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- 1 - Mythologie und Philosophie: Esoterik und Exoterik der „neuen ...

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<strong>Mythologie</strong> <strong>und</strong> <strong>Philosophie</strong>: <strong>Esoterik</strong> <strong>und</strong> <strong>Exoterik</strong> <strong>der</strong> <strong>„neuen</strong> <strong>Mythologie</strong>―<br />

Hitoshi TANAKA<br />

In diesem Beitrag geht es um die Beziehung <strong>der</strong> <strong>Mythologie</strong> zur <strong>Philosophie</strong> in Friedrich<br />

Schlegels Schriften <strong>und</strong> Vorlesungen von 1797 bis 1805.<br />

Schlegel unterscheidet in Geschichte <strong>der</strong> Poesie <strong>der</strong> Griechen <strong>und</strong> Römer (1798) zwei<br />

verschiedene <strong>Mythologie</strong>n <strong>der</strong> Griechen: Die eine, die keine Idee vom „Unendlichen― kannte <strong>und</strong><br />

daher <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> fremd blieb, sei in den homerischen wie hesiodischen Epen zu finden,<br />

während die an<strong>der</strong>e, die aus <strong>der</strong> Mystik stammte, die Ahnung des „Unendlichen― in Dichtungen <strong>und</strong><br />

Mysterien symbolisch dargestellt habe <strong>und</strong> die Quelle <strong>der</strong> griechischen <strong>Philosophie</strong> geworden sei.<br />

Die griechische Mystik hat angeblich in <strong>der</strong> „orphischen Vorzeit― ihren Ursprung, obwohl sie<br />

Schlegel zufolge in <strong>der</strong> Entstehungszeit des Republikanismus, also erst nach <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong><br />

epischen Poesie Homers <strong>und</strong> Hesiods von Priestern erf<strong>und</strong>en wurde. Die Mystik wird von Schlegel<br />

insofern getadelt, als sie ihre wahre Lehre esoterisch nur wenigen „Geweihten― vorbehalten <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit bloß symbolische Andeutungen gegeben habe. In diesem Zusammenhang erscheint<br />

bemerkenswert, dass er einerseits in Geschichte <strong>der</strong> Poesie <strong>der</strong> Griechen <strong>und</strong> Römer auf die innige<br />

Verwandtschaft <strong>der</strong> sokratischen Ironie mit <strong>der</strong> antiken Mystik in <strong>der</strong> „geheimen― <strong>und</strong><br />

„dunklen― Ausdrucksweise hinweist, obgleich er an<strong>der</strong>erseits in den Lyceums-Fragmenten (1797)<br />

die sokratische Ironie so darstellt, dass in ihr gleichzeitig „alles treuherzig offen, <strong>und</strong> alles tief<br />

verstellt― sei <strong>und</strong> sie „ein Gefühl von dem unauflöslichen Wi<strong>der</strong>streit [...] <strong>der</strong> Unmöglichkeit <strong>und</strong><br />

Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung― enthalte <strong>und</strong> errege. 1 In dieser wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />

Formulierung hebt Schlegel die Eigentümlichkeit <strong>der</strong> sokratischen Ironie hervor, die trotz ihrer<br />

Herkunft aus <strong>der</strong> Mystik keine Trennung des Esoterischen vom Exoterischen mehr kennt <strong>und</strong> beim<br />

Versuch, das Undarstellbare darzustellen, die Undarstellbarkeit selbst in <strong>der</strong> Mischung von<br />

„Ernst― <strong>und</strong> „Scherz― zum Ausdruck bringt. Schlegel begreift die ironische Sprachpraxis nicht nur<br />

als „logische Schönheit―, also eine hervorragende philosophische Methode, son<strong>der</strong>n als ein<br />

1<br />

Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jaques<br />

Anstett u. Hans Eichner. Pa<strong>der</strong>born u.a. (Schöningh) 1958ff. Bd. 2, S. 160.<br />

- 1 -


Gestaltungsprinzip des poetischen Textes, das die Poesie „bis zur Höhe <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

erheben― kann. Die sokratische Ironie solle also Poesie <strong>und</strong> <strong>Philosophie</strong> vereinigen.<br />

Diese Tendenz zur Einheit von <strong>Esoterik</strong> <strong>und</strong> <strong>Exoterik</strong> (entsprechend <strong>der</strong> Einheit von <strong>Philosophie</strong><br />

<strong>und</strong> Poesie) kennzeichnet auch das Konzept <strong>der</strong> <strong>„neuen</strong> <strong>Mythologie</strong>― in <strong>der</strong> Rede über die<br />

<strong>Mythologie</strong>, die im Gespräch über die Poesie (1800) von einem Gesprächspartner namens Ludoviko<br />

gehalten wird. Im Gespräch weist die Bezugnahme nicht nur auf Spinoza <strong>und</strong> Jacob Böhme,<br />

son<strong>der</strong>n auch auf „die Eleusinischen Mysterien― <strong>und</strong> „das orphische Fragment― darauf hin, dass<br />

Schlegel unter <strong>der</strong> <strong>„neuen</strong> <strong>Mythologie</strong>― ein Unternehmen versteht, in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne aus <strong>der</strong><br />

<strong>Philosophie</strong> die Mystik wie<strong>der</strong> herzustellen, also die Umkehrung jenes Prozesses, in dem aus <strong>der</strong><br />

antiken Mystik die griechische <strong>Philosophie</strong> hervorgetreten war. In <strong>der</strong> <strong>„neuen</strong> <strong>Mythologie</strong>― soll aber,<br />

im Gegensatz zur antiken Trennung des Esoterischen <strong>und</strong> Exoterischen, die philosophische Lehre<br />

des Idealismus, die aus <strong>der</strong> Rückkehr des Geistes in sich selbst herkommt, mit <strong>der</strong> poetischen<br />

Natursymbolik des Realismus, die aus seinem Heraustreten aus sich entsteht <strong>und</strong> „ein erstes<br />

Ursprüngliches <strong>und</strong> Unnachahmliches― andeutet, verb<strong>und</strong>en werden.<br />

Im Konzept <strong>der</strong> <strong>„neuen</strong> <strong>Mythologie</strong>― ist dabei jedoch eine Ambivalenz anzutreffen: Ludoviko<br />

bestimmt sie einerseits als Produkt <strong>der</strong> wechselseitigen Ergänzung <strong>der</strong> Kreativität <strong>der</strong> autonomen<br />

Künstler <strong>und</strong> verlangt von seinen Fre<strong>und</strong>en unbeschränkte Entwicklung ihrer „Individualität― <strong>und</strong><br />

„Originalität―; er fühlt an<strong>der</strong>erseits „den geistigen Hauch [<strong>der</strong> neuen <strong>Mythologie</strong>] wehen― bloß „in<br />

<strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Fre<strong>und</strong>e―, also in einem kleinen intimen Kreis genialer Künstler, nicht in <strong>der</strong><br />

literarischen Öffentlichkeit. Diese Ambivalenz <strong>der</strong> <strong>„neuen</strong> <strong>Mythologie</strong>― ergibt sich daraus, dass die<br />

Sprachpraxis <strong>der</strong> Jenaer Frühromantik, die, <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Einheit von <strong>Esoterik</strong> <strong>und</strong> <strong>Exoterik</strong> ebenso<br />

wie von <strong>Philosophie</strong> <strong>und</strong> Poesie folgend, Formen wie Ironie, Witz <strong>und</strong> Fragment verwandte, von<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit abgelehnt wurde, so dass es ihr nicht gelang, ihre Ambition einer breiteren<br />

Zugänglichkeit zu verwirklichen.<br />

Dieser Konflikt <strong>der</strong> Romantiker mit <strong>der</strong> Öffentlichkeit wird im sarkastischen Essay Über die<br />

Unverständlichkeit (1800) dokumentiert. Dort verteidigt sich Schlegel emphatisch gegen die Kritik<br />

an <strong>der</strong> „Unverständlichkeit― <strong>der</strong> Ironie <strong>und</strong> erwartet in <strong>der</strong> Zukunft Leser, „die lesen können―, d.h.<br />

die die Unverständlichkeit des Textes anerkennen <strong>und</strong>, wie es im Lyceums-Fragment Nr. 20 heißt,<br />

- 2 -


„immer mehr draus lernen wollen―. 2<br />

Dass <strong>und</strong> wie er aus dieser Feindschaft mit <strong>der</strong> literarischen Öffentlichkeit zu entkommen<br />

versucht, zeigt sich in den Vorlesungen nach <strong>der</strong> Auflösung <strong>der</strong> Romantikerkreis (1801) <strong>und</strong> in<br />

seiner folgenden Wende zum Katholizismus.<br />

Den Artikel Literatur (1803) in <strong>der</strong> Zeitschrift Europa schrieb er noch nach <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> <strong>„neuen</strong><br />

<strong>Mythologie</strong>―: Er unterscheidet hier zwar die „esoterische Poesie― von <strong>der</strong> „exoterischen―, aber er<br />

beschäftigt sich immer noch mit <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Einheit von <strong>Philosophie</strong> <strong>und</strong> Poesie, <strong>und</strong> das<br />

„Esoterische― bezieht sich nur auf die relativen Verständnisschwierigkeiten eines solchen<br />

Sprachexperiments im Vergleich zur Anschaulichkeit des Dramas, also nicht auf das Verbergen <strong>der</strong><br />

wahren Lehre vor dem Publikum, wie er es früher in <strong>der</strong> griechischen Mystik kritisierte.<br />

Das Begriffspaar „esoterisch / exoterisch― bekommt dann in den Vorlesungen über die<br />

Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> (1804-05) aber eine an<strong>der</strong>e Bedeutung. Hier argumentiert Schlegel,<br />

dass <strong>der</strong> philosophische Idealismus, <strong>der</strong> „eine Stärke des Geistes <strong>und</strong> Lebendigkeit <strong>der</strong><br />

Einbildungskraft― voraussetze, „die nur selten anzutreffen― sei, 3 vor dem Volk geheim gehalten<br />

werden müsse, um „Missverständnisse <strong>und</strong> Missverhältnisse― zu vermeiden (in diesem<br />

Zusammenhang besteht er auch darauf, Laien vom Zugang zu den Heiligen Schriften<br />

auszuschließen). Aus diesem Gr<strong>und</strong> führt er die Unterscheidung <strong>der</strong> esoterischen <strong>und</strong> exoterischen<br />

<strong>Philosophie</strong> ein: Unter <strong>der</strong> exoterischen <strong>Philosophie</strong> versteht Schlegel die Poesie als „<strong>Mythologie</strong>―,<br />

die mit Sinnbil<strong>der</strong>n „die Anlage zum Idealismus vorbereitet―. 4 Er schreibt also nun gegenüber <strong>der</strong><br />

<strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> Poesie eine lediglich zweitrangige Relevanz <strong>der</strong> Verkleidung <strong>und</strong> Vorbereitung zu.<br />

Eine scharfe Trennung von <strong>Esoterik</strong> <strong>und</strong> <strong>Exoterik</strong> ebenso wie von <strong>Philosophie</strong> <strong>und</strong> Poesie wird<br />

auch in den Vorlesungen über die Wissenschaft <strong>der</strong> europäischen Literatur (1803-04) vollzogen: Die<br />

philosophische Sprache <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>, die das Unendliche bestimmt bezeichnen soll, müsse<br />

immer unvollkommen „im ewigen Streben― bleiben, während die poetische Sprache, die es nur<br />

andeutet, „sehr verständlich― sein. 5<br />

Von diesem Standpunkt aus schätzt Schlegel in <strong>der</strong> griechischen <strong>Philosophie</strong> nun nicht sowohl die<br />

sokratische Ironie als vielmehr den pythagoreischen B<strong>und</strong> hoch ein, weil dieser die Hierarchie <strong>der</strong><br />

2 A. a. O. Bd. 2, S. 149<br />

3 A. a. O. Bd. 13, S. 58.<br />

4 A. a. O. S. 61.<br />

5 A. a. O. Bd. 11, S. 99.<br />

- 3 -


christlichen Kirche vorweggenommen <strong>und</strong> um die Verbreitung seiner Lehre willen auch Symbolik<br />

eingesetzt habe.<br />

Aus meiner Untersuchung lässt sich <strong>der</strong> Schluss ziehen, dass Friedrich Schlegels Wende zum<br />

