EDITION ANTAIOS Herbst 2009 - Sezession im Netz
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definierte Proteste einmal als »Kommunikationen,<br />
die an andere adressiert sind und deren Verantwortung<br />
anmahnen.« Das Zentrum für politische<br />
Schönheit macht nichts anderes, als ausnahmslos<br />
diese zwei Funktionen zu erfüllen. Bisherige<br />
Protestbewegungen dagegen etablierten<br />
ein Nischenleben, und der eigentliche Protest war<br />
nur eines unter vielen Produkten. In Zukunft jedoch<br />
könnte ein anderes Bild dominieren: Einzelpersonen<br />
oder eine spontane Gruppe drängen<br />
sich in die Öffentlichkeit und rufen aus: »Gegen<br />
Bürokraten helfen nur Piraten!«<br />
Daß ein einzelner Pirat die Besatzung des<br />
großen Schiffs »Bundesrepublik« durchaus in<br />
Bedrängnis bringen kann, hat der Designstudent<br />
Alexander Lehmann aus Kaiserslautern mit seinem<br />
Video »Du bist Terrorist!« Ende Mai <strong>2009</strong><br />
angedeutet. Ihm ist es mit dem zwe<strong>im</strong>inütigen<br />
Internet-Clip, der auf die Einschränkung von<br />
Bürgerrechten und Freiheiten <strong>im</strong> Zuge der Terrorismusbekämpfung<br />
aufmerksam macht, gelungen,<br />
die global zerstreuten Massen anzusprechen.<br />
Bereits nach wenigen Tagen hatten über<br />
eine halbe Million Menschen die An<strong>im</strong>ation angeklickt,<br />
alle großen Leitmedien berichteten und<br />
Experten für Medienrecht, Datenschützer sowie<br />
Politiker (sogar aus der Großen Koalition)<br />
solidarisierten sich mit dem kreativen Studenten.<br />
Sein Clip fängt bedrohlich an: »Erst kürzlich<br />
haben wir herausgefunden, daß in Deutschland<br />
mehr als 82 Millionen versteckte Terroristen<br />
wohnen. Du bist einer davon.« Die folgenden<br />
Einstellungen zeigen, wie der Staat auf diese<br />
Gefahr reagiert. Er überwacht alle Telefonate<br />
und E-Mails, schnüffelt he<strong>im</strong>lich auf den Festplatten<br />
privater Computer und schaut sich die<br />
Urlaubsbilder der 82 Millionen Terroristen an.<br />
Lehmann übertreibt mit dem Video, schätzt die<br />
derzeitige Situation der persönlichen Freiheiten<br />
in Deutschland aber trotzdem »besorgniserregend«<br />
ein. »Und wenn nicht mit Hilfe von Widerstand<br />
eine gesunde Balance zwischen Sicherheit<br />
und Freiheit geschaffen wird, sind wir von<br />
einem Überwachungsstaat wohl gar nicht mehr<br />
weit entfernt«, äußerte er in einem Interview.<br />
Dem Zentrum für politische Schönheit ist es<br />
auch bereits einmal gelungen, die Schwelle massenmedialer<br />
Wahrnehmung zu überschreiten.<br />
Mit einer Versteigerung von Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel (CDU) und Außenminister Frank-<br />
Walter Steinmeier (SPD) <strong>im</strong> Sommerloch Anfang<br />
August <strong>2009</strong> schafften sie diesen Durchbruch.<br />
Auf der philippinischen Ebay-Plattform starteten<br />
sie mit einem Startpreis von 68 Pesos (entspricht<br />
einem Euro) eine Auktion und beschrieben den<br />
Zustand ihrer »Produkte« als »gebraucht, visionslos,<br />
antriebslos und uninspirierend«. Im Begründungsschreiben<br />
der Aktion heißt es darüber<br />
hinaus: »Merkels Wahl (2005, Anmerk. FM) ist<br />
eine der langweiligen Metaphern für die politische<br />
Ratlosigkeit Deutschlands. Ihr Schulterzukken<br />
ist die Pathosformel einer zielentleerten und<br />
stillgestellten Zeit.« Das Bundeskanzleramt war<br />
