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Programmheft - Badisches Staatstheater Karlsruhe

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„Tradition“ verklärt wird. In Wahrheit ist<br />

diese Situation aber schlicht frustrierend<br />

und dem Anspruch einer heutigen Musizierpraxis<br />

nicht mehr angemessen. Wir<br />

präsentieren also hier in <strong>Karlsruhe</strong> eine<br />

Fassung, die von hunderten kleiner und<br />

größerer Fehler und Ungenauigkeiten,<br />

vielleicht auch teilweise willkürlichen Veränderungen<br />

der Verlagsredakteure bereinigt<br />

ist. Viele weitere konkrete aufführungspraktische<br />

Hinweise, beispielsweise<br />

von der exakten Orchesterbesetzung bis<br />

zu dirigentischen Details, konnten aus<br />

bezeichneten Noten, Briefen und Kritiken<br />

des Komponisten übernommen werden.<br />

Neben diesen begeisternden, quasi philologischen<br />

Funden gab es im Nachlass<br />

aber zwischen den Zeilen noch etwas zu<br />

entdecken: Einen Geist der Operette und<br />

ihrer Wahrnehmung, der grundverschieden<br />

ist von dem, wofür diese Stücke heute<br />

üblicherweise stehen!<br />

Der Musikwissenschaftler Kevin Clarke<br />

hat in seinen wunderbaren Aufsätzen den<br />

historischen Bruch ab 1933 in der Aufführungstradition<br />

sehr überzeugend dargestellt.<br />

Aber könnte man diesen verlorenen<br />

Geist heute wieder hörbar machen? Der<br />

zündende Funke dafür waren Aufnahmen<br />

einiger Nummern des vetter mit der Uraufführungsbesetzung<br />

oder unter Künnekes<br />

eigener Leitung, die ich von dem Berliner<br />

Schelllackplattensammler Raoul Konezni<br />

erhalten habe. Und hier, wie auf vielen<br />

weiteren, leichter zugänglichen Aufnahmen<br />

der Operettenstars der Vorkriegszeit,<br />

wie Fritzi Massary, Gitta Alpar, Oscar<br />

Denes, Karl Jöken u. a., die ich daraufhin<br />

begierig angehört habe, tat sich eine Welt<br />

auf, die die obige Frage nach der musikalischen<br />

Qualität sofort irrelevant machte:<br />

Man hört auf diesen Platten eine Intensität<br />

und Vielschichtigkeit der Gestaltung, ein<br />

Spiel der (damals nur selten Opern-) Sänger<br />

mit ihrem imaginären Hörer, eine Freude<br />

an der nur mit halbem Ernst eingenommenen<br />

Pose; und die Komposition ist der<br />

Rohstoff dafür! Dieses Verhältnis zwischen<br />

Werk und Darsteller brachte Alfred Polgar<br />

auf den Punkt, als er über eine neue Operette<br />

schrieb: „Die Noten sind von Leo Fall,<br />

die Musik von Fritzi Massary.“<br />

Zu den vielen Missverständnissen, die<br />

unsere heutige Wahrnehmung von Operette<br />

ausmachen, ist also auch das zu zählen,<br />

sie wie eine Oper zu lesen und zu besetzen<br />

– und sie damit erst zur B-Klasse in derselben<br />

Liga zu machen, anstatt den eigenen<br />

Regeln dieses Genres nachzuspüren. Und<br />

diese Regeln sind die des unmittelbar<br />

Wirksamen, des attraktiven Momentes,<br />

der stilisierten und sich keineswegs um<br />

Wahrhaftigkeit scherenden Pose, kurz: die<br />

des Pop.<br />

Kennen Sie die Komponisten von love me<br />

tender, my Way oder Je ne regrette rien?<br />

Wahrscheinlich nicht, denn das eigentlich<br />

Erregende findet sich nicht in den Harmonien<br />

oder Melodien dieser Songs, sondern<br />

hat zwischen den Stars und ihrem Publikum<br />

stattgefunden, weshalb eben Elvis<br />

Presley, Frank Sinatra und Edith Piaf die<br />

Unvergesslichen geworden sind. Und dieses<br />

Prinzip beherrscht auch die Operette:<br />

Die strukturell einfachen Kompositionen<br />

eröffnen einen Raum für die Darsteller,<br />

sich die jeweilige Nummer auf eine persönliche<br />

und eigenwillige Art anzueignen.<br />

Dieser Aneignung, diesem Füllen der vom<br />

Werk freigelassenen Leerstelle, ordnen<br />

sich dann andere musikalische Faktoren<br />

unter. Zuerst auffallend auf den alten Aufnahmen<br />

ist das völlig flexible Tempo, bei<br />

dem das Orchester gewillt ist, jeder Ausdrucksnuance<br />

der Diva oder ihres Lieb-<br />

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