Katholizismus als das Unternehmen zu verstehen ist, durch den Verzicht auf die frühromantische<br />

Idee <strong>der</strong> vereinigten <strong>Esoterik</strong> <strong>und</strong> <strong>Exoterik</strong> <strong>und</strong> durch die Rehabilitierung <strong>der</strong> kirchlichen Hierarchie<br />

(auf den ersten Blick paradoxerweise) die Kluft zwischen ihm <strong>und</strong> <strong>der</strong> literarischen Öffentlichkeit<br />

zu überwinden.<br />

Die Tragödie für die Gerechtigkeit<br />

Das goldene Vließ von Franz Grillparzer<br />

- 4 -<br />

Yuichi ABE<br />

Während über das Theater von Äschylus <strong>und</strong> Sophokles die Götter <strong>und</strong> das Schicksal herrschen,<br />

geraten bei Euripides die Menschen miteinan<strong>der</strong> in Konflikt <strong>und</strong> leiden seelisch, so dass sie wegen<br />

ihrer ungestümen Leidenschaften in die Katastrophe gestürzt werden. In seiner Medea lässt er es<br />

wegen des zu starken Gerechtigkeitsgefühls <strong>der</strong> Heldin bis zum Äußersten kommen. Sie rächt sich<br />

für seinen Verrat an ihrem Gatten Jason durch die Ermordung seiner Braut Kreusa wie auch ihrer<br />

eigenen Kin<strong>der</strong>, <strong>und</strong> fliegt dann als „deus ex machina― mit dem Drachenwagen weg. Auf dem<br />

Boden <strong>der</strong> griechischen Antike symbolisiert Medea jetzt die Mutter Erde, die etwas gebiert <strong>und</strong><br />

wie<strong>der</strong> tötet. Aber in nachantiker Zeit, wo man nicht mehr an diese Logik geb<strong>und</strong>en ist, muss man<br />

durch menschliche Konflikte zeigen, warum Medea den Kin<strong>der</strong>mord verüben musste.<br />

Die Argonauten-Legende beginnt mit dem Abenteuer, dass Jason <strong>und</strong> seine Leute eine große<br />

Seefahrt nach Kolchis machen, um dort das geraubte Vließ nach Griechenland zurückzuholen. Aber<br />

außer Grillparzer hat wahrscheinlich kein an<strong>der</strong>er Dramatiker das Vließ auf <strong>der</strong> Bühne gezeigt.<br />

Jasons Onkel Phryxus bringt es mit dem Orakel „Nimm Sieg <strong>und</strong> Rache hin!― von Delphi nach<br />

Kolchis. Die Bedeutung des Orakels bleibt ein Rätsel, bis die Katastrophe eingetreten ist;<br />

ebensowenig wird die Bedeutung des Vließes klar. Es irrt zwar das Menschenherz wie eine Art<br />

Nibelungenhort <strong>und</strong> begleitet als ein sinnliches Zeichen die Begebenheiten, verursacht sie aber


nicht. Man kann also annehmen, dass es Humanität, Gewissen o<strong>der</strong> gar die Menschenseele<br />

schlechthin symbolisiert; es funktioniert wie ein Prisma, das jedes Menschenherz reflektiert.<br />

Grillparzer dramatisierte den Verlauf eines Menschenlebens, weil er es vermutlich für nötig hielt,<br />

die Unglaubwürdigkeiten in einem langen Leben zu beschreiben, damit die Handlung überzeugend<br />

wirkt, die auf den Kin<strong>der</strong>mord hinausläuft. Deswegen wählte <strong>der</strong> Dichter die Form <strong>der</strong> Trilogie,<br />

obwohl er dachte, sie sei „fehlerhaft― für ein Drama.<br />

Nach einer Notiz des Autors stellt das Stück dar, „dass <strong>der</strong> Mensch in seiner Jugend sucht, was er<br />

im Alter nicht brauchen kann―, wie Jason sich auf seinem Lebensweg än<strong>der</strong>t, während Medea<br />

immer dieselbe bleibt. Die Begegnung <strong>der</strong> beiden ist für sie ein zwangsläufiges Schicksal, <strong>und</strong><br />

Medea erfindet die Parole: „Ein Haus, Ein Leib <strong>und</strong> Ein Ver<strong>der</strong>ben!― Obwohl sie mit Jason nach<br />

Korinth geht, soll <strong>der</strong> sich mit <strong>der</strong> dortigen Prinzessin Kreusa vermählen <strong>und</strong> sich von Medea<br />

scheiden lassen. Er will das auch, aber Medea verlangt von ihm <strong>und</strong> sich selbst Sittlichkeit, weil sie<br />

sich des von ihnen begangenen Frevels bewusst ist. Jason will aus <strong>der</strong> Gegenwart ausbrechen <strong>und</strong><br />

Medea besteht auf <strong>der</strong> Gegenwart.<br />

Wie Euripides sich in seiner Medea kurz vor dem Beginn des Peloponnesischen Krieges über die<br />

sich allmählich verschlechternden Verhältnisse in Athen Gedanken machte, war Grillparzer in<br />

seinem Goldenen Vließ über die politischen <strong>und</strong> sozialen Krisen in Österreich besorgt. Z. B.<br />

verurteilt <strong>der</strong> Herold <strong>der</strong> Amphiktyonen Medea ganz diktatorisch zur Verbannung <strong>und</strong> sie darf kein<br />

Plädoyer halten. Das entspricht <strong>der</strong> Vormärzsituation in Österreich, wo die Zensur keine freie<br />

Meinungsäußerung erlaubt. Damals gewann auch <strong>der</strong> Nationalismus allmählich immer mehr<br />

Einfluss. Man könnte daraus folgern, dass Grillparzer mit <strong>der</strong> Ermordung <strong>der</strong> Kreusa <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Brandstiftung von Medea die Vorahnung einer Revolution hatte. Der Kin<strong>der</strong>mord deutet an, dass die<br />

Revolution etwas Bestialisches ist <strong>und</strong> auch die Revolutionäre auf große Opfer vorbereitet sein<br />

müssen.<br />

Im Stück von Grillparzer gibt es sexistische Szenen, <strong>und</strong> auch in Euripides’ Stück wird über das<br />

gebieterische Verhalten <strong>der</strong> Männer <strong>und</strong> das jammervolle Leben <strong>der</strong> Frauen geklagt. Im letzten<br />

Viertel des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts begann die hohe Zeit <strong>der</strong> Mutterliebe <strong>und</strong> die gesellschaftliche<br />

- 5 -


Repression <strong>der</strong> Mutterliebe hatte sich um 1820 recht gesteigert, als die absolute Liebe <strong>der</strong> Mutter<br />

zum Kind dogmatisiert <strong>und</strong> die negativen Impulse gegen Kin<strong>der</strong> stark tabuisiert wurden (Renate<br />

Böschenstein). Dadurch, dass im dritten Aufzug <strong>der</strong> Medea die Kin<strong>der</strong> sich von <strong>der</strong> Mutter<br />

abkehren, stellt <strong>der</strong> Autor die Mutterliebe in Frage <strong>und</strong> macht den Kin<strong>der</strong>mord durch die Mutter<br />

möglich <strong>und</strong> glaubwürdig.<br />

Die zweite Hälfte des fünften Aufzugs <strong>der</strong> Medea, wo nur die beiden, Medea <strong>und</strong> Jason, auf <strong>der</strong><br />

Bühne stehen, ist ein kleines Nachspiel wie die Schlussmoral eines Märchens, die das Resümee <strong>der</strong><br />

langen Geschichte zieht. Medea trägt das Vließ um ihre Schultern <strong>und</strong> sagt, sie werde es nach<br />

Delphi zurückgeben, von wo es von Phryxus weggenommen wurde, um sich dem Urteil <strong>der</strong> Priester<br />

zu stellen. Medea hat sich an Jason gerächt <strong>und</strong> ihn besiegt; zugleich wurde sie selbst besiegt <strong>und</strong> an<br />

ihr Rache geübt, aber von wem <strong>und</strong> warum? Darüber kann schließlich kein Mensch Bescheid<br />

wissen. Deshalb geht sie nach Delphi. Sie behauptet, man muss leiden, um zu leben, was auch die<br />

Behauptung des Autors ist. Medea, die menschliche Qualen überw<strong>und</strong>en hat, wird zur tragischen<br />

Vertreterin <strong>der</strong> Gerechtigkeit eines nichtkirchlichen, säkularisierten Christentums (Karl Kerényi).<br />

Als sie spricht: „Was ist <strong>der</strong> Erde Glück? ― Ein Schatten! / Was ist <strong>der</strong> Erde Ruhm? ― Ein<br />

Traum! / Du Armer! Der von Schatten du geträumt!―, ist die Rede nicht nur von einem<br />

bie<strong>der</strong>meierlichen Topos. Darin steckt das wichtigste Ideal für Grillparzer: „einen Gott denken―, d.<br />

h. in frommer Andacht einfach zu Gott beten, was in <strong>der</strong> abendländischen Bürgergesellschaft des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts fast unmöglich wurde, weil seit Luther die Religion keine ehrwürdige Gewohnheit<br />

mehr hatte werden können. Deswegen können das Ideal nur die Erwählten wie Medea o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

arme Spielmann aus <strong>der</strong> gleichnamigen Novelle von Grillparzer verwirklichen, die sich jedoch nicht<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft anpassen können. Damit aber wenigstens die damaligen Bürger sich eine<br />

vernünftige christliche Moral durch das „Recht― aneignen, das als Gegenteil von<br />

„Frevel― anzunehmen ist, muss man dem kategorischen Imperativ Medeas folgen <strong>und</strong> dulden. Das<br />

soll die Gerechtigkeit in <strong>der</strong> christlichen Moral sein. Als Grillparzer sich mit dem kühnen Entwurf<br />

des Dramas trug, gerade Medea diese Moral sprechen zu lassen, wurde die Medea-Legende zur<br />

Tragödie für die Gerechtigkeit wie<strong>der</strong>geboren.<br />

- 6 -


„Literatur stört, verstört― 6<br />

-Günter Grass: Im Krebsgang-<br />

Tomotaka OKAYAMA<br />

„Wir erfahren alles, was zu diesem Schauerstück des Krieges zu erfahren nötig ist.― So<br />

kommentierte Rudolf Augstein im SPIEGEL (6/2002) ein Buch. Man würde annehmen, dass es sich<br />

hierbei um ein historisches Sachbuch handelt, doch dieser Kommentar galt Günter Grass’ Novelle<br />

Im Krebsgang (2002). Mit „Schauerstück des Krieges― meint Augstein, wie bekannt, den Untergang<br />

des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff, das vor Ende des Zweiten Weltkrieges von einem<br />

sowjetischen U-Boot torpediert <strong>und</strong> mit nahezu 10000 Menschen an Bord versenkt wurde. Es ist,<br />

wenn auch nicht in so naiver Weise wie Augstein es tat, dennoch festzustellen, dass die Novelle<br />

hauptsächlich im Hinblick auf dieses Thema, nämlich die Flucht <strong>und</strong> Vertreibung <strong>der</strong> Deutschen<br />

gegen Ende des Krieges, rezipiert wurde. Es stand also weniger die literarisch-ästhetische Qualität<br />

des Werkes als vielmehr das historische Ereignis im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Rezeption. Hier hingegen soll<br />

die für dieses Werk typische Erzählweise des „Krebsganges― näher untersucht werden, die eine<br />

vorweggenommene Antwort Grass’ auf die erst erfolgende Rezeption seiner Novelle zu verkörpern<br />

scheint.<br />

Die Novelle besteht hauptsächlich aus drei Erzählsträngen. Der erste Strang handelt vom<br />

Untergang <strong>der</strong> Wilhelm Gustloff als historisches Ereignis. Im zweiten Strang geht es um die<br />

Nachwirkung des Untergangs <strong>der</strong> Wilhelm Gustloff in den beiden deutschen Staaten nach dem Krieg<br />

bis zur unmittelbaren Gegenwart im nun vereinten Deutschland. Eine große Bedeutung kommt dem<br />

dritten Strang zu, <strong>der</strong> sich von den beiden an<strong>der</strong>en abhebt, indem hier ein Gespräch zwischen dem<br />

Erzähler <strong>und</strong> seinem „Auftraggeber― (<strong>der</strong> deutliche Züge von Grass trägt) über den „Bericht―, den<br />

<strong>der</strong> Erzähler über den Untergang <strong>der</strong> Wilhelm Gustloff verfassen soll, stattfindet. Durch diese<br />

Außenperspektive, die das Erzählte wie<strong>der</strong> relativiert, wird <strong>der</strong> Leser darauf aufmerksam gemacht,<br />

dass die Art des Erzählens, nämlich das Reflektieren <strong>und</strong> Infragestellen das Wesentliche <strong>der</strong> Novelle<br />

6<br />

Günter Grass: Der lesende Arbeiter. In: Günter Grass. Werkausgabe in 18 Bänden. (Hg.) Volker<br />

Neuhaus <strong>und</strong> Daniela Hermes. Göttingen (Steidl), Bd.15, S.380.<br />

- 7 -


ausmacht. Diese drei Erzählstränge werden in dem Werk eng miteinan<strong>der</strong> verwoben. Grass nennt<br />

diese Erzählweise „im Krebsgang.― Gemeint ist damit eine umständliche Erzählweise, die nicht<br />

geradlinig verläuft, son<strong>der</strong>n immer wie<strong>der</strong> in Nebenwege ausschert, d.h. zeitlich unterschiedliche<br />

Geschichten werden aneinan<strong>der</strong>gereiht. Grass hat diesen Begriff bereits ein paar Mal in seinen<br />

Werken <strong>und</strong> Reden benutzt. In einer Rede über die „Schwierigkeiten eines Vaters, seinen Kin<strong>der</strong>n<br />

Auschwitz zu erklären,― erzählt Grass wie er den „Krebsgang― üben muss, weil „immer wie<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />

abermals vor einer hinreichenden Erklärung weiterer Anlaß [liegt], noch mehr Ursachen zu<br />

nennen.― Daraus wird erkennbar, dass sich in <strong>der</strong> gebrochenen Erzählweise des<br />

„Krebsganges― Grass’ Erkenntnis von <strong>der</strong> Vielschichtigkeit <strong>der</strong> Vergangenheit wi<strong>der</strong>spiegelt, <strong>und</strong><br />

zwar insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> tiefgreifenden <strong>und</strong> komplexen Problematik <strong>der</strong> Bearbeitung dessen, was mit<br />

dem Wort „Auschwitz― umschrieben wird, welche schließlich gewissermaßen zu einer<br />

„Tabuisierung― des Themas Flucht <strong>und</strong> Vertreibung geführt habe.<br />

Bei dem Erzähler handelt es sich um den Journalisten Paul Pokriefke <strong>der</strong> sog. 68er Generation.<br />

Er ist ein Opportunist, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Vergangenheit zuerst für die „Springer-Zeitung― <strong>und</strong> dann für die<br />

„taz― schrieb. Diesem charakteristischen Merkmal entsprechend, ist auch sein Erzählen von<br />

„Schwankungen― gekennzeichnet. Es oszilliert zwischen objektiven Berichten <strong>und</strong> direkten<br />

subjektiv eingefärbten Kommentaren. Außerdem sind an mehreren Stellen Schwankungen in Bezug<br />

auf die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen zu erkennen. Diese Charakterisierung des Erzählers, die<br />

einen geradlinigen Erzählverlauf deutlich wahrnehmbar verhin<strong>der</strong>t, wird somit zur Vorraussetzung<br />

für die Erzählstrategie des „Krebsganges.―<br />

Auf <strong>der</strong> Handlungsebene wird anhand <strong>der</strong> frei erf<strong>und</strong>enen Drei-Generationen-Familie <strong>der</strong><br />

heutige Umgang mit einem vorgeblich lange tabuisierten Bereich <strong>der</strong> deutschen Vergangenheit<br />

erzählt. Doch geht es hier nicht bloß darum darzustellen was für Probleme es beim Umgang mit <strong>der</strong><br />

Vergangenheit gibt. Beobachtet man die Protagonisten, so ist festzustellen, dass sie für den Leser<br />

schwer fassbar sind. Konny ist zwar <strong>der</strong> Täter, <strong>der</strong> Wolfgang umbringt, aber er ist auch ein Opfer<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft, in <strong>der</strong> er lebt. Sein Kopf ist voll von rechtsradikalem Gedankengut, doch sein<br />

ruhiges Verhalten <strong>und</strong> die Tatsache, dass er ein intelligenter Schüler ist, wi<strong>der</strong>setzen sich <strong>der</strong><br />

gängigen Vorstellung eines „Skinheads.― Das gleiche gilt auch für Tulla. Auch sie ist nicht eindeutig<br />

zu bestimmen. Indem auf diese Weise bewusst verschiedene Stereotypen des bisherigen<br />

- 8 -


Vergangenheitsdiskurses auseinan<strong>der</strong>genommen werden, for<strong>der</strong>t die Novelle den Leser nicht nur zu<br />

distanziertem <strong>und</strong> aufmerksamem Lesen auf, son<strong>der</strong>n hinterfragt gleichzeitig die schablonenhaften<br />

Denkmodelle des bisherigen Vergangenheitsdiskurses. Ein gutes Beispiel dafür stellt die<br />

Gerichtsszene dar. Die Verhandlungen beginnen damit, dass die Erwachsenen Gründe für Konnys<br />

mögliches Tatmotiv suchen. Doch ratlos darüber, was Konny zur Tat bewogen hat, können sie nur<br />

bereits abgenutzte Erklärungen heranziehen. Auf diese Weise wird das Gericht über Konny zum<br />

Gericht über die Erwachsenen, <strong>der</strong>en Denken im bisherigen Vergangenheitsdiskurs verfangen <strong>und</strong><br />

von Stagnation gekennzeichnet ist.<br />

Im Krebsgang ist somit keineswegs „die― Novelle des Tabubruchs eines lange Zeit gemiedenen<br />

Themas. Durch die umständliche <strong>und</strong> weit ausscherende Erzählweise des „Krebsganges,― die „stört,<br />

verstört,― wird solch eine Leseweise, die zu einem vorschnellen Urteil verführt, geradezu kritisiert.<br />

Vielmehr ermöglicht gerade diese Erzählweise des „Krebsganges― dem Leser, eigene Erinnerungen,<br />

offizielle Geschichtsbil<strong>der</strong> <strong>und</strong> den vorherrschenden Vergangenheitsdiskurs kritisch zu hinterfragen<br />

<strong>und</strong> so seinerseits in einen Dialog mit dem Text einzutreten.<br />

Die Zeit, wenn die „an<strong>der</strong>e Welt― sich auftut<br />

- Zur Beziehung zwischen <strong>der</strong> Rattenfängersage von Hameln <strong>und</strong> dem Glauben von <strong>der</strong><br />

Sommersonnenwende -<br />

- 9 -<br />

Yuichi MIZOI<br />

„Der Rattenfänger von Hameln― ist eine <strong>der</strong> bekanntesten Sagen aus Deutschland. Nach den<br />

„Deutsche Sagen“ (1816) <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong> Grimm entführte ein von den Bürgern betrogener Pfeifer im<br />

Jahr 1284 am Tag Johannes <strong>und</strong> Paulus (26. Juni) eine Anzahl von Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> verschwand mit<br />

ihnen im Loch eines Berges, während die älteren Sagen aus dem 13.-15. Jahrh<strong>und</strong>ert nicht die<br />

Rattenplage von Hameln, son<strong>der</strong>n nur die Kindesentführung durch den Pfeifer erwähnen.<br />

Unter <strong>der</strong> Voraussetzung, dass es sich bei <strong>der</strong> Sage um ein geschichtliches Ereignis handelt, hat<br />

man bisher bezüglich <strong>der</strong> „wahren Begebenheit― manche Hypothese aufgestellt wie die


Kriegstheorie, die den Jungenverlust <strong>der</strong> Schlacht bei Sedemünde um 1260 zuschreibt (C. F. Fein<br />

1749), die Ostkolonisationstheorie (W. Wann 1984), die den Jungenauszug <strong>der</strong> Sage auf die<br />

Immigration zur Besiedlung Mährens zurückführt, o<strong>der</strong> die Katastrophentheorie (W. Woeller 1961),<br />

nach <strong>der</strong> die in Panik geratenen Kin<strong>der</strong> am 26. Juni 1284 in einem Teich vesunken seien.<br />

Doch die Forscher, die verschiedene Hypothesen vom Verschwinden <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> aufstellten,<br />

scheinen eine wichtige Frage nicht ausreichend beantwortet zu haben: Warum entwickelte sich ein<br />

geschichtliches Ereignis zu einer so eindrucksvollen Sage <strong>und</strong> wurde bis Ende <strong>der</strong> Neuzeit<br />

nacherzählt? Im Mittelalter gab es noch an<strong>der</strong>e merkwürdige Kin<strong>der</strong>auszüge, etwa <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong>kreuzzug von Köln (1212) o<strong>der</strong> die Kin<strong>der</strong>tanzwut von Erfurt (1237). Doch diese Ereignisse<br />

entwickelten sich nicht zur Sage.<br />

Meines Erachtens spielte bei <strong>der</strong> Bildung <strong>der</strong> Rattenfängersage vielmehr <strong>der</strong> Volksglauben von<br />

<strong>der</strong> Sommersonnenwende (24. Juni, Johannistag) eine große Rolle. Denn in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong><br />

Sommersonnenwende – so glaubten die Leute früher – tauchen die verschiedensten Dämonen auf<br />

<strong>und</strong> locken die Menschen in ihre Welt, während sich die Unterwelt in den Bergen öffnet. Wie A.<br />

Feilhauer (2000) bemerkt, galt <strong>der</strong> Johannistag, an dem das große Fest früher gefeiert wurde, nicht<br />

nur als heiliger Tag, son<strong>der</strong>n auch als gefährlicher Tag, denn nach dem alten Volksglauben verlangt<br />

<strong>der</strong> heilige Johannes an diesem Tag drei Opfer.<br />

Manche Sagen, die über Ereignisse am Johannistag bzw. an <strong>der</strong> Zeit von <strong>der</strong><br />

Sommersonnenwende erzählen, spiegeln diesen Glauben wi<strong>der</strong> <strong>und</strong> beschreiben auch <strong>der</strong><br />

Rattenfängersage ähnliche Geschichten, zum Beispiel: Zwei Mädchen gingen am Johannistag zu<br />

einem Berg <strong>und</strong> begegneten dort einer schwarzen Frau, die sie in ein Erdloch lockt (A. Kuhn /<br />

W.Schwartz, 1848); o<strong>der</strong> es soll ein Schäfer am Johannistag zum Berg gegangen <strong>und</strong> dort samt<br />

seinen Schafen im Erdboden versunken sein (J. D. H. Temme, 1840). Trotzdem scheint mir, dass es<br />

noch kaum Untersuchungen gibt, die die Rattenfängersage den mehr als 100 existierenden<br />

deutschsprachigen Sagen über die Sommersonnenwende zuordnen. Ziel meines Beitrags ist es also,<br />

nicht das tatsächliche Ereignis hinter <strong>der</strong> Rattenfängersage von Hameln aufzudecken, son<strong>der</strong>n die<br />

Entwicklung dieser Sage im Zusammenhang mit dem Glauben von <strong>der</strong> Sommersonnenwende zu<br />

begreifen.<br />

Im ersten Kapitel dieses Aufsatzes werden die alte Rattenfängersage von Hameln aus dem 13.-15.<br />

- 10 -


Jahrh<strong>und</strong>ert sowie die Berichte in <strong>der</strong> lüneburgischen Handschrift (1430/1450) anhand Hans<br />

Dobbertins „Quellensammlung zur Hamelner Rattenfängersage“ (1970) neben <strong>der</strong> Grimmschen<br />

Version vorgestellt, <strong>und</strong> die verschiedenen Hypothesen vom Vorfall zu Hameln werden erörtert. Im<br />

folgenden Kapitel werden die wichtigen Sagen <strong>und</strong> Berichte zur Zeit <strong>der</strong> Sommersonnenwende<br />

vorgestellt <strong>und</strong> mit <strong>der</strong> Rattenfängersage verglichen.<br />

