EDITION ANTAIOS Herbst 2009 - Sezession im Netz
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Leben in vollkommener Öffentlichkeit. Be<strong>im</strong><br />
Nachdenken über eine konservative Protestbewegung<br />
mit einer entsprechenden Subkultur<br />
sollte jedem klar sein, daß diese nur durch ein<br />
Verwischen der Differenz zwischen privat und<br />
öffentlich machbar ist – sowohl auf der Seite der<br />
Anführer und Idole als auch auf der Seite der<br />
Mitmachenden und der Masse. Die Frage ist,<br />
ob dies dem konservativen Habitus entspricht.<br />
Im besten Fall will der Konservative in seinem<br />
gesamten sozialen Umfeld wirken, <strong>im</strong> weniger<br />
guten Fall beschränkt er sich auf einen biedermeierlichen<br />
Rückzug. Das selbstlose Aufgehen<br />
in einer subkulturellen Nische dürfte hingegen<br />
nur etwas für wenige sein. Jedes Engagement<br />
in einer Subkultur ist mit einer lustvollen<br />
Zurücknahme von eigener Freiheit verbunden.<br />
»Eine neue Menge kultureller Helden, Tanz-<br />
formen, Kunstformen schließt sich zusammen,<br />
nicht nur um eine klassische Generationsrevolte<br />
auszudrücken, sondern die unmittelbare persönliche<br />
Befreiung als Vorspiel öffentlicher radikaler<br />
Gleichheit zu einem teilweisen Ausdruck zu<br />
bringen«, haben die Sozialwissenschaftler Irving<br />
Horowitz und Martin Liebowitz das Wesen von<br />
Subkulturen Ende der 60er Jahre in Social Deviance<br />
and Political Marginality auf den Punkt<br />
gebracht.<br />
Die meisten Konservativen dürften eine tiefe<br />
Abneigung gegen eine konforme Masse hegen.<br />
Denn gerade der Kampf gegen die Unterwerfung<br />
durch die Masse könnte die Aufgabe neuer Protestformen<br />
und ein politisches Hauptanliegen<br />
von Konservativen sein. Wichtig ist es dabei, zuerst<br />
einmal zu begreifen, was den Massenmenschen<br />
heute ausmacht. Der Karlsruher Philologe<br />
und Medienwissenschaftler Götz Großklaus<br />
beschäftigt sich <strong>im</strong> ersten Kapitel seines Büchleins<br />
Medien-Bilder mit dem Bild des Massen-<br />
Körpers und liefert wichtige Gedanken zu einer<br />
54 Menzel – Politische Schönheit<br />
zeitgemäßen Theorie der Masse. Bei Pop-Konzerten<br />
und wichtigen Fußballspielen bilde sich<br />
eine Event-Masse, so Großklaus. Da heutzutage<br />
auch Proteste Events sind, lassen sich die Anregungen<br />
von ihm eins zu eins auf diese Bewegungen<br />
übertragen. Event-Massen sind in zwei Teile<br />
gespalten. Der erste Teil ist zeitlich und räumlich<br />
als Zuschauer klar lokalisierbar, der andere<br />
n<strong>im</strong>mt nur virtuell via einer (Live-)Inszenierung<br />
an der Großveranstaltung teil. Die Event-<br />
Masse versammelt sich also nur noch gemeinsam<br />
»in der Zeit« und nicht mehr ausschließlich<br />
in Zeit und Raum. Neben den lokal verdichteten<br />
Massen, die persönlich vor Ort teilnehmen,<br />
untersucht Großklaus auch die global zerstreuten<br />
Massen, die sich die Emotionen ihrer Idole<br />
und der anwesenden Zuschauer ins Wohnz<strong>im</strong>mer<br />
transportieren lassen. Es geschieht folgendes:<br />
»die Bild-Folgen erregter<br />
Massen erregen weitere, abwesende<br />
Massen und können von<br />
Mal zu Mal an dramatischen<br />
Höhepunkten des verfolgten<br />
Geschehens sehr wohl den s<strong>im</strong>ultanen<br />
und millionenfachen<br />
Aufschrei einer einzigen Erregungs-Masse<br />
hervorbringen«,<br />
meint Großklaus. Die gesamte<br />
Masse ist heute also nicht mehr<br />
fotografierbar, weil sie nicht<br />
mehr an einem Ort zusammenkommt.<br />
Vielmehr entsteht sie<br />
nur durch die mediale Verbreitung<br />
sozialer Emotionen.<br />
Ausgehend von diesen<br />
Überlegungen lassen sich zwei<br />
wichtige Ableitungen vornehmen.<br />
Erstens: Es gibt auch heute<br />
noch eine Masse, nur sieht man<br />
sie nicht mehr so häufig. Zweitens:<br />
Jedes politische Vorhaben<br />
steht und fällt mit der erfolgreichen<br />
Ansprache der global<br />
zerstreuten Massen. Wer keine<br />
Mittel findet, mit Leuten Kontakt aufzubauen,<br />
die nur den Fernseher einschalten oder nur vor<br />
dem Computer hocken, der spricht in einen luftleeren<br />
Raum hinein und befindet sich in jenem<br />
vakuumartigen Schweben, welches Philipp Ruch<br />
als Kennzeichen der Dekadenz ansieht.<br />
Vielleicht ist die gegenwärtige politische<br />
Lage gerade deshalb so unerträglich, weil alles<br />
so schwammig ist. Echte Freund-Feind-Paarungen<br />
gibt es kaum noch und somit wird auch echter<br />
politischer Protest schwieriger und muß sich<br />
verändern. Mit dem allmählichen Zerbröseln<br />
von Subkulturen und deren Individualisierung in<br />
Lebensstile stehen zusätzliche Chancen und Risiken<br />
vor der Tür. Einerseits ist zu befürchten, daß<br />
diese Zersplitterung die Artikulation jeglichen<br />
Protests noch unwahrscheinlicher macht, andererseits<br />
könnte quasi aus dem Nichts auf einmal<br />
etwas entstehen. In dieser Situation liegt es nahe,<br />
sich auf den Kern dessen, was Protest ausmacht,<br />
zu konzentrieren und alles andere über Bord zu<br />
werfen. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann