29.09.2012 Aufrufe

Pastorale Entwicklungstrends aus der Sicht der Praktischen Theologie

Pastorale Entwicklungstrends aus der Sicht der Praktischen Theologie

Pastorale Entwicklungstrends aus der Sicht der Praktischen Theologie

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Pastorale</strong> <strong>Entwicklungstrends</strong><br />

<strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Sicht</strong> <strong>der</strong> <strong>Praktischen</strong> <strong>Theologie</strong><br />

Michael Krüggeler, SPI, St. Gallen<br />

Wenn es um den Entwurf und um die Beurteilung von “Pastoralplänen”, wenn es um die Diagnose<br />

pastoraler <strong>Entwicklungstrends</strong> geht, ist es vielleicht angezeigt, sich zunächst darüber zu verständigen,<br />

was wir eigentlichen unter “Pastoral” - also unter dem grundlegenden Handeln <strong>der</strong><br />

Kirche, unter den kirchlichen Grundvollzügen - verstehen wollen.<br />

1 Was heisst “Pastoral”?<br />

Rainer Bucher macht darauf aufmerksam, dass nach dem Verständnis <strong>der</strong> eigentlichen<br />

“Pastoralkonstitution Gaudium et Spes” des II. Vatikanischen Konzils Pastoral grundsätzlich als<br />

“Missionarische Pastoral” verstanden wird. “Mission” bedeutet zunächst eine produktive<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>der</strong> Kirche mit ihrem jeweiligen “Aussen”. Heute ist das ihre gesellschaftliche<br />

Umwelt in <strong>der</strong> gegebenen Situation von Säkularität und religiöser Pluralität. In dieser Situation sieht<br />

die Pastoralkonstitution Mission eben nicht mehr als territorial und sozial gedachte (Rück-<br />

)Eroberung dieser Umwelt im Sinne <strong>der</strong> alten Bekehrungspastoral, son<strong>der</strong>n dieses heutige<br />

“Aussen” wird zur eigentlichen Bewährung für die Lebenspl<strong>aus</strong>ibilität des “Innen”.<br />

Pastoral wird also nicht länger als ein rein innerkirchliches Geschehen, “son<strong>der</strong>n als die<br />

handlungsbezogene kreative Konfrontation des Evangeliums mit <strong>der</strong> Gegenwart definiert” (Bucher<br />

2004, 262). Die Konstitution “Gaudium et Spes” begreift sich nach Ausweis ihrer ersten Fussnote<br />

eben deswegen als “pastoral”, weil sie “das Verhältnis <strong>der</strong> Kirche zur Welt und zu den Menschen<br />

von heute darzustellen beabsichtigt” (GS 1, Fussnote 1). Jedes kirchliche Handeln als “Pastoral” ist<br />

damit in die Doppelperspektive <strong>der</strong> Fragen von “Innen und Aussen” eingespannt:<br />

• Im “Aussen” soll sich die Lebensperspektive des Evangeliums so bewähren, dass dadurch das<br />

“Innen” <strong>der</strong> eigenen Tradition und des Evangeliums in seiner Präsenz besser verständlich wird.<br />

• Als “Inneres” ist kirchliches Handeln als Pastoral immer nur dann möglich, wenn dieses<br />

Handeln die Perspektive seines “Aussen”, also seines Verhältnisses zur Welt und zu den<br />

Menschen von heute produktiv einbezieht.<br />

“Der Pastoralbegriff des II. Vatikanums stellt <strong>der</strong> Kirche die Aufgabe, sich vom Aussen ihrer selbst,<br />

also von den säkularen Wirklichkeiten her zu begreifen und dieses Aussen als Ort <strong>der</strong> Bewährung<br />

ihrer Botschaft zu erfassen. Säkularität und religiöse Pluralität sind nicht die Bedrohung <strong>der</strong><br />

Pastoral, son<strong>der</strong>n die Orte ihrer Bewährung und Konstitution” (Bucher 2004, 266).<br />

1


Von daher wird jedes kirchliche Handeln zu einer “Pastoral <strong>der</strong> Entdeckung” (ebd. 267) - so haben<br />

wohl auch die französischen Bischöfe die produktive Intention ihres “proposer” für einzelne<br />

Menschen wir für soziale Zusammenhänge gedacht. Diese Pastoral <strong>der</strong> Entdeckung “hofft auf die<br />

Entdeckbarkeit des Evangeliums <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Perspektive des heutigen Lebens und auf die<br />

Erschliessungskraft des Evangeliums für die heutige Existenz. Ihr geht es darum, Orte zu schaffen,<br />

wo es möglich wird, Sinn und Bedeutung des Evangeliums von <strong>der</strong> kulturellen Wirklichkeit <strong>der</strong><br />

Gegenwart her, zu <strong>der</strong> Atheismus und die religiöse Pluralität gehören, neu zu erschliessen und dem<br />

Leben in dieser Gegenwart vom Evangelium her neue, ungeahnte Horizonte zu entdecken. Denn<br />

das Evangelium ist nichts, was wir haben, son<strong>der</strong>n etwas, das wir entdecken müssen” (ebd.).<br />

An<strong>der</strong>s gesagt: “<strong>Pastorale</strong> Handlungsorte sind daher heute immer Experimentalorte, nur so<br />

gewinnen sie noch missionarische Ausstrahlungskraft” (ebd. 268).<br />

Diese inhaltliche Skizze zu einer “Pastoral <strong>der</strong> Entdeckung” können wir auch als einen inhaltlichen<br />

Massstab in Erinnerung behalten, wenn es jetzt darum gehen soll, verschiedene fortgeschrittene<br />

Positionen von Pastoraltheologen als pastoraltheologische Entwicklungslinien darzustellen.<br />

2 <strong>Pastorale</strong> <strong>Entwicklungstrends</strong><br />

2.1 Vom klerikalen Amt zum Leutepriester:<br />

Paul Michael Zulehner<br />

2.1.1 Scharfe Kritik am “verwalteteten Untergang”<br />

Paul Michael Zulehner übt eine scharfe Kritik am bisherigen pastoralen Umgang <strong>der</strong><br />

Bistumsleitungen mit <strong>der</strong> Transformationskrise <strong>der</strong> Kirche. We<strong>der</strong> im Blick auf den Umgang mit<br />

dem Priestermangel noch im Umgang mit dem Finanzmangel sei es bisher zu überzeugenden<br />

