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Gestohlene Lust. Kammern der Begierde - Rowohlt

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Mosaik, das ihre Terrasse mit üppigen Blütenkelchen überzog.<br />

Dieser abendliche Besuch war mittlerweile zu einem<br />

Ritual geworden, das sie zwei- bis dreimal die Woche zelebrierten.<br />

Seit sie Friedrich vor einem halben Jahr bei einem Theaterbesuch<br />

kennen gelernt hatte, konnte sich Josephine<br />

ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Er hatte damals<br />

den Major Tellheim in <strong>der</strong> «Minna von Barnhelm»<br />

gespielt. Josephine war vom ersten Anblick hingerissen<br />

von <strong>der</strong> Anmut seiner Bewegungen und <strong>der</strong> Kraft seines<br />

Ausdrucks. Als er ihr später bei einem kleinen Umtrunk<br />

im Foyer vorgestellt wurde, reichten ein Handkuss und<br />

<strong>der</strong> samtige Klang seiner Stimme, um sie erröten zu lassen.<br />

Josephines Wirkung auf den jungen Schauspieler<br />

war nicht min<strong>der</strong> betörend. Er hing an ihren Lippen, sog<br />

jedes ihrer Worte in sich auf und erschauerte bei einer<br />

zufälligen Berührung.<br />

Josephine hatte kurz zuvor Goethes Briefroman «Die<br />

Leiden des jungen Werthers» gelesen. Die im Laufe einer<br />

Kutschfahrt entfachte Leidenschaft des jungen Mannes für<br />

die neunzehnjährige Lotte erschien ihr übertrieben und<br />

wenig nachvollziehbar. Wie sollte allein <strong>der</strong> Anblick eines<br />

fremden Menschen so tiefe Gefühle entfachen können?<br />

Nach <strong>der</strong> Begegnung mit Friedrich wusste sie es.<br />

Wenn sich ihre Blicke trafen, fing Josephines Herz aus<br />

unerklärlichen Gründen heftig an zu pochen. Ergriff er<br />

ihre Hand, brach ihr <strong>der</strong> Schweiß aus. Und als sie schließlich<br />

gehen musste, schnürte ihr die Sehnsucht nach seiner<br />

Nähe die Kehle zu, kaum dass sie das Theater verlassen<br />

hatte. Zwei Tage hielt sie diesen Zustand aus, dann überredete<br />

sie ihre Mutter zu einem weiteren Theaterbesuch. Die<br />

erbauliche Wirkung von Lessings Schauspiel über gekränkte<br />

Ehre und die Kraft einer liebenden Frau hätten es<br />

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