10 Gestern und in unserer Zeit »Kreuze und Stern und Der Meister aus Deutschland«, so lang und so umständlich scheinend hat Heisig eines dieser neuen Bilder betitelt. Es mißt 150 x 70 cm. Ein schmales Hochformat und ein gedrängt voller Bildraum. Am rechten Rand, angeschnitten, ein Männerkörper, nackt, nur die Augen verbunden. Weit ausgestreckt, in hilfloser Gebärde, der rechte Arm. Dahinter ein Uniformierter. Mit der Waffe in der Hand. Der Augenblick einer Hinrichtung. Genickschuß. Von unten ragt der Arm eines anderen SA-Mannes ins Bild. Die Hand hält einen Pinsel, zeichnet ein Kreuz auf den Rücken eines Menschen: ein Soldat mit Helm. Ein zu Tode gezeichneter auch er. Weiter unten: Lautsprecher, feixende Zuschauer. Oben, am linken Bildrand, zwischen Köpfen von Toten und Verletzten, ein Bild im Bild, das Selbstporträt von Felix Nußbaum. Im Mantel. Mit dem gelben Stern. Der Maler, ein Opfer, als Zeuge: seht hin, ein Mensch! Ich halte Heisigs Bild für ein Meisterwerk. Heisig sieht das anders, ist noch nicht fertig damit. Nicht mit dem Stoff. Nicht mit dem Bild. Er wird ohnehin nie fertig mit seinen Bildern. Und eigentlich malt er schon ein Leben lang an einem einzigen Bild. »Kain und Abel oder warum der Gottessohn unter die Menschen geriet« könnte es heißen. Oder, ganz einfach: »Ecce homo!« Abbildung und Sinnbild allen Leidens, aller Hoffnung. Heisig malt weiter. Das Bild mit den Kreuzen und dem Stern, die schmale und gedrängt volle Leinwand, hat Heisig schon in den letzten Oktobertagen vollendet und signiert. Es war bestimmt für meine Adolf Dresen gewidmete Ausstellung »Wieviel Freiheit braucht die Kunst?« Eine Ausstellung, die den Antagonismus von Poesie und Grauen, von Liebe und Tod, von Freiheit und Unterdrückung zum Inhalt hatte. Ein liebestrunkenes, frühes Bild von Max Ernst, durchdrungen von sonnenheller Poesie, und Heisigs todessüchtiges Schreckensbild bestimmten das Spannungsfeld der Ausstellung. Traum und Wirklichkeit. Denn auch das Werk von Max Ernst ist bestimmt vom Wissen um das Böse in dieser Welt, gezeichnet von dunkler Angst und abgründigem Schrecken. Auch er, der Meister kaum merklicher Verrückungen wußte, Himmel und Hölle trennt nur ein Hauch. Vor mir, an diesem 23. Januar 2002, in Heisigs Atelier, steht auf einer Staffelei die zweite Fassung von »Kreuze und Stern...«, diesem ihm (und mir) so wichtigen Bild. Das gleiche schmale Hochformat, die selben Maße. Aber es scheint mehr Raum für den Täter und sein Opfer zu bergen. Der eine, gesichtslos jetzt, behelmt und in feldgrauer Uniform, beherrscht Geschehen und Bild, teilt es in der Diagonalen mit dem seltsam verdreht vorstoßenden und mit einem schwarzen Stiefel bewaffneten linken Bein. Heisig hat dem Täter, anders als beim ersten Bild, seine volle Aufmerksamkeit gewidmet und ihn, anders als seinen Vorgänger, der zwar als einziger handelte, aber doch nur einer von vielen war, auch optisch in den Vordergrund gerückt. Ist er jetzt nicht ein Vetter jenes »Zauberlehrlings« aus Heisigs Hand, ein Bruder gar seines »Kriegsfreiwilligen«? Der andere, sein Opfer, nunmehr beide Arme kreuzförmig ausgestreckt, wölbt den nackten, hier schmal und jungenhaft scheinenden Körper noch einmal hoch und wird gleich nach hinten wegsacken. Ein Befehl wurde ausgeführt, ein Urteil vollstreckt. Am Horizont: einstürzende Bauten, Flammen, dunkler Rauch. Inferno. Im unteren Bilddrittel, zu Füßen des Schützen, ragt der Oberkörper des ehemals vom Kreuz gezeichneten Soldaten. Jetzt ist er entblößt. Nur den Helm trägt er noch. Neben ihm der schimmernde Trichter einer Trompete. Am unteren Bildrand eine Gruppe von Soldaten. Die Reihen fest geschlossen. Die Münder aufgerissen. Man sieht, man hört sie singen. Der Maler Felix Nußbaum ist nur noch schemenhaft zu sehen, nur noch flüchtiges Zitat, verweigert die Zeugenschaft. Heisigs Bild heißt: »Der Befehl und das Lied von den morschen Knochen«. Die Farbe ist noch naß. Doch ich soll (und will) auch das neue Bild mitnehmen, noch für die letzten Tage in meine Ausstellung hängen. Heisig will beide Fassungen nebeneinander sehen, hält die zweite für die bessere. Natürlich. Maler lieben ihre jüngsten Werke. Er hat sich damit geplagt, »geschuftet wie nie«, sagt er. Ich sage: »Wie immer«. Er signiert es, signiert, wieder einmal ein böses, ein unversöhnlich scheinendes Bild. Ein Bild vom Elend der Menschen, wieder eins seiner großenBilder.Aber ist es vollendet? Wer weiß. 26. Januar 2002. Neujahrsempfang in der Galerie am Kurfürstendamm, am letzten Tag meiner Ausstellung. Die beiden Fassungen von Heisigs Bild hängen sich gegenüber. Nebeneinander ging es nicht. Die schmalen Bilder nehmen Platz in Anspruch, brauchen Luft zum Atmen. Heisig räumt ein, daß er »Kreuze und Stern...« in der Erinnerung, nur die Katalogabbildung vor Augen, unterschätzt habe. »Aber...«, so hebt er an, schweigt. Und läßt das Ende offen.
Kreuze und Stern und Der Meister aus Deutschland Öl auf Leinwand, 2001 150 x 70 cm Sammlung Piepenbrock, <strong>Berlin</strong> Der Befehl und das Lied von den morschen Knochen Öl auf Leinwand, 2002 150 x 70 cm Lager-Nr. BK 13039 11