Lösungen gekommen.<br />

Der Umgang mit dem Priestermangel wurde vor allem “raumpflegerisch” angegangen: “Die Zahl<br />

<strong>der</strong> Seelsorgeeinheiten wird <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> für die Seelsorge verfügbaren Priester angeglichen. Das<br />

führt zu seelsorgerlichen Megaräumen” (Zulehner 2004, 119). Zugleich führe dieser Umgang zu<br />

einer “schleichenden Reklerikalisierung des Kirchenbetriebs” (ebd.) und zwar zu einer<br />

Klerikalisierung, die den Priestern selber nicht gefällt, weil sie in ihrer Seelsorge die Nähe zu den<br />

Lebensgeschichten <strong>der</strong> Menschen verlieren.<br />

Der Umgang mit dem Finanzmangel führt zu einer ebenso schleichenden Ökonomisierung <strong>der</strong><br />

Pastoral, zu einem Diktat des Geldes unter Anleitung betriebswirtschaftlicher Unternehmensberater.<br />

“Das oberste Gestaltungsprinzip des Kirchenbetriebs ist eben betriebswirtschaftliche Vernunft.<br />

Theologische Rücksichtnahmen treten weit in den Hintergrund. Es geht gott-frei zu, atheistisch<br />

sozusagen” (ebd. 120). Auch die dabei gebräuchliche Rede von <strong>der</strong> kirchlichen “Kernidentität”, die<br />

sich auf liturgische und sakramentale Vollzüge zu konzentrieren habe, führt nach Zulehner nicht<br />

weiter, weil es letztlich keinen pastoralen Vorgang gäbe, <strong>der</strong> nicht an allen drei Grundfunktionen<br />

teilhabe.<br />

Alles in allem wirft Zulehner den für diese Strategie Verantwortlichen vor, dass sie eine “veraltete<br />

und nicht mehr zukunftsfähige Kirchenorganisation” verwalten würden, “statt jetzt die<br />

Kirchenorganisation von Grund auf umzubauen. Es wird ein Untergang mit hohem<br />

betriebswirtschaftlichen Aufwand verwaltet, aber kein Übergang gestaltet” (ebd. 121).<br />

2


2.1.2 Alternative: “Übergang gestalten”<br />

2.1.2.1 Die Vision<br />

Wer verantwortlich den Übergang gestalten will, <strong>der</strong> muss sich nach Zulehner an den “Zeichen <strong>der</strong><br />

Zeit” orientieren. “Im Dialog mit den Zeichen <strong>der</strong> Zeit und dem tradierten Auftrag, also an <strong>der</strong><br />

Schnittstelle von Situation und Tradition, sind dann jene konkreten Leitbil<strong>der</strong> für kirchliches Handeln<br />

heute zu entwickeln, das Menschen verlockt, sich an ihnen <strong>aus</strong>zurichten und von diesen bewegen<br />

zu lassen” (ebd.).<br />

Zulehner sieht zwei große Trends, an denen sich die Kirchen heute zu orientieren haben: ”... die<br />

Frage nach <strong>der</strong> Gerechtigkeit inmitten <strong>der</strong> Freiheit und die Frage nach <strong>der</strong> Spiritualität inmitten <strong>der</strong><br />

Säkularität” (ebd.).<br />

Angesichts einer weltweiten neuen Sozialen Frage in den reichen Län<strong>der</strong>n ebenso wie in <strong>der</strong> Dritten<br />

Welt, steht nach Zulehner “eine kluge Diakonisierung <strong>der</strong> Kirche“ auf dem Programm (ebd.). “Ins<br />

visionäre Leitbild <strong>der</strong> christlichen Kirchen gehört daher, dass sie eine <strong>der</strong> verlässlichsten<br />

Anwältinnen <strong>der</strong> vom Überflüssigwerden Bedrohten sind und dazu helfende und politische<br />

diakonale Projekte entwickeln” (ebd.). Und auch die in Zukunft vermehrt spirituell Suchenden sollen<br />

in den Kirchen einen Ort für ihre Suche finden. Entsprechend steht <strong>der</strong> Kirche eine<br />

“Spiritualisierung” ins H<strong>aus</strong> und zwar in einem polaren Verhältnis zur Diakonisierung: “... so wie<br />

eben Gottes- und Nächstenliebe voneinan<strong>der</strong> nicht getrennt werden können. Ins visionäre Leitbild<br />

<strong>der</strong> Kirchen gehört demnach in den nächsten Jahren, dass sie für die spirituell suchenden und<br />

Wan<strong>der</strong>nden eine <strong>der</strong> besten gesellschaftlichen Adressen sein werden” (ebd. 122).<br />

2.1.2.2 Die Strukturen<br />

Schliesslich stellt sich die Frage, welche Strukturen die Kirche braucht, um diese Visionen in die Tat<br />

umzusetzen. “<strong>Pastorale</strong> Megaräume zu schaffen und in diesen die pastoralen Aufgaben<br />

unterschiedslos anzusiedeln, ist <strong>der</strong> falsche Weg. Vielmehr ist zu fragen: Welche Aufgaben sind im<br />

Rahmen <strong>der</strong> leitenden Vision zu leisten?” (Ebd.)<br />

(a) “Lokale Glaubensnetzwerke”<br />

“Wahrhaft gläubige Gemeinden”<br />

Eigenfinanzierung<br />

Partizipation<br />

“Leutepriester”: leiten, ehrenamtlich<br />

Der Teil kirchlicher Aufgaben, <strong>der</strong> sich als bodenständig, lokal, kleinräumig erweist, nahe an<br />

einzelnen Lebensgeschichten und Familien: Riten/Lebenswenden, Kin<strong>der</strong>gärten, Kin<strong>der</strong>pastoral,<br />

Kranke und Pflegebedürftige in Verbindung mit den familialen Lebenswelten.<br />

Solche Aufgaben werden lokalen Glaubensnetzwerke erfüllen, mit einer Grösse von 70-100<br />

