Download Lebensplatz 2011 - Tierschutzprojekt Ungarn
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Rigo – ein Weihnachtsmärchen im August<br />
Rigo –<br />
ein Weihnachtsmärchen<br />
im August<br />
Es begann (so fangen viele Weihnachtsmärchen<br />
an) mit der Planung eines Hilfstransportes<br />
in unser Tierheim Székesfehérvár in<br />
<strong>Ungarn</strong>. Die Futterbestände gingen zur Neige<br />
und unsere Tierheimleiterin, Gyöngyi Krepsz,<br />
war besorgt. Gerade Welpenfutter war kaum<br />
noch vorhanden. In vielen Mails wurden die<br />
Einzelheiten abgeklärt und es wurde auch<br />
besprochen, welche Hunde wir auf dem<br />
Rücktransport mitnehmen werden. Wir selber,<br />
das <strong>Tierschutzprojekt</strong> <strong>Ungarn</strong>, vermitteln<br />
normalerweise keine Hunde, da wir der Meinung<br />
sind, dass diese Aufgabe bei erfahrenen<br />
Tierheimmitarbeitern und -mitarbeiterinnen<br />
besser aufgehoben ist. Unser eigentliches<br />
Ziel ist es, die Lebensumstände der Tiere vor<br />
Ort zu verbessern. Und doch sollte es anders<br />
kommen …<br />
Die Fahrt ging wie geplant in der Nacht<br />
los. Vollgepackt mit Futter und Ausrüstung<br />
fuhren wir um 2 Uhr in der Früh ab. 1.100<br />
km lagen vor uns, wir sind diesen Weg in den<br />
letzten Jahren schon oft gefahren. Es kommt<br />
die Raststätte, wo mir fast die Augen zufallen,<br />
und ich weiß genau, wenn es endlich hell wird,<br />
geht es besser.<br />
Am frühen Nachmittag kommen wir an<br />
und ich spüre förmlich die Erleichterung<br />
bei unseren ungarischen Partnern,<br />
dass jetzt endlich wieder Futter<br />
vorhanden ist.<br />
Über 60 Welpen und Junghunde wollen<br />
versorgt werden und Gyöngyi erzählt, dass<br />
zurzeit über 240 Hunde im Tierheim sind.<br />
Ich kann verstehen, dass sie täglich darüber<br />
nachdenken muss, wie sie all diese Tiere versorgen<br />
kann. Ohne das <strong>Tierschutzprojekt</strong><br />
<strong>Ungarn</strong> und seine Unterstützer wäre dieses<br />
Tierheim nicht lebensfähig. Und das Schicksal<br />
der uns anvertrauten Tiere wäre fraglich. Es<br />
ist wie immer, ich fahre rückwärts in Richtung<br />
Futterlager und schon helfen viele flei-<br />
ßige Hände beim Ausladen. Ich sehe in den<br />
Gesichtern der Leute, dass sie glücklich darüber<br />
sind, heute Nachmittag unseren Tieren<br />
wieder volle Näpfe reichen zu können. Nach<br />
dem Ausladen mache ich wie immer in all<br />
den Jahren eine Runde durch das Tierheim,<br />
um mir die neu angekommenen Hunde anzuschauen<br />
und nachzusehen, wie es unseren<br />
alten und nicht mehr vermittelbaren Tieren<br />
geht. Die Runde fängt am Welpenhaus an:<br />
Hier empfängt mich lautes Gekläffe von vielen<br />
kleinen, nicht mehr gewollten oder gefundenen<br />
Welpen und Junghunden. Ich gehe an den<br />
Einzelzwingeranlagen vorbei und begrüße,<br />
meist mit einem Leckerchen in der Hand, unsere<br />
„etwas schwierigeren“ Bewohner. Im Altenheim,<br />
am Ende des Tierheimes, begrüßen<br />
mich unsere Oldies. Timmi, unser 14 Jahre<br />
alter Pulimix steht behäbig auf, die Hüfte tut<br />
ihm weh, und kommt an den Zaun. Seit über<br />
drei Jahren ist er hier und niemand möchte<br />
ihn haben, er ist zu alt. Jedes Mal freue ich<br />
mich sehr, dass wir das Altenheim für unsere<br />
alten Hunde verwirklichen konnten. Ein Platz<br />
zum Leben für die, die niemand mehr haben<br />
möchte. Ich gehe weiter und komme an die<br />
großen Rudelausläufe. Die Hitze in <strong>Ungarn</strong><br />
macht den Tieren schwer zu schaffen, heute<br />
sind es über 30 Grad. Einige der Tiere liegen<br />
im Schatten, andere stehen an den Türen und<br />
wollen sehen, wer da kommt. Am Zwinger<br />
drei merke ich, dass hier etwas nicht stimmt.<br />
Im Laufe der Jahre habe ich gelernt herauszuhören,<br />
wenn sich eine Eskalation anbahnt.<br />
Sie beginnt meist mit einem Knurren und<br />
Bellen eines einzelnen Hundes, das dann ganz<br />