Im dritten Kapitel wird über die Entwicklung <strong>der</strong> Hamelnschen Rattenfängersage im Hinblick auf<br />

den Volksglauben vom Johannistag <strong>und</strong> die Weltanschauung des Mittelalters diskutiert. Durch den<br />

Vergleich <strong>der</strong> Rattenfängersage mit den an<strong>der</strong>en Sommersonnenwende-Sagen erkennt man, dass die<br />

Leute früher wohl keine Schwierigkeiten hatten, in <strong>der</strong> Erzählung einen Pfeifer die Rolle <strong>der</strong><br />

Naturdämonen o<strong>der</strong> Teufeln, die in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Sommersonnenwende aufzutauchen scheinen,<br />

spielen zu lassen. Auch dieser Vergleich veranschaulicht, dass <strong>der</strong> Berg, in dem die Hamelnschen<br />

Kin<strong>der</strong> mit dem dämonischen Pfeifer verschwanden, nicht nur <strong>der</strong> Ort irgendeines geschichtlichen<br />

Ereignisses ist. Es war <strong>der</strong> Ort, <strong>der</strong> sich am Johannistag auftut <strong>und</strong> Menschen verschlingt (F.<br />

Rostek-Lühmann erwähnt 1995 bei ihrer psychologischen Analyse des Einflusses <strong>der</strong> Vorstellungen<br />

vom sich am Johannistag öffnenden Berg kurz auch die Rattenfängersage). Hier werde ich nicht nur<br />

die Naturanschauung des Mittelalters, son<strong>der</strong>n auch die altgermanische Totenweltvorstellung <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong>en Christianisierung anhand <strong>der</strong> Arbeiten von L. Petzeoldt (2002) vorstellen.<br />

Meine These in diesem Beitrag ist: Das Datum des Ereignisses in Hameln, <strong>der</strong> 26. Juni, gab<br />

Anlaß den geschichtlichen Bericht mit den Motiven vom dämonischen Pfeifer sowie von <strong>der</strong><br />

Unterwelt im Berg zu verknüpfen, <strong>und</strong> damit erhielt die Hamelner Sage ähnliche Züge wie an<strong>der</strong>e<br />

Sagen vom Johannistag.<br />

Die Entwicklung <strong>der</strong> Sage von Hameln, eine Erzählung über das Verschwinden <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> vom<br />

dämonischen Pfeifer zur Zeit <strong>der</strong> Sommersonnenwende, ist durch die Aufklärung des<br />

geschichtlichen Hintergr<strong>und</strong>es nicht vollständig zu begreifen. Vielmehr kann <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> ihrer<br />

Ausbildung erst verstanden werden, wenn man diese Sage mit an<strong>der</strong>en Sagen zur Zeit des<br />

Johannistages, <strong>der</strong> Zeit, wenn die „an<strong>der</strong>e Welt― sich auftut, vergleicht <strong>und</strong> ihre Beziehung zu<br />

Weltanschauung <strong>und</strong> Volksglauben <strong>der</strong> damaligen Epoche mit in Betracht zieht.<br />

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Motive <strong>der</strong> griechischen Antike bei Heiner Müller<br />

- 12 -<br />

Ryoko YOTSUYA<br />

Bei Heiner Müller spielen Motive aus <strong>der</strong> griechischen Antike durchgängig eine sehr wichtige<br />

Rolle. In diesem Aufsatz werden sie zum einen im Bezug auf das Verfahren <strong>der</strong><br />

„Amalgamierung― (U. Haß) von Mythen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Werke H. Müllers, zum an<strong>der</strong>en im<br />

Bezug auf das in ihnen <strong>und</strong> durch sie artikulierte Frauen- <strong>und</strong> Männerbild untersucht. Darüber<br />

hinaus wird die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Schreibweise Müllers vom theatralischen Dialog zum ‚pluralen<br />

Monolog’, die manchmal mit <strong>der</strong> Verwandlung <strong>der</strong> gewählten Motive aus <strong>der</strong> Antike in eins fällt,<br />

genauer dargestellt. Und es soll auch <strong>der</strong> damit zusammenhängende, ‚energetische’ Wahrnehmungs-<br />

<strong>und</strong> Denkprozess des Lesers bzw. Zuschauers im Theater angesprochen werden.<br />

Zunächst wird die erste Phase <strong>der</strong> Rezeption <strong>der</strong> griechischen Antike, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Tragödie,<br />

bei Müller in den 50er <strong>und</strong> 60er Jahren behandelt. Parallel zum Schreiben <strong>der</strong><br />

„Produktionsstücke― liest er Werke von Vorgängern <strong>und</strong> schreibt seine Kommentare zu eigenen<br />

lyrischen Werken um. Diese Arbeit <strong>der</strong> Kommentierung führt weiter zum Theaterstück<br />

„Philoktet― (1958/64). Die Personen in diesem Stück verlieren den Charakter des prototypischen<br />

Helden im Mythos, wodurch Müller auf ein relativiertes Geschichtsmodell Bezug nimmt.<br />

1971 wurde die Honecker-Regierung gebildet, was eine drastische Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Kulturpolitik nach sich zog. In „Zement―, geschrieben 1972, sind Titel, die sich von griechischen<br />

Mythen herleiten, o<strong>der</strong>, damit verb<strong>und</strong>en, ins Stück eingeschobene Prosatexte („Herakles 2 o<strong>der</strong><br />

Hydra― usw.), d.h. eine distanzierte, komentierte Schreibweise charakteristisch. Die Personen<br />

sprechen zwar Dialoge, aber ihr Inhalt trennt sich vom Subjekt <strong>der</strong> jeweiligen agierenden Personen,<br />

<strong>und</strong> ihre Äußerungen verschwinden im Anonymen, Universalen. In dem Stück verän<strong>der</strong>t sich auch<br />

das Frauenbild: Während zuvor die Frauen im Produktionsstück sowohl kämpfen als auch gebären<br />

wollten, gibt es nun ein an<strong>der</strong>es Bild von Frauen. Es sind Frauen, die gegen die Gesellschaft<br />

kämpfen, aber ‚nicht gebären’ wollen. Dieses neue Bild <strong>der</strong> Frauen bezieht sich auf den<br />

Medea-Topos <strong>und</strong> hinterfragt das bisherige, von Männern zu idealistisch dargestellte Frauenbild.<br />

Müllers Aufenthalt in den USA 1975 bot ihm die Gelegenheit weit entfernt von <strong>der</strong> DDR, die


zeitgenössische Geschichte aus einer an<strong>der</strong>en Perspektive zu betrachten. „Die<br />

Hamletmaschine― (1977), geschrieben gleich nach einem Aufenthalt in den USA, stellt deutlicher<br />

als zuvor Skepsis in Bezug auf eine stabile Subjektivität dar, <strong>und</strong> zwar durch monologische<br />

‚Vokalisierung <strong>der</strong> Diskurse’, die das Geschlecht <strong>und</strong> das Subjekt <strong>der</strong> Personen zu suspendieren<br />

scheint: Mit seinem Text „Ich will eine Frau sein― gibt in <strong>der</strong> dritten Szene <strong>der</strong> ‚Hamlet Darsteller’<br />

seine Männlichkeit preis, die das abendländische Wissen als Antrieb <strong>der</strong> linearen<br />

Geschichtsvorstellung symbolisiert. Dagegen mischen sich mit Opheria <strong>und</strong> Elektra die Rollen, die<br />

sowohl Opfer <strong>der</strong> männlichen Herrschaft sind, als auch diejenigen, die das schon etablierte System<br />

<strong>der</strong> Geschichte zugr<strong>und</strong>e gehen lassen <strong>und</strong> es in verän<strong>der</strong>ter Form aufs Neue rekonstruieren können.<br />

Müller entfaltet in <strong>der</strong> „Hamletmaschine― eine paradoxe Argumentation in Bezug auf die Existenz<br />

<strong>der</strong> Frau, die erst dann entstehen kann, wenn es kein Subjekt mehr gibt.<br />

Ende <strong>der</strong> 70er Jahre entstanden parallel dazu verschiedene Texte, die mit einem einfachen<br />

Rollenspiel des Schauspielers nicht mehr spielbar, die „meta-theatral― sind <strong>und</strong> die einen<br />

Theaterraum brauchen, in dem <strong>der</strong> polyphone Monolog zum Klingen kommt, <strong>der</strong> we<strong>der</strong> mit dem<br />

Dialog <strong>der</strong> griechischen Tragödie noch mit dem interpersonalen Monolog <strong>der</strong> Neuzeit identisch ist.<br />

Das Medea-Motiv, das H. Müller zuerst in „Zement― aufgreift, wird in „Verkommenes Ufer<br />

Medeamaterial Landschaft mit Argonauten― (1982) immer stärker. In <strong>der</strong> zweiten Szene, die einer<br />

griechischen Tragödie nachempf<strong>und</strong>en ist, nimmt <strong>der</strong> Monolog Medeas, <strong>der</strong> Protagonistin <strong>der</strong><br />

Tragödie, die Geschichte <strong>der</strong> kommenden Ermordung vorweg <strong>und</strong> zeigt damit auch Medeas<br />

Perspektive, die ihrerseits Dramatikerin ist. Medea offenbart außerdem ihren Wunsch, „die<br />

Menschheit in zwei Stücke― zu brechen <strong>und</strong> „in <strong>der</strong> leeren Mitte― we<strong>der</strong> als Frau noch als Mann zu<br />

leben. In <strong>der</strong> dritten Szene, „Landschaft mit Argonauten―, werden allerlei „Endstationen <strong>der</strong><br />

Konsumgesellschaft― ausgestellt (ein leeres Kino, Landschaften aus Müll usw.). Aus den Körpern<br />

<strong>der</strong> verstorbenen Argonauten im fremden Meer scheint sich hier die Geschichte <strong>der</strong> Kolonisierten,<br />

die in die Landkarte <strong>der</strong> Eroberer eingeschrieben wurde, von <strong>der</strong> Gegenwart zur Antike<br />

zurückzuwenden. Nun vereinigen sich die Stimme von Medea, die ihr Subjekt als Frau, d.h. als<br />

Gebärmaschine <strong>der</strong> Geschichte aufgibt, <strong>und</strong> die <strong>der</strong> namenlosen Opfer <strong>der</strong> Kolonisation zu allen<br />

Zeiten vor dem Horizont des Todes.<br />

In „Bildbeschreibung― (1984), eine ‚Übermalung’ von Alkestis, wird das Thema <strong>der</strong><br />

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Zerstreuung des Subjekts auf <strong>der</strong> Ebene des Todes am weitgehendsten radikalisiert. Der Text setzt<br />

die Bewegung einer von nun an zu entstehenden Gewalt, eines Geschlechtsaktes <strong>und</strong> Mordes in<br />

Gang <strong>und</strong> identifiziert sie mit dem Rhythmus <strong>der</strong> Blicke des Betrachters des Bildes/ Lesers/<br />

Zuschauers. Er zitiert dabei verschiedene Texte, das Nō-Spiel „Kumasaka―, „The Tempest― von<br />

Shakespeare <strong>und</strong> Odysseus’ Hadesfahrt aus dem 11. Gesang <strong>der</strong> „Odyssee―, wo es sich um die<br />

Rückkehr des Toten handelt, <strong>und</strong> unter den Namen Admetos, <strong>der</strong>, geb<strong>und</strong>en durch ein Apollo<br />

gegebenes Versprechen, seine Frau als Opfer darbietet, <strong>und</strong> Alkestis, die mit Hilfe von Herakles aus<br />

dem Hades geholt wird, werden zwei gegenüberstehende Schemata thematisiert: Das erstere<br />

thematisiert die Grenze eines Bildes in Richtung auf die Vergangenheit <strong>der</strong> Autorität <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Geschichte. Das zweite zeigt die Möglichkeit des Bild-Beschreibens, den Moment des Geschehens<br />

in seiner sowohl zeitlichen als auch räumlichen Transzendenz. Müllers „Bildbeschreibung― mit<br />

einer vom Theaterstück entfernten Form, enthält aber trotzdem durch Meta-Theatralität eine<br />

Reflexion über Theatralität, welche den Zuschauern die Frage <strong>der</strong> Beziehung zwischen <strong>der</strong> Bühne<br />

<strong>und</strong> ihnen selbst stellt.<br />

In <strong>der</strong> Serie „Wolokolamsker Chaussee 1-5― (1984/87), bei <strong>der</strong> Müller wie<strong>der</strong> die Brechtsche<br />

