br />

Provinzler. Da<strong>mit</strong> fühle ich mich eigentlich ganz gut getroffen.


Kastan: Sie leben heute in Reutlingen in der Nähe von Tübingen.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, ich lebe in Reutlingen: Reutlingen ist ein bisschen größer als Tübingen,<br />

ist auch keine reine Studentenstadt, sondern eine sehr normale Stadt, in der<br />

es Industriebetriebe gibt, in der es eine bunte Mischung von Ausländern gibt<br />

und die auch nicht nur eine Touristenstadt ist.<br />

Kastan: Aber auch keine Weltstadt.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ich weiß nicht, ob ich das bejahen darf. Sonst kann ich mich ja in Reutlingen<br />

nicht mehr sehen lassen. Nein, eine Weltstadt ist Reutlingen sicher nicht.<br />

Als ich <strong>mit</strong> dem Taxi hierher ins Studio gefahren bin, habe ich mir wieder<br />

einmal gedacht, wie viel Zeit man doch eigentlich in der Provinz spart. Die<br />

Wege sind sehr viel kürzer, sind auch in vieler Hinsicht einfacher.<br />

Kastan: Die bessere Infrastruktur gibt es allerdings in den größeren Städten: Die<br />

Nahverkehrs<strong>mit</strong>tel z. B., die es hier gibt, gibt es natürlich auf dem Land in<br />

der Provinz nicht in dem Maße.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Da geht man halt einfach vors Haus und geht zu Fuß ins Theater. Es gibt<br />

wirklich viele Vorzüge der Provinz. Ich kenne auch in der Tat eine Reihe von<br />

Kollegen, die Rufe nach München hatten: München ist natürlich in vielerlei<br />

Hinsicht sehr verlockend. Sie haben es aber abgelehnt, nach München zu<br />

gehen und sind in Tübingen geblieben, <strong>mit</strong> der Begründung: "Ich kann in<br />

Tübingen in zehn Minuten zu Fuß in die Universitätsbibliothek gehen!"<br />

Kastan: Diese Kollegen wissen natürlich nicht, was ihnen dabei entgangen ist. Aber<br />

das haben sie selbst zu verantworten. Sie haben soeben indirekt auch vom<br />

Auto gesprochen. "Das Auto ist die vorübergehende Erweiterung des<br />

Körperschemas": Ich glaube, das stammt von Ihnen.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Diese Erkenntnis stammt nicht von mir, sondern das haben Psychologen<br />

festgestellt. Das ist übrigens etwas, das jeder Mann und jede Frau sehr<br />

schnell lernen, wenn sie in die Fahrschule gehen. Zunächst achten die<br />

Fahrschüler ja ganz ängstlich darauf, ob sie <strong>mit</strong> ihrem Auto durch<br />

irgendeine engere Stelle auf der Fahrbahn durchkommen und wie weit die<br />

Hindernisse rechts und links noch weg sind. Später bewegt man sich dann<br />

<strong>mit</strong> dem Auto doch weitgehend so – nicht <strong>im</strong>mer, aber so gut wie <strong>im</strong>mer –,<br />

wie man sich auch zu Fuß bewegt. Man weiß ganz genau, wo das Auto<br />

hinten und vorne und links und rechts endet: Das ist dann wirklich wie eine<br />

Erweiterung des Körpers. Man weiß dann einfach, woran man vorbei<br />

kommt und woran nicht mehr. Das ist gemeint da<strong>mit</strong>: Man muss da nicht<br />

jedes Mal nachdenken. Man muss auch nicht jedes Mal nachdenken, ob<br />

man nun schalten muss oder nicht. Das ist später kein bewusster Prozess<br />

mehr. So ist es eben auch <strong>mit</strong> den Abmessungen des Autos.<br />

Kastan: Sprüche sind zwar oft etwas dümmlich, aber ich würde Sie dennoch gerne<br />

<strong>mit</strong> ein paar stereotypen Sprüchen konfrontieren. Ein Spruch lautet: "Das<br />

Auto ist des Deutschen liebstes Kind." Ist das Auto typisch deutsch? Ist die<br />

Liebe zum Auto typisch deutsch?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Das Auto selbst hat zwar in seiner Entwicklungsgeschichte<br />

bekanntermaßen sehr viele deutsche Ursprünge, aber inzwischen ist das<br />

Auto ja doch weltweit verbreitet. Was jedoch die Liebe zum Auto betrifft<br />

bzw. eine spezifische Art dieser Liebe, dass das Auto als Besitz, als<br />

Eigentum gepflegt wird, dass es auch eine große Angst um dieses<br />

Eigentum gibt, das scheint mir doch in Deutschland besonders ausgeprägt<br />

zu sein. Man muss ja nur einmal daran denken, dass für die Amerikaner die<br />

Stoßstange wirklich ein bumper ist: Sie ist dazu da, um zu stoßen be<strong>im</strong><br />

Einrangieren, um sich einen Parkplatz zu erobern, ohne dass dabei sofort<br />

ein Polizist oder der andere Besitzer Einwände erhebt oder sich gar aufregt.<br />

Bei uns hingegen ist es ganz schl<strong>im</strong>m, wenn die eigene Stoßstange<br />

diejenige eines anderen Autos auch nur berührt.