»not amused«, und die Geschichte schaukelte<br />
sich hoch. Unter anderem berichteten Spiegel<br />
TV, das ZDF und Die Zeit. Gegenüber dem Stern<br />
bezeichnete es Ruch als »beschämend«, daß ausgerechnet<br />
diese Aktion ein so lautes Echo erhielt.<br />
Man habe Besseres zu bieten wie etwa das<br />
»Seerosen«-Projekt, bei dem 1000 schw<strong>im</strong>mende<br />
Inseln <strong>im</strong> Mittelmeer für 5,6 Millionen Euro eingerichtet<br />
werden sollen, um afrikanische Flüchtlinge<br />
vor dem Ertrinken zu retten. Solche Projekte<br />
sollte die Politik aufgreifen und sich nicht<br />
an Ebay-Auktionen abarbeiten.<br />
Philipp Ruch dürfte die ungeschriebenen<br />
Gesetze der Medien kennen. Der Aktionskünstler<br />
leitete von 2001 bis 2003 die Kinofilm-Kampagnen<br />
von Roman Polanskis »Der Pianist« und<br />
Takeshi Kitanos »Dolls«. Zudem wurden seine<br />
eigenen Exper<strong>im</strong>entalfilme mehrfach ausgezeichnet.<br />
Trotz der Absurdität mancher Mechanismen<br />
der Massenmedien, kann Protest ohne<br />
sie nicht gelingen. Kunstaktionen, die ein Unbehagen<br />
wirksam kommunizieren wollen, müssen<br />
sich deshalb in doppeltem Sinne als Sendung verstehen.<br />
Zum einen müssen sie ein Sendungsbewußtsein<br />
ausstrahlen, zum anderen kann Kunst<br />
eben nur politisch wirken, wenn sie irgendwann<br />
auf Sendung geht und kontinuierlich verbreitet<br />
wird. Der Kunsthistoriker und Medientheoretiker<br />
Dieter Daniels hat diese Einsicht in seinem<br />
Buch Kunst als Sendung in der kernigen These<br />
zusammengefaßt: »Medien sind die Fortsetzung<br />
der Kunst mit anderen Mitteln.«<br />
Aus den Überlegungen zu Subkultur, Öffentlichkeit,<br />
Masse sowie Kunst als Sendung<br />
und auf der anderen Seite dem praktischen Vorbild<br />
durch das Zentrum für politische Schönheit<br />
läßt sich ein Desiderat gewinnen:<br />
1.<br />
2.<br />
3.<br />
Der Konservative will sein Leben leben und<br />
muß dazu seine Privatsphäre verteidigen.<br />
Deshalb verschwendet er seine Zeit nicht in<br />
einer Subkultur. Um die eigenen Ansichten<br />
dennoch laut, deutlich und kreativ zu artikulieren,<br />
braucht es starke Einzelne, die<br />
durch außergewöhnliche Akzente auffallen.<br />
Orientiert werden kann sich dabei an konkreten<br />
Vorbildern (Zentrum für politische<br />
Schönheit, »Du bist Terrorist!«).<br />
Kunst, Bilder, Aktionen und mediale Ereig-<br />
nisse sind ein zwingendes, subversives Mittel<br />
für den Versuch, die global zerstreuten<br />
Massen aus ihrer Lethargie zu reißen. Bislang<br />
verfügt der Konservative über keine<br />
wirkmächtigere Ressource als die eigene<br />
Kreativität und Intelligenz.<br />
Konservative benötigen einen festen Fundus<br />
an Poesie und Kunst – und zwar neben dem<br />
wichtigen historischen Kanon auch Vorbilder<br />
aus der Gegenwart. Eine erste Anregung:<br />
den französischen Skandalautor Michel<br />
Houellebecq entdecken, da er schonungslos<br />
die Orientierungslosigkeit von<br />
Patchwork-Identitäten, die sexuelle Pauperisierung<br />
in Folge der sexuellen Befreiung<br />
sowie die Gefahren des Schaffens von biologisch<br />
neuartigen Neo-Menschen in einer<br />
technokratischen Zeit offengelegt hat.<br />
Es gibt viel zu entdecken <strong>im</strong> Reich der Poesie<br />
und Kunst – und danach gilt es, vieles davon<br />
in »echte Schönheit« zu verwandeln.<br />
Menzel – Politische Schönheit<br />
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