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EDITION ANTAIOS Herbst 2009 - Sezession im Netz

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Theorie | <strong>Sezession</strong> 32 · Oktober <strong>2009</strong><br />

Aktion »politische Schönheit«<br />

von Felix Menzel<br />

Wann fand der letzte Thesenanschlag in Deutschland<br />

statt? Am 8. Mai <strong>2009</strong> reitet ein mit Ruß<br />

verschmierter junger Mann auf einem Pferd vor<br />

den Bundestag. Zusammen mit einer Handvoll<br />

Mitstreiter schlägt er zehn mitgebrachte Thesen<br />

am Hauptportal des Reichstagsgebäudes an.<br />

Anschließend verkündet die Gruppe ihre Vorstellungen.<br />

»In jedem Menschen steckt eine tiefreichende<br />

Sehnsucht nach dem Schönen«, lautet<br />

die erste These. Wer sind diese jungen Menschen,<br />

die glauben, daß eine Seele ohne Poesie<br />

»eine unentdeckte Form der Geisteskrankheit«<br />

ist? Und was wollen sie?<br />

Die Gruppe nennt sich Zentrum für politische<br />

Schönheit, zählt nach eigenen Angaben 100<br />

Mitglieder, wobei etwa zehn Künstler mit außergewöhnlichen<br />

Aktionen den Ton angeben. Bisher<br />

seien sie nur eine Ideenschmiede für die Politik,<br />

aber bis 2020 möchten sie zur Bundestagswahl<br />

antreten und haben deshalb auch schon für<br />

dieses Jahr mit Nina van Bergen eine informelle<br />

Bundeskanzlerkandidatin aufgestellt, verrät der<br />

Initiator des Projekts, Philipp Ruch. Die schöne<br />

Geisteswissenschaftlerin sieht ihre Berufung in<br />

nichts Geringerem als der Rettung der Welt. Die<br />

linken Intellektuellen der 60er und 70er Jahre in<br />

der Bundesrepublik hätten versagt und Theorien<br />

entworfen, die am Menschen vorbeigehen. In Anlehnung<br />

an Carl Schmitt möchte sie weg von »politischer<br />

Romantik«, weg also von Ziellosigkeit<br />

und der Unfähigkeit, Entscheidungen zu fällen.<br />

Das Streben nach »echter Schönheit« müsse vielmehr<br />

an die Stelle zaghafter, romantisierter Ideen<br />

treten. »Unter einer poetischen Politik verstehen<br />

wir den Ausblick auf etwas Epochales: Ziele, die<br />

der Windhauch des Monumentalen umweht«,<br />

ergänzt der Politologe Philipp Ruch. »Die Dekadenz<br />

zeichnet sich gegenwärtig dadurch aus, daß<br />

es der Politik an Gravitation fehlt. Das ist neu.<br />

Es gibt dabei keinen Niedergang mehr, sondern<br />

freies, vakuumartiges Schweben. Wir stellen die<br />

epische Gravitation wieder her.«<br />

52<br />

Menzel – Politische Schönheit<br />

Alle großen Parteien zeigten <strong>im</strong> Bundestagswahlkampf<br />

<strong>2009</strong> ihre Visionslosigkeit. Statt der<br />

Inhalte dominierten Bürokratengesichter, und<br />

die Wähler mußten die <strong>im</strong>mer gleichen, sinnentleerten<br />

Phrasen von »sozialer Gerechtigkeit«,<br />

»Bildung für alle« und andere hohle Versprechungen<br />

ertragen. Insofern legen Ruch und sein<br />

Zentrum für politische Schönheit den Finger in<br />

eine offene Wunde der Bundesrepublik. Die etablierte<br />

Politik schafft es nicht, die Bürger mitzureißen<br />

und ihnen große Ziele anzubieten. In den<br />

Worten des 28jährigen Berliners klingt das so:<br />

»Es ist viel die Rede vom unpolitischen Bürger.<br />

Die Menschen müssen das Gefühl haben, Teil<br />

von etwas Bedeutsamem zu sein. Unserer Auffassung<br />

nach leben wir in einer Zeit, die unfähig<br />

dazu ist, diese Form der politischen Bedeutungsproduktion<br />

herzustellen.«<br />

Wenn die Politik versagt, habe die Kunst<br />

den Auftrag, neue Hoffnungen, Visionen, Wünsche<br />

und Sehnsüchte unters Volk zu bringen.<br />

Was heißt das konkret und welche neuen Sinnangebote<br />

haben die Aktionskünstler des Zentrums<br />

für politische Schönheit anzubieten? Am<br />

23. Mai <strong>2009</strong> feierte die Bundesrepublik ihren<br />

60. Jahrestag. Zugleich wählte eine riesige<br />

Abordnung von Bürokraten – <strong>im</strong> Amtsdeutsch<br />

»Bundesversammlung« genannt – Bundespräsident<br />

Horst Köhler für weitere fünf Jahre. Ruch<br />

und Nina van Bergen nutzten diesen Anlaß, um<br />

Köhler mit einer Aubade, also einem Morgenständchen,<br />

zu gratulieren, und rezitierten per<br />

Megaphon vor dem Reichstag das Gedicht »An<br />

die Schönheit« des expressionistischen Lyrikers<br />

Ernst Stadler. Die Polizei schritt ein, weil<br />

sie die Aktion für eine politische Kundgebung<br />

hielt und »meinungsäußernde Inhalte« festgestellt<br />

haben wollte. Zwei Monate später zur<br />

Vernehmung bei der Polizei trug Ruch ein weiteres<br />

Stadler-Gedicht vor – »Worte« – und besuchte<br />

kurz darauf noch einmal den Bundespräsidenten,<br />

um ihm 25 Kilo Kohle zu schenken,

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