Lehrstücktheorie anwandte, gibt es einen Teil (4), wo ein Kentaur, <strong>der</strong> sich in einen Schreibtisch,<br />

ein Symbol des Bürokratismus, verwandelt, als Protagonist <strong>der</strong> Farce auftritt. In den beiden<br />

Gedichten um Ajax, „Ajax, zum Beispiel―, „Ajax―, stellt Ajax einen anonymen Selbstmör<strong>der</strong> dar,<br />

<strong>der</strong> den zu schnellen politischen Wechsel nach dem Tod Stalins nicht ertragen konnte. Diese beiden<br />

Helden beherrschen den polyphonen Monolog, hören den Opfern <strong>der</strong> Vergangenheit zu <strong>und</strong> blicken<br />

auf den Wendepunkt <strong>der</strong> Nachkriegszeit zurück, ohne dabei über ihre eigene ungeklärte Situation zu<br />

klagen, wie die prototypischen Helden in den früheren Texten.<br />

Wort <strong>und</strong> Gewalt in Goethes Iphigenie auf Tauris<br />

- 14 -<br />

Hideki ASAI<br />

In Goethes Drama Iphigenie, dessen Hintergr<strong>und</strong> voll von blutigen Gewalttaten ist, wird <strong>der</strong><br />

dunkle Schauplatz „dichtbelaubter Hain― durch die Kraft <strong>der</strong> Worte, die die Personen dort


miteinan<strong>der</strong> wechseln, allmählich hell <strong>und</strong> die Protagonistin gewinnt am Ende friedlich ihre<br />

Heimkehr. Aber <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> Worte über die Gewalt ist nicht leicht zu erringen, weil Wort <strong>und</strong><br />

Gewalt in diesem Drama nicht unbedingt gegensätzliche, son<strong>der</strong>n eher eng miteinan<strong>der</strong><br />

verflochtene Momente sind. Iphigenie wird mit <strong>der</strong> schwierigen Frage konfrontiert, wie man mit<br />

Worten, die oft auch das Moment <strong>der</strong> Gewalt enthalten, gegen die Gewalt kämpfen <strong>und</strong> sich davon<br />

befreien kann. Diese Aporie ist ein Hauptproblem dieses „verteufelt humanen― (Goethe) Dramas. In<br />

diesem Aufsatz soll die Dynamik dieses Dramas dadurch herausgearbeitet werden, dass das<br />

Augenmerk auf Knotenpunkte von Wort <strong>und</strong> Gewalt gerichtet <strong>und</strong> Wechselwirkungen zwischen<br />

beiden analysiert werden. Dabei wird <strong>der</strong> Schwerpunkt auf den Dialog zwischen Iphigenie <strong>und</strong><br />

Thoas gelegt, denn erstens beziehen sich diese beiden Personen, jede nach ihrer Weise, ambivalent<br />

auf die beiden Momente <strong>und</strong> zweitens hängt ihr Dialog mit <strong>der</strong> Problematik um das Götterwort, bei<br />

dem es sich auch um die Verflechtung von Wort <strong>und</strong> Gewalt handelt, eng zusammen.<br />

Iphigenie steht im Hinblick auf die Sprache auf dem stärksten <strong>und</strong> zugleich schwächsten<br />

Standpunkt. Einerseits hat sie als Priesterin das Recht, die mächtigen Götterworte mitzuteilen,<br />

an<strong>der</strong>erseits sieht sie sich nur als einen begrenzten Menschen an, <strong>der</strong> dem unendlichen Gott<br />

gegenüber „arm <strong>und</strong> stumm― ist. Darüber hinaus klagt sie über die Entfremdung <strong>der</strong> Frauen, von<br />

<strong>der</strong>en männerabhängigem Schicksal „<strong>der</strong> Dichter schweigt―. Was die Gewalt betrifft, hat diese<br />

schwache Frau aber als Priesterin die Pflicht, die Fremden hinzurichten. Iphigenie, die mit einer<br />

Amazone verglichen wird, hat auch ein heftiges Gefühl, so wie Kleists Penthesilea.<br />

Thoas’ Charakter ist auch nuanciert dargestellt. Der Skythenkönig, <strong>der</strong> auf den ersten Blick nur<br />

die Gewalt zu verkörpern scheint, gibt doch mit seinem Wort „Sprich offen!― Iphigenie den ersten<br />

Anstoß zur Lösung durch die Sprache. Thoas, dessen Schwäche Reden sei, hasst den, <strong>der</strong> „künstlich<br />

dichtend― betrügt. Er wirft den zivilisierten Griechen Gewalt <strong>und</strong> List vor. Iphigenie <strong>und</strong> Thoas<br />

leiden beide in Bezug auf die Sprache unter ihrer Entfremdung, <strong>und</strong> gerade deswegen können sie<br />

eine kritische Einstellung zu den listigen Worten haben.<br />

Die Götterworte, die über alle Personen dieses Dramas herrschen, sind untrennbar mit <strong>der</strong><br />

Gewalt verb<strong>und</strong>en. Die Götter strafen den beredten Tantalus, Iphigenies Urvater, für seine Hybris<br />

mit dem Fluch, dass seine Familie auf ewig Rache wie<strong>der</strong>holen soll. Aber <strong>der</strong> göttliche<br />

Orakelspruch gibt Iphigenie <strong>und</strong> Orest auch eine Chance, diesem Schicksal zu entkommen. In<br />

- 15 -


Goethes Iphigenie, in dem an<strong>der</strong>s als bei Euripides kein Gott auftritt, kommunizieren die Personen<br />

mit dem abwesenden Gott durch ihre Auslegungen des Orakels. Die Doppeldeutigkeit des Orakels<br />

bringt die Sache in Verwirrung <strong>und</strong> verleitet die Griechen zu einer neuen Gewalttat. Aber wegen<br />

dieser Doppeldeutigkeit, die den Menschen die Autonomie im Glauben gibt, gelingt es Orest, durch<br />

seine Umdeutung, aus dem Orakel das Moment <strong>der</strong> Gewalt zu entfernen.<br />

Iphigenie erinnert sich in ihrem Monolog im fünften Auftritt des vierten Aufzugs an „das Lied<br />

<strong>der</strong> Parzen―, die über die Unerbittlichkeit <strong>der</strong> Götter klagen. Im dritten Auftritt des fünften Aufzugs<br />

erscheint Thoas als Stellvertreter des abwesenden Gottes. Iphigenie tritt dem Thoas, <strong>der</strong> sie zur<br />

Hinrichtung zwingen will, mit ihrem „wilden Lied― entgegen. Sie tadelt ihn wegen <strong>der</strong> „Gewalt, die<br />

sich <strong>der</strong> Schwachheit eines Weibes freut― <strong>und</strong> sagt: „Ich habe nichts als Worte―. Im Prozess dieses<br />

Dialogs entdeckt sie ihr wahres Selbst. Durch ihre Selbstreflexion gelangt sie zu einer „unerhörten<br />

Tat―, die aber keine Gewalttat mehr ist. Ihr Bekenntnis <strong>der</strong> Wahrheit wird unter dem Prinzip <strong>der</strong><br />

Weiblichkeit durchgeführt.<br />

Thoas hört in <strong>der</strong> letzten Szene Iphigenies „Stimme <strong>der</strong> Wahrheit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Menschlichkeit― <strong>und</strong><br />

erlaubt ihr die Heimkehr. Er verschweigt aber sein Inneres. Nicht nur in <strong>der</strong> Kommunikation<br />

zwischen den Menschen <strong>und</strong> dem abwesenden Gott, son<strong>der</strong>n auch in <strong>der</strong> zwischen Iphigenie <strong>und</strong><br />

dem schweigenden Thoas liegt ein Abgr<strong>und</strong>. Während Martin Walser, <strong>der</strong> Thoas für einen<br />

aufgeklärten „Weimaraner― hält, die Homogenität zwischen beiden voraussetzt <strong>und</strong> diesen Abgr<strong>und</strong><br />

ignoriert, versucht Theodor W. Adorno die Heterogenität zwischen beiden zu retten, indem er in<br />

Iphigenies Bekenntnis die Selbstnegierung <strong>der</strong> Zivilisation sieht. Iphigenie <strong>und</strong> Thoas beeinflussen<br />

sich in ihrer Kommunikation. Auf dieser Verän<strong>der</strong>barkeit <strong>der</strong> menschlichen Beziehungen basiert die<br />

„Dialektik― (Adorno) dieses Dramas.<br />

Iphigenie ist das Drama <strong>der</strong> Selbstreflexion <strong>der</strong> Literatur. Goethe lebte unter dem „Fluch― einer<br />

Zeit, in <strong>der</strong> die Dichtung trotz aller gesellschaftlichen Wi<strong>der</strong>sprüche „harmonisch― sein sollte. Er<br />

thematisiert in diesem Drama die Verflechtung von Wort <strong>und</strong> Gewalt <strong>und</strong> setzt sich kritisch mit<br />

diesem Problem auseinan<strong>der</strong>. Benedikt Jeßing weist darauf hin, dass Goethe im Schreibprozess <strong>der</strong><br />

Iphigenie in einem Brief die Harmonisierung <strong>der</strong> Verse mit einer Gewaltmetapher beschrieb.<br />

Goethe war sich <strong>der</strong> Paradoxie bewusst, dass auch die Harmonisierung <strong>der</strong> Worte als Gewalt<br />

funktionieren kann. Jeßing sieht im metrischen Bruch von Orests Offenbarung „Sei<br />

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Wahrheit!― einen Wi<strong>der</strong>stand gegen die Gewalt <strong>der</strong> harmonisierenden Sprache. Aber <strong>der</strong> metrische<br />

Bruch in Thoas’ letztem Wort „Lebt wohl!― ist auch bemerkenswert, weil er wegen seiner<br />

vollkommenen Offenheit radikaler ist.<br />

Iphigenie hofft, dass <strong>der</strong> Fluch, <strong>der</strong> auf ihrer Familie lastet, „ermattet―. Sie will die Gewalt<br />

„durch Gewaltlosigkeit unterbieten― (Adorno), aber diese Hoffnung bleibt eine Phantasmagorie, wie<br />

es das Ende von Goethes Novelle „Die neue Melusine― zeigt. Der Sinn des letzten Wortes Thoas’ ist<br />

zwar gewaltfrei, aber <strong>der</strong> formale Bruch kann Thoas’ Wi<strong>der</strong>stand gegen Iphigenie andeuten, die eine<br />

„fre<strong>und</strong>liche― Versöhnung for<strong>der</strong>t, was doch für Thoas immer noch als Gewalt funktioniert.<br />

In einem Gespräch mit Eckermann sagt Goethe über Iphigenie: „Wir wollen (...) kraftvolle<br />

Griechen <strong>und</strong> Helden sehen, die (...) stark herausreden, was ihnen das Herz im Busen<br />

gebietet.― Iphigenie tritt in <strong>der</strong> Eröffnung des Dramas mit dem Wort „Heraus― auf. Dieses Wort<br />

bestimmt die Richtung dieses Dramas, in dem die Wahrheit des inneren Herzens<br />

„herausgeredet― wird, obwohl das ideale Bild von Griechenland dadurch unwie<strong>der</strong>bringlich zerstört<br />

<strong>und</strong> verloren wird. Von Iphigenies darauffolgendem Wort „in eure Schatten, rege Wipfel des alten,<br />

heiligen, dichtbelaubten Haines― könnte man ihren Entschluss ablesen, den Schauplatz „Hain― zu<br />

betreten, wo Worte gewechselt werden, die sich notwendigerweise auf das Moment <strong>der</strong> Gewalt<br />

beziehen müssen <strong>und</strong> deswegen die Menschen fesseln <strong>und</strong> zugleich befreien.<br />

„Die Überwindung des Naturalismus“<br />

— Die literarische Mo<strong>der</strong>ne um 1890 in den deutschsprachigen Län<strong>der</strong>n —<br />

- 17 -<br />

Miki MURATA<br />

Die Entwicklung <strong>der</strong> naturalistischen Literaturbewegung in den deutschsprachigen Län<strong>der</strong>n<br />

prägte die Gruppenbildungen von denjenigen Schriftstellern, die mit den bestehenden<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen Verhältnissen unzufrieden waren <strong>und</strong> <strong>der</strong>en programmatische<br />