schnell den gesamten Zwinger erfasst, und<br />
schon stürzen sich mehrere Hunde auf den<br />
Schwächsten.<br />
Die Hitze und der Stress des Tierheimes<br />
lösen solche Vorfälle in diesen<br />
Monaten immer häufiger aus.<br />
Auch hier ist es jetzt so, die Situation im<br />
Zwinger wird gleich ernst! Mit einem Tritt<br />
vor die Zwingertür verhindere ich wahrscheinlich<br />
Schlimmeres. Auch Szoli, einer unserer<br />
Pfleger, hat die Situation erkannt und<br />
ist hinzugeeilt. Im Zwinger sind ungefähr 15<br />
große Hunde, die vor einem schmächtigen<br />
Schäferhund stehen, der sich ängstlich an<br />
die Wand drückt. Er ist der Schwächste im<br />
Rudel und wahrscheinlich noch nicht lange<br />
hier. Durch meinen Tritt vor die Stahltür und<br />
mein lautes Rufen kann ich die Situation erst<br />
einmal beruhigen. Doch wie lange? Leider<br />
musste ich schon oft erleben, dass wenn sich<br />
die Tiere auf einen Einzelnen stürzen, diesem<br />
meist nicht mehr zu helfen ist. Obwohl das<br />
Tierheim Székesfehérvár dank Ihrer Unterstützung<br />
sehr modern und fortschrittlich ist,<br />
haben wir, wie viele andere Tierheime auch,<br />
das Problem der Überbelegung. Mittlerweile<br />
ist es 18 Uhr und unsere Mitarbeiter bereiten<br />
sich auf ihren Feierabend vor. Was wird aus<br />
diesem Hund, der da immer noch zitternd<br />
mit dem Rücken an der Wand steht? Dieser<br />
Gedanke geht mir nicht mehr aus dem Kopf.<br />
Ich frage Gyöngyi und sie erklärt mir, dass<br />
Rigo, so heißt mein kleiner Schäferhund, erst<br />
seit ein paar Tagen in diesem Rudelzwinger ist<br />
und dass sie leider keine andere Möglichkeit<br />
hat, ihn unterzubringen. Ich muss das wohl<br />
akzeptieren, denn ich weiß, dass sie alles tun<br />
würde, um ihm zu helfen. Aber es geht leider<br />
nicht, sein Schicksal scheint besiegelt. Auf<br />
dem Weg ins Hotel überlege ich krampfhaft,<br />
welche Möglichkeiten ich habe. Die Tierheime,<br />
mit denen wir zusammenarbeiten, haben<br />
sich ihre Hunde ausgesucht und gerade ein<br />
Schäferhundmixrüde ist auch in Deutschland<br />
kaum zu vermitteln. Das Abendessen<br />
mit meiner Begleiterin Martina verläuft sehr<br />
ruhig. Meine Gedanken sind bei Rigo. Das<br />
Tierheim ist vielleicht 2 km entfernt, aber ich<br />
höre immer noch das Bellen und Knurren<br />
aus diesem Zwinger. Was mag da jetzt vorgehen?<br />
Lebt er morgen früh noch? Ich war<br />
immer der Meinung, dass ich nach über 20<br />
Jahren Tierschutzarbeit im Ausland ein gewisses<br />
emotionales Schutzschild entwickelt<br />
habe. Leider stimmt das nicht ganz … Ich<br />
versuche krampfhaft, nicht an Rigo zu denken,<br />
aber es gelingt mir nicht. Am nächsten<br />
Morgen bin ich sehr früh auf den Beinen. Ich<br />
telefoniere mit meiner Frau und erzähle ihr<br />
von Rigo. Ihr Kommentar: „Dann pack ihn<br />
halt ein!“ Im Tierheim angekommen gehe ich<br />
sofort an den Zwinger drei. Er lebt noch! Die<br />
ganze Nacht hat er draußen im Freilauf gesessen<br />
und sich nicht in eine Hundehütte getraut.<br />
Unsere Tierheimleiterin freut sich sehr,<br />
als ich ihr mitteile, dass Rigo uns begleiten<br />
soll. Gott sei Dank hat er die notwendigen<br />
Impfungen und schnell erledigt unser Tierarzt<br />
noch das Chippen und füllt den EU-Ausweis<br />
aus. Auch die Tracesmeldung wird kurzfristig<br />
und unbürokratisch von unserem Amtsveterinär<br />
ausgefüllt. Als wir Rigo aus dem Zwinger<br />
herausholen, eskaliert die Situation noch<br />
einmal. Die anderen Hunde versuchen, sich<br />
auf ihn zu stürzen, doch unsere Betti kann<br />
sich durchsetzen und so bekommen wir Rigo<br />
ohne große Blessuren aus dem Zwinger heraus.<br />
Wir verladen ihn in seine Box und fahren<br />
mit ihm wieder zurück nach Deutschland.<br />
Abends angekommen verbringt Rigo wahrscheinlich<br />
die erste Nacht ohne Todesangst<br />
bei uns zu Hause. Dass er nicht bei uns bleiben<br />
kann, ist meiner Frau und mir klar. Rigo<br />
19 – 20