EDITION ANTAIOS Herbst 2009 - Sezession im Netz
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gehe jede Wette ein: Das Sagrotan-Fläschchen, dieser nützliche Sterilisierungshelfer<br />
zum ke<strong>im</strong>freien Überleben außerhalb der eigenen vier Wände,<br />
findet sich nahezu ausschließlich in deutschen Handtaschen.<br />
Sauberkeitswahn, Begradigungswünsche, Regelungswut, Paragraphenflut:<br />
Das ist die Begleitmusik zur Sehnsucht nach Hygiene. Dabei mag<br />
es gute und vernünftige Gründe geben fürs Streben nach fugenloser Ke<strong>im</strong>freiheit.<br />
Nur unverbesserliche Querköpfe stoßen sich an Friedhofszwang,<br />
Impffreude, an samstäglicher Autowaschung, regelmäßigem Rasenmähen<br />
und Rauchverbot am Bahnsteig.<br />
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern: Auch <strong>im</strong> angebrochenen<br />
Jahrtausend sind Grauzonen jedweder Art den Deutschen suspekt. Ordnung<br />
muß schon sein – etwas einordnen, sprich: katalogisieren können,<br />
und sei es gedanklich: Das ist weniger dem Volk der Dichter, wohl aber<br />
dem der Denker eine Notdurft. Unvorstellbar scheint es <strong>im</strong> Zeitalter der<br />
radikalen Mülltrennung zu sein, daß menschliche Fäkalien jahrhundertelang,<br />
nein, viel länger, jene Äcker düngten, auf denen hernach die Feldfrüchte<br />
wuchsen!<br />
Auf der Fahrt durch Schlesien weist der Freund darauf hin: Schau, am<br />
Bordstein kannst du erkennen, wer den gebaut hat und ob das Dorf ein<br />
polnisches oder ein deutsches ist. Lotrecht und sauber verfugt ist die deutsche<br />
Gehsteigkante, krumm und dadurch oft gebrochen die polnische.<br />
Kannst du das beweisen? Hier in diesem Dorf st<strong>im</strong>mt deine These<br />
doch nicht. Hier wurde Januar 1945 tabula rasa gemacht, hier lebt kein<br />
Deutscher mehr! Der Bordstein hier aber ist schnurgerade.<br />
Der Freund fragt radebrechend die Frau <strong>im</strong> Vorgarten und erhält<br />
eine Antwort: Seit sie hier lebt, wurde der Bordstein nicht erneuert. – Seit<br />
wann leben Sie hier? – Seit 1946. – Siehst du, die Deutschen schaffen für<br />
Jahrzehnte, mindestens.<br />
Wie viele Sommer habe ich an Nord- und Ostsee verbracht? Vielleicht<br />
knapp zwei Dutzend. Aber vor all die schönen Ferienerlebnisse an<br />
der Nordsee bei Cuxhaven, Eiderstedt, Norddeich schieben sich: Asphalt.<br />
Geteerte Wege, viel Stacheldraht und Elektrozaun (wegen der Kühe und<br />
Schafe). In Sankt Peter-Ording gar: mit dem Auto bis auf den Strand, fugenloser<br />
Übergang ins Badevergnügen.<br />
Die Ost-Ostsee-Badeurlaube waren ganz anders: spartanisch und<br />
frei. Die Mauer lief ja nicht ins Meer, sie war unsichtbar hier. Hundsrosen,<br />
unbetonierte Dämme, Baden ohne Hose, nicht weils keck war, sondern<br />
normal.<br />
Nach der Wende: ein paar aufeinanderfolgende Sommer in Ahrenshoop.<br />
Klar, das idyllischste Idyll, gewundene Wege aus Staub und Sand,<br />
geduckte Künstlerkaten, Vogelschwärme, kilometerlange Kartoffelrosenhecken,<br />
Kulturflaneure. Hier wuchs in aller Naivität der eigene Traum<br />
vom Umzug. Von West (starr, satt, selbstzufrieden, normiert) nach Ost<br />
(unbetoniertes Dornröschenschlafland, offen, möglich).<br />
Im Häuschen nebenan logierte der Künstler Dieter Weidenbach, ein<br />
DDR-Dissident, der dennoch <strong>im</strong> Osten he<strong>im</strong>isch blieb. Warum? »Der Westen,<br />
das ist: Riemchenkultur. Schau Dich doch mal um, in Dörfern und<br />
Kleinstädten. Was den Krieg überdauert hat, ist meist von außen verfliest,<br />
fugenlos. So sind die, drüben. Hast du das nie gemerkt? Paßt die Fassade<br />
nicht mehr in die Zeit, wird eine andere aus dem Baumarkt vorgesetzt.<br />
Und die vergrößerten Fensterhöhlen! Wie aufgerissene Augen, geschminkt<br />
mit Spießergardinen, damit keiner zurück – oder gar reinglotzt! Das ist<br />
für mich: Westdeutschland.«<br />
Ein Augenöffner! Fortan ging ich mit anderem Blick durch meinen und<br />
andere West-Orte. Wie hab ich das übersehen können! Diese Baumarktriemchen,<br />
mal nur am Sockel, am Fundament, mal über die ganze Fassade! Wenn<br />
man sacht draufklopft, klingt’s hohl. Und drunter? Fachwerk, schäbig geworden.<br />
Lehm, Schieferplatten, mit Patina. Unhygienische Anmutung, vermutlich.<br />
Wenn man Alterungsprozesse aufhalten oder verbergen kann heute,<br />
warum sollte man nicht? Drum auch soviel Edelstahl und so wenig Messing.<br />
Blank, pflegleicht, alterslos. Herz, was willst du mehr!<br />
Im Osten war’s anders, man ahnte: aus mangelnden Möglichkeiten<br />
anders. Graubrauner Mörtelputz oder Lehm, die Fenster klein und <strong>im</strong> besten<br />
Falle mit Sprossen. Durch die silikonlosen Fugen zog frischer Wind.<br />
Wie unangenehm, <strong>im</strong> Winter! Und sommers knallt die Hitze rein. Jahreszeitengefühl,<br />
was für ein Anachronismus! Klar, daß das schnellstmöglich<br />
Kositza – Deutsche Fluchten<br />
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