Beteiligten. Hier soll auch Eucharistie gefeiert werden.<br />

(b) “Grossräumige pastorale Projekte”<br />

Jugend, Bildung, Medien, Politik<br />

Fundraising<br />

professionelle Hauptamtliche<br />

(c) “Missionarische Offensivprojekte”<br />

Projekte<br />

missionarisch: sich <strong>aus</strong>weiten (lokal)<br />

“Inseln einer neuen Welt in <strong>der</strong> alten”<br />

“Bistumspriester”: gründen, hauptamtlich<br />

Das kann eine Jugendkirche sein, eine Stadtmission neuer Art, es kann sich um “Getauftentage”<br />

handeln, konfessionell wie ökumenisch.<br />

3


2.2 Von <strong>der</strong> Ortspastoral zur Kommunikationspastoral:<br />

Michael N. Ebertz<br />

2.2.1 Megatrends<br />

Michael N. Ebertz beginnt seine Überlegungen für einen Aufbruch in <strong>der</strong> Kirche mit einer Analyse<br />

wichtiger soziologischer “Megatrends” in <strong>der</strong> Gegenwartsgesellschaft. Hier wird ein neuer<br />

gesellschaftlicher Kontext skizziert, dem kirchliche Pastoral und ihre Strukturen zu entsprechen<br />

hätten.<br />

Ich greife dar<strong>aus</strong> drei wichtige Trends in Stichworten her<strong>aus</strong>: (1) Pluralisierung: In <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Gesellschaft haben sich konkurrierende Sinnstifter etabliert, welche alternative Möglichkeiten zur<br />

Weltdeutung und zur Handlungsorientierung anbieten. Die Kirchen haben die Definitionshoheit<br />

darüber, was hierzulande als religiös gilt und worin sich das Religiöse zum Ausdruck bringt<br />

verloren. Religiöse Wahrheiten relativen sich gegenseitig und das erschwert die Orientierung und<br />

die Identitätsbildung <strong>der</strong> einzelnen Menschen. (2) Individualisierung: Die strukturelle<br />

Vervielfältigung von Wahlmöglichkeiten ist auf Menschen angewiesen, die sich als einzigartige<br />

Individuen verstehen und ihr Identitäts-, Rollen- und Karrieremanagement selbst verantworten. Das<br />

‘Selbst’ des Einzelnen wird zur verbindenden Mitte, das die Vielfalt an wahrgenommenen<br />

Teilhabechancen zusammenfügen muss. Dadurch verringern sich die sozialen Gemeinsamkeiten,<br />

es entstehen grössere Unterschiede in sozialen Lebenslagen und in Lebenslaufmustern. (3)<br />

Ästhetisierung: Gleichzeitig sind in den vergangenen Jahrzehnten neue soziale Milieus entstanden,<br />

in denen die Menschen sich jetzt an Geschmacksgrenzen orientieren. Wichtig sind hier<br />

Vorstellungen vom schönen Leben, in <strong>der</strong> “Erlebnisgesellschaft” entscheidet nicht mehr <strong>der</strong><br />

Gebrauchswert <strong>der</strong> Produkte, son<strong>der</strong>n vielmehr ihr Erlebniswert für den eigenen Lebensstil über ihre<br />

Bedeutung. Die ästhetische Perspektive des schönen Lebens wird zum Massstab über Wert und<br />

Unwert des Lebens schlechthin.<br />

2.2.2 Kritik an <strong>der</strong> Ortspastoral<br />

These: Die Kirche macht mit <strong>der</strong> territorialen Seelsorgestruktur ein Angebot, das dieser vielfältigen<br />

und fragmentierten sozialen Wirklichkeit <strong>der</strong> Menschen heute nicht (mehr) entspricht und daher die<br />

Nähe zum Leben <strong>der</strong> Menschen verfehlt.<br />

Lebensräume<br />

Der Pluralisierung und Individualisierung entspricht, dass die einzelnen Menschen sozusagen örtlich<br />

freigesetzt werden, dass die Einheit von Wohnen, Arbeit, Versorgung und Freizeit sich auch örtlich<br />

aufsplittert und dass ein Raum ortsungebundener sozialer Kontakte entsteht. “Das Lokalitätsprinzip,<br />

die Definition des Handlungsraums durch den einen gemeinsamen Ort, ist nicht mehr das tragende<br />

Bauprinzip <strong>der</strong> Gesellschaft” (Ebertz 2003, 83). Aber auch <strong>der</strong> soziale Nahraum selbst hat sich in<br />

seiner Struktur verän<strong>der</strong>t: “Im sozialen Nahraum leben in vielerlei Hinsicht ‘Fremde’, Menschen, die<br />

kaum etwas miteinan<strong>der</strong> teilen, als benachbarte Territorien zu bewohnen, während sozial<br />

Nahestehende, also Verwandte, Bekannte und Freunde in <strong>der</strong> Ferne wohnen” (ebd. 87).<br />

Überlastung<br />

“Gerade <strong>der</strong> nicht näher befragte Grundsatz, die kirchliche Ortsgemeinde solle möglichst viele an<br />

möglichst vielen Angeboten beteiligen, ist unrealistisch” (ebd. 90). Die große Aufgabenzuteilung an<br />

die Ortsgemeinde führt nach Ebertz zu Überfor<strong>der</strong>ungserscheinungen und Belastung bei den<br />

haupt- und ehrenamtlich Engagierten und kann trotzdem die Bevölkerung in ihrer Vielfalt nicht<br />

erreichen.<br />

Ausschliessung<br />

Das durch<strong>aus</strong> aktive Gemeindeleben unserer Tage kann nach Ebertz gleichwohl auf viele<br />

Aussenstehende wie eine geschlossene Gesellschaft wirken. Der Ort des Wohlfühlens für die einen<br />

schliesst die an<strong>der</strong>en mit an<strong>der</strong>en Vorlieben <strong>aus</strong>. Die Festlegung als Ortsgemeinde auf ein<br />

4


Territorium führt gerade dazu, dass solche Schliessungs- und Ausschliessungstendenzen mächtig<br />

werden, die durch eine stärker arbeitsteilig geglie<strong>der</strong>te Pastoral verhin<strong>der</strong>t werden könnten. “Dass<br />

sich die Kirche heute weitgehend selbst auf ‘Pfarrgemeinde’ reduziert und ihre Pastoral beinahe<br />

exklusiv dieser Festlegung auf die Ortsgemeinde verschreibt, drängt sich <strong>der</strong> soziologischen<br />

Diagnose immer deutlicher als Selbstblockade <strong>der</strong> Kirche auf ...” (ebd. 115).<br />