Zeitschriften in den 1880er Jahren. Als Metropolen des Naturalismus kann man die<br />

Reichshauptstadt Berlin <strong>und</strong> die Kunststadt München nennen. In Zur Einführung <strong>der</strong> Zeitschrift


„Gesellschaft―, die 1885 als Hauptorgan <strong>der</strong> Münchner naturalistischen Gruppierungen begründet<br />

wurde, <strong>und</strong> auch in den Thesen des 1886 in Berlin gegründeten literarischen Vereins<br />

„Durch!― zeigte sich eine radikale Ablehnung <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>zeitliteratur, vor allem <strong>der</strong><br />

Familienzeitschriften. Unter den Parolen <strong>und</strong> Schlagwörtern <strong>der</strong> naturalistischen Schriftsteller, die<br />

den alten Generationen gegenüber kritisch auftraten, befanden sich ‚Wahrheit’ <strong>und</strong> ‚Realismus’.<br />

Diese Schriftsteller orientierten sich ‚mo<strong>der</strong>n’ <strong>und</strong> begriffen sich als revolutionäre Erzieher, die für<br />

Literatur, Kunst <strong>und</strong> öffentliches Leben kämpften. Sie zielten auf die Erneuerung <strong>der</strong> nationalen<br />

deutschen Kultur. Aus Auseinan<strong>der</strong>setzungen <strong>der</strong> naturalistischen Bewegung, die sich als mo<strong>der</strong>n<br />

<strong>und</strong> als national verstand, mit den gesellschaftlichen, politischen <strong>und</strong> ästhetischen Verhältnissen<br />

bildete sich zuerst die literarische Mo<strong>der</strong>ne.<br />

Gegen 1890, als die literarische Mo<strong>der</strong>ne auch in Wien Wurzeln schlug, lösten die Schriftsteller<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne sich vom Naturalismus ab <strong>und</strong> strebten nach seiner ‚Überwindung’. Dies bedeutete<br />

aber nicht das Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n nur das Ende <strong>der</strong> naturalistischen Mo<strong>der</strong>ne, namentlich<br />

den Anfang <strong>der</strong> nicht-naturalistischen Mo<strong>der</strong>ne. Die nicht gegen die Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n gegen den<br />

Naturalismus kämpfende <strong>und</strong> auf die ‚wahre’ Mo<strong>der</strong>ne zielende Bewegung kann man aber nicht<br />

einfach mit einem Adjektiv bezeichnen. Unter den nicht-naturalistischen Gruppierungen <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne sammelten sich vielfältige literarische Richtungen, die miteinan<strong>der</strong> höchstens nur eine<br />

Gemeinsamkeit hatten, nämlich die, dass sie alle ‚nicht naturalistisch’ waren. Den Begriff ‚die<br />

Mo<strong>der</strong>ne’, <strong>der</strong> in den 1880er Jahren, wenn auch nur vorübergehend, als Naturalismus gedeutet<br />

werden konnte, verstand man nach 1890 als Vielzahl von verschiedenen nebeneinan<strong>der</strong> stehenden<br />

literarischen Strömungen, die zwar mo<strong>der</strong>n sein, aber sich gleichzeitig auch voneinan<strong>der</strong> abgrenzen<br />

wollten.<br />

Mit <strong>der</strong> Abkehr von <strong>der</strong> naturalistischen Kunstauffassung, mit <strong>der</strong> man mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

gesellschaftspolitisches Engagement verbinden konnte, ging die literarische Mo<strong>der</strong>ne von <strong>der</strong><br />

Lebenspraxis über zu dem in <strong>der</strong> Innenwelt des Künstlers schwebenden Konzept des ‚l’art pour<br />

l’art’. In diesem Zusammenhang verstärkte sich bei den Schriftstellern <strong>der</strong> Anspruch auf<br />

Kunstautonomie, d.h. auf die Abgehobenheit <strong>der</strong> Kunst von allen gesellschaftlichen Vorgängen. Das<br />

war <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> Entfernung <strong>der</strong> Kunst <strong>und</strong> Literatur von <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />

Die nach-naturalistischen Literaturrichtungen sprachen jedoch nicht alle allein dem<br />

- 18 -


gesellschaftsmissachtenden Ästhetizismus zu, son<strong>der</strong>n es gab auch solche Richtungen, die sich<br />

weiter pädagogisch an die Öffentlichkeit wenden wollten, wie es charakteristischerweise in <strong>der</strong><br />

naturalistischen Bewegung vorgekommen war. Der Übergang von <strong>der</strong> naturalistischen zu <strong>der</strong><br />

nicht-naturalistischen Mo<strong>der</strong>ne bedeutete nicht einfach, dass <strong>der</strong> Naturalismus als ein Stil im<br />

ästhetisch-literarischen Sinne obsolet geworden war. Die ‚Überwindung des Naturalismus’ um 1890<br />

wurde vielmehr von <strong>der</strong> Frage, wie die Literatur zur gesellschaftlichen Realität Stellung nehmen<br />

sollte, mit motiviert. Dies zeigt, dass die Mo<strong>der</strong>ne, die anfänglich auf dem Boden des Naturalismus<br />

gediehen war, nach 1890, nicht zuletzt parallel dazu, pluralistisch wurde, dass also die Haltung <strong>der</strong><br />

Schriftsteller zur Gesellschaft vielfältiger wurde.<br />

Wie man an dem Pluralismus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, <strong>der</strong> sich aus den nach-naturalistischen Strömungen<br />

herausbildete, erkennen kann, gab es innerhalb von Kunst <strong>und</strong> Literatur keine Einheit mehr;<br />

trotzdem trat hier <strong>und</strong> da immer wie<strong>der</strong> ein Schema <strong>der</strong> Gegenüberstellung von Kunst <strong>und</strong> Literatur<br />

zur Gesellschaft hervor. Unter ‚Gesellschaft’ verstand man dabei vor allem die durch Industrie <strong>und</strong><br />

Kapitalismus rationalisierte mo<strong>der</strong>nisierte Welt, in <strong>der</strong> auch künstlerisch-literarische Werke als<br />

‚Waren’ gehandelt wurden, <strong>und</strong> in <strong>der</strong> die Naturwissenschaften die Deutung <strong>der</strong> Welt immer mehr<br />

übernahmen, sowie die sich entwickelnde Technik das ganze Leben <strong>der</strong> Menschen gründlich<br />

verän<strong>der</strong>te. Schriftsteller, <strong>der</strong>en Tätigkeit sowohl bürgerlich-beruflich wie auch<br />

künstlerisch-ästhetisch war, suchten einerseits Möglichkeiten zu finden, durch ihre Schreibarbeit<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit zu dienen, an<strong>der</strong>erseits versuchten sie auch, ohne Rücksichtnahme auf die<br />

Öffentlichkeit, zweckfrei zu schaffen. Dabei stehen die gesellschaftsverachtenden o<strong>der</strong> gar<br />

-hassenden ästhetizistischen Literaturbewegungen, genauso wie die gesellschaftsorientierten <strong>und</strong><br />

auf die Öffentlichkeit zielenden, f<strong>und</strong>amental im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen<br />

Verhältnissen. Die naturalistische Literaturbewegung war die erste, in <strong>der</strong> sich die Literatur in den<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit dem Mo<strong>der</strong>nisierungsprozess <strong>der</strong> Gesellschaft befand; dies war für die<br />

nach <strong>der</strong> „Überwindung des Naturalismus― strebenden Schriftsteller um 1890, seien sie<br />

ästhetizistisch o<strong>der</strong> seien sie sozialpädagogisch eingestellt, schon eine unbestreitbare Realität.<br />

Mephisto als Narr<br />

- 19 -


― Zur Bedeutung <strong>der</strong> narrenhaften Perspektive im Faust ―<br />

- 20 -<br />

Iwao TANAKA<br />

In einigen bedeutenden Faust-Kommentaren <strong>und</strong> -Forschungen <strong>der</strong> letzten Jahre, wie bei A.<br />

Schöne, U. Gaier <strong>und</strong> J. Schmidt, ist auf die Beson<strong>der</strong>heit von Goethes Faust hingewiesen worden.<br />

So macht Gaier auf die Vieldimensionalität des Textes aufmerksam, <strong>der</strong> viele Perspektiven als<br />

Sinnschichten in sich enthalte, <strong>und</strong> führt demnach sieben thematisch verschiedene „Lesarten― vor.<br />

Dieser neue Ansatz ist bemerkenswert, ihm fehlt jedoch fast ganz <strong>der</strong> Blick auf das Scherzhafte als<br />

konstitutives Element des Textes, was auch bei Schöne <strong>und</strong> bei Schmidt <strong>der</strong> Fall ist. Goethe hat in<br />

seinem letzten Brief an Humboldt den Faust als „diese sehr ernsten Scherze― bezeichnet, <strong>und</strong> ein<br />

Paralipomenon zum „Vorspiel auf dem Theater― lautet: „Und wenn <strong>der</strong> Narr durch alle Szenen läuft,<br />

/ So ist das Stück genug verb<strong>und</strong>en.― Mit dem „Stück― ist selbstverständlich Faust selbst gemeint,<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> „Narr― kann nur Mephisto sein. Goethe erteilt dem Narren Mephisto die Aufgabe, das<br />

Ganze zusammenzuhalten. Wenn man Mephisto als Narren <strong>und</strong> das Scherzhafte für den Faust als<br />

konstitutiv auffasst, werden neue Horizonte <strong>der</strong> Faust-Interpretation eröffnet. Im vorliegenden<br />

Aufsatz soll herausgearbeitet werden, dass gerade die narrenhafte Perspektive <strong>der</strong> „ernsten<br />

Scherze― die Vieldeutigkeit <strong>und</strong> Vielschichtigkeit des Textes bewirkt <strong>und</strong> zugleich das ganze Stück<br />

zusammenhält.<br />

Als Hintergr<strong>und</strong> des Narren Mephisto sind einige Elemente zu nennen: die komische Tradition<br />

des Faust-Stoffes im Volksbuch <strong>und</strong> Puppenspiel, die nahe Verwandtschaft des „Urfaust― mit Farcen<br />

<strong>und</strong> Schwänken, die teuflische Herkunft des Narren im geistlichen Spiel des Mittelalters <strong>und</strong> vor<br />

allem die Tradition <strong>der</strong> barocken Theaterkunst, <strong>der</strong> geistlichen Bühne <strong>und</strong> <strong>der</strong> Commedia dell’arte.<br />

Als Herkunft des Narren Mephisto kann man nicht eine einzige benennen, da hier verschiedene<br />

komische Traditionen miteinan<strong>der</strong> verschmelzen. Bemerkenswert ist aber die Tatsache, dass sich<br />

Goethe gerade in den Jahren um 1800 des Narren Mephisto methodisch bewusst wurde, als er drei<br />

Prologe zum Faust konzipierte.<br />

Wörter wie Schalk, Narr <strong>und</strong> Narrheit usw. werden erst in den um 1800 entstandenen Textpartien


ewusst konstitutiv verwendet. Die ‚Lustige Person‘ des „Vorspiels―, die vom gleichen Darsteller<br />

wie Mephisto zu spielen ist, for<strong>der</strong>t, auch „<strong>der</strong> Mitwelt Spaß― zu machen, <strong>und</strong> behauptet, dass das<br />

Theater „nicht ohne Narrheit― sein solle. Wenn Mephisto im „Studierzimmer― I (auch um 1800<br />

entstanden) sich selbst als einen Teil von jener Kraft definiert, die „stets das Böse will <strong>und</strong> stets das<br />

Gute schafft―, da scheint er sich seiner Rolle als „Schalk― bewusst zu sein, den Menschen, diese<br />

„kleine Narrenwelt― zu reizen. Immerhin ist er die einzige Gestalt innerhalb <strong>der</strong> eigentlichen<br />

Faust-Tragödie, die da auftritt <strong>und</strong> sie zugleich transzendiert. Mephisto, <strong>der</strong> als Narr „durch alle<br />

Szenen läuft―, ist auch im „Prolog im Himmel― mit dabei, bleibt allein <strong>und</strong> spricht ein letztes<br />

desillusionierend-ironisches Wort, das man sich ad spectatores gerichtet denken muss, ― eine<br />

Geste, die er während des ganzen Dramas noch so oft wie<strong>der</strong>holt. Wir werden damit an den<br />

Spielcharakter auch dieser Szene erinnert. Durch Mephistos narrenhaften Gesichtspunkt wird auch<br />

<strong>der</strong> „Himmel― zur „Welt des Theaters― gehören, wie Gustaf Gründgens meint.<br />

Auch in <strong>der</strong> „Grablegung―, die zusammen mit <strong>der</strong> Bergschluchten-Szene eine Art Epilog bildet,<br />

spielt Mephisto den Narren <strong>und</strong> schließt das ganze Drama ab. Da wird er mit seinen eigenen Waffen<br />

geschlagen: Über <strong>der</strong> absurden Liebschaft zu den Engeln wird ihm Fausts Seele, „ein großer,<br />

einziger Schatz―, weggenommen, <strong>und</strong> er kann nur seine ‚Torheit des Klugerfahrnen‘ fluchend<br />

verspotten. Ist übrigens die Welt des Theaters, angefangen mit <strong>der</strong> Wette zwischen dem Herrn <strong>und</strong><br />

Mephisto im Himmel, d. h. die eigentliche Faust-Tragödie, als Welttheater im Sinn von Cal<strong>der</strong>on zu<br />

verstehen? Nein, die Comoedia divina ist nur ein „Struktur-Zitat― <strong>und</strong> eine paradoxe Einrichtung,<br />

versteht sich, um die Comoedia humana total zu entwickeln. In Anlehnung an das alte Modell des<br />

theatrum m<strong>und</strong>i wurde es Goethe paradoxerweise möglich, das ganz Aktuelle im Faust zu<br />

behandeln.<br />

In den ersten Szenen des 1. Aktes von Faust II, wo Mephisto am Kaiserhof die Rolle des<br />

Hofnarren übernimmt <strong>und</strong> buchstäblich als Narr erscheint, erweist sich <strong>der</strong> Narr als konstitutiv für<br />

den ganzen Faust <strong>und</strong> dessen Komposition. Michail Bachtin sieht die Funktion des Narren<br />

„ausschließlich im Veräußerlichen― <strong>und</strong> meint, mit jenem prosaischen Sinnbild, das die Gestalt des<br />

Narren in die Literatur eingebracht habe, sei eine „beson<strong>der</strong>e Komplexität <strong>und</strong> Vielschichtigkeit― in<br />

den literarischen Text gekommen. Durch die Gegenwart des Narren Mephisto wird <strong>der</strong> hinter <strong>der</strong><br />

Fassade verdeckte wahre Sachverhalt <strong>der</strong> höfischen Welt „veräußerlicht <strong>und</strong> veröffentlicht―, was<br />

- 21 -


sich zunächst als Umkehrung von ‚Weisheit‘ <strong>und</strong> ‚Narrheit‘ äußert. Der vergnügungssüchtige,<br />

sorglose Kaiser, <strong>der</strong> das bevorstehende Karnevalsfest ungeduldig erwartet, hört dem Bericht im<br />

Staatsrat über die Missstände des Reichs nur mit halbem Ohr zu <strong>und</strong> greift sofort zu, als Mephisto<br />

ihm einen Sanierungsplan anbietet. Die Schlussworte Mephistos, ad spectatores gerichtet, kündigen<br />

an, dass <strong>der</strong> ‚Stein <strong>der</strong> Weisen‘, <strong>der</strong> Rat, den <strong>der</strong> Narr gab, in den Händen <strong>der</strong> echten Narren nur ein<br />

bloßer Stein bleiben würde.<br />

Im „Mummenschanz― wird <strong>der</strong> Kaiser, als großer Pan maskiert, von den glühenden Goldkesseln<br />

fasziniert, die <strong>der</strong> Reichtumsgott Plutus herbeibrachte. Er schaut gierig in die Feuerquelle des<br />

Goldgefäßes, sein Maskenbart fällt, <strong>und</strong> er fängt Feuer, das die höfische Welt samt seiner ganzen<br />

Kaiserpracht zu verbrennen droht. Die Heiterkeit des höfischen Festes ist also nur Fassade, hinter<br />

<strong>der</strong> die schwerste Not des Reichs zum Vorschein kommt. Parallel zu dem langen Maskenzug, <strong>der</strong><br />

ein sinnloses Spiel zu sein scheint, verläuft heimlich etwas Aktuelles: <strong>der</strong> Zerfall <strong>der</strong> alten, feudalen<br />

Welt im Zuge <strong>der</strong> ‚neuen Ökonomie‘, durch das Eindringen des mo<strong>der</strong>nen Geldwesens verkörpert.<br />

Und hier ist es wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Narr Mephisto, <strong>der</strong> dabei ist <strong>und</strong> diesen Prozess auslöst.<br />

Vor den Prologen „Vorspiel auf dem Theater― <strong>und</strong> „Prolog im Himmel― ist noch einer platziert:<br />

„Zueignung―. Dieser Prolog, in dem <strong>der</strong> Dichter in Bezug auf das zu vollendende Stück selbst den<br />

imaginativen Schaffensprozess thematisiert, hat den Charakter einer Metafiktion, einer Dichtung<br />

über die Dichtung. Indem die „Zueignung― vorausgeschickt wird, soll alles Folgende einschließlich<br />

des „Vorspiels― <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> des ‚schreibenden Narren‘ Goethe unterliegen, <strong>der</strong> stets die Perspektive<br />

wechselt <strong>und</strong> das Werk polydimensioniert. Wenn das genus sublime <strong>der</strong> Erzengel <strong>und</strong> das genus<br />

humile des Mephisto im „Prolog― die beiden Stilpole des Werkes bilden <strong>und</strong> dazwischen sich das<br />

Drama des unter dem Konflikt <strong>der</strong> zwei Seelen leidenden Faust abspielt, so hat Goethe das Stück<br />

<strong>der</strong> f<strong>und</strong>amentalen Gespaltenheit des menschlichen Daseins entsprechend durchstrukturiert. Und in<br />

dieser Paradoxie <strong>der</strong> menschlichen Existenz besteht ein an<strong>der</strong>er wesentlicher Gr<strong>und</strong> dafür, dass <strong>der</strong><br />

Narr gefor<strong>der</strong>t wird. Die „tragische Paradoxie, dass <strong>der</strong> Mensch nur durch den Teufel zu Gott<br />

gelangen kann―, for<strong>der</strong>t den Narren. Daher kommt es, dass die Faust-Dichtung als „sehr ernste<br />

Scherze― bezeichnet wird. Die Fe<strong>der</strong> des ‚schreibenden Narren‘, die mit dem Narren Mephisto<br />

durch alle Szenen gelaufen ist, kehrt das ‚theatrum m<strong>und</strong>i‘ (Welttheater) in die ‚Welt des<br />

Theaters‘ um <strong>und</strong> beschließt die ganze Faust-Dichtung, das „Vergängliche― <strong>und</strong> das<br />

- 22 -


„Ewige― ambigue vereinigend. Dies ermöglichte gerade die narrenhafte Perspektive des Werkes.<br />

„Brot <strong>und</strong> Wein― ― Konjunktionen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Rhythmus <strong>der</strong> Geschichte beim späten Höl<strong>der</strong>lin<br />

- 23 -<br />

Hiroshi HATAKEYAMA<br />

Bisher behandelte die Forschung, die sich mit den späten Gedichten von Höl<strong>der</strong>lin beschäftigt,<br />

oft die Fügung <strong>der</strong> Wörter. Auch die Konjunktionen, die beim späten Höl<strong>der</strong>lin auffallend oft<br />

auftauchen, haben eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung. In <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit werden die Probleme <strong>der</strong><br />

Verbindung <strong>der</strong> Wörter durch Konjunktionen anhand seiner theoretischen Schriften über die<br />

Tragödien des Sophokles analysiert. Das Tragische ereignet sich nach Höl<strong>der</strong>lin dadurch, dass, was<br />

eigentlich nicht verb<strong>und</strong>en werden kann, eins wird <strong>und</strong> sich dann wie<strong>der</strong> scheidet. Dies ermöglicht<br />

die tragische Form, in <strong>der</strong>en Zentrum <strong>der</strong> blinde Seher Tiresias steht. Seine Rede, die Höl<strong>der</strong>lin<br />

„Cäsur― nennt, setzt in die tragische Handlung nicht nur einen Einschnitt, son<strong>der</strong>n verbindet die<br />

zerschnittene Handlung auch wie<strong>der</strong>. Die Cäsur herrscht dadurch im Rhythmus <strong>der</strong> Handlung.<br />

Die Helden <strong>der</strong> Tragödien werden vom tragischen Schicksal heimgesucht <strong>und</strong> „in die<br />

exzentrische Sphäre <strong>der</strong> Todten― gerissen. Aber diese Begebenheit lässt sich keineswegs aus dem<br />

Kausalnexus erklären. Gerade die Rede des Tiresias, die als Cäsur den Rhythmus des tragischen<br />

„Transport― abschneidet, macht die Gewalt aus, die sie als begreifbar darstellt. Höl<strong>der</strong>lin versteht<br />

Tiresias als „Aufseher über die Naturmacht―, die das Tragische bewirkt. Er ist eine Figur, die nicht<br />

inmitten <strong>der</strong> tragischen Handlung steht wie die Helden, son<strong>der</strong>n die als Außenseiter, <strong>der</strong> sich in<br />

einer an<strong>der</strong>en Sphäre <strong>der</strong> Handlung befindet <strong>und</strong>, die tragische Form trägt. Gerade deshalb, weil er<br />

Außenseiter ist, kann seine Rede, „[die]] rhythmische[n] Aufeinan<strong>der</strong>folge <strong>der</strong><br />

Vorstellungen― einstellen. Cäsur heißt nach Höl<strong>der</strong>lin „das reine Wort―, das eher auf die Form <strong>der</strong><br />

Tragödie als auf die Handlung Wirkung ausübt.<br />

Auch die Blindheit des Tiresias zeigt, dass er im Gegensatz zu Ödipus jenseits <strong>der</strong><br />

irdisch-logischen Verknüpfung steht. Seine Rede durchschneidet den unendlich fortdauernden<br />

Zusammenhang <strong>der</strong> Sinne, indem sie die Tragödien mit <strong>der</strong> göttlich-natürlichen Gewalt verknüpft.


Die Funktion <strong>der</strong> Cäsur ist es insofern nicht bloß die Handlung abzuschneiden, son<strong>der</strong>n mehr noch,<br />

die erste <strong>und</strong> zweite Hälfte <strong>der</strong> Handlung zu verbinden. Erst mit <strong>der</strong> Cäsur wird <strong>der</strong> Rhythmus <strong>der</strong><br />

tragischen Form erhalten <strong>und</strong> sie macht diesen Rhythmus wahrnehmbar. Die Cäsur als Konjunktion<br />

bezieht sich nämlich auf zwei Rhythmen ― den <strong>der</strong> Handlung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschichte.<br />

In diesem sachlichen Zusammenhang wird nun eine typische Konjunktion, »<strong>und</strong>«, analysiert. Sie<br />

konstituiert den Titel <strong>der</strong> Elegie „Brot <strong>und</strong> Wein― definitiv., In dieser kleinen Partikel konvergiert<br />

die höl<strong>der</strong>linsche Geschichtsanschauung. Dieses »<strong>und</strong>« bewirkt den Rhythmus <strong>der</strong> Geschichte<br />

zwischen <strong>der</strong> Antike <strong>und</strong> <strong>der</strong> Neuzeit. An<strong>der</strong>s gesagt verbindet <strong>der</strong> Rhythmus selbst diese beiden.<br />

Die Kombination <strong>der</strong> Worte „Brot― <strong>und</strong> „Wein― assoziiert nichts an<strong>der</strong>es als Körper <strong>und</strong> Blut<br />

Christi. Trotzdem erscheinen in diesem Gedicht keine Verse, die unmittelbar auf das Sakrament<br />

hinweisen. Absichtlich hat Höl<strong>der</strong>lin diesen Titel gewählt, <strong>der</strong> die Erwartung <strong>der</strong> Leser präformiert.<br />

Umso mehr ist danach zu fragen, was dieses »<strong>und</strong>« bedeutet. Diese Frage ist von großer Tragweite,<br />

denn sie enthält sowohl die Höl<strong>der</strong>lin höchst eigentümliche Problematik <strong>der</strong> Fügung <strong>der</strong> Wörter, als<br />

auch die seiner Geschichts- bzw. Mythosanschauung. In <strong>der</strong> Elegie „Brot <strong>und</strong> Wein― ist die<br />

Geschichtsanschauung Höl<strong>der</strong>lins am deutlichsten markiert <strong>und</strong> hier sind „Brot― <strong>und</strong> „Wein― als<br />

mythische Bil<strong>der</strong> dargestellt.<br />

Diese Bil<strong>der</strong> sind aber ganz entfernt von <strong>der</strong> authentisch-christlichen Lehre platziert. Höl<strong>der</strong>lin<br />

fügt nämlich zwischen „Brot― <strong>und</strong> „Wein― einige Verse ein, die auf den Mythos von Dionysos<br />

anspielen, indem er die Antikes assoziierenden Wörter wie „Tag―, „Licht― usw. verwendet. Damit<br />

bindet er diese beiden Bil<strong>der</strong> zusammen.<br />

Sie haben noch an<strong>der</strong>e wichtige Bedeutung. „Brot― symbolisiert die Antike, „Wein― das<br />

christliche Zeitalter. Die „Spur <strong>der</strong> entflohenen Götter―, die <strong>der</strong> „Weingott― uns, den<br />

„Götterlosen― bringt, ist Wein, <strong>und</strong> zwar die Geistigkeit. Höl<strong>der</strong>lin stellt das Zeitalter nach dem Tod<br />

Christi als die geistige Zeit dar. Wie sich diese Geschichtsanschauung in ihm vertieft hat, ist darin<br />

angezeigt, dass er in seinen späten Werken dem Wort „Gott― das Wort „Geist― vorzieht. Die<br />

„Nacht―-Zeit ist keine Zeit des Brotes, son<strong>der</strong>n die des Weines. Die Konjunktion „<strong>und</strong>― im Titel <strong>der</strong><br />

Elegie stellt nicht nur die beiden Wörter ,„Brot― <strong>und</strong> „Wein― nebeneinan<strong>der</strong>. Sie verbindet das Bild<br />

„Brot―, das zur konkreten Zeit <strong>der</strong> Griechen gehört, mit dem Bild „Wein―, das in den<br />

christlich-abstrakten Kontext gehört. Dieses »<strong>und</strong>« bedeutet also: „Brot― <strong>und</strong> dann kommt „Wein―.<br />

- 24 -


Höl<strong>der</strong>lin prägt in diesem Titel den Rhythmus <strong>der</strong> Geschichte mit dieser Konjunktion »<strong>und</strong>«. Mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten bringt diese Konjunktion, die we<strong>der</strong> auf ein Ding noch auf einen Begriff hinweist,<br />

den Rhythmus <strong>der</strong> Geschichte hervor, <strong>der</strong> auch we<strong>der</strong> ein Ding noch einen Begriff betrifft.<br />

Die Antike, wo die Sprache nicht funktioniert.<br />

-Über G. Hauptmanns „Der Bogen des Odysseus―<br />

<strong>und</strong> „Festspiel in deutschen Reimen―-<br />

- 25 -<br />

Masafumi SUZUKI<br />

Der literarische Erfolg Gerhart Hauptmanns wäre ohne O. Brahm, <strong>der</strong> als Berliner Theaterkritiker<br />

<strong>und</strong> Regisseur den jungen Dramatiker fand, fast <strong>und</strong>enkbar. Hauptmanns naturalistische Dramen<br />

erzielten mit <strong>der</strong> Hilfe von Brahm hintereinan<strong>der</strong> großen Erfolg. Aber man könnte auch sagen, dass<br />

Hauptmann erst nach Brahms Tod sein literarisches Joch abschütteln, <strong>und</strong> schaffen konnte, was er<br />

eigentlich wollte. Das waren die Dramen „Der Bogen des Odysseus― <strong>und</strong> „Festspiel in deutschen<br />

Reimen― mit den altgriechischen Elementen.<br />

Es ist allgemein anerkannt, dass „Bogen des Odysseus― unter <strong>der</strong> Inspiration entstand, die<br />

Hauptmann in <strong>der</strong> Griechenlandreise, die er 1907 gemacht hatte, bekam. Das Drama beschreibt eine<br />

Art Variante vom 14. bis 22. Gesangs von Homers „Odyssee―. Im Vergleich mit diesem beschränkt<br />

jenes sein Thema mehr auf ein Ziel von Odysseus’ Heimkehr, nämlich auf seine Rache an den<br />

Freiern. Die Bühne dieses Dramas ist auf das Anwesen des Sauhirten Eumaios <strong>und</strong> dessen<br />

Umgebung begrenzt, wahrscheinlich weil Penelopeia hier bis zum Schluss überhaupt nicht auftritt.<br />

Es hängt wohl mit dem Bauernhof als einzigem Hintergr<strong>und</strong> zusammen, dass S. Jacobsohn das<br />

Drama „bukolischen Naturalismus― nannte. Aber um diese Kritik richtig zu verstehen, muss man<br />

„Griechischer Frühling―, die Reiseaufzeichnung <strong>der</strong> Griechenlandreise Hauptmanns analysieren.<br />

Die höchst verinnerlichte Beschreibung <strong>der</strong> griechischen Landschaft erfüllt das ganze Werk. Die<br />

griechische Natur einschließlich <strong>der</strong> Ruinen ruft im Verfasser überall die griechische <strong>Mythologie</strong>,<br />

vor allem Homers „Odyssee―, hervor, <strong>und</strong> wenn Menschen auch darin auftreten, verschmelzen sie<br />

mit <strong>der</strong> umgebenden Landschaft ohne Persönlichkeit wie in <strong>der</strong> chinesischen Tuschmalerei. An<strong>der</strong>s


gesagt, in „Griechischer Frühling― wird beinahe keine menschliche Beziehung beschrieben. Und in<br />

„Bogen des Odysseus― lässt sich die gleiche Tendenz beobachten.<br />

In „Odyssee― werden 5 enge menschliche Beziehungen um Odysseus beschrieben, nämlich die<br />

mit Telemach, Eurykleia, Eumaios, Penelopeia <strong>und</strong> Laertes. Im Drama werden die rührenden<br />

Szenen <strong>und</strong> die Dramatik des Wie<strong>der</strong>sehens zwischen den Personen hervorgehoben. In „Bogen des<br />

Odysseus― hingegen wird auf das Wie<strong>der</strong>sehen kein großer Schwerpunkt gelegt. Während Telemach,<br />

Leukone <strong>und</strong> Eumaios Odysseus am Ende des 4.Akts fast gleichzeitig erkennen, identifizieren<br />

Eurykleia <strong>und</strong> Laertes Odysseus am Ende nicht. Penelopeia tritt nicht einmal auf. Die in solcher<br />

Weise keine Vertiefung zeigende Beziehung <strong>der</strong> Personen, die A. Kerr scharf kritisierte, kommt aber<br />

meines Erachtens vom stärker verinnerlichten Odysseus. Wie Hauptmann in „Griechischer<br />

Frühling― sein Gefühl nach außen selten zeigt, <strong>und</strong> sich mit an<strong>der</strong>en nicht aktiv in Verbindung<br />

setzen will, so entblößt Odysseus seine innere Seite fast nie. Obwohl Homers Odysseus sehr<br />

heruntergekommen aussieht, bleibt sein Wesen von Anfang bis Ende dasselbe, <strong>und</strong> auch <strong>der</strong><br />

Zuschauer ersihet es leicht. Dagegen kann man bei Hauptmanns Odysseus fast bis zum Ende<br />

überhaupt nicht begreifen, was er innerlich denkt, denn man kann mit Odysseus’ Texten seine<br />

innerliche Bewegung nicht ersehen. D.h. in diesem Drama verliert <strong>der</strong> Text, nämlich die Sprache,<br />

die Kraft, das Werk entwickeln zu lassen.<br />

Wie soll man denn solche Kraftlosigkeit <strong>der</strong> Sprache verstehen? Auf dieses Merkmal wird schon<br />

in Hauptmanns naturalistischen Werken manchmal hingewiesen: Personen können sich mit an<strong>der</strong>en<br />

nicht wesentlich verständigen, <strong>und</strong> an <strong>der</strong> Grenze <strong>der</strong> Sprache lassen sie ihren Gefühlen freien Lauf.<br />

Auch die Erschießungsszene von „Bogen des Odysseus―, wo <strong>der</strong> heimgekehrte König die Freier<br />

einen nach dem an<strong>der</strong>en fast ohne Erklärung erschießt, nachdem er sich mit an<strong>der</strong>en Personen in<br />

Ithaka in keine wesentliche Verbindung gesetzt hat, erinnert an den Schluss Hauptmannscher<br />

naturalistischer Werke. Was die Welt des Werks bewegt, ist nicht die „Sprache―, son<strong>der</strong>n das<br />

„Schicksal― bei „Bogen des Odysseus―, während es sich um die „Umgebung― bei den<br />

naturalistischen Werken haldelt. In „Bogen des Odysseus― lässt sich zudem die Verinnerlichung <strong>der</strong><br />

Hauptperson <strong>und</strong> die „Verlandschaftlichung <strong>der</strong> Personen― (die Personen, die mit <strong>der</strong> Hauptperson<br />

zwar nicht direkt umgehen, aber in ihr vielerlei Gedanken hervorrufen) beobachten. Als solche<br />

Personen kann man Odysseus’ Vater Laertes <strong>und</strong> Penelopeia anführen. Unter an<strong>der</strong>en sollte man die<br />

- 26 -


nicht auftretende Penelopeia mit ihrer rätselhaften Vielseitigkeit <strong>und</strong> ihrem schöpferischen Einfluss<br />

auf das Werk als die erfolgreichste verlandschaftlichte Person Hauptmanns betrachten.<br />

Im nächsten Werk, „Festspiel in deutschen Reimen―, versuchte Hauptmann weitere<br />

Verschmelzung seiner Methoden mit den Antiken. Auf das Entstehen des „Festspiels― übte<br />

„Mimus―, das H.Reich 1903 erschienen ließ, bekanntlich einen großen Einfluss aus. Mimus ist eine<br />

Art Performance, die man in <strong>der</strong> Antike zu festlichen Anlässen improvisiert spielte. Auch hier lässt<br />

die Funktion <strong>der</strong> Sprache nach, indem die Darsteller mimische Gebärden häufig benutzen. Um diese<br />

unvollkommene Sprache zu ergänzen, schuf Hauptmann eine eigenartige literarische Methode, den<br />

„symbolischen Raum―. Die Räume in seinen Werken beschränken sich nicht nur auf den Platz, in<br />

dem die Personen auf- <strong>und</strong> abtreten, son<strong>der</strong>n einen Platz, <strong>der</strong> mit symbolischer Bedeutung versehen<br />

ist <strong>und</strong> in <strong>der</strong> die zugehörende Person ihre Rolle andeutet. Diese Methode wird auch in seinen<br />

naturalistischen Werken, z.B. „Bahnwärter Thiel―, „Vor Sonnenaufgang― o<strong>der</strong> „Ratten― angewendet.<br />

Bei „Bogen des Odysseus― konnte Hauptmann sie nicht anwenden, weil das Spiel immerhin in dem<br />

Anwesen des Sauhirten gespielt werden muss; dafür bringt er sie bei „Festspiel― voll zur Geltung,<br />

indem er darin drei Bühnen erdachte. In diesem Sinne wäre das „Festspiel― die erfolgreichere<br />

Verschmelzung seiner Methode mit den Antiken als „Bogen des Odysseus―. Aber seine späteren<br />

Werke mit dem antiken Motiv stehen dem „Bogen des Odysseus― näher als „Festspiel―. Man würde<br />

weitere Betrachtung brauchen, um zu erforschen, ob es mit dem grossen Misserfolg von<br />

„Festspiel― zusammenhängt. Mindestens könnte man aber sagen, dass die „Kraftlosigkeit <strong>der</strong><br />

Sprache― eines <strong>der</strong> f<strong>und</strong>amentalen Merkmale <strong>der</strong> Werke Hauptmanns ist, egal ob naturalistisch o<strong>der</strong><br />

nicht.<br />

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