Kastan: Das kostet oft gleich einen Haufen Geld. Wehe, da kommt eine Beule rein.<br />

Haben Sie selbst auch ein Auto?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, ich habe ein Auto.<br />

Kastan: Sind Sie da auch typisch deutsch und passen auf, dass da keine Beulen<br />

hineinkommen?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Nein, nein, ich fahre <strong>im</strong>mer schon <strong>mit</strong> vielen Beulen am Auto durch die<br />

Gegend. Das hängt wahrscheinlich auch da<strong>mit</strong> zusammen, dass ich nicht<br />

den Ehrgeiz habe, mein Auto nach zwei Jahren wieder teuer zu verkaufen.<br />

Nein, die jeweiligen Autos halten sehr lang bei mir und nach vielen Jahren<br />

werden sie auch nicht verkauft, sondern dann bekommt es eines meiner<br />

Kinder – das soll sich dann <strong>mit</strong> den Beulen anfreunden. Ich bin auch kein<br />

“Lustwäscher”, der jeden Samstag den E<strong>im</strong>er herausholt oder dauernd in<br />

diese Waschstraßen fährt. Nein, für mich ist das Auto in erster Linie ein<br />

Fortbewegungs<strong>mit</strong>tel. Und als solches – das muss ich zum Kummer aller<br />

Grünen sagen – ist es etwas sehr Praktisches.<br />

Kastan: Wenn Sie Ihr Auto nicht so oft waschen, dann ist das ja auch recht gut für<br />

die Umwelt.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, da bin ich dankbar für diesen Hinweis.<br />

Kastan: Denn Waschanlagen erzeugen ja auch viel Schmutzwasser. Aber ab und<br />

zu fahren best<strong>im</strong>mt auch Sie mal in die Waschanlage, denn irgendwann ist<br />

es einfach so weit.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, schon, aber selten genug.<br />

Kastan: Ob das Auto etwas typisch Deutsches sei, habe ich deshalb ganz bewusst<br />

gefragt, weil es ja ein Buch von Ihnen <strong>mit</strong> dem Titel "Typisch Deutsch" gibt.<br />

Das ist ein sehr amüsantes Buch und es trägt den Untertitel "Wie deutsch<br />

sind die Deutschen?" Gibt es denn den typischen Deutschen überhaupt?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Den gibt es als Einzelperson natürlich nicht, aber man kann das, was für<br />

typisch gehalten wird, <strong>im</strong>mer wieder bei verschiedenen Personen<br />

entdecken. Es gibt da z. B. Dinge, die man auch statistisch nachweisen<br />

kann. Ich denke hier etwa an die Sesshaftigkeit der Deutschen. Vor kurzem<br />

hat es da z. B. eine Umfrage unter Arbeitslosen gegeben. Sie wurden<br />

gefragt, unter welchen Umständen sie eine neue Arbeit akzeptieren<br />

würden. Da war natürlich die Rede von der Höhe des Lohnes und der<br />

Möglichkeit des Lohnverzichts usw. Es wurde dann aber auch nach der<br />

Mobilität gefragt. Die Arbeitslosen wurden gefragt, ob sie bereit wären, in<br />

eine andere Gegend, in eine andere Stadt zu ziehen, wenn es dort eine<br />

Arbeitsstelle für sie gäbe. Interessanterweise haben diese Frage nur etwa<br />

zehn bis 15 Prozent der Arbeitslosen bejaht. Das ist ein erstaunlich niedriger<br />

Prozentsatz, wenn man das z. B. <strong>mit</strong> den Vereinigten Staaten vergleicht.<br />

Dort ziehen die Leute eigentlich andauernd ohne irgendwelche Probleme<br />

um. Man hat festgestellt, dass die Amerikaner ungefähr zwanzigmal so oft<br />

umziehen wie wir Deutschen. Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf die<br />

Art der Wohnungen, die daher eben auch schneller auflösbar sein müssen.<br />

Bei uns hingegen hat die eigene Wohnung oder das eigene Häuschen ja<br />

fast schon sakralen Charakter: Da darf nur wenig verändert werden. Wobei<br />

ich aber, indem ich das sage, merke, dass ich möglicherweise eher von<br />

meiner Generation spreche als von der Generation meiner Kinder oder<br />

meiner Enkel. Denn denen macht das Umziehen nicht mehr so viel aus, wie<br />

das in der Generation davor noch der Fall gewesen ist.<br />

Kastan: Ich sage Ihnen, aus dem Alter der Kinder in einer Reihenhaussiedlung kann<br />

man Schlussfolgerungen ziehen, wie alt diese Reihenhaussiedlung ist.<br />

Wenn die Kinder 18 bis 20 Jahre alt sind, dann sind auch die Reihenhäuser<br />

oft 18 bis 20 Jahre alt. Denn junge Familien ziehen bei der Geburt der<br />

Kinder oft in ein Reihenhaus, wenn sie sich das leisten können. Aber es


st<strong>im</strong>mt schon, die Deutschen ziehen ungern um: Das kann man z. B. auf<br />

dem Immobilienmarkt ganz deutlich sehen. In Amerika, in England usw.<br />

zieht man hingegen viel öfter um: Dort ist das eigene Haus eben auch nicht<br />

so sehr vorrangig ein Statussymbol wie bei uns. Es gibt ja z. B. auch so<br />

Sätze von uns Deutschen wie "Ordnung ist das halbe Leben". Trifft das zu<br />

auf uns?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ich würde das "uns" zurückweisen, weil man sich da selbst sehr schnell<br />

einschließt. Aber ich denke schon, dass diese Ordnungs- und<br />

Regulierungswut in mancher Hinsicht charakteristisch sind. Ich habe neulich<br />

mal eine Reportage eines polnischen Journalisten gelesen. Er schrieb: "In<br />

Deutschland ist etwas entweder verboten oder es bekommt eine staatliche<br />

Unterstützung." Das ist zwar wie <strong>im</strong>mer bei solchen Klischees übertrieben,<br />

aber nicht schlecht beobachtet. Es trifft schon etwas Richtiges: Es wird bei<br />

uns ungeheuer viel reguliert und die Bürokratie, die natürlich in allen<br />

fortgeschrittenen Industrieländern vorhanden ist, wird bei uns noch verstärkt<br />

durch dieses Ordnungsprinzip. "Können Sie nicht lesen? Hier ist nur der<br />

Schalter für A bis M! Sie stehen also am falschen Schalter an!" - Es gibt ja<br />

auch diese Machtspiele der Schalterbeamten, die bei uns vielleicht<br />

ausgeprägter sind als anderswo.<br />

Kastan: Ich glaube, das Problem ist einfach so: In anderen Ländern wird auch viel<br />

reguliert, aber bei uns muss man das auch noch einhalten.<br />

<strong>Bausinger</strong>: So ist es. Wobei hier jedoch auch sofort wieder die regionalen Spielarten <strong>mit</strong><br />

hereinkommen. Man sagt ja z. B., dass in Preußen die Gesetze gemacht<br />

werden, in Bayern werden sie ignoriert, so heißt es bei uns, und in<br />

Schwaben werden sie befolgt. Es gibt da auch noch ein paar andere<br />

Varianten.<br />

Kastan: Na, ob das auf Bayern so zutrifft, da habe ich meine Zweifel. Aber nun gut,<br />

so einen kleinen anarchistischen Zug sagt man ja den Bayern in der Tat<br />

nach.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, aber wahrscheinlich ist das schon ein geordneter Anarchismus.<br />

Kastan: Unser Ministerpräsident wird das eh anders sehen. "Ohne Fleiß kein Preis",<br />

ist so ein weiterer Spruch von uns Deutschen.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Auch hier liegt meines Erachtens ein wahrer Kern vor. Es wird ja manchmal<br />

gesagt, diese Stereotypen hätten nichts <strong>mit</strong> der Wirklichkeit zu tun. Ich sehe<br />

das anders. Erstens einmal ist es so, dass diese Stereotypen ja auch<br />

unsere Wahrnehmung leiten, dass wir also sofort aufmerksam werden,<br />

wenn wir meinetwegen einen besonders fleißigen Deutschen sehen oder<br />

wenn wir einen Autonarren sehen: Da merken die Ausländer sofort auf und<br />

sagen, das sei typisch Deutsch. Diese Sprüche bedingen also eine<br />

best<strong>im</strong>mte Wahrnehmungssteuerung. Das andere ist, dass es da schon<br />

auch einen realen Zusammenhang <strong>mit</strong> der deutschen Geschichte gibt. In<br />

diesem Fall meine ich, dass Fleiß zwar in allen Industriestaaten verlangt<br />

wurde und erforderlich war, dass aber bei uns die protestantisch-preußische<br />

Prägung der Nation, diese ganze militärische Prägung während des<br />

Kaiserreichs doch eine große Rolle gespielt haben. Aus diesem Grund<br />

gelten Tugenden wie Fleiß, Ordnung, Sauberkeit und vor allem auch<br />

Disziplin so viel.<br />

Kastan: Das geht ja bis hin zum Sport, denn man sagt den deutschen Fußballern z.<br />

B. auch nach, sie würden vor allem Kampfspiele gewinnen, weil sie dabei<br />

sehr diszipliniert seien. Ein anderer Spruch lautet: "<strong>Dr</strong>ei Deutsche, ein<br />