2.2.3 Kommunikationspastoral<br />

Ebertz will die soziale Nähe, welche die Pastoral <strong>der</strong> Volkskirche gekennzeichnet hat,<br />

wie<strong>der</strong>gewinnen, indem er eine “Kommunikationspastoral” vorschlägt, die sich <strong>aus</strong>richtet auf die<br />

vielfältig fragmentierte, arbeitsteilige und differenzierte Lebenswelt <strong>der</strong> heutigen Menschen. Soziale<br />

Nähe <strong>der</strong> Seelsorge lässt sich heute eben nur dann und nur dadurch (wie<strong>der</strong>-)gewinnen, dass die<br />

Fixierung auf das Territorium aufgegeben wird. “Eine solche Kommunikationspastoral dehnt ihren<br />

organisierten Raum weit über den sozialen Wohn- o<strong>der</strong> Nahraum hin<strong>aus</strong> <strong>aus</strong>, um - durch<strong>aus</strong> auch<br />

kritisch - anschlussfähig zu werden für die heutige Lebensführung, die sich eben nicht nur im<br />

sozialen Nahraum vollzieht” (ebd. 127).<br />

Ebertz will die Pfarreien nicht einfach auflösen, son<strong>der</strong>n zu einem “pastoralen Verbundsystem”<br />

strukturell erweitern. “Nicht mehr allen (in einem Wohnbezirk Wohnenden) alles zu werden,<br />

son<strong>der</strong>n Bestimmten vieles - aber eben arbeitsteilig so verknüpft, dass niemand <strong>aus</strong> den Profil- und<br />

Schwerpunktbildungen innerhalb eines grösseren pastoralen Verantwortungsraumes strukturell und<br />

kulturell <strong>aus</strong>geschlossen wird” (ebd. 128). Ein weiterführen<strong>der</strong> Punkt ist dabei eine bewusste<br />

Medienpastoral, welche die ortsungebundenen Kommunikationsmöglichkeiten und<br />

Sozialbeziehungen aufgreift und als Ergänzung zu den an<strong>der</strong>en Formen <strong>der</strong> Seelsorge gestaltet.<br />

Für die Massenmedien wäre es darüber hin<strong>aus</strong> wichtig, “den Glauben so öffentlich zu leben und<br />

lebbar zu gestalten, dass die mediale Öffentlichkeit nicht umhin kommt, ihn wahrzunehmen (ebd.<br />

181).<br />

2.3 Von <strong>der</strong> Volkskirche zur solidarischen Gemeinde:<br />

Norbert Mette und Hermann Steinkamp<br />

2.3.1 Das Memorandum “Für eine zukunftsfähige Kirche”<br />

Norbert Mette und Hermann Steinkamp gehören zu jener Gruppe Praktischer Theologen (O.<br />

Fuchs, N. Greinacher, L.Karrer), welche im Jahr 1991 ein Memorandum “Für eine zukunftsfähige<br />

Kirche” veröffentlicht haben, in dem sie sich kritisch mit <strong>der</strong> “Kooperativen Pastoral” <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong><br />

setzen. Folgende Punkte werden als Kritik ins Spiel gebracht:<br />

• Die Gemeinden müssen als Subjekte <strong>der</strong> Pastoral anerkannt und ernst genommen werden:<br />

“Das bedeutet konkret z.B., dass die pastoralen Notwendigkeiten einer Gemeinde<br />

<strong>aus</strong>schlaggebend sein müssen für das Personal, das in ihr hauptberuflich tätig wird, und<br />

nicht Zahlenschlüssel o<strong>der</strong> Stellenpläne, die von irgendeinem Mangel an Personal her<br />

konzipiert sind” (M 119).<br />

• “Zudem ist die Konzeption <strong>der</strong> ‘kooperativen Seelsorge’ mit ihren unterschiedlichen<br />

Realisierungsmöglichkeiten insgesamt zu sehr binnenkirchlich orientiert, als dass sie<br />

kreative Lösungsmodelle angesichts gesellschaftlicher Verän<strong>der</strong>ungen darzustellen<br />

vermöchte” (M 121). Es gehe um eine angemessene Antwort auf die Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Gemeinden in ihrer konkreten Situation.<br />

• Schliesslich for<strong>der</strong>n die Theologen einen verstärkten Ausbau <strong>der</strong> “kategorialen Seelsorge”,<br />

mit <strong>der</strong> sich “faktisch eine Ausdifferenzierung des kirchlichen Amtes” schon vollzogen habe<br />

(M 123). Gemeinden können sowohl territorial wie kategorial strukturiert sein.<br />

5


Weiterhin for<strong>der</strong>n die <strong>Praktischen</strong> Theologen eine verstärkte ökumenische Zusammenarbeit, und sie<br />

for<strong>der</strong>n, voreilige Zusammenlegungen von Pfarreien zu unterlassen und stattdessen die<br />

Möglichkeiten alternativer Formen <strong>der</strong> Gemeindeleitung <strong>aus</strong>zuloten (M 125).<br />

2.3.2 Die Pathologie <strong>der</strong> “versorgten Gemeinde”<br />

Wie grundsätzlich und scharf die Kritik von Hermann Steinkamp an <strong>der</strong> “versorgenden”<br />

volkskirchlichen Gemeindepastoral ist, macht er selbst deutlich, indem er kritisch die deutsche<br />

“Würzburger Synode” <strong>der</strong> 70er Jahre zitiert. Dort hatte es geheissen: “Aus einer Gemeinde, die<br />

sich pastoral versorgen lässt, muss eine Gemeinde werden, die ihr Leben im gemeinsamen Dienst<br />

aller ... gestaltet” (zitiert nach Steinkamp 1995, 101). Und weiter: “Sie muss selbst mitsorgen,<br />

junge Menschen für das Priestertum und für alle Formen des pastoralen Dienstes zu gewinnen” (z.<br />

n. ebd 102). Süffisant kommentiert Steinkamp: “Die ’Sorge’ gilt - <strong>der</strong> ‘Versorgung’! Mit Priestern<br />

vor allem und mit sonstigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern” (ebd.).<br />

Der Macht-Aspekt: Versorgung als Kontrolle<br />

Nach <strong>der</strong> Konstantinischen Wende zieht die staatskirchliche Verfassung die Notwendigkeit einer<br />

flächendeckenden Präsenz <strong>der</strong> Kirche nach sich, von <strong>der</strong> auch das Verhältnis von Priestern und<br />

