Spezial - Volkshochschule Reutlingen GmbH
Spezial - Volkshochschule Reutlingen GmbH
Spezial - Volkshochschule Reutlingen GmbH
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
GO<br />
<strong>Spezial</strong><br />
Bildung für Alle!<br />
90 Jahre Verein für Volksbildung reutlingen
Liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
Tai Chi morgens im Garten des Heimatmuseums; die Entdeckung<br />
des Flammennebels im Sternbild Orion; der weltweit<br />
schnellste Französischkurs im TGV von Stuttgart nach<br />
Paris: Die Liste der Bildungsaktivitäten des Vereins für<br />
Volksbildung ist nahezu endlos. Unter dem Dach des von<br />
Emil Gminder 1918 gegründeten Vereins engagieren sich<br />
heute 15 Bildungseinrichtungen. Musikschule und <strong>Volkshochschule</strong><br />
sind zwar <strong>GmbH</strong>s, aber überlebt hat sich der<br />
Verein keineswegs. Er ist das Dach und die Klammer aller<br />
Arbeitsbereiche.<br />
Diese enge Verzahnung ist unverzichtbar, denn der Zusammenhalt<br />
der Einrichtungen, also die gewonnenen Synergieeffekte,<br />
machen die Stärke des Vereins und seiner<br />
Untergliederungen aus. Darüber hinaus aber ist die Idee<br />
von Gminder nach wie vor brandaktuell. Gminder sprach<br />
davon, dass Deutschland zwar als Volk der Dichter und<br />
Denker gelte, aber diese hätten sich doch auf einen relativ<br />
kleinen Kreis beschränkt. Wesentlich sei, dass jeder bei<br />
allem was er tue, sich dabei etwas denke, eine Ahnung davon<br />
habe, auch von den Dingen und Vorgängen, die die<br />
Menschen betreffen. Jeder müsse zu eigenem Urteil fähig<br />
sein, nur dann bestehe auch Aussicht auf wirtschaftlichen<br />
Erfolg. Gminder ging in seiner Konzeption über zweckorientiertes<br />
Funktionswissen weit hinaus. Die aufgeklärten,<br />
emanzipierten Bürger, die sich auf der Basis von moralischen<br />
Standards ihr eigenes Urteil bilden – dieses Ziel ist<br />
für den Verein bis heute maßgeblich.<br />
„Bildung für alle“, nicht Elitenbildung, ist daher das Ziel,<br />
und deshalb finden wir neben der Musik und <strong>Volkshochschule</strong><br />
unter anderem ein Abendgymnasium, eine Fachschule<br />
für Ergotherapie, eine Jugendkunstschule, das Business<br />
&Management Institut, die Reutlinger Gesundheitsakade<br />
mie und seit drei Jahren die ZeitenspiegelReportageschule<br />
Günter Dahl. Junge Nachwuchsjournalisten lernen hier das<br />
Hand und Kopfwerk der Reportage und die Grundlagen<br />
eines ethisch verantworteten Journalismus. Das Reportagemagazin<br />
GO ist die Abschlussarbeit eines jeden Jahrgangs.<br />
Zum 90sten Geburtstag des Vereins haben wir Schülerinnen<br />
und Schüler, Absolventen und Dozenten unserer Journalistenschule<br />
gebeten, über den Verein für Volksbildung zu<br />
berichten; dafür danken wir ihnen. Zugleich feiern wir 60<br />
Jahre <strong>Volkshochschule</strong> und 20 Jahre Haus der VHS.<br />
Wir wollten wissen, wie es aussieht, wenn von außen auf<br />
uns geblickt wird. In diesem GO<strong>Spezial</strong> finden Sie Reportagen<br />
über unsere Arbeit. Sie erfahren, warum Integrationskurse<br />
schwierig und notwendig sind, warum für uns Pistoia<br />
nicht irgendeine Stadt in der Toskana ist, was sich hinter<br />
dem Begriff „Kreativkarussell“ verbirgt, wie schwierig für<br />
viele Frauen der Wiedereinstieg in den Beruf ist, und warum<br />
es Menschen gibt, die sich im Morgengrauen mit Begeisterung<br />
zum gemeinsamen Tai Chi treffen. Es sind Schlaglichter<br />
auf eine Einrichtung, die darüber hinaus noch viel mehr<br />
zu bieten hat.<br />
Aber gerade diese Vielfalt macht es unmöglich, in einem<br />
solchen JubiläumsMagazin der hervorragenden Arbeit aller<br />
gerecht zu werden. Darum sind es Beispiele, die für viele<br />
stehen. Die Lektüre soll zudem Spaß machen und Neugier<br />
wecken, auf das, was sich unter unserem Dach tagtäglich tut.<br />
Soviel Spaß, wie wir selbst bei unserer Arbeit empfinden.<br />
Ihr<br />
Dr. Ulrich Bausch
inhaLt<br />
Editorial 01<br />
Wir sind das Team 04<br />
Im Gespräch mit Dr. Ulrich Bausch: Morgens gerne zur Arbeit gehen 06<br />
Taiji: Den Drachen anschauen 12<br />
Sternwarte: Über den Dächern von <strong>Reutlingen</strong> 14<br />
Die Anfänge der Volksbildung: Wissen ist Macht! 22<br />
Im Gespräch mit Prof. Michael Hartmann:<br />
„Das Gerede von der Leistungselite soll doch nur Privilegien absichern“ 26<br />
Alphabetisierung: Von der Seele geschrieben 32<br />
Im Gespräch mit Karin Schmicker: „Fehler gehören einfach dazu“ 34<br />
Abendgymnasium: Besser spät als nie – Abitur am Abend 38<br />
Im Gespräch mit Dr. Rainer Märklin:<br />
„Die Bedeutung der Erwachsenenbildung wird unterschätzt“ 40<br />
Verein<br />
für Volksbildung<br />
Architektur: Ort urbanen Lebens 42<br />
Musikschule: Wo Sprache aufhört, fängt Musik an 46<br />
Musikschule: Musik ohne Grenzen 48<br />
Jugendkunstschule: Fröhliches Tohuwabohu 50<br />
Pistoia: Toskanische Träume 52<br />
Cafeteria: Der Fels in der Bar 56<br />
Integration: Die Deutschmacherin 58<br />
TGV: „Je m’appelle Annemarie“ 60<br />
Kontaktstelle: Zwischen Kindern, Kochtopf und Karriere 62<br />
Ergotherapie: Um die Ecke sehen und denken 66<br />
Reportageschule: Der Erfolg des Schrebergartens 69<br />
Ausstellung: „Wenn das Foto nicht gut genug ist, warst du nicht nah genug dran“ 72<br />
Impressum 80
Wir sind<br />
das team<br />
m it a rbeiter i n nen<br />
und mitarbeiter der<br />
mu si k schu le u nd<br />
Vhs reutlingen
6 Im Gespräch<br />
7<br />
„morgens gern zur arbeit gehen“<br />
interview mit Volkshochschul-geschäftsführer dr. ulrich bausch<br />
Autor: phIlIpp mAusshArdt<br />
FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />
90 Jahre Verein für Volksbildung. Wo sehen Sie von der Gründung bis heute die<br />
Meilensteine in der Entwicklung des Vereins?<br />
Diese Meilensteine verbinden sich natürlich mit Personen. Emil Gminder, der Ideengeber,<br />
Gründer, Geldgeber und langjähriger Leiter des Vereins. Er hat damals<br />
die Stadtverwaltung davon überzeugen können, die Spitalkirche umzubauen, er<br />
hat persönlich Umbaupläne entworfen und dafür gesorgt, dass der Volksbildungsverein<br />
<strong>Reutlingen</strong> als erster in Württemberg seine Veranstaltungen in einem eigenen<br />
Gebäude abhalten konnte. Die nächste Epoche würde ich mit den Namen<br />
Oskar Kalbfell und Hans Wilhelm Zeller verbinden. Schon im Herbst 1945 tauchte<br />
der Gedanke auf, in <strong>Reutlingen</strong> eine richtige <strong>Volkshochschule</strong> zu gründen. Gminders<br />
Volksbildungshaus war kaum beschädigt, und die französische Militärverwaltung<br />
signalisierte Zustimmung. Im Februar 1946 erteilte der damalige Gouverneur<br />
Widmer die förmliche Genehmigung, und die Geschäftsführung übernahm Ingenieur<br />
Hans Wilhelm Zeller. Die Stadt sorgte für die Instandsetzung und den Unterhalt<br />
des Volksbildungshauses. 1948 fand dann die förmliche Wiedergründung des<br />
Vereins für Volksbildung statt. Zeller und Kalbfell ergänzten sich ideal. Zeller legte<br />
von Anfang an Wert darauf, dass neben der Allgemeinbildung auch die berufliche<br />
Bildung breiten Raum einnahm. Kalbfell, der 25 Jahre den Verein führte, sorgte<br />
auch dafür, dass alle Einrichtungen außerhalb des ersten Bildungswegs unter dem<br />