Verein."<br />

<strong>Bausinger</strong>: Genau das gleiche Wort wird ja auch auf die Iren gemünzt. Und natürlich<br />

gibt es überall auf der Welt diese Verbindungen, diese Assoziationen unter<br />

den Menschen. Auch in den USA gibt es das ja sehr häufig. Aber was<br />

vielleicht eher typisch Deutsch ist, ist wiederum diese Regulierung innerhalb


des Vereins. Da gibt es z. B. auch diese "Vereinsmeier", also Menschen,<br />

die völlig für ihren Verein bzw. für ihre Vereine leben. Auch die Regularien<br />

bei den Versammlungen spielen in Deutschland eine ganz große Rolle:<br />

Wer wird Kassier? Wer führt das Protokoll? Wie werden best<strong>im</strong>mte Dinge<br />

genau gemacht?<br />

Kastan: Es gibt Anträge zur Geschäftsordnung usw.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, das sind ja auch eingetragene Vereine.<br />

Kastan: Manche sind auch noch gemeinnützig obendrein.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, diese Vereine müssen dann ganz best<strong>im</strong>mte Vorschriften erfüllen.<br />

Darauf wird sehr genau geachtet.<br />

Kastan: Ich zitiere noch einmal aus Ihrem Buch "Typisch Deutsch. Wie deutsch sind<br />

die Deutschen": "Urlauber, die in großen Ferienhotels schon vor dem<br />

Frühstück zum Sw<strong>im</strong>mingpool eilen, um einen Liegestuhl zu erobern,<br />

werden fast weltweit als Deutsche identifiziert, ganz ohne Passkontrolle.<br />

Und in allen europäischen Ländern, die <strong>mit</strong> schönen Stränden gesegnet<br />

sind, liest man in den Sommermonaten 'Die Deutschen bauen wieder ihre<br />

Sandburgen'." Ist das wirklich so eine typisch deutsche Eigenschaft, dass<br />

wir unsere Liegestühle reservieren, dass wir schon morgens um acht Uhr<br />

runter zum Strand rennen, um dort das Handtuch auf einen Liegestuhl zu<br />

legen?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Das hat <strong>mit</strong> einem gewissen Erfahrungswert zu tun. Man kann das<br />

tatsächlich beobachten in den touristischen Hochburgen. Es gibt ja überall<br />

auf der Welt diese Monsterhotels, in denen alle Nationen<br />

zusammenkommen. Hier sind die Deutschen wirklich berüchtigt dafür, dass<br />

sie sich auf diese Weise ihre Liegestühle sichern. Das hängt wohl auch ein<br />

bisschen da<strong>mit</strong> zusammen – denn auch das wird ja meiner Meinung nach<br />

nicht völlig zu Unrecht den Deutschen nachgesagt –, dass sie Zeit auf alle<br />

Fälle ausnutzen wollen. Es wird <strong>im</strong>mer wieder gesagt, die Deutschen<br />

würden selbst <strong>im</strong> Urlaub den Wecker stellen, da<strong>mit</strong> sie nichts versäumen,<br />

da<strong>mit</strong> sie rechtzeitig alles <strong>mit</strong>nehmen können: nicht nur den Liegestuhl,<br />

sondern meinetwegen irgendwelche Ausflüge usw. Die Deutschen sind<br />

also gewissermaßen auch <strong>im</strong> Urlaub noch fleißig.<br />

Kastan: Das Problem ist nur, wir können nicht überall sein, wir Deutschen. Es gab<br />

mal einen wunderschönen Werbespruch einer Ingolstädter Automobilfirma,<br />

der damals in England veröffentlicht wurde, um Werbung für Audi zu<br />

machen: "If you want do be on the beach before the Germans, you have to<br />

buy an Audi." “Wenn Sie vor den Deutschen am Strand sein wollen, dann<br />

müssen Sie einen Audi kaufen." Da<strong>mit</strong> hat man ganz gut den englischen<br />

Humor getroffen, und wohl schon auch ganz gut unsere Mentalität. Mit dem<br />

Bauen von Sandburgen ist es ähnlich: Das ist auch so eine typisch<br />

deutsche Art, genauso wie der Gartenzwerg, den man sich gerne in den<br />

Garten stellt.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Nun, wobei es ja so ist, dass das Sandburgenbauen den deutschen<br />

Touristen z. T. schon abgewöhnt wurde: In Holland wissen die deutschen<br />

Urlauber allmählich, dass sie das besser nicht machen sollten. Man muss<br />

hier ja auch unterscheiden: Wenn jemand kleine Kinder hat, dann liegt es<br />

relativ nahe, dass da irgendwas gebaut wird <strong>mit</strong> dem Sand am Strand. Aber<br />

erstens ist es tatsächlich so, dass die Deutschen dazu neigen, daraus<br />

gleich wieder monströse Bauwerke zu machen und vor allem darauf zu<br />

pochen, dass das ihre sind, dass sie das also am nächsten Tag wieder<br />

vorfinden wollen.<br />

Kastan: Da gibt es ja auch regelrechte Wettbewerbe.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Diese Wettbewerbe sind freilich weltweit verbreitet. Ich war einmal in den<br />

USA in Oregon: Dort gab es einen wunderbaren Sandbildhauer-


Wettbewerb <strong>mit</strong> monumentalen Figuren, die man da gebaut hat. Aber es<br />

gab keine Sandburgen: Niemand wäre dort auf die Idee gekommen, sich<br />

<strong>mit</strong> dem Sand einen Schützengraben und eine Burg zu bauen, in die man<br />

sich zurückziehen kann.<br />

Kastan: Sind Sie selbst ein untypischer Deutscher?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Es liegt nahe, ja zu sagen, weil wir jetzt so viele negative oder doch<br />

zumindest fragwürdige Eigenschaften aufgezählt haben. Ich denke jedoch,<br />

ich bin kein untypischer Deutscher. Wenn ich das Stichwort "Sesshaftigkeit"<br />

oder "Disziplin" höre, dann muss ich sagen, dass ich wohl schon ein<br />

typischer Deutscher bin. Ich fühle mich zwar in der Lage, gelegentlich<br />

undiszipliniert zu sein, aber sehr weit komme ich da<strong>mit</strong> nicht.<br />

Kastan: Heute sind Sie auf alle Fälle sehr diszipliniert.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Danke.<br />

Kastan: Wir müssen auch noch unbedingt über Witze reden. Denn man sagt Ihnen<br />

ja auch nach, Sie seien ein Witzeexperte; sie haben auch viel darüber<br />

geschrieben, über den Humor, über Witze. Witze können wir Deutsche ja<br />

durchaus erzählen, oder?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Sicher. Es gibt eine ganze Reihe von Witzen bei uns, die insofern typisch<br />

Deutsch sind, weil sie sich beziehen auf die Regionen. Es gibt ja in der Tat<br />

diesen Spott zwischen den Regionen. Früher hat der Spott zwischen<br />

Bayern und Preußen eine große Rolle gespielt. Das ist heute vielleicht nicht<br />

mehr so ausgeprägt der Fall. Aber bei uns <strong>im</strong> Bundesland Baden-<br />

Württemberg denke ich dabei vor allem an die Auseinandersetzungen<br />

zwischen Badenern und Württembergern. Die Badener erzählen z. B.<br />

ständig Schwabenwitze: Komischerweise gibt es aber keine Badenerwitze.<br />

Das hängt wahrscheinlich da<strong>mit</strong> zusammen, dass die Württemberger eh<br />

am längeren Hebel sitzen. Stuttgart ist die Hauptstadt dieses Bundeslands<br />

usw. Demgegenüber haben die Badener durch diesen Zusammenschluss<br />

ihre Hauptstadt Karlsruhe verloren. Das wird nun ein bisschen kompensiert<br />

durch solche Schwabenwitze.<br />

Kastan: Ihr Buch dazu heißt "Die bessere Hälfte". Wer sind denn die Besseren?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Darüber habe ich mich selbst <strong>im</strong> Buch nicht endgültig geäußert. Ich war da<br />

wirklich sehr vorsichtig. Aber Tatsache ist, dass man eher <strong>im</strong><br />

württembergischen Teil auf Leute trifft, die sehr positiv von Baden reden und<br />

die gegebenenfalls sofort bereit wären, in Baden irgendeinen Job zu<br />

übernehmen. Umgekehrt ist das sehr viel seltener der Fall: Die Badener<br />

hegen ein gewisses Misstrauen gegen die schwäbische Art. Da spielen<br />

sicherlich auch konfessionelle Dinge eine Rolle, da spielt die Tradition des<br />

württembergischen Pietismus eine Rolle, die ja doch eine sehr strenge<br />

Form der Lebensgestaltung best<strong>im</strong>mt hat. Insofern ist das schon eine sehr<br />

direkte Auseinandersetzung.<br />

Kastan: Mein Sohn hat mir heute morgen folgenden Witz erzählt: Warum legen die<br />

Österreicher eine Bananenschale aufs Dach? Da<strong>mit</strong> der Blitz besser<br />

abrutscht. Darf man darüber lachen?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Tucholsky wurde ja mal gefragt "Was darf die Satire?" und er hat<br />

geantwortet: "Alles!" Ich denke also, dass man schon darüber lachen darf.<br />

Wenn man natürlich einen humorlosen Österreicher vor sich hat, dann sollte<br />

man solche Witze vielleicht doch besser bleiben lassen.<br />

Kastan: Österreicher dürfen diesen Witz auf alle Fälle erzählen. Die Frage ist, ob wir<br />

das dürfen, ob es politisch korrekt ist, wenn wir das tun. Es geht in Witzen ja<br />

oft gegen Minderheiten. Früher waren das mal die Ostfriesen, heute ist das<br />

fast gar nicht mehr der Fall. Dann ging es gegen die Österreicher, gegen die<br />

Blondinen usw. Da hat es massenhaft Witze gegeben. Warum richten sich<br />

Witze oft gegen Minderheiten und Schwächere?


<strong>Bausinger</strong>: Ich denke, am Beispiel der Ostfriesen kann man dieses Argument eigentlich<br />

aus den Angeln heben. Denn die Ostfriesenwitze waren nur sehr bedingt<br />

gegen die Ostfriesen gerichtet, sondern man hat einfach gewissermaßen<br />

einen Typus erfunden oder gefunden, dem man dann diese Witze<br />

aufgepfropft hat. Die Ostfriesenwitze waren ja in vieler Hinsicht modifizierte<br />

Mantafahrerwitze, Blondinenwitze usw. Übrigens sind die Ostfriesenwitze<br />

eine der wenigen Kategorien, in denen nachgewiesen werden konnte,<br />

woher sie kommen. Die Ostfriesenwitze kamen nämlich ursprünglich aus<br />

Dänemark: Sie waren in Dänemark zunächst einmal auf die Aarhus-Leute<br />

gemünzt. Ein Reporter des NDR hat meines Wissens damals dann einige<br />

dieser Witze übernommen: Sie sind also zunächst einmal über den<br />

Rundfunk verbreitet worden und haben sich dann, wie ich fast gesagt hätte,<br />

weltweit durchgesetzt. Das st<strong>im</strong>mt natürlich nicht, aber in Deutschland<br />

waren sie doch sehr verbreitet.<br />

Kastan: Haben Sie einen Lieblingswitz? Ich weiß natürlich, dass es schwierig ist,<br />

spontan einen Witz zu erzählen.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ich erzähle jetzt einen Witz nicht über die Ostfriesen, sondern über die<br />

Schwaben, den ich neulich gehört habe: Warum kaufen schwäbische<br />

Frauen keinen Tanga? Weil man daraus später keinen Putzlappen machen<br />

kann. Diesen Witz finde ich in vieler Hinsicht charmant, weil er mehrere<br />

D<strong>im</strong>ensionen hat. Erst einmal ist das sicherlich erneut ein Witz, der<br />

vermutlich von einem Badener erfunden worden ist. Es ist also dieser<br />

Stammesspott darin, wie man das früher genannt hat. Er ist aber auch<br />

insofern auf eine schöne Art tückisch, weil man als Antwort natürlich etwas<br />

hoch Erotisches erwartet bzw. Ablehnung von Erotik. In Wirklichkeit geht es<br />

aber um die Putzwut.<br />

Kastan: Er ist noch nicht einmal chauvinistisch, dieser Witz, denn ich hatte mir<br />

anfangs schon gedacht: "Na, was erzählt denn der <strong>Bausinger</strong> hier für einen<br />

Witz? Da könnte er möglicherweise Schwierigkeiten <strong>mit</strong> Frauen bekommen,<br />

die unsere Sendung sehen." Aber in diesem Fall haben Sie das doch richtig<br />

gut abgefedert.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ich bin allerdings schon der Meinung, dass auch viele der so genannten<br />

chauvinistischen Witze gar nicht so chauvinistisch sind.<br />

Kastan: Aber dürfte man die <strong>im</strong> Fernsehen erzählen?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Ja, das ist natürlich wieder eine andere Frage. Wahrscheinlich käme es<br />

darauf an, in welchem Sender man sie erzählen würde und wo dort die<br />

Grenzen sind. Denn manches Mal tauchen ja in der Tat Einwände und<br />

Einsprüche auf, wenn solche Witze erzählt werden. Aber ich denke, man<br />

sollte bei Witzen zunächst einmal davon ausgehen, dass es um die Komik<br />

geht und nicht um die Vernichtung oder um die Abqualifizierung von<br />

irgendjemandem. Nur, man braucht für die Komik halt <strong>im</strong>mer ein Opfer,<br />

man braucht einen Dummen. Das kann Klein-Erna sein: Das ist der Typus<br />

des kleinen Kindes, das noch nicht so genau Bescheid weiß. Das kann aber<br />

natürlich auch der dumme Schwabe oder der dumme Bayer sein. Da taucht<br />

dann in der Tat die Frage auf, ob man so etwas erzählen soll oder nicht.<br />

Kastan: Hauptsache, es verteilt sich gerecht. Und die Betroffenen selbst dürfen<br />

solche Witze natürlich <strong>im</strong>mer erzählen. Ich habe einen polnischen Kollegen<br />

und Freund, der die witzigsten Polenwitze erzählt. Aber ich selbst hätte<br />

durchaus Hemmungen, sie so offen zu erzählen, weil man mir best<strong>im</strong>mt<br />

sofort vorwerfen würde, dass das aber politisch nicht korrekt sei.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Es gibt, wie mir soeben einfällt, in diesem Zusammenhang eine Äußerung<br />

von Heinrich Böll. Er hat einmal zu einem polnischen Kollegen, der in<br />

Deutschland einen Vortrag gehalten hat, gesagt: "Erzähle bitte keinen Witz!"<br />

Der polnische Kollege fragte Böll daraufhin: "Ja, warum denn?" "Zunächst<br />

einmal lachen alle, aber spätestens nach ein paar Minuten meldet sich einer


und fragt, was du <strong>mit</strong> diesem Witz eigentlich hast sagen wollen." Das ist ja<br />

auch wieder so eine den Deutschen unterstellte Eigenart: Man kann<br />

angeblich lustige Dinge in Deutschland nicht auf sich beruhen lassen,<br />

sondern muss <strong>im</strong>merzu fragen, was das denn bedeute. Man will keinen<br />

Leichtsinn, sondern Tiefsinn. Der Tiefsinn wird also vermeintlich selbst dort<br />

noch verlangt, wo Witze erzählt werden.<br />

Kastan: Das ist auch der Grund dafür, warum Ironie in den elektronischen Medien<br />

oft nicht rüberkommt, nicht verstanden wird. Denn man macht sich oft<br />

einfach viel zu viele Gedanken und n<strong>im</strong>mt automatisch alles <strong>im</strong>mer sehr<br />

ernst. Das ist vielleicht auch so ein wenig eine typisch deutsche<br />

Eigenschaft, dass wir alles <strong>im</strong>merzu hinterfragen müssen.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Wobei bei der Ironie natürlich hinzukommt, dass sie – je nachdem – doch<br />

auch bereits gewisse Anforderungen stellt, Anforderungen an das<br />

Weltverständnis. Ich denke hier z. B. an die berühmte SPD-Werbung, die<br />

Staeck damals gemacht hat. Das war ein Plakat, auf dem ein Ferienhaus<br />

<strong>im</strong> Tessin zu sehen war. Darunter stand: "Arbeiter! Die SPD will euch eure<br />

Häuser <strong>im</strong> Tessin wegnehmen!"<br />

Kastan: Und das Ganze war auch noch in altdeutscher Schrift geschrieben.<br />

<strong>Bausinger</strong>: Genau. Aber die Arbeiter haben z. T. so darauf reagiert, dass sie gesagt<br />

haben: "Ich verstehe das gar nicht. Ich habe doch kein Haus <strong>im</strong> Tessin!" Die<br />

Ironie kam also nicht rüber. Ironie kann also <strong>mit</strong>unter gefährlich sein.<br />

Übrigens auch gegenüber Kindern. Ich muss mir hier auch selbst einiges<br />

vorwerfen. Ich bin nämlich <strong>mit</strong> meinen Kindern <strong>im</strong>mer sehr ironisch<br />

umgegangen. Das war aber nicht <strong>im</strong>mer richtig, weil das z. T.<br />

Beleidigungen waren für sie, ohne dass ich das auch nur irgendwie gewollt<br />

hätte.<br />

Kastan: Die Kinder können ja auch oft den Unterschied gar nicht feststellen, wann<br />

etwas ironisch und wann etwas ernst gemeint ist. Wie hat sich denn der<br />

Witz <strong>im</strong> Laufe der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte verändert?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Der Witz, so wie wir ihn heute verstehen, ist eigentlich eine relativ junge<br />

Erscheinung. Er hat sich erst <strong>im</strong> 19. Jahrhundert wirklich herausgebildet.<br />

Der Witz ist ja charakterisiert durch Kürze. Man kann ja eigentlich auch gar<br />

keine wirklich langen Witze erzählen. Und der Witz ist charakterisiert<br />

dadurch, dass am Ende eine ganz überraschende Pointe kommen muss: In<br />

dieser Pointe, in dieser Spitze liegt eigentlich der ganze Witz.<br />

Demgegenüber war es früher so gewesen, dass die Leute natürlich auch<br />

gelacht haben und sich lustige Geschichten erzählt haben, diese<br />

Geschichten aber durch behaglich erzählte Szenen und Bilder<br />

charakterisiert waren. Es gibt ein sehr schönes Beispiel, an dem man das<br />

klar machen kann, eine Geschichte, die bis heute <strong>im</strong> Laienspiel gelegentlich<br />

noch gespielt wird, ein <strong>Dr</strong>ama von Hans Sachs über einen fahrenden<br />

Studenten <strong>im</strong> Paradies. Diese Geschichte geht wahrscheinlich auf eine<br />

französische Dichtung zurück: Eine Frau verliert ihren Mann und kurz<br />

darauf trifft sie einen fahrenden Scholaren, also einen Studenten. Der<br />

Student erzählt, dass er aus Paris käme. Die Frau versteht jedoch<br />

"Paradies" und fragt ihn daher, ob sie ihm etwas für ihren verstorbenen<br />

Mann <strong>mit</strong>geben dürfe. Der Student n<strong>im</strong>mt das auch tatsächlich <strong>mit</strong>.<br />

Hinterher kommt es dann noch zu einer Erweiterung dieser Geschichte,<br />

indem er dem Sohn dieser Frau sogar noch das einzige Pferd <strong>im</strong> Haus<br />

abluchst. Charakteristisch ist diese Geschichte deshalb, weil diese<br />

Wortverwechslung zwischen Paris und Paradies zwar auch ein Witz ist –<br />

Witze beruhen ja oft auf Wortverwechslungen –, aber da<strong>mit</strong> beginnt diese<br />

Geschichte erst: Da<strong>mit</strong> fängt diese Geschichte erst an. Man spricht hier z.<br />

T. auch von Schwänken, von Schwankgeschichten, die ganz behaglich ihre<br />

Bilder ausmalen.<br />

Kastan: Ich habe gelesen, Sie halten an Ihrer alten Universität in Tübingen


gelegentlich noch Vorlesungen: z. B. <strong>mit</strong> Kindern und, in diesem Fall, über<br />

den Witz. Wir haben ja soeben schon kurz von der Schwierigkeit<br />

gesprochen, die Kinder be<strong>im</strong> Umgang <strong>mit</strong> Ironie haben. Wie kommen denn<br />

Witze bei Kindern an?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Sie kommen sehr gut an. Natürlich nicht alle Witze. Sie dürfen nicht zu<br />

raffiniert sein, sie dürfen also nicht drei Mal um die Ecke gehen. Und sie<br />

müssen nach Möglichkeit auch kindliche Erfahrungswelten berühren. Es<br />

gibt eine best<strong>im</strong>mte sehr banale Erfahrungswelt der Kinder, die die Kinder<br />

sofort zum Lachen bringt. Wenn ich z. B. einen Witz so anfange: "Da flog<br />

ein Mann in einem Flugzeug und in diesem Flugzeug gab es keine<br />

Toilette..." – dann gibt es bereits einen großen Jubel bei den Kindern, weil<br />

sie genau wissen, dass jetzt etwas "Unanständiges" kommt, etwas, das sie<br />

zu Hause bei Tisch so ohne Weiteres nicht erzählen dürfen. Diese<br />

Geschichte geht dann so weiter, dass er, nachdem dieser Mann sein<br />

Geschäft durch eine Luke <strong>im</strong> Boden des Flugzeugs erledigt hat, durch diese<br />

Luke hinterher ruft: "Kopf weg!" Die Leute unten auf dem Boden verstehen<br />

aber "Kotelett!" und sperren das Maul auf. Für Kinder ist das ein<br />

wunderbarer Witz. Das hängt natürlich da<strong>mit</strong> zusammen, dass da ein Tabu<br />

berührt wird, das für die Kinder alleine schon aufgrund ihres Lebensalters<br />

nicht so weit zurückliegt: Dieses Sauberkeitstraining, dem sie sich<br />

unterwerfen mussten, wird in diesem Witz quasi noch einmal<br />

zurückgenommen. Es gibt natürlich eine ganze Reihe solcher Witze.<br />

Kastan: Wie gehen die Kinder aber da<strong>mit</strong> um, wenn sie später an der Universität<br />

merken – wenn sie das Abitur geschafft haben und selbst zu studieren<br />

beginnen – , dass dort eigentlich überhaupt nicht mehr über Witze geredet<br />

wird?<br />

<strong>Bausinger</strong>: In unserem Fach wird ja weiterhin über Witze geredet. Da besteht dann<br />

höchstens die Gefahr, dass Tausende von Kindern eines Tages unser Fach<br />

als Studienfach wählen.<br />

Kastan: Sind Kinder eigentlich die besseren Zuhörer?<br />

<strong>Bausinger</strong>: Nein, das würde ich so nicht sagen. Diese Kinder-Uni hat ja ihren Ausgang<br />

von Tübingen genommen und ist heute eigentlich bereits <strong>im</strong> ganzen<br />

Bundesgebiet verbreitet. Sie ist erfunden worden von zwei Journalisten: Sie<br />

haben sich an die Universität gewandt, der Rektor der Universität war sofort<br />

einverstanden und sie haben dann eine Reihe von <strong>Prof</strong>essoren angeheuert,<br />

die entsprechende Vorlesungen gehalten haben. Da ging es aber nicht nur<br />

um Witze, sondern da ging es um viele, viele Warum-Fragen: Warum<br />

speien Vulkane Feuer? Warum gibt es Arme und Reiche? Warum müssen<br />

Menschen sterben usw.? Man kann sagen, dass wirklich ein großer Teil<br />

des Spektrums der universitären Lehre in diesen Kindervorlesungen <strong>mit</strong> drin<br />

gewesen ist, die natürlich möglichst einfach gestaltet werden mussten.<br />

Kastan: Und Sie haben Antworten auf die Warum-Fragen der Kinder gegeben. Ich<br />

kann Ihnen nur sagen, dass Sie auch viele Antworten auf meine Fragen<br />

gegeben haben. Dafür bedanke ich mich sehr, sehr herzlich. Das war das<br />

Alpha-Forum <strong>mit</strong> <strong>Prof</strong>essor <strong>Hermann</strong> <strong>Bausinger</strong>, der als<br />

<strong>Kulturwissenschaftler</strong> nicht nur Witzeexperte ist.<br />

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