Laien im Sinne <strong>der</strong> ‘Pastoralmacht’ geprägt wird (Michel Foucault). Diese wird ihrerseits geprägt<br />

von einem “subtilen Ineinan<strong>der</strong> von Versorgung und Kontrolle” (ebd.). In <strong>der</strong> Rolle des “Pastors”<br />

vermischen sich die Rolle <strong>der</strong> Gemeindeleitung (als Sorge für ein gerechtes und gutes<br />

Gemeinwesen) mit <strong>der</strong> Sorge um das individuelle Heil <strong>der</strong> einzelnen Gläubigen. Weil aber <strong>der</strong><br />

Hirte bei seiner Versorgung <strong>der</strong> einzelnen Schafe mit Gnadenmitteln nicht <strong>der</strong> Gemeinde -<br />

sozusagen demokratisch - verantwortlich ist, son<strong>der</strong>n seinem göttlichen Hirten, wird die Versorgung<br />

des und <strong>der</strong> einzelnen zugleich zu einem subtilen Mechanismus <strong>der</strong> Kontrolle. Auch bei <strong>der</strong><br />

heutigen Versorgung <strong>der</strong> Gemeinden ist die Pastoralrolle - ob von Klerikern o<strong>der</strong> von<br />

Laientheologen - nicht frei von diesen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen.<br />

Der Markt-Aspekt: Angebot und Nachfrage<br />

Im Sinne einer marktförmigen Versorgung werde die heutige Pastoral geprägt von einer “Service-<br />

Mentalität” (ebd. 106) auch in <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong> heutigen Kirchensteuer-Praxis: “Das wichtigste<br />

geheime Thema <strong>der</strong> Volkskirche lautet: Erhaltung, Stabilisierung und ‘Pflege’ <strong>der</strong> Mitgliedschaft ...”<br />

(ebd. 105), wobei die Kirche von den Mitglie<strong>der</strong>n als Dienstleistungsorganisation wahrgenommen<br />

werde, wie ein Verkehrsclub o<strong>der</strong> eine Krankenkasse. In <strong>der</strong> Orientierung <strong>der</strong> Pastoral an Angebot<br />

und Nachfrage und im Versuch einer immer wie<strong>der</strong> erfolglosen Aktivierung auch <strong>der</strong> randständigen<br />

Kirchenmitglie<strong>der</strong> zeige sich das geheime Motto des volkskirchlichen Pastoral ”Hauptsache, es läuft<br />

etwas” (ebd. 107)!<br />

Der Diakonie-Aspekt: Helfer-Syndrom<br />

Auch die Akzentuierung <strong>der</strong> Gemeinde als “diakonische Gemeinde” erweist sich nicht als die<br />

Alternative für ein neues Gemeindebild. Nach Steinkamp “zementieren” die herkömmlichen<br />

Diakoniebemühungen “das assistentialistische Gefälle von Starken und Schwachen, von Gesunden<br />

und Kranken” o<strong>der</strong> aber “die geahnte eigene Ohnmacht und Bedeutungslsoigkeit (wird) in<br />

offenkundigen (kollektiven) Helfersyndrom-Attitüden” <strong>aus</strong>agiert (ebd. 111).<br />

Alles in allem bleibt für Steinkamp die volkskirchliche Gemeinde in den gesellschaftlichen Pl<strong>aus</strong>ibilitäten,<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchen und Pathologien eher gefangen, als diese zu durchschauen und kritischkonstruktiv<br />

zu kontrastieren.<br />

2.3.3 Alternative: Solidarität und Gemeinde<br />

Die Alternative zur volks- und staatskirchlichen Gemeinde und ihrer Pastoral liegt für Steinkamp in<br />

<strong>der</strong> Einsicht <strong>der</strong> Christen <strong>der</strong> Ersten Welt darin, was die lateinamerikanische “Option für die<br />

Armen” für sie bedeutet “Sie sind nicht Samariter, son<strong>der</strong>n ‘Räuber’, strukturell auf <strong>der</strong> Seite<br />

<strong>der</strong>jenigen, <strong>der</strong>en Reichtum auf Kosten <strong>der</strong> Armen <strong>der</strong> Dritten Welt besteht. Die dar<strong>aus</strong><br />

6


esultierenden Konsequenzen für die hiesige Gemeindepastoral lauten: ‘Bekehrung in <strong>der</strong><br />

Metropole’ (P. Frostin) und: Alphabetisierung in Sachen Solidarität” (ebd. 112).<br />

Die Praxis <strong>der</strong> lateinamerikanische Basisgemeinden bilden den Hintergrund für die Überwindung<br />

<strong>der</strong> volkskirchlichen Pastoral und für Steinkamp heisst das: “Gemeinde und Solidarität definieren<br />

sich wechselseitig” (ebd.). Wo Solidaritätspraxis im Sinne weltweiter Befreiungspraxis gelebt wird,<br />

da ist christliche Gemeinde und umgekehrt: Gemeinde ist nur dann christlich, wenn sich ihre Praxis<br />

<strong>der</strong> theologischen Essenz des Samaritergleichnisses verpflichtet weiss: nämlich <strong>der</strong> Fähigkeit zur<br />

“compassion”, <strong>der</strong> Fähigkeit, berührbar zu bleiben angesichts <strong>der</strong> Leidens <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en (vgl. ebd.<br />

113).<br />

2.4 Einige Impressionen zum Brief <strong>der</strong> französischen Bischöfe<br />

“Proposer la Foi dans la société actuelle” (1996)<br />

Im Jahr 1996 haben die Bischöfe Frankreichs einen Brief an die Katholikinnen und Katholiken<br />

veröffentlicht unter dem Titel “Proposer la Foi dans la société actuelle”. Es ist vielleicht<br />

bezeichnend für die unterschiedliche Stimmung in <strong>der</strong> deutschen und <strong>der</strong> französischen<br />

katholischen Kirche, dass wir uns hierzulande schwer tun mit <strong>der</strong> Übersetzung des Wortes<br />

“proposer”. Was ist auf deutsch gemeint: (den Glauben) vorschlagen, anbieten, einbringen?<br />

Mich hat sehr beeindruckt die Haltung <strong>der</strong> französischen Bischöfe, die in diesem unscheinbaren<br />

Wort und Vorgang des “proposer” zu finden ist: Eine Haltung, die auf jegliches Besitzstandsdenken<br />

verzichtet, welche die große Tradition - das Erbe - des französischen Katholizismus zwar kennt und<br />

schätzt, aber sich nicht darauf autoritativ berufen will. Eine Haltung <strong>der</strong> Offenheit, die gerade, weil<br />

sie <strong>der</strong> eigenen Identität vertraut, ganz auf die innere Pl<strong>aus</strong>ibilität des christlichen und<br />

evangeliumsgemässen Angebotes auch in <strong>der</strong> heutigen Gesellschaft setzt. Diese Haltung geht so<br />

weit, dass sowohl im Blick auf die Gesellschaft wie im Blick auf die Kirche vieles an scheinbarer<br />

Sicherheit hinterfragt wird: “Die elementare Grammatik menschlicher Existenz steht nicht mehr<br />

selbstverständlich zur Verfügung” (26, I.1.4) - dass gilt für die Menschen ganz allgemein, ob sie<br />

nun glauben o<strong>der</strong> nicht. Man muss den Menschen und erst darin auch den Glauben - wenn<br />

möglich gemeinsam - ganz neu entdecken - und dabei auf die Identität <strong>der</strong> Sache des Evangeliums<br />

vertrauen.<br />

Der Text umfasst drei Teile: Im ersten Teil geht es darum, “unsere Situation als Katholiken in <strong>der</strong><br />

heutigen Gesellschaft zu verstehen”(sehen); im zweiten Teil geht es darum, zu den Quellen des<br />

Glaubens, d.h. zum “Herzen des Glaubensgeheimnisses vorzudringen” (urteilen) und schliesslich<br />

hat <strong>der</strong> dritte Teil eine unmittelbar pastorale Ausrichtung, es geht hier um die<br />

Evangelisierungsarbeit, welche “den Glauben vorschlägt” (handeln).<br />

Der erste Teil analysiert die Situation <strong>der</strong> Katholiken in <strong>der</strong> gegenwärtigen Gesellschaft und zwar<br />

so, dass er bewusst auf jedes Heimweh nach früheren Zuständen <strong>der</strong> Kirche und somit auch auf<br />

jedes Ressentiment gegenüber <strong>der</strong> heutigen säkularen Gesellschaft verzichtet. Der Glaube muss<br />

heute vielmehr vorgeschlagen werden in einer doppelten Situation: In einer Gesellschaft, die<br />

gekennzeichnet wird von neuen sozialen Brüchen zwischen Arm und Reich - weltweit und national;<br />

und in einer Gesellschaft, die vor allem angesichts des technischen Fortschritts vieles an Selbstverständlichkeit<br />

über die Existenz des Menschen verloren hat, die daher durch eine grosse<br />

Unsicherheit gekennzeichnet ist.<br />

Auch <strong>der</strong> Stellenwert <strong>der</strong> Religion hat sich verän<strong>der</strong>t: Einerseits ist die Religion in ihrer Geltung<br />

heute rehabilitiert, aber das nur in einer Situation des religiösen Pluralismus. In dieser Situation<br />

wollen die Katholiken nicht primär “als Erben anerkannt werden”, “son<strong>der</strong>n auch das Bürger”, die<br />

sich bewusst in die Gesellschaft einbringen. Positiv: “Wenn die katholische Kirche nicht<br />

deckungsgleich mit <strong>der</strong> ganzen Gesellschaft ist, und wenn sie auf jede Herrschaftsposition<br />

7


verzichtet hat, so bleibt sie deswegen doch missionarisch”, o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s gesagt: “Wir verzichten<br />

nicht darauf, eine Kirche für alle zu sein” (32, I.2.6).<br />

Den Glauben vorschlagen heisst in dieser Situation, dass jede pastorale Handlung, welche früher<br />

von einer sozialen Selbstverständlichkeit in einer christentümlichen Gesellschaft getragen war,<br />

heute “als Gegenstand einer Entscheidung vor Augen gestellt werden” muss (34, I.3.2). Das<br />

Vorschlagen ist also nicht unverbindlich, es zielt vielmehr auf eine persönliche Entscheidung, die<br />

radikal ist: Denn wenn die Zeitgenossen heute radikal nach dem Menschen fragen, dann müssen<br />

auch die Christen ebenso radikal sagen, was sie als Wesentliches vorzuschlagen haben.<br />

Ich habe den ersten Teil des Briefes etwas <strong>aus</strong>führlicher vorgestellt, weil mir hier die Intention des<br />

“Proposer” am deutlichsten zu Tage zu treten scheint.<br />

Im zweiten Teil stellen die französischen Bischöfe das Geheminis des christlichen Glaubens vor, als<br />

eines Glaubens an den Gott Jesu Christi, <strong>der</strong> ein Glaube an eine bedingungslose Liebe ist. Gott<br />

selbst nimmt auch das Böse auf, das <strong>der</strong> Mensch in seiner Verantwortung und Freiheit verursachen<br />

kann. Schliesslich vollzieht sich christliches Leben und Handeln “gemäss dem Geist”, <strong>der</strong> auch<br />

dafür besorgt ist, dass sich die christlich notwendige Verbindung von Glaube und Moral in Freiheit<br />

und in tragen<strong>der</strong> Gemeinschaft vollzieht.<br />

Im dritten Teil mit seiner unmittelbar pastoralen Ausrichtung am Handeln <strong>der</strong> Kirche sprechen die<br />

Bischöfe über die Evangelisierungsarbeit <strong>der</strong> Kirche. Hier ist es ihnen wichtig, dass die Kirche<br />

einerseits auf die vielfältigen Erwartungshaltungen <strong>der</strong> Menschen einzugehen vermag und dass die<br />

Kirche sich selbst evangelisiert: “Zur gleichen Zeit, wie sie ihre Armut, ihre institutionelle<br />

Schwächung und einen gewissen Verlust an sozialer Anerkennung feststellt, lernt sie es, im Innern<br />

ihrer selbst das Geheimnis <strong>der</strong> Gemeinschaft zu leben, das ihr Wesen <strong>aus</strong>macht” (57, III.1.5). Die<br />