Dach des Vereins untergebracht wurden. Zum Beispiel die Sternwarte oder später<br />
das Abendgymnasium. Hans Haußmann, der für eine weitere Epoche steht, setzte<br />
diese Tradition fort. Er integrierte die Musikschule 1970 in die VHS und gründete<br />
unter anderem die Fachschule für Ergotherapie und die Jugendkunstschule.<br />
Sein historisches Verdienst ist aber vor allem das Haus der <strong>Volkshochschule</strong> in<br />
der Spendhausstraße, welches bis heute vielen anderen <strong>Volkshochschule</strong>n als vorbildlich<br />
gilt. Er hat es nicht nur mitkonzipiert, sondern auch politisch erkämpft.<br />
Haußmann hat sich unvergleichlich für die VHS in <strong>Reutlingen</strong>, aber auch für die<br />
Idee der <strong>Volkshochschule</strong> bundesweit engagiert.<br />
Und wo setzen Sie Ihren Schwerpunkt?<br />
Wir haben den UniversalismusAnspruch der <strong>Volkshochschule</strong>n aufgegeben und<br />
müssen heute unterschiedliche Zielgruppen unterschiedlich ansprechen. Daher<br />
haben wir sogenannte Submarken gegründet.<br />
Kein Unternehmen würde seine Führungskräfte<br />
in einen VHSKurs schicken. Jedenfalls nicht,<br />
wenn es um Führungskräftetraining geht. Diese<br />
Angebote übernimmt unser Business & Management<br />
Institut (BMI). Die Firmen wissen,<br />
das Institut wird von einer verlässlichen und<br />
seriösen Einrichtung, der VHS, getragen, aber<br />
das Institut selbst wendet sich speziell an die<br />
Zielgruppe der professionellen Entscheider. So<br />
ist das auch in anderen Bereichen. Gleichzeitig<br />
behalten wir das Kerngeschäft der <strong>Volkshochschule</strong>n<br />
im Auge: Weiterbildung für alle auf<br />
unterschiedlichen Niveaustufen.<br />
Mehr Angebote, obwohl in den letzten Jahren<br />
die Zuschüsse vom Land gekürzt wurden. Wie<br />
soll das funktionieren?<br />
Ein Viertel der Deutschen sind in den letzten<br />
fünf Jahren finanziell regelrecht abgesackt. Fast<br />
acht Millionen arbeiten im so genannten Niedriglohnsektor<br />
und selbst im wohlhabenden<br />
<strong>Reutlingen</strong> vermittelt die Arbeitsverwaltung<br />
Jobs für unter fünf Euro brutto. Dieser Personenkreis<br />
und natürlich die Arbeitslosen können<br />
sich VHSKurse nicht mehr leisten. Das macht<br />
mir Sorge, weil damit der soziale Bildungsauftrag<br />
auf der Strecke bleibt. Vor allem durch Kürzung<br />
öffentlicher Mittel sind die VHSGebühren<br />
in BadenWürttemberg in den letzten zehn Jahren<br />
um rund 130 Prozent angestiegen. Die Reallöhne<br />
sind in der gleichen Zeit gefallen. Unser<br />
Motto „Bildung für alle“ ist daher keine Zustandsbeschreibung, sondern eine Forderung<br />
von höchster Relevanz. Deutschland ist in diesem Punkt in den letzten Jahren<br />
immer weiter zurückgefallen. Im europäischen Vergleich sind die Ausgaben für Erwachsenenbildung<br />
in Deutschland weit unterdurchschnittlich. Dänemark gibt zum<br />
Beispiel pro Kopf doppelt so viel für Erwachsenenbildung aus wie Deutschland.<br />
In manchen Städten wurde schon über die Schließung von Volkhochschulen<br />
diskutiert. Wie sieht das in <strong>Reutlingen</strong> aus?<br />
Ständig werden Studien veröffentlicht, die belegen, dass wir in der Erwachsenenbildung<br />
mehr tun sollten. Aber ein Kurswechsel in der Politik ist nicht erkennbar.<br />
Dabei zählen Investitionen in Bildung zu den volkswirtschaftlich rentabelsten<br />
überhaupt. Ein komplexer Staat braucht Menschen mit eigenem Denken und Urteilskraft.<br />
Die <strong>Volkshochschule</strong>n und die Musikschulen, auch die Jugendkunstschulen<br />
im Land werden sicher überleben. Aber wenn die Landesmittel nicht<br />
deutlich und schnell angehoben werden, geht der soziale Bildungsauftrag baden.<br />
Wir haben in <strong>Reutlingen</strong> zum Glück frühzeitig damit begonnen, rentable Institutionen<br />
wie das BMI einzurichten, mit denen wir teilweise die finanziellen Ausfälle<br />
auffangen können. Darüber hinaus haben wir ein starkes Verbundsystem durch<br />
Partnergemeinden, die gemeinsam mit uns ihre VHS betreiben. Gemeinden wie<br />
Gomaringen oder Dettingen haben Zugang zu einem sehr vielseitigen Programm,<br />
das sie alleine nicht stemmen könnten.<br />
Worauf beruht denn der Erfolg des BMI?<br />
Das Institut hat unter der Leitung von Margit Amon seinen Umsatz in den letzten<br />
zwei Jahren mehr als verdoppelt. Wir garantieren zum Beispiel den Bildungserfolg.<br />
Das klingt etwas merkwürdig, ist aber einfach und einleuchtend. Wir wissen, wie<br />
viele Trainingseinheiten nötig sind, um einen Erfolg zu erzielen. Wenn der Kunde<br />
nicht zufrieden ist, schulen wir weiter, bis er zufrieden ist. Auf unsere Kosten. Bis<br />
heute gab es keinen Garantiefall. Sicher sind wir aber auch erfolgreich, weil wir die<br />
Angebote mit den Kunden abstimmen und uns an den konkreten Bedürfnissen der<br />
Betriebe orientieren. Besonders begeistert sind die Kunden von den firmenübergreifenden<br />
Trainings. Verschiedene Firmen beschicken hier gemeinsam ein Führungs<br />
kräftetraining. Die Teilnehmer genießen es, von<br />
anderen Firmenkulturen lernen zu können.<br />
War das BMI das Vorbild für die Reutlinger<br />
Gesundheitsakademie?<br />
Ja. Das Muster ist das gleiche. Ärzte bilden sich<br />
nicht an einer <strong>Volkshochschule</strong> fort. An einer<br />
Gesundheitsakademie dagegen schon. Brigitte<br />
Albrecht – der Leiterin – ist es gelungen, das<br />
Angebot in nur einem Jahr mehr als zu verdoppeln.<br />
Die neuen Räume in Betzingen werden<br />
sehr gut angenommen, es ist einfach erstaunlich,<br />
wie groß das Weiterbildungsengagement<br />
gerade bei den Medizinalfachberufen ist.<br />
Was läuft konkret in der Gesundheitsakademie?<br />
Das sind fachspezifische Fortbildungen, etwa<br />
zu speziellen Therapien für Demenzkranke,<br />
wir bilden zum Entspannungspädagogen aus<br />
oder bieten eine sprachheilpädagogischen Zusatzqualifikation<br />
an. Ein wichtiges Feld sind die<br />
Weiterbildungen für Ergotherapeuten. Durch<br />
unsere ErgoFachschule sind wir bei dieser<br />
Zielgruppe sehr bekannt, daher herrscht hier<br />
auch die größte Nachfrage.<br />
Das jüngste Kind unter dem Dach des Vereins<br />
ist eine Journalistenschule. Warum beschäftigt<br />
sich eine VHS mit Journalismus?<br />
<strong>Volkshochschule</strong>n beschäftigen sich schon lange<br />
mit Journalismus. Der wichtigste Fernsehpreis,<br />
der GrimmePreis, wird von den Volkshoch
Verein für VoLksbiLdung e.V.<br />
1918<br />
abendgymnasium (agr)<br />
1967<br />
abendhauptschuLe<br />
1973<br />
business & management<br />
institut (bmi)<br />
1999<br />
VoLkshochschuLe (Vhs)<br />
seit 1994 gmbh<br />
european Learning<br />
support agency gmbh (eLsa)<br />
2004<br />
biLdungsprojekte der<br />
Vhs reutLingen gmbh (bip)<br />
1996<br />
berufsfachschuLe für<br />
ergotherapie (et-schuLe)<br />
1980<br />
zeitenspiegeLreportageschuLe<br />
günter dahL<br />
2005<br />
stiftung VoLksbiLdung<br />
1982<br />
Stiftungsratsvorsitzende: OB Barbara Bosch / Stellv. Stiftungsratsvorsitzender: Harald Helm<br />
Vorstand: Bürgermeister Peter Rist, Bürgermeister Robert Hahn<br />
Geschäftsführung: Sandra Knaupp (Stadt <strong>Reutlingen</strong>, Amt für Wirtschaft und Immobilien)<br />
Stiftungsratsmitglieder aus dem Gemeinderat: Rainer Buck, Conrad Dolderer,<br />
Dr. Knut Hochleitner, Ernst-Ullrich Schmidt, Annette Seiz, Sebastian Weigle, Thomas Ziegler<br />
Stiftungsratsmitglieder aus dem Kreis der Stifter: Harald Helm, Günter Reiff, Eugen Schäufele, Inge Villforth<br />
dr. rainer märkLin<br />
stiftung, 1998<br />
musikschuLe (msr)<br />
1970, seit 1994 gmbh<br />
design+kommunikationsakademie<br />
reutLingen (dekart)<br />
2004<br />
reutLinger gesundheits-<br />
akademie (rega)<br />
2001<br />
kontaktsteLLe<br />
frau und beruf<br />
1992<br />
sternWarte<br />
1956<br />
jugendkunstschuLe (juks)<br />
1991
10 Im Gespräch<br />
schulen verliehen. Erstaunlich ist es aber eigentlich schon, dass die <strong>Volkshochschule</strong>n<br />
nicht schon längst in der Journalistenausbildung tätig sind, zumal die Qualität<br />
des Journalismus ein Bildungsfaktor von zentraler Bedeutung ist. Die Schule freilich<br />
existiert nur durch die Kooperation mit einer großen JournalistenAgentur. Die<br />
Agentur „Zeitenspiegel“ liefert das journalistische Knowhow, die <strong>Volkshochschule</strong><br />
das Bildungsmanagement. Wir wollen den Qualitätsjournalismus fördern und einen<br />
Beitrag zu ethisch verantwortetem Journalismus leisten. Nach drei Jahren kann sich<br />
die Bilanz sehen lassen. Die Abschlussarbeiten der Schüler sind herausragend, und<br />
viele Absolventen können schon beachtliche Karrieren vorweisen.<br />
Kommt bei einer Journalistenschule, einer Gesundheitsakademie oder einem<br />
Institut für Führungskräfte die klassische VHS-Arbeit nicht zu kurz?<br />
Zunächst sind das ja keine Widersprüche. Die klassische VHSArbeit wird von uns<br />
genauso intensiv und ernsthaft betrieben wie die Submarken. Frank Mayer verantwortet<br />
zum Beispiel den für uns traditionell sehr wichtigen Bereich der beruflichen<br />
Bildung und ist hier sehr erfolgreich. Allerdings wären wir ohne die Submarken<br />
gar nicht in der Lage, z. B. Allgemeinbildung in guter Qualität anzubieten.<br />
Die Reutlinger <strong>Volkshochschule</strong> lässt die Qualität ihrer Arbeit durch die so<br />
genannte ISO-Zertifizierung prüfen und bewerten. Das ist teuer und aufwendig.<br />
Warum wird ein solcher Aufwand getrieben?<br />
Wir möchten sicherstellen, dass das, was wir tun, auf einem guten Niveau geschieht.<br />
Daher ist es sinnvoll, dass Prüfer von außen<br />
kommen und kontrollieren. Das hält uns auch<br />
dazu an, uns ständig weiterzuentwickeln. Von<br />
ganz besonderer Bedeutung ist dabei die Dozentenauswahl.<br />
Gerade weil wir hier sehr pingelig<br />
sind, haben wir einen hervorragenden Ruf was<br />
den Stamm unserer Lehrkräfte betrifft. Der eigentliche<br />
Grund für unseren Erfolg basiert aber<br />
schlicht auf unseren Mitarbeitern, die sich unglaublich<br />
engagieren, immer wieder neue Ideen<br />
hervorbringen und dafür sorgen, dass man<br />
morgens gerne arbeiten geht. Es herrscht eine<br />
enorme Kooperationsbereitschaft zwischen den<br />
Einrichtungen. Diese Kultur der wechselseitigen<br />
Unterstützung – ob zwischen Musikschule und<br />
VHS, ob zwischen den Abteilungen und dem<br />
BMI – macht die Stärke des Vereins aus.<br />
<<br />
15 biLdungseinrichtungen<br />
... unter dem dach des Vereins für Volksbildung mit<br />
insgesamt 8,3 millionen euro umsatz<br />
ABEnDHAUPTSCHUlE<br />
Alle, die eine Schule vorzeitig oder nur mit Abgangszeugnis<br />
verlassen haben, haben bei der Abendhauptschule<br />
die Möglichkeit, in Ganztags- oder Abendkursen<br />
den Hauptschulabschluss auf dem zweiten<br />
Bildungsweg nachzuholen.<br />
ABEnDGyMnASIUM<br />
In <strong>Reutlingen</strong> kann man am einzigen Abendgymnasium<br />
mit eigenem Schulhaus in Baden-Württemberg die<br />
Allgemeine Hochschulreife oder die Fachhochschulreife<br />
nachholen.<br />
BIlDUnGSPROjEKTE DER VHS REUTlInGEn GMBH<br />
Realisiert Auftragsmaßnahmen für die Arbeitsverwaltung,<br />
Integrationskurse und Programme des Europäischen<br />
Sozialfonds.<br />
BUSInESS&MAnAGEMEnT InSTITUT<br />
Maßgeschneiderte Trainings für Firmen und öffentliche<br />
Arbeitgeber, Bildungsbedarfsanalysen und Personalentwicklungskonzepte.<br />
Innovatives Konzept mit<br />
firmenübergreifender Führungskräftereihe.<br />
EUROPEAn lEARnInG SUPPORT AGEnCy GMBH<br />
Beratungs- und Bildungsmaßnahmen, auch in Zusammenarbeit<br />
mit internationalen Partnern, Personal- und<br />
Dozentenvermittlung, Vertrieb von lehr- und lernmitteln.<br />
DESIGn+KOMMUnIKATIOnS-AKADEMIE<br />
Berufsorientierte lehrgänge, die gezielt auf eine Ausbildung<br />
im Bereich Kultur und Design vorbereiten.<br />
BERUFSFACHSCHUlE FüR ERGOTHERAPIE<br />
Die Reutlinger ET-Schule bildet seit über 25 jahren<br />
mit herausragenden Ergebnissen beim Staatsexamen<br />
junge Ergotherapeuten aus. Sie ist die erste Schule<br />
bundesweit, die das höchste Qualitätszertifikat des<br />
Berufsverbandes erhalten hat.<br />
REUTlInGER GESUnDHEITS AKADEMIE<br />
Fortbildungen für Fachberufe im Gesundheitswesen<br />
(Pflegeberufe, Heilmittelberufe, Therapeuten, Ärzte).<br />
KOnTAKTSTEllE FRAU UnD BERUF<br />
Berät Frauen in allen Fragen der Beruflichen Bildung<br />
und zeigt Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Familie<br />
und Beruf auf.<br />
jUGEnDKUnSTSCHUlE<br />
über 2.000 Kinder und jugendliche in den Programmbereichen<br />
Kreativkarussell, Kinderwerkstatt, tänzerische<br />
Früherziehung und Ballett, bildhaftes/plastisches<br />
Gestalten, Foto und Film, Tanz, Theater, Zirkus und<br />
Musik.<br />
DR. RAInER MÄRKlIn STIFTUnG<br />
Fördert Projekte und nachwuchstalente der jugendkunstschule<br />
und der Musikschule.<br />
MUSIKSCHUlE<br />
In allen Sparten der E- und U-Musik verwirklichen<br />
über 2.000 Kinder, jugendliche und Erwachsene ihre<br />
musikalischen Wünsche auf den unterschiedlichsten<br />
Instrumenten. Wöchentlich mehr als 1.000 Unterrichtsstunden<br />
und über 250 Veranstaltungen pro jahr<br />
verdeutlichen die leistungsfähigkeit der Musikschule.<br />
STERnWARTE<br />
Sie ist durch ihre Verbindung von künstlichem und<br />
echtem Sternenhimmel unter einem Dach mit Planetarium<br />
und einem Observatorium landesweit einmalig.<br />
VOlKSHOCHSCHUlE<br />
Mit 2.600 Kursen pro jahr, 28.000 Kursteilnehmern und<br />
85.000 Unterrichtseinheiten ist sie die drittgrößte VHS<br />
in Baden-Württemberg nach Stuttgart und Mannheim.<br />
Sie löst damit jährlich über 300.000 Innenstadtbesuche<br />
aus. Zweig- und Außenstellen in 12 Stadtteilen und<br />
nachbargemeinden sorgen für kurze Wege und ein<br />
profiliertes Bildungsangebot auch vor Ort. In Qualität<br />
und Kundenorientierung belegt die VHS einen Spitzenplatz<br />
in der Region und bundesweit. Seit 1996<br />
ist sie als einer der ersten Bildungsträger nach DIn<br />
En ISO 9001:2000 zertifiziert. Sie ist akkreditiert als<br />
linux-Zentrum, CISCO-Academy und Microsoft-Schulungszentrum,<br />
ist Schulungs- und Prüfungszentrum für<br />
den Europäischen Computerführerschein ECDl und<br />
einziges Prüfungszentrum für Cambridge-Zertifikate im<br />
neckar-Alb-Kreis.<br />
ZEITEnSPIEGEl-REPORTAGESCHUlE<br />
GünTER DAHl<br />
Hat sich als einzige journalistenschule in Deutschland<br />
der journalistischen „Königsdisziplin“, der Reportage,<br />
verschrieben.
12 tAIjI<br />
den drachen anschauen<br />
mit taiji lernen, das ich bewusst wahrzunehmen<br />
AutorIn: jAdrAnkA kursAr<br />
FotoGrAFIn: AmrAI coen<br />
Alle Kursteilnehmer stehen in entspannter, gerader Körperhaltung mit leicht angewinkelten<br />
Knien auf dem Rasen im Garten des Heimatmuseums. Die Sonne scheint, während eine<br />
Gärtnerin die weißen Rosensträucher stutzt. „Achten Sie auf die Verbindung von oben und<br />
unten und drehen Sie die Hüfte nach rechts“, sagt Siegbert Allgaier zu seinen Schülern. „Schauen Sie<br />
den Drachen an.“ Die geschmeidigen Bewegungen des Taiji resultieren aus imaginären Bildern, die in<br />
einer bestimmten Abfolge von den Schülern geübt werden. „Der Drache ist das Himmelstier, das man<br />
sich im Geiste vorstellt, und der Drache ist die Verbindung zwischen Himmel und Erde in der chinesischen<br />
Mythologie“, sagt Allgaier. Wörtlich bedeutet Taiji „großer Balken“. Sinngemäß wird Taiji als<br />
ein Pfeiler interpretiert. Ein Pfeiler, der am unteren Ende tief in der Erde verankert ist, während am<br />
oberen Ende der Balken den Himmel wie ein Dach trägt. „Nach dem Taioismus mit Ying und Yang ist<br />
somit die Verbindung von Himmel und Erde maßgeblich“, sagt Allgaier.<br />
Allgaier unterrichtet seit sechzehn Jahren an der VHS <strong>Reutlingen</strong>. „Taiji ist wie Wasser, permanent<br />
in Bewegung“, sagt er. „Eine Meditation in Bewegung. Keine Kampfsportart“. Nicht immer gelingt es<br />
allen Schülern, die Bewegungen sanft zu vollführen. „Das Üben braucht seine Zeit“, weiß Allgaier, „in<br />
der westlichen Kultur haben wir eine große Distanz zu unserem Körper, und das führt letztendlich<br />
dazu, dass wir uns angespannt bewegen.“<br />
Kurz darauf zeigt der Meister seinen Volkshochschülern, wie man als Katze durch das Gras schleicht.<br />
Es sieht einfach aus, ist es aber nicht. „Man lernt erst mit den Jahren, wie sich Knie, Arme oder Schulter<br />
bewegen“, weiß Allgaier, „und mit der Zeit werden auch die Atmung und der Kreislauf unterstützt,<br />
der Trainierende kann vielleicht besser schlafen.“ Doch neben dem gesundheitlichen geht es vor allem<br />
um den gesamtheitlichen Aspekt, um das bewusste Wahrnehmen des eigenen Ichs.<br />
Mao Zedong, Chinas großer Revolutionär, sah genau darin eine Bedrohung. 1956 ließ er Qigong<br />
und alle Kampfkünste verbieten. Nur Taiji wurde als Volksgymnastik zugelassen, allerdings unter<br />
staatlicher Kontrolle, in einer abgewandelten Form mit wenigen Bildern. Doch mutige TaijiMeister<br />
praktizierten den YangStil heimlich weiter. So haben sich bis heute auch in China die 108 Bilderabfolgen<br />
erhalten.<br />
Die TaijiSchüler der VHS <strong>Reutlingen</strong> stehen am Ende des Trainings wieder in entspannter Haltung<br />
da: „Nun schließen Sie das Tor und öffnen Sie ihre Augen“, sagt Allgaier. Die Schüler lachen gelöst.<br />
„Lachen“ sagt Allgaier, „ist der Schlüssel zum Glück.“<br />
<<br />
Oben / Siegbert Allgaier in Aktion.<br />
Rechts / Taiji im Garten des Heimatmuseums.
über den dächern Von reutLingen<br />
ein abend auf der Volkssternwarte<br />
Autoren: tAnjA krämer und phIlIpp jArke<br />
FotoGrAF: olIver reInhArdt
„Ich seh’ den Sternenhimmel . . .“<br />
– Blick durchs große Teleskop.
18 sternwArte<br />
Energisch stapft der kleine blonde Junge vier Stufen<br />
einer Metalltreppe hinauf. Dann beugt er sich leicht<br />
nach vorne, hält eine Hand vor das linke Auge und<br />
späht mit dem anderen in das Okular eines großen Teleskops.<br />
Nach einigen Sekunden wendet er sich strahlend seiner<br />
Mutter zu: „Guck mal, da ist was ganz Schönes!“ ruft er.<br />
„Ja“, sagt seine Mutter, „das ist der Saturn.“<br />
Es ist Samstagabend, kurz nach 21 Uhr. Mit dem letzten<br />
Tageslicht hat sich eine bunte Gruppe auf dem Dach der FerdinandvonSteinbeisSchule<br />
in einer kleinen Kuppel versammelt:<br />
Kinder mit ihren Vätern und Müttern, Studenten,<br />
Rentner. Sie alle wollen heute nur eines: Sterne gucken auf<br />
der Volkssternwarte <strong>Reutlingen</strong>.<br />
Jedes Wochenende führen hier ehrenamtliche Astronomen<br />
in die Kunst der Sternenkunde ein. Einer von ihnen<br />
ist der DiplomGeograph Dr. FrankMartin Rapp. Während<br />
der begeisterte Junge jetzt die Metallstufen hinunter klettert,<br />
bittet Rapp den nächsten Interessierten an das Linsenteleskop.<br />
„Achten Sie einmal genau auf den Ring um den<br />
Saturn“, rät er dem älteren Herrn, „vielleicht erkennen Sie<br />
dann den Schatten, den die Sonne darauf wirft.“<br />
links / Unermessliches Universum.<br />
Das Teleskop wird anhand der Sternenzeit ausgerichtet.<br />
Rechts / Sternbilder werden in die Kuppel<br />
des Planetariums projiziert.<br />
Eng ist es in der kleinen Kuppel, die Besucher stehen dicht<br />
an dicht. Mit dunklen Holzleisten ausgekleidet, wölbt sich<br />
über ihnen das bewegliche Dach. Eine Luke gibt den Blick<br />
auf den Himmel frei. Erste Sterne funkeln in der Dämmerung.<br />
In der Mitte des Raumes thront massiv und schwer das<br />
große Teleskop, für kleinere Besucher wird die Metalltreppe<br />
hinzu geschoben. Der Reihe nach blicken alle Besucher einmal<br />
durchs Rohr auf die kleine graue Scheibe, die in Wirklichkeit<br />
der zweitgrößte Planet unseres Sonnensystems ist.<br />
In der Zwischenzeit erläutert FrankMartin Rapp den Umgang<br />
mit dem Teleskop und die Besonderheiten des Saturn.<br />
Die Sterngucker sind fasziniert. „Das sieht aus wie im Schulbuch“,<br />
sagt eine ältere Dame.<br />
Solche Worte hört der Sternwärter gern. Für ihn und seine<br />
achtzehn ehrenamtlichen Kollegen ist die Begeisterung<br />
der Besucher die größte Belohnung. „Besonders schön ist<br />
es, wenn kleine Kinder zum ersten Mal durchs Teleskop<br />
schauen“, sagt FrankMartin Rapp und blickt auf den kleinen<br />
blonden Jungen, der an der Hand seiner Mutter darauf<br />
wartet, wieder auf die Metalltreppe steigen zu dürfen. „Im<br />
Fernsehen schnappen viele nur Halbwissen auf “, weiß der<br />
Fachmann. „Kinder haben zum Beispiel häufig Angst vor<br />
Schwarzen Löchern, die sind ihnen unheimlich. Wir erklären<br />
ihnen, dass es dazu keinen Grund gibt.“<br />
Auf einem Regal an der Wand leuchten rot die Ziffern<br />
zweier Digitaluhren. Die eine zeigt die Uhrzeit an, die andere<br />
die Sternenzeit. FrankMartin Rapp zeigt den verwunderten<br />
Gästen ein schmales Büchlein, eng bedruckt mit Tabellen<br />
und Zahlenkolonnen. „Anhand der Sternenzeit kann ich<br />
hier nachschauen, wie ich das Teleskop ausrichten muss, um<br />
zum Beispiel den Saturn zu finden“, erklärt er. Dann zeigt er<br />
die zwei großen Drehräder, mit denen das Teleskop in Position<br />
gebracht werden kann. Die Kinder schauen skeptisch<br />
drein.<br />
Dass Sterngucker gute Mathematikkenntnisse brauchen,<br />
wird erst jetzt so manchem klar. Rapp wirft einen Blick auf<br />
die Ziffern. Die Sternenuhr zeigt 12:45:16 – es ist langsam<br />
Zeit, nach draußen zu gehen. Die internationale Raumstation<br />
ISS wird erwartet. Wenige Minuten später stehen alle<br />
Besucher auf der Plattform, welche die Sternwarte umgibt,<br />
sie schauen gebannt nach Westen zu einem dunklen, schweren<br />
Wolkenturm. Da müsste sie gleich erscheinen, die ISS.<br />
Genau um 21:37 Uhr soll sie auf ihrer Umlaufbahn im Erdorbit<br />
über <strong>Reutlingen</strong> auftauchen. Aber sie taucht nicht auf.<br />
Die Besucher werden unruhig, wenden immer häufiger den<br />
Kopf zu FrankMartin Rapp und seinem Kollegen, die angestrengt<br />
den Himmel absuchen. „Da“, ruft Rapp schließlich,<br />
„da ist sie!“ Er deutet auf einen winzigen hellen Punkt am<br />
Himmel, nicht größer als ein Stern. Aber ein Stern, der sich<br />
ziemlich schnell bewegt. Längst ist er auf der anderen Seite<br />
des Abendhimmels angekommen. Die Besucher drehen sich<br />
zu ihm um, einige suchen noch, als die ISS schon in den Wolken<br />
verschwunden ist. „Manchmal“, sagt der Sternwärter,<br />
„berichten mir Besucher auch von UFOSichtungen. Bislang<br />
konnten wir aber leider jedes Phänomen aufklären.“ Leider?<br />
„Naja, es ist eben nicht schön, den Menschen ihre Illusionen<br />
zu nehmen“, sagt er. „Aber bis jetzt sind vor unseren Teleskopen<br />
eben noch keine Außerirdischen aufgetaucht.“
20 sternwArte<br />
21<br />
„Im Grunde bestehen wir auch nur aus Sternenmaterie“:<br />
Astronom Frank-Martin Rapp erklärt einer Schulklasse die Umlaufbahnen.<br />
Doch für Enttäuschung bleibt keine Zeit. Längst ist Frank<br />
Martin Rapp über eine Treppe hinab zur unteren Dachterrasse<br />
der FerdinandvonSteinbeisSchule gegangen, um<br />
den Besuchern die nächste Attraktion zu zeigen: Das vielleicht<br />
kleinste Planetarium der Welt, das sich hinter einer<br />
unscheinbaren Tür hinter der Treppe versteckt. Ein leicht<br />
harziger Duft strömt den Besuchern entgegen, als sie sich einer<br />
nach dem anderen auf eine kreisrunde Bank setzen, über<br />
der sich eine helle Kuppel spannt. Rapp hat hinter einem<br />
Pult mit verwirrend vielen Hebeln und Schaltern Platz genommen.<br />
Es wird dunkel, sphärische Musik erklingt. Dann<br />
geht der Mond auf. Die Deichsel des Großen Wagens weist<br />
auf den funkelnden Polarstern. Am südlichen Firmament<br />
leuchtet der Saturn, später erscheint die Milchstraße.<br />
Nur knappe vier Meter misst das Firmament hier im<br />
Planetarium, an die Decke geworfen von einem schwarzen,<br />
stählernen Ungetüm, das einem ScienceFictionFilm der<br />
70er Jahre entsprungen sein könnte: dem Sternenprojektor.<br />
Die Kugel ist überzogen mit winzigen Löchern, durch die<br />
das Licht der Sterne an die Decke strahlt. Der Projektor<br />
surrt und brummt, während FrankMartin Rapp die Nacht<br />
im Zeitraffer ablaufen lässt und die Sternbilder über den<br />
Köpfen der Besucher kreisen. Hin und wieder ruckelt es<br />
ein wenig – der Technik des Planetariums sind seine Jahre<br />
deutlich anzumerken. Dennoch ist es der ganze Stolz der<br />
Reutlinger Hobbyastronomen: „Wir sind die einzige Sternwarte<br />
in BadenWürttemberg mit eigenem Planetarium“,<br />
sagt Rapp.<br />
Nach der Show geht es noch einmal rauf zum Teleskop.<br />
Während die einen wieder den Saturn betrachten, suchen<br />
die anderen die Sternbilder, die ihnen eben im Planetarium<br />
erklärt wurden. FrankMartin Rapp steht zwischen den Besuchern<br />
und lässt seinen Blick über den schwarzen Nachthimmel<br />
schweifen. Seit seiner Kindheit schwärmt er von<br />
den Sternen: „Es ist einfach faszinierend, sich mit etwas zu<br />
beschäftigen, auf das der Mensch keinen Einfluss hat“, sagt<br />
er und fügt hinzu: „Im Grunde bestehen wir auch nur aus<br />
Sternenmaterie.“ Dann geht Rapp wieder in die Sternwarte,<br />
um zu schauen, ob einer der Besucher noch etwas wissen<br />
will. Kurz vor 23 Uhr ist endgültig Schluss, die letzten Sterngucker<br />
gehen nach Hause.<br />
Im Abstellraum der Sternwarte brennt noch Licht. Zwischen<br />
kleineren Teleskopen, Sternenkarten und jeder Menge<br />
Büchern haben es sich einige der ehrenamtlichen Sternwärter<br />
gemütlich gemacht. Während FrankMartin Rapp noch<br />
schnell das Planetarium abschließt, beginnen seine Kollegen<br />
bereits zu fachsimpeln. Die Nacht ist noch jung.<br />
<<br />
InFO<br />
Die Volkssternwarte <strong>Reutlingen</strong> wurde 1956<br />
ge gründet und thront auf dem Dach der Ferdinandvon-Steinbeis-Schule,<br />
mitten im Herzen der der Stadt.<br />
Jeden Samstag abend laden die 19 ehrenamtlichen<br />
Mitarbeiter die Besucher ein, die Welt der Sterne und<br />
Planeten zu erkunden. Mit einer Reihe von Teleskopen<br />
lassen sich die Himmelskörper bis zu 250fach vergrößern,<br />
und im Planetarium funkeln selbst bei schlechtem<br />
Wetter Tausende Sterne.<br />
Die Führungen dauern 60 bis 90 Minuten und kosten<br />
2,50 Euro, ermäßigt einen Euro weniger. Während der<br />
Schulferien und im Juli und August finden keine Führungen<br />
statt. Das aktuelle Programm der Sternwarte<br />
steht auf deren Internetseite.<br />
Für Schulklassen und Vereine bietet die Sternwarte<br />
Gruppenführungen an, Kinder können im Planetarium<br />
Geburtstag feiern.<br />
Kontakt:<br />
Sternwarte <strong>Reutlingen</strong><br />
Karlstr. 40<br />
72764 <strong>Reutlingen</strong><br />
Telefon: 0 71 21 / 33 61 22<br />
email: info@sternwarte-reutlingen.de<br />
Internet: www.sternwarte-reutlingen.de
22 dIe AnFänGe der volksBIldunG<br />
23<br />
„Wissen ist macht!“<br />
Von den a n f ä ngen der Vol k s- u nd a rbeiterbi ldu ng i n reut l i ngen<br />
zur modernen erwachsenen bildung heute<br />
Autor: wolFGAnG AlBer<br />
Wir wollen ein Volk von Denkern großziehen,<br />
welches durch Wissen und Arbeit auf den Höhen<br />
der Menschheit wandeln soll. So gewinnen,<br />
so bezwingen wir am besten die Welt. Wir haben ja nur Ketten<br />
zu verlieren, wenn wir in das Reich der Erkenntnis eindringen.<br />
Dazu, brauchen wir nur: Mehr Licht!“ Das schrieb Laura<br />
Schradin im Jahr 1909 in einem Aufsatz mit dem Titel „Wissen<br />
ist Macht!“ Mit der ursprünglich von Francis Bacon stammenden,<br />
später von Wilhelm Liebknecht verwendeten Parole<br />
skizzierte die erste SPDLandtagsabgeordnete <strong>Reutlingen</strong>s<br />
zugleich die beiden großen Linien der Bildung im 19. und 20.<br />
Jahrhundert: zum einen Volksaufklärung und Volksbildung,<br />
zum anderen Arbeiterbildung.<br />
Die Volksaufklärung wollte pragmatischutilitaristisch<br />
oder auch humanistischphilantropisch Licht in die düsteren<br />
sozialen Verhältnisse des Landvolkes und des „gemeinen<br />
Mannes“ bringen. Dafür stehen Namen wie Johann Bernhard<br />
Basedow, Heinrich Zschokke, Johann Heinrich Pestalozzi,<br />
Johann Heinrich Campe oder Adolph Diesterweg, dafür stehen<br />
volksaufklärerische Schriften, die um 1800 aufkommenden<br />
Lesegesellschaften sowie die in den 20er Jahren des 19.<br />
Jahrhunderts entstehenden bürgerlichen Bildungsvereine.<br />
Auch die allmählich sich entwickelnden Volksschulen sowie<br />
die Zucht und Armenhäuser hatten neben der „sittlichen<br />
Hebung“ die Vermittlung bürgerlicher Werte und disziplinierender<br />
Tugenden zum Inhalt. Volksbildung war kompensatorische<br />
Erziehung und Anleitung zur „Industriosität“, sie<br />
sollte Qualifikationen für die komplexer werdende Arbeitswelt<br />
vermitteln.<br />
Zugleich aber wollten bürgerliche Ideologen wie der<br />
preußische Pädagoge Georg Philipp Ludolph von Beckedorff<br />
die „naturgemäße Ungleichheit der Standesbildung“<br />
zementieren, indem sie ein wenig Teilhabe, aber letztlich<br />
keine Gleichheit einräumten. Selbst der Vater der Berufsschulen,<br />
Georg Michael Kerschensteiner, nach dem auch in<br />
<strong>Reutlingen</strong> eine Einrichtung benannt ist, propagierte zwar<br />
den Geist, aber eben auch den Untertanengeist: „Der Wert<br />
unserer Schulerziehung, soweit sie die großen Volksmassen<br />
genießen, beruht im wesentlichen weniger auf der Ausbildung<br />
des Gedankenkreises als vielmehr in der konsequenten<br />
Erziehung zu fleißiger, gewissenhafter, sauberer Arbeit,<br />
in der stetigen Gewöhnung zu unbedingtem Gehorsam und<br />
treuer Pflichterfüllung und in der autoritativen unablässigen<br />
Anleitung zum Ausüben der Dienstgefälligkeit.“<br />
Die zweite große Linie der Erwachsenenbildung, die Arbeiterbildung,<br />
nahm einen Slogan der bürgerlichen Aufklärung<br />
wörtlich: „Bildung macht frei.“ Ganz im Sinne des<br />
„Manifestes der Kommunistischen Partei“ von Karl Marx<br />
und Friedrich Engels von 1848, an das sich Laura Schradin<br />
anlehnte und dessen Aufforderung zur Revolution lautete:<br />
„Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten.<br />
Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder,<br />
vereinigt euch!“<br />
Bei der Befreiung der Arbeiterklasse sollte politische Organisation<br />
mit lernender Emanzipation einhergehen. Dafür<br />
sorgten Arbeiterbildungsvereine, die in ihren Anfängen vor<br />
allem von Handwerksgesellen getragen wurden und im Vormärz<br />
und in der Revolution 1848 ihre erste Gründungswelle<br />
hatten. In <strong>Reutlingen</strong>, das lässt sich im Ausstellungskatalog<br />
„Freiheit oder Tod. Die Reutlinger Pfingstversammlung und<br />
die Revolution von 1848/49“ aus dem Jahr 1998 nachlesen,<br />
trat bei der Volksversammlung vom 21. September 1848<br />
erstmals der vom Schustergesellen Georg Bauer angeführte<br />
„Arbeiterverein“ in Erscheinung. Er bestand aus rund 30<br />
Gesellen und Fabrikarbeitern, von denen einige 1849 in einer<br />
„Arbeiterkompagnie“ nach Baden zogen, um die revolutionären<br />
Errungenschaften zu verteidigen.<br />
In <strong>Reutlingen</strong> waren es zudem mutige Männer wie Gustav<br />
Heerbrandt, Carl Friedrich Schnitzer oder Friedrich Schradin,<br />
die mit der Herausgabe demokratischer Blätter wie dem<br />
„Reutlinger & Mezinger Courier“ (später „Reutlinger Courier“)<br />
oder dem „Reutlinger Volksblatt“ für demokratische<br />
Diskussionsforen sorgten, für Pressefreiheit und Freiheit der<br />
politischen Betätigung kämpften. Gustav Heerbrandt (1819<br />
1896), der nach der Niederschlagung der Revolution verhaftet,<br />
auf den Hohenasperg gebracht und zur Emigration<br />
in die USA gezwungen wurde, war auch Mitbegründer der<br />
Reutlinger Turngemeinde von 1846 und des Löschvereins<br />
von 1847.<br />
Lernen im Vorwärtsgehen<br />
Neben der Notwendigkeit der organisatorischen Stärkung<br />
republikanischer Gedanken proklamierte Heerbrandt „Bildung<br />
sei unsere Losung“. 1846 gründete er mit Johannes<br />
Kurz, einem Neffen des Schriftstellers Hermann Kurz, den<br />
„Leseverein“, der eine Bibliothek für „Unbemittelte“ einrichtete.<br />
Auch hier gingen Politik und Bildung Hand in Hand,<br />
Mitglieder des Lesevereins organisierten etwa eine Sympathiekundgebung<br />
für die Märzgefallenen. Die Obrigkeit<br />
beobachtete die Vereine misstrauisch und verdächtigte sie,<br />
den Mitgliedern Grundsätze beizubringen, „welche geeignet<br />
sind, sie in politischer Hinsicht zu corrumpiren“, heißt es<br />
1847 im Bericht der Kreisregierung.<br />
Mit dem Scheitern der Revolution und dem restaurativen<br />
württembergischen Vereinsgesetz kam die frühe Erwachsenenbildungsarbeit<br />
bald wieder zum Erliegen. In <strong>Reutlingen</strong><br />
wurden 1849, unmittelbar nach der Generalversammlung<br />
der württembergischen Arbeitervereine, Arbeiterverein und<br />
Leseverein aufgelöst, der demokratische Volksverein wurde<br />
1852 verboten. Die Ideen indes lebten in Turn und Gesangvereinen<br />
als Tarnorganisationen fort.<br />
1862 wurde dann die Gewerbefreiheit eingeführt, der<br />
Staat erkannte die Notwendigkeit von Wirtschaftsförderung<br />
und „gewerblicher Bildung“. 1864 fiel das Vereinsverbot,<br />
eine zweite Gründungswelle von Bildungsvereinen setzte<br />
ein. In <strong>Reutlingen</strong> wurde am 10. Juli 1863 der „Arbeiterbildungsverein“<br />
gegründet, dessen Geschichte sich ausführlich<br />
in dem 1990 erschienenen, bis heute grundlegenden Buch<br />
von Paul Landmesser und Peter Päßler „Wir lernen im Vorwärtsgehen!<br />
Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung<br />
in <strong>Reutlingen</strong> 18441949“ nachlesen lässt.<br />
laura Schradin (1878-1937)<br />
Der Verein führte in seinen Stauten formale Paragraphen<br />
oder harmlose Zwecke wie Unterstützung durch eine Krankenkasse,<br />
Auszahlung von Reisegeld bei Wanderschaft sowie<br />
die Absicht auf, „den mehrstimmigen Gesang gesellschaftlicher<br />
Lieder zu veredeln“. Bald gab es aber Bildungsvorträge,<br />
so über Hermann SchultzeDelitzschs „Arbeiterkatechismus“,<br />
oder Unterricht „Im Rechtschreiben und Styl“; zudem<br />
wurde eine Bibliothek mit politischer und unterhaltender<br />
Literatur aufgebaut. Der Stempel des Vereins, der in den<br />
Jahren nach seiner Gründung zwischen 70 und 80 Mitglieder<br />
hatte, zeigte die verschlungenen Hände als Symbol der<br />
Arbeiterverbrüderung. Bei großen Feiern hing im Saal ein<br />
Transparent mit der Aufschrift „Arbeit bringt Segen – Bildung<br />
macht frei – Einigkeit macht stark“. Der Verein wurde<br />
von bürgerlicher Seite angefeindet, die Arbeiter wurden als<br />
Faulenzer denunziert; zudem fehlte es an Räumlichkeiten<br />
für die Bildungsarbeit.<br />
Das VoLk zu eigenem<br />
urteiL erziehen<br />
Einigkeit aber machte stark, und zur Stärkung der Arbeiterklasse<br />
wollte August Bebel beitragen, der auf Einladung<br />
des Arbeiterbildungsvereins am 18. November 1869 im Saal<br />
des Gasthofs „Zum Bad“ über die „Wichtigkeit der sozialen<br />
Bewegung der Arbeitswelt“ sprach. Allmählich vollzog sich<br />
der Schritt von der Arbeiterbildung zur Arbeiterpolitik, von<br />
kleinen Vereinen zu großen Organisationen, und auch der<br />
Reutlinger Arbeiterbildungsverein orientierte sich an der<br />
1869 konstituierten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
24 dIe AnFänGe der volksBIldunG<br />
25<br />
Emil Gminder (1873-1963)<br />
Später bauten Sozialdemokratie und Gewerkschaften eigene<br />
Bildungseinrichtungen wie „Marxistische Arbeiterschule“<br />
oder „VolksUnterrichtskurse“ auf, die in <strong>Reutlingen</strong> ebenfalls<br />
angeboten wurden.<br />
Mit den Sozialistengesetzen begann eine weitere Phase<br />
der Illegalität, die Parteiarbeit wurde wiederum in geselligen<br />
Vereinen fortgeführt, wie dem 1881 in <strong>Reutlingen</strong> aus<br />
einem Schreinerfachverein hervorgegangene „Gesangverein<br />
Frohsinn“. Der Reutlinger Arbeiterbildungsverein verbürgerlichte<br />
zusehend und verlor schließlich sein politisches<br />
Profil; wie andere lokale Vereine, schloss er Sozialsten aus.<br />
1919 vereinigte sich sein „Dramaturgischer Klub“ mit dem<br />
Gesangverein „Frohsinn“. Auch wenn sich in Annoncen aus<br />
jener Zeit noch das Signum Arbeiterbildungsverein findet,<br />
statt klassenkämpferischer Bildung wurde nun vor allem<br />
unterhaltsames Theater geboten; 1928 ging daraus das heutige<br />
Naturtheater <strong>Reutlingen</strong> hervor. Die Arbeiterbewegung<br />
führte ihre eigenen Bildungseinrichtungen weiter, hinzu kamen<br />
Gesang, Sport und Wandervereine, in denen ebenfalls<br />
Geselligkeit gepflegt wurde.<br />
Zugleich wandte sich das Bürgertum verstärkt der Erwachsenenbildung<br />
zu. Am 16. März 1918 gründete der Textilfabrikant<br />
Emil Gminder mit anderen Reutlinger Honoratioren<br />
den Volksbildungsverein, dem er bis 1936 vorstand.<br />
Mit dem Verein und dem Umbau der Spitalkirche zum 1922<br />
eingeweihten Volksbildungshaus legte Gminder den Grundstein<br />
für die heutige <strong>Volkshochschule</strong>. Er war gewiss ein<br />
traditionalistischpaternalistischer Unternehmer, und mit<br />
guter Ausbildung für Fachkräfte ging es ihm durchaus um<br />
wirtschaftliche Interessen. Aber zugleich sah er die politi<br />
sche Notwendigkeit, den Staat zu modernisieren, Klassengegensätze<br />
abzubauen, um so revolutionären Bestrebungen<br />
vorzubeugen.<br />
Die Familie Gminder hatte bereits durch den Bau der Arbeitersiedlung<br />
Gmindersdorf einen Beitrag zur Verbesserung<br />
der sozialen Lage der Arbeiter in <strong>Reutlingen</strong> geleistet, und<br />
Emil Gminders Bildungsbestrebungen zeigten jene philantropischen<br />
und pragmatischen Züge, welche der bürgerlichen<br />
Volksbildung seit Anfang innewohnten. Sie versprach dem<br />
Proletariat Aufstiegschancen und verfolgte so die Integration<br />
der Arbeiterklasse in den bürgerlichen Staat – Reform statt<br />
Revolution. In seiner Absichtserklärung zur Gründung des<br />
Volksbildungsvereins schrieb Gminder 1917: „Wenn wir nach<br />
dieser Richtung mit Erfolg wirken, helfen wir, enorme wirtschaftliche<br />
Werte zu schaffen und zu erhalten, wir werden das<br />
Volk mehr und mehr zu einem eigenen Urteil erziehen, als das<br />
bisher leider der Fall war und wir werden auch indirekt an der<br />
moralischen Hebung unseres Volkes arbeiten.“<br />
Hermann Bausinger schreibt in seinem Essay „Bildung<br />
macht frei“ in der Festschrift zum 75jährigen Bestehen<br />
des Vereins für Volksbildung, dass der Begriff Volksbildung<br />
einem nach dem Ersten Weltkrieg aufkommenden neuen<br />
Harmoniebedürfnis entsprach: „Die äußere und innere Not<br />
schien eine Trennung nach Klassen nicht länger zu erlauben.<br />
Was sich schon im Krieg selbst angebahnt hatte: die Überwindung<br />
von Klassenschranken durch nationale Loyalität<br />
– das schien den Wortführern der neuen pädagogischen Bewegung<br />
auch das für die Bewältigung der Nachkriegsprobleme<br />
geeignete Prinzip.“<br />
Fit Für Den konkurrenzkampF<br />
Freilich zeigte die Folgezeit, darauf weist Uwe Loewer in seinem<br />
Beitrag „Von der Volksbildung zur Weiterbildung“ in<br />
eben dieser Festschrift hin, dass Gminders programmatisch<br />
und didaktisch moderner Ansatz bald konterkariert, anstelle<br />
eines praxisorientierten ganzheitlichen Lernkonzepts für<br />
untere Schichten eher eine akademische Orientierung verfolgt<br />
wurde – „Bildung des Volkes anstatt Volksbildung“. Zugleich<br />
gab es eine Tendenz zur Vermittlung der Volks(tums)<br />
ideologie. Und so konnte der Volksbildungsverein mehr<br />
oder weniger nahtlos in die „NSGemeinschaft Kraft durch<br />
Freude“ überführt werden.<br />
Die Neugründung des Vereins für Volksbildung 1946, der<br />
Wandel der Fort und Weiterbildung, die Erfolgsgeschichte<br />
der Reutlinger <strong>Volkshochschule</strong>, die Wiederaufbau und Entwicklungsleistung<br />
der verdienstvollen Vorsitzenden nach Emil<br />
Gminder, Oskar Kalbfell (19461975) und Gerhard Noller<br />
Die Mitglieder des Reutlinger Arbeiterbildungsvereins.<br />
(19751992), der Weitblick der Geschäftsführer Hans Wilhelm<br />
Zeller (19461970) und Hans Haußmann (19701992), welche<br />
die VHS angebotsorientiert den Erfordernissen des Bildungsmarktes<br />
anpassten, ist in den Festschriften des Vereins und im<br />
Buch zum Abschied von Hans Haußmann hinreichend beschrieben<br />
worden.<br />
Hier soll nur auf die Zäsur eingegangen werden, die mit der<br />
Umwandlung von <strong>Volkshochschule</strong> und Musikschule in zwei<br />
Gesellschaften mit beschränkter Haftung eintrat. Der Verein<br />
für Volksbildung aber besteht bis heute und ist seit 1994<br />
alleiniger Gesellschafter, zudem unterhält er Einrichtungen<br />
vom Abendgymnasium bis zur Kontaktstelle Frau und Beruf,<br />
von der Sternwarte bis zur Design und Kommunikations<br />
Akademie, ist Mitbegründer der Dr. Rainer Märklin Stiftung.<br />
Märklin ist seit 1992 Vorsitzender des Vereins für Volksbildung,<br />
als Geschäftsführer der <strong>Volkshochschule</strong> fungiert seit<br />
1998 Dr. Ulrich Bausch. Beide haben mit den Aufsichtsgremien,<br />
in denen auch die Stadt vertreten ist, die VHS fit gemacht<br />
für den sich verschärfenden Konkurrenzdruck. Und obgleich<br />
die Fort und Weiterbildung auf einem immer härter umkämpften<br />
Bildungsmarkt und angesichts immer rascher sich<br />
wandelnder Leistungsanforderungen in einer globalisierten<br />
Welt reagieren muss, wurde schon unter Haußmann und wird<br />
bis heute unter Bausch politische Bildung weiter gepflegt.<br />
Beide verstanden und verstehen sich als fachliche Bildungsmanager<br />
und politische Köpfe, die den gesellschaftlichen Diskurs<br />
vorantreiben. Mit zahlreichen Veranstaltungen haben sie<br />
meinungsbildend in der Stadt gewirkt.<br />
Bausch hielt 2001 bei der Mitgliederversammlung des Vereins<br />
für Volksbildung einen Vortrag über „Weiterbildung<br />
zwischen öffentlichen Auftrag und Kommerzialisierung“.<br />
Darin bezeichnet er öffentlich verantwortete und finanzierte<br />
Bildung als „zwingende Funktionsvoraussetzung für<br />
den demokratischen und sozialen Industriestaat“. Steigende<br />
Bildungsanforderungen machten steigende, nicht sinkende<br />
öffentliche Ausgaben notwendig. Damit steht Bausch in der<br />
Tradition der Volks und Arbeiterbildung. Es geht heute bei<br />
einer zunehmenden Ökonomisierung unseres Lebens und<br />
der Reduktion des Menschen auf ein Konsumwesen um<br />
mehr als reine Qualifikationsvermittlung für den Arbeitsmarkt.<br />
Es geht um Bildung als emanzipatorischen Anspruch<br />
und politisches Postulat. Und dem widerspricht auch nicht<br />
der empirische Befund, dass die Deutschen im Unterschied<br />
etwa zu den Skandinaviern Fortbildungsmuffel seien.<br />
Denn hier liegt eine dauerhafte Aufgabe der <strong>Volkshochschule</strong>:<br />
In einer weiter alternden Gesellschaft ist lebenslanges<br />
Lernen für den Staat und seine Bürger eine schlichte Notwendigkeit.<br />
Oder um es mit den Worten von Laura Schradin<br />
zu sagen, die vor über hundert Jahren voraussah: „Und wir<br />
müssen lernen. Müssen es um so mehr, weil gerade unsere<br />
Zeit große Forderungen an die Menschheit stellt. Erkenntnis<br />
sammeln bedeutet Macht!! Nicht bloß für den einzelnen,<br />
sondern erst recht für die Nationen. Nur diejenige Nation<br />
wird an der Spitze der Völker marschieren, welche darnach<br />
strebt, geistig regsame, denkende, statt gläubige, erkennende<br />
Menschen zu erziehen.“<br />
<<br />
Abdruck der Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des<br />
Heimatmuseums <strong>Reutlingen</strong>.
26 Im Gespräch<br />
27<br />
„das gerede Von der LeistungseLite<br />
soLL doch nur priViLegien absichern“<br />
ein gespräch mit dem soziologen prof. michael hartmann<br />
Autor: Arno luIk<br />
FotoGrAF: volker hInz<br />
Wer klug und fleißig ist, schafft es nach oben. Das ist ein Märchen.<br />
Es ist die Gnade der richtigen Geburt, die eine Spitzenposition in der<br />
Wirtschaft garantiert. Zum Manager wird man geboren. Vier von fünf<br />
Chefs der 100 größten deutschen Unternehmen stammen aus den oberen<br />
drei Prozent der Bevölkerung, dem Großbürgertum. nur ein Vorstandsvorsitzender<br />
aus den DAX-30-Unternehmen ist ein Arbeiterkind.<br />
Deutschland im Jahre 2008 – von wegen Gleichheit und Gerechtigkeit,<br />
von wegen Chancengleichheit.<br />
Karriere machen Kinder aus der Oberschicht und sonst fast niemand –<br />
sagt Michael Hartmann. Er ist Professor für Soziologie an Technischen<br />
Universität Darmstadt. Seit vielen Jahren beschäftigt sich der 56-Jährige<br />
mit einem Thema, das hierzulande in der Forschung tabuisiert ist:<br />
Den Reichen. Dem Führungspersonal der Bundesrepublik. Der Elite und<br />
ihren Leistungen.<br />
Hartmann kennt dieses Milieu von Kindesbeinen an, er kennt jene, die<br />
Macht haben und sie behalten wollen, er weiß, wie sie ticken: „Mein Vater<br />
war Finanzchef des Erzbistums Paderborn. Am Abendbrottisch ging<br />
es bei uns um Millionäre, die keine Kirchensteuer zahlen wollten, aber<br />
sich Sorgen machten um die angemessene christliche Beerdigung.“<br />
Tausende von Lebens- und Berufsverläufen, das System privater Schulen<br />
und privater Universitäten hat er fakten versessen für seine Bücher<br />
(etwa: „Der Mythos von Leistungseliten“, „Eliten und Macht in Europa“)<br />
seziert und analysiert. Für ihn ist das herrschende, vor allem das für<br />
die Zukunft geplante Bildungssystem, ein sorgsam konstruiertes System,<br />
das dafür sorgt, dass „die deutsche Elite ein geschlossener Kreis“<br />
bleibt, der seinen nachwuchs vor allem „im Großbürgertum sucht“.<br />
Für den Darmstädter Wissenschaftler ist das in der Politik und den Medien<br />
um sich greifende „Gerede von Elite“ nur ein ideologisches Mittel,<br />
um Privilegien abzusichern. Im Übrigen sei das auch ein Grund,<br />
weshalb bei uns so hartnäckig und gegen besseres Wissen am dreigliedrigen<br />
Schulsystem festgehalten wird: „Dieses Schulsystem sorgt<br />
dafür, dass über die Hälfte der Kinder, fast 60 Prozent, aus dem Kampf<br />
um ein Studium und relativ gute Arbeitsplätze<br />
herausfällt.“<br />
So ungerecht findet Hartmann die Zustände,<br />
dass er in seinem letzten Buch<br />
für einen deutschen Professor ungewöhnlich<br />
klare Worte findet. nein, der<br />
Wissenschaftler ruft nicht zur Revolte<br />
auf, das nicht. Aber wer ein gerechteres<br />
Land haben möchte, ein Land, in dem die<br />
Kluft zwischen Arm und Reich nicht immer<br />
größer wird, der, so Hartmann, müsse<br />
sich schon im Widerstand üben: „nur<br />
wenn die Verlierer sich wehren, beginnt<br />
vielleicht bei den Eliten ein Umdenken.“<br />
Deutschland stehe nun an einem Scheideweg,<br />
so Michael Hartmann im Gespräch<br />
mit Arno Luik, letztendlich gehe<br />
es um die Frage, in was für einem Land<br />
wollen wir eigentlich leben? Hartmann:<br />
„Unser Kurs, das zeigt auch der Armutsbericht<br />
der Bundesregierung, ist im Moment<br />
klar: hin zu mehr Ungerechtigkeit.<br />
Aber da muss man sich dann eingestehen,<br />
was das bedeutet: mehr Gewalt,<br />
mehr Kriminalität.“<br />
„Eindeutiger Trend zu mehr Ungerechtigkeit“:<br />
Michael Hartmann mit „Stern“-Autor Arno luik (links).
28 Im Gespräch<br />
29<br />
Arno luik im Gespräch mit Michael Hartmann:<br />
Herr Hartmann, es ruft die Kanzlerin Angela Merkel, es ruft der SPD-Chef<br />
Kurt Beck, und es ruft Herr Stoiber, sie alle rufen: „Bildung!“ Mehr Bildung!<br />
Wir brauchen mehr Bildung!“ Sie sagen, nur wer klug ist, hat eine Chance,<br />
kann es schaffen, kommt nach oben.<br />
Ja, ja, sie rufen, das stimmt schon, und es macht sich auch gut als Schlagzeile. Aber<br />
es sind Sonntagssprüche. Wenn es ihnen wirklich ernst wäre, dann müssten sie<br />
sich als Erstes fragen: Was sind uns die Schulen, die Universitäten wirklich wert?<br />
Dann müssten sie sofort aufhören, den Bildungsbereich weiter auszuquetschen.<br />
Schulgebäude, Universitäten zerfallen. In den letzten zehn Jahren wurden fast 1500<br />
Professorenstellen eingespart, bei den Geisteswissenschaften fielen über zehn Prozent<br />
weg, manche Fächer werden regelrecht ausgelöscht.<br />
Sie sind wütend.<br />
Nein, aber die Politik macht doch das Gegenteil von dem, was sie lautstark verkündet.<br />
Nehmen Sie die jetzt beschlossene Steuerreform für Unternehmen, sie wird<br />
fünf bis zehn Milliarden kosten: Geld, das auch für die Bildung fehlt. Wir müssen<br />
aber – sofort – mehr in die frühkindliche Bildung investieren, das dreigliedrige<br />
Schulsystem muss abgeschafft werden. Es ist historisch überholt, ist aber eine heilige<br />
Kuh, die sich niemand zu schlachten traut. Doch diese Strukturen aus den<br />
50er Jahren des vorigen Jahrhunderts sorgen dafür, dass immer mehr Leute auf der<br />
Strecke bleiben.<br />
Der gerade erschienene OECD-Bericht gibt Deutschland – wieder einmal –<br />
fürchterlich schlechte Noten in Sachen Bildung.<br />
Und das zu Recht. Die anderen Ländern stecken einfach viel mehr Geld in ihr<br />
Bildungssystem. Bei uns wird gespart, gespart. Fast alles, was an den Schulen, den<br />
Hochschulen im Moment passiert, von der Einführung der Studiengebühren bis<br />
hin zu diesen sogenannten EliteUniversitäten – das führt nicht zu mehr und besseren<br />
Studenten. Fast alles läuft darauf hinaus, dass die Bildung, wie die Gesellschaft<br />
im Allgemeinen, immer mehr auseinanderreißt.<br />
„Bildung ist Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist<br />
Bildung“ – das ist ein Motto der SPD.<br />
Das ist ja nicht falsch. Aber in ihrem Grundsatzprogramm hat sich die SPD von<br />
der Verteilungsgerechtigkeit verabschiedet, doch die ist aufs Engste mit der<br />
Chancengleichheit verbunden. Im Klartext: Kinder, die in Familien aufwachsen,<br />
die Hartz IV bekommen oder seit zwei Generationen nicht mehr regelmäßig<br />
beschäftigt sind, haben so gut wie keine Chancen, sie sind die geborenen<br />
Verlierer.<br />
Die Zahlen sind erschreckend: 85 000 Jugendliche verlassen<br />
jährlich die Schulen ohne Abschluss.<br />
Dem muss sich die Gesellschaft endlich ernsthaft stellen: Ein Viertel aller 15Jährigen<br />
kann nicht richtig lesen oder schreiben. 15 Prozent eines Jahrgangs werden<br />
komplett abgehängt, sind ohne Perspektive.<br />
Keine Gesellschaft hält so etwas auf die Dauer<br />
aus. Aber diese Jugendliche sind nicht einfach<br />
dumm.<br />
Wirklich nicht?<br />
Nein, es sind die Strukturen, die sie aus der<br />
Gesellschaft katapultieren.<br />
Der Soziologe Ralf Dahrendorf würde Ihnen da<br />
vehement widersprechen. Er sagt: Der Einzelne<br />
ist nicht mehr das, als was er geboren ist oder<br />
was er besitzt, sondern nur noch, was er kann.<br />
Das ist ein Unsinn, ein Mythos, der bewusst am<br />
Leben gehalten wird. Es stimmt einfach nicