Spezial - Volkshochschule Reutlingen GmbH
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Von der seeLe geschrieben<br />
Wie ein Lese- und schreibkurs das Leben verändern kann<br />
Autor: sAschA hellmAnn<br />
FotoGrAF: olIver reInhArdt<br />
Drei Millionen deutschsprachige Erwachsene können<br />
in Deutschland nicht ausreichend lesen und<br />
schreiben. <strong>Volkshochschule</strong>n und andere Einrichtungen<br />
bieten Alphabetisierungskurse für Erwachsene<br />
an – einer von ihnen ist Edgar Hörz.<br />
Als Nathalie stirbt, schreibt Edgar Hörz in sein Tagebuch:<br />
„Nun ist sie nicht mehr da, und ich vermisse sie. Sie ist mit<br />
achtundzwanzig Jahren gestorben. Ich vermisse sie und die<br />
Gespräche sehr. Wenn ich es nicht aushalte, gehe ich ans<br />
Grab und rede mit ihr. Dann geht es mir besser.“ Nathalie<br />
war seine beste Freundin, ihr verdankt er, dass er Lesen und<br />
Schreiben kann. Als er es lernte, war Edgar Hörz ein erwachsener<br />
Mann.<br />
Edgar Hörz wird 1964 in <strong>Reutlingen</strong> geboren. Er kommt<br />
in die Grundschule. Bleibt dort aber nicht lange. Lesen und<br />
Schreiben sind sein Problem. Er wechselt zur Sonderschule,<br />
die damals noch „Hilfsschule“ heißt. Geholfen wird ihm dort<br />
aber nicht, sein Problem bleibt. Es sei anders als heute gewesen:<br />
„Wenn die Lehrer merkten, dass du nicht mitkommst,<br />
wurdest du abgeschoben.“ Nach insgesamt neun Schuljahren<br />
verlässt er die Sonderschule ohne Abschluss. Sein Problem<br />
hat wenigstens einen Namen: LeseSchreibSchwäche.<br />
Edgar Hörz arbeitet als angelernter Gipser. „Ich weiß<br />
nicht, woran es lag“, sagt er. Hörz ist 43 Jahre alt, kräftige<br />
Statur, Glatze, große blaue Augen. „Ich habe das Lesen nicht<br />
vermisst. Wenn es mich interessiert hätte, hätte ich es vielleicht<br />
auch gepackt.“ Er kommt auch so durch. Nur seine Familie<br />
und seine engen Freunde wissen, dass er bis auf seinen<br />
Namen weder lesen noch schreiben kann. Es stört sie nicht.<br />
Sie lesen selbst keine Zeitungen, keine Bücher. Sie können<br />
aber helfen. Lesen ihm in einem Lokal auch mal die Speisekarte<br />
vor.<br />
Mit achtzehn Jahren will er den Führerschein machen.<br />
Nur wie, wenn man die Fragen auf dem Fragebogen nicht<br />
lesen kann? Seine Schwester lernt jeden Tag mit ihm zwei<br />
Stunden. Sie liest die Fragen vor und die Antworten. „Es war<br />
eine harte Zeit“, erinnert sich Edgar Hörz. Auch in der Führerscheinprüfung<br />
müssen ihm die Fragen und Antworten<br />
vorgelesen werden. Er besteht.<br />
Der „Käferfan“ schraubt ein Jahr mit Freunden an einem<br />
VWKäfer herum: Überschlagbügel, versteiftes Fahrwerk,<br />
abgestimmte Felgen und Bremsen, Porschemotor, 200 km/h<br />
Spitze. Mit seinen Schallplatten fährt er jeden Samstag zur<br />
Reutlinger Eishalle und legt auf. Allerdings unter erschwerten<br />
Bedingungen. Da er die Songs vorher übers Mikro ankündigt,<br />
aber nicht lesen kann, muss er jede Platte auswendig<br />
lernen. Deswegen hört er sich zuhause die Platten so oft<br />
an, bis er ganz sicher ist. Der zwanzigjährige Edgar Hörz<br />
steht in der Mitte der Eishalle auf einem Podest. Gebeugt<br />
über Plattenteller. Um ihn herum fahren Jungen und Mädchen<br />
auf Schlittschuhen. Er ist der Discjockey. Die Mädchen<br />
ziehen ihre Bahnen zu seiner Musik. Der „King“ in der Eishalle<br />
kann nicht lesen und schreiben. Bis er Nathalie kennen<br />
lernt.<br />
Sie hat einen Freund, und er hat eine Freundin. Trotzdem<br />
werden sie beste Freunde. Edgar Hörz schreibt später: „Wir<br />
waren wie Bruder und Schwester. Wir haben alles zusammen<br />
gemacht. Gekocht und zusammen gewohnt, Baden gegangen<br />
und gemalt.“ Da ist er mittlerweile zum zweiten Mal<br />
verheiratet und hat einen Sohn bekommen – Daniel. Seine<br />
Frau arbeitet als Köchin in einer Kindertagesstätte. Edgar<br />
Hörz verdient Geld als Gerüstbauer. Doch das Geld ist immer<br />
knapp. Er will Daniel später einmal bei den Schulaufgaben<br />
helfen. Ein Arbeitskollege, der von seiner Leseschwäche<br />
Spät, aber nicht zu spät hat Edgar Hörz in einem Alphabetisierungskurs der VHS<br />
das lesen und Schreiben gelernt.<br />
weiß, stößt im Internet auf ein Angebot der <strong>Volkshochschule</strong><br />
<strong>Reutlingen</strong>: Zwölf Kursabende für zwölf Euro. Nathalie unterstützt<br />
den Plan.<br />
Edgar Hörz meldet sich an. Parallel zum Kurs bearbeitet er<br />
Aufgaben im Internet. Jeden Tag. Nachdem er neun Stunden<br />
Gerüste aufgebaut und abends seinen Sohn ins Bett gebracht<br />
hat. Daniel wünscht sich, dass ihm sein Vater Geschichten<br />
vorliest, die er sich bisher immer ausgedacht hatte. Bei den<br />
Hausaufgaben kann er Daniel nun helfen.<br />
An zwei Kursen hat Edgar Hörz bisher teilgenommen,<br />
und er will noch weitere besuchen. Sie haben sein Leben<br />
bereits verändert. Vieles kann er nun lesen, manches auch<br />
schreiben. Er besitzt jetzt einen Bibliotheksausweis, liest<br />
jeden Tag die kürzeren Artikel in der Zeitung, chattet im<br />
Internet. Er kann Briefe lesen, bei denen er früher Hilfe gebraucht<br />
hat. Seinen Freunden hat er im letzten Sommer zum<br />
ersten Mal in seinem Leben eine Postkarte geschrieben.<br />
Nun hat er auch an einem Literaturwettbewerb teilgenommen<br />
– für Menschen mit LeseSchreibSchwäche. Edgar<br />
Hörz hätte über Musik, sein SchlangenHobby oder seinen<br />
Käfer schreiben können. Aber er wollte über Nathalie schreiben.<br />
„Weil so viel von ihr in mir liegt, lebt sie in mir weiter.“<br />
Darüber hat er geschrieben. „Ich habe es mir von der Seele<br />
geschrieben.“<br />