Kirche wird als “Sakrament Christi in unserer Gesellschaft” verstanden, was einerseits eine<br />

prophetische Haltung und die Einrichtung von Organisationen und Institutionen einschliessen kann<br />

- im Dienst an <strong>der</strong> Gesellschaft. Schliesslich werden die Grundfunktionen <strong>der</strong> Kirche - leiturgia,<br />

diakonia, martyria - von <strong>der</strong> Logik des Vorschlagens her neu durchdacht.<br />

Es ist wohl kein Zufall, dass die französischen Bischöfe für ihre öffentliche Stellungnahme die Form<br />

des “Briefes” gewählt haben. Einerseits wird hier an biblische Vorbil<strong>der</strong> angeknüpft und<br />

an<strong>der</strong>erseits wird damit in Form einer Einladung gesprochen. Bemerkenswert scheint mir noch die<br />

Formulierung, mit <strong>der</strong> die französischen Bischöfe ihre Adressaten ansprechen: “An euch ist dieser<br />

Brief gerichtet, Glie<strong>der</strong> <strong>der</strong> katholischen Kirche in Frankreich. Er gilt euren Erfahrungen, euren<br />

Schwierigkeiten, euren Kritiken und euren Wünschen” (21, 0.4). Mit dieser konsequenten und nicht<br />

nur rhetorischen Orientierung an <strong>der</strong> konkreten Lebenswelt <strong>der</strong> Adressaten werden <strong>der</strong>en<br />

Erfahrungen als Grundlage für ein erneuertes Handeln <strong>der</strong> Kirche ins Auge gefasst. Eine solch<br />

einladende und hörende Haltung von Bischöfen und Bistumsleitungen würde ich mir ebenfalls<br />

wünschen im Inhalt und im Stil vieler neuer Pastoralpläne in deutschen (und schweizerischen)<br />

Diözesen.<br />

3 Elemente für eine innovative Entwicklung von “Pastoralplänen”<br />

3.1 Der strategische Innovationsbedarf<br />

Eine erste Vor<strong>aus</strong>setzung <strong>der</strong> Entwicklung von Pastoralplänen ist eine <strong>aus</strong>führliche und solide<br />

Analyse <strong>der</strong> Gegenwartssituation, des Lebens <strong>der</strong> Menschen darin und des Ortes <strong>der</strong> Kirche in <strong>der</strong><br />

heutigen Situation. Gerade weil eine solche Analyse niemals “objektiv” sein kann, son<strong>der</strong>n schon<br />

im Ansatz von Werturteilen - insbeson<strong>der</strong>e innerhalb <strong>der</strong> Kirche - geprägt wird, muss diese Analyse<br />

<strong>der</strong> “Zeichen <strong>der</strong> Zeit” in einem eigentlichen - synodalen - Kommunikationsprozess erfolgen.<br />

8


“Analyse statt Appel, das heisst aber eben auch die Gründe für die massiven Exkulturationstendenzen<br />

unserer Kirche ehrlich und selbstkritisch zu untersuchen. Es sind diese<br />

Exkulturationstendenzen, die viele so verlegen machen, wenn sie auf die Frage antworten sollen,<br />

warum sie dieser Kirche und ihrer Botschaft die Treue halten” (Bucher 2004, 271f). Zu einer<br />

solchen Analyse kann auch die Wahrnehmung von “Fremdprophetien”, also die Frage nach dem<br />

Bild <strong>der</strong> Kirche in ihrer sozialen Umwelt aufschlussreich sein.<br />

3.2 Der konzeptionelle Innovationsbedarf<br />

Religiös und moralisch kohärente Lebensführungen im Sinne <strong>der</strong> kirchlichen Lehre(n) scheinen eher<br />

die Ausnahme menschlicher Lebensführung in <strong>der</strong> heutigen Gesellschaft zu sein und zu werden.<br />

Von daher stellt sich eine <strong>der</strong> pastoral konzeptionellen Grundfragen (aufgrund meiner Erfahrungen)<br />

folgen<strong>der</strong>massen:<br />

• Kann und will die Kirche sich auf die fragmentierten Lebenszusammenhänge <strong>der</strong><br />

Menschen heute positiv einlassen und das Evangelium in diesen Lebenszusammenhängen<br />

(neu) entdecken und zur Sprache bringen?<br />

• O<strong>der</strong> will die Kirche eine normative Lebensführung im Sinne ihrer Morallehre zur<br />

Vorbedingung von Mitgliedschaft, Partizipation und Sakramentenspendung machen und<br />

auf diese Weise ein internes Sozialmilieu neu rekrutieren?<br />

“Kirche wird das Volk Gottes in <strong>der</strong> Solidarität mit den Existenzproblemen <strong>der</strong> Menschen heute. Die<br />

mo<strong>der</strong>nen pluralen Gesellschaften können nach dem Konzil von <strong>der</strong> Kirche nicht mehr einfach<br />

unter Kategorien <strong>der</strong> ideologischen Gegnerschaft behandelt werden, sie sind vielmehr <strong>der</strong> Ort, an<br />

dem das Evangelium scheitert o<strong>der</strong> zur Geltung gebracht wird. Ja, es gilt sogar: Ohne diesen<br />

an<strong>der</strong>en, den fremden Ort, kann das Evangelium in seiner gegenwärtigen Bedeutung überhaupt<br />

nicht erschlossen werden” (ebd. 272).<br />

3.3 Der praktische Innovationsbedarf<br />

Zur Entwicklung von Pastoralplänen gehört neben einer eher distanzierten Analyse auch ein<br />

engagierter Aust<strong>aus</strong>ch <strong>der</strong> engagierten Gläubigen über ihre Erfahrungen mit dem Glauben und<br />

<strong>der</strong> Kirche heute. Es geht offenbar auch um eine Alphabetisierung in Sachen Christenglauben, <strong>der</strong><br />

die einzelnen Gläubigen und Kirchenmitglie<strong>der</strong> dazu ermutigt und befähigt, Erfahrungen mit ihrem<br />

Glauben in <strong>der</strong> Einsamkeit <strong>der</strong> eigenen Existenz, in <strong>der</strong> Familie, in <strong>der</strong> Lebensgeschichte, am<br />

Arbeitsplatz, in <strong>der</strong> Erfahrung von Krankheit und Gesundheit, also in den vielfältigen Bereichen des<br />

mo<strong>der</strong>nen Lebens miteinan<strong>der</strong> <strong>aus</strong>zut<strong>aus</strong>chen.<br />

“Die jahrhun<strong>der</strong>tealte autoritäre Monopolisierung <strong>der</strong> Interpretation des Glaubens durch den<br />

Klerus fällt nun auf die Kirche zurück: Die Koppelung von (Recht-)Gläubigkeit und Macht, von<br />

Kontrolle religiöser Praktiken und Sanktion, also die ‘Vermachtung’ des Glaubensdiskurses hat ihn<br />

zutiefst beschädigt, trotz aller (oft allerdings eben nur theoretischen) Beteuerung <strong>der</strong><br />

grundsätzlichen Freiwilligkeit <strong>der</strong> Glaubensentscheidung” (ebd. 276).<br />

3.4 Der strukturelle Innovationsbedarf: Struktur und Personal<br />

Prozess-Struktur<br />

Als erstes wäre zu prüfen, ob <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> Erstellung von Pastoralplänen den skizzierten<br />

analytischen, kommunikativen und synodalen Ansprüchen gefolgt ist und zu genügen vermag.<br />

Kommunikations-Struktur<br />

Rainer Bucher plädiert dann anstelle von primär territorialen und personalen Umstrukturierungen<br />

“für eine neue kommunikative Kultur zwischen den bestehenden pastoralen Orten <strong>der</strong> Kirche und<br />

9


zwischen, soziologisch gesehen, binnenkirchlichen und nicht-kirchlichen Orten” (ebd. 279). Es<br />

ginge darum, bisher nur sehr formal verbundene pastorale Handlungsorte wie Gemeinde,<br />

Religionsunterricht, kategoriale Seelsorge und diakonische Einrichtungen in einen Aust<strong>aus</strong>ch zu<br />

bringen über ihre jeweiligen “evangelisatorischen Erfahrungen”, um einen weitgehenden<br />

“pastoralen Autonomismus” produktiv zu unterbrechen (ebd. 277).<br />

Territorial- und Funktional-Struktur<br />

Wenn es aber darüber hin<strong>aus</strong> auch um Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Territorial-Struktur geht, so scheinen<br />

mir folgende Fragen wichtig: Es geht primär um die strukturelle Frage <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> “Kirche<br />

vor Ort” und, in Verbindung damit, um die Strukturierung <strong>der</strong> Seelsorge in “sozialer Nähe” zu den<br />

Menschen. An<strong>der</strong>s gesagt: Seelsorge soll sich <strong>aus</strong>richten am menschlichen Bedarf an (örtlicher)<br />

Beheimatung und den mobilen Lebensräumen in einer hochdifferenzierten Gesellschaft gleichzeitig.<br />

Von diesem doppelten Bedarf her müssten “Pastoralräume” gleichzeitig territorial und funktionalarbeitsteilig<br />

strukturiert werden im Sinne “pastoraler Verbundsysteme” (Ebertz), in dem verschiedene<br />

Aufgaben wahrgenommen, aber auch eine dichte Kommunikation zwischen allen haupt- und<br />

ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen hergestellt werden sollen.<br />

Personal-Struktur<br />

Von dem Personalbedarf solcher pastoraler Verbundsysteme müsste sich die eigentliche<br />

Personalplanung leiten lassen. Fähigkeiten zur Leitung - von Gemeinden und Teams - müssten<br />

ebenso eine Rolle spielen wie Fähigkeiten zur Kooperation und Kommunikation, ebenfalls in und<br />

zwischen Gemeinden wie innerhalb von Seelsorgeteams. Der Rekrutierung, Befähigung und<br />

Anerkennung ehrenamtlicher Mitarbeit kommt eine bedeutende Rolle zu. Aber auch verschiedene<br />

und kontinuierliche Prozesse von Gemeinde-Beratung und Personal-Supervision sind von grösster<br />

Bedeutung.<br />

Noch einmal mit Rainer Bucher plädiere ich für eine “Umkehrung <strong>der</strong> Prioritäten”: “Denn die<br />

Gläubigen, ihre Glaubenserfahrungen und -praktiken, ihre evangelisatorischen Entdeckungen und<br />

Nie<strong>der</strong>lagen, sie sind es, weswegen es die kirchlichen Institutionen gibt, nicht umgekehrt” (ebd.<br />

279).<br />

Literatur<br />

Bucher Rainer 2004, Neuer Wein in alte Schläuche? Zum Innovationsbedarf einer missionarischen Kirche,<br />

in: Sellmann Matthias (Hg.), Deutschland - Missionsland. Zur Überwindung eines pastoralen Tabus, Freiburg<br />

iBr., 249-282<br />

Die französischen Bischöfe 2001, “Den Glauben vorschlagen in <strong>der</strong> heutigen Gesellschaft”. Der Brief an die<br />

Katholiken in Frankreich, Traduction allemande ..., in: Müller Hadwig, Schwab Norbert, Tzscheeetzsch<br />

Werner (Hg.). Sprechende Hoffnung - werdende Kirche. Proposer la foi dans la société actuelle. Den<br />

Glauben vorschlagen in <strong>der</strong> heutigen Gesellschaft, Ostfil<strong>der</strong>n, 16-74<br />

Ebertz Michael N. 2003, Aufbruch in <strong>der</strong> Kirche. Anstösse für ein zukunftsfähiges Christentum, Freiburg i.Br.<br />

Memorandum: Für eine zukunftsfähige Kirche! 1992, in: Fuchs Ottmar, Greinacher Norbert, Karrer Leo,<br />

Mette Norbert, Steinkamp Hermann, Der pastorale Notstand. Notwendige Reformen für eine zukunftsfähige<br />

Kirche, Düsseldorf, 112-126<br />

Steinkamp Hermann 1995, Der Hoffnungsschimmer. Solidarische und verbindliche Gemeindepraxis, in:<br />

Fuchs Ottmar, Greinacher Norbert, Karrer Leo, Mette Norbert, Steinkamp Hermann, Das Neue wächst.<br />

Radikale Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Kirche, München, 96-114<br />

Zulehner Paul Michael 2004, Kirche im Umbau. Für eine Erneuerung im Geist des Evangeliums, in:<br />

Her<strong>der</strong>Korrespondenz 58 (2004), 119-124<br />

28. Juni 2005 mk<br />

10

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!