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Spezial - Volkshochschule Reutlingen GmbH

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32 AlphABetIsIerunG<br />

33<br />

Von der seeLe geschrieben<br />

Wie ein Lese- und schreibkurs das Leben verändern kann<br />

Autor: sAschA hellmAnn<br />

FotoGrAF: olIver reInhArdt<br />

Drei Millionen deutschsprachige Erwachsene können<br />

in Deutschland nicht ausreichend lesen und<br />

schreiben. <strong>Volkshochschule</strong>n und andere Einrichtungen<br />

bieten Alphabetisierungskurse für Erwachsene<br />

an – einer von ihnen ist Edgar Hörz.<br />

Als Nathalie stirbt, schreibt Edgar Hörz in sein Tagebuch:<br />

„Nun ist sie nicht mehr da, und ich vermisse sie. Sie ist mit<br />

achtundzwanzig Jahren gestorben. Ich vermisse sie und die<br />

Gespräche sehr. Wenn ich es nicht aushalte, gehe ich ans<br />

Grab und rede mit ihr. Dann geht es mir besser.“ Nathalie<br />

war seine beste Freundin, ihr verdankt er, dass er Lesen und<br />

Schreiben kann. Als er es lernte, war Edgar Hörz ein erwachsener<br />

Mann.<br />

Edgar Hörz wird 1964 in <strong>Reutlingen</strong> geboren. Er kommt<br />

in die Grundschule. Bleibt dort aber nicht lange. Lesen und<br />

Schreiben sind sein Problem. Er wechselt zur Sonderschule,<br />

die damals noch „Hilfsschule“ heißt. Geholfen wird ihm dort<br />

aber nicht, sein Problem bleibt. Es sei anders als heute gewesen:<br />

„Wenn die Lehrer merkten, dass du nicht mitkommst,<br />

wurdest du abgeschoben.“ Nach insgesamt neun Schuljahren<br />

verlässt er die Sonderschule ohne Abschluss. Sein Problem<br />

hat wenigstens einen Namen: Lese­Schreib­Schwäche.<br />

Edgar Hörz arbeitet als angelernter Gipser. „Ich weiß<br />

nicht, woran es lag“, sagt er. Hörz ist 43 Jahre alt, kräftige<br />

Statur, Glatze, große blaue Augen. „Ich habe das Lesen nicht<br />

vermisst. Wenn es mich interessiert hätte, hätte ich es vielleicht<br />

auch gepackt.“ Er kommt auch so durch. Nur seine Familie<br />

und seine engen Freunde wissen, dass er bis auf seinen<br />

Namen weder lesen noch schreiben kann. Es stört sie nicht.<br />

Sie lesen selbst keine Zeitungen, keine Bücher. Sie können<br />

aber helfen. Lesen ihm in einem Lokal auch mal die Speisekarte<br />

vor.<br />

Mit achtzehn Jahren will er den Führerschein machen.<br />

Nur wie, wenn man die Fragen auf dem Fragebogen nicht<br />

lesen kann? Seine Schwester lernt jeden Tag mit ihm zwei<br />

Stunden. Sie liest die Fragen vor und die Antworten. „Es war<br />

eine harte Zeit“, erinnert sich Edgar Hörz. Auch in der Führerscheinprüfung<br />

müssen ihm die Fragen und Antworten<br />

vorgelesen werden. Er besteht.<br />

Der „Käferfan“ schraubt ein Jahr mit Freunden an einem<br />

VW­Käfer herum: Überschlagbügel, versteiftes Fahrwerk,<br />

abgestimmte Felgen und Bremsen, Porschemotor, 200 km/h<br />

Spitze. Mit seinen Schallplatten fährt er jeden Samstag zur<br />

Reutlinger Eishalle und legt auf. Allerdings unter erschwerten<br />

Bedingungen. Da er die Songs vorher übers Mikro ankündigt,<br />

aber nicht lesen kann, muss er jede Platte auswendig<br />

lernen. Deswegen hört er sich zuhause die Platten so oft<br />

an, bis er ganz sicher ist. Der zwanzigjährige Edgar Hörz<br />

steht in der Mitte der Eishalle auf einem Podest. Gebeugt<br />

über Plattenteller. Um ihn herum fahren Jungen und Mädchen<br />

auf Schlittschuhen. Er ist der Discjockey. Die Mädchen<br />

ziehen ihre Bahnen zu seiner Musik. Der „King“ in der Eishalle<br />

kann nicht lesen und schreiben. Bis er Nathalie kennen<br />

lernt.<br />

Sie hat einen Freund, und er hat eine Freundin. Trotzdem<br />

werden sie beste Freunde. Edgar Hörz schreibt später: „Wir<br />

waren wie Bruder und Schwester. Wir haben alles zusammen<br />

gemacht. Gekocht und zusammen gewohnt, Baden gegangen<br />

und gemalt.“ Da ist er mittlerweile zum zweiten Mal<br />

verheiratet und hat einen Sohn bekommen – Daniel. Seine<br />

Frau arbeitet als Köchin in einer Kindertagesstätte. Edgar<br />

Hörz verdient Geld als Gerüstbauer. Doch das Geld ist immer<br />

knapp. Er will Daniel später einmal bei den Schulaufgaben<br />

helfen. Ein Arbeitskollege, der von seiner Leseschwäche<br />

Spät, aber nicht zu spät hat Edgar Hörz in einem Alphabetisierungskurs der VHS<br />

das lesen und Schreiben gelernt.<br />

weiß, stößt im Internet auf ein Angebot der <strong>Volkshochschule</strong><br />

<strong>Reutlingen</strong>: Zwölf Kursabende für zwölf Euro. Nathalie unterstützt<br />

den Plan.<br />

Edgar Hörz meldet sich an. Parallel zum Kurs bearbeitet er<br />

Aufgaben im Internet. Jeden Tag. Nachdem er neun Stunden<br />

Gerüste aufgebaut und abends seinen Sohn ins Bett gebracht<br />

hat. Daniel wünscht sich, dass ihm sein Vater Geschichten<br />

vorliest, die er sich bisher immer ausgedacht hatte. Bei den<br />

Hausaufgaben kann er Daniel nun helfen.<br />

An zwei Kursen hat Edgar Hörz bisher teilgenommen,<br />

und er will noch weitere besuchen. Sie haben sein Leben<br />

bereits verändert. Vieles kann er nun lesen, manches auch<br />

schreiben. Er besitzt jetzt einen Bibliotheksausweis, liest<br />

jeden Tag die kürzeren Artikel in der Zeitung, chattet im<br />

Internet. Er kann Briefe lesen, bei denen er früher Hilfe gebraucht<br />

hat. Seinen Freunden hat er im letzten Sommer zum<br />

ersten Mal in seinem Leben eine Postkarte geschrieben.<br />

Nun hat er auch an einem Literaturwettbewerb teilgenommen<br />

– für Menschen mit Lese­Schreib­Schwäche. Edgar<br />

Hörz hätte über Musik, sein Schlangen­Hobby oder seinen<br />

Käfer schreiben können. Aber er wollte über Nathalie schreiben.<br />

„Weil so viel von ihr in mir liegt, lebt sie in mir weiter.“<br />

Darüber hat er geschrieben. „Ich habe es mir von der Seele<br />

geschrieben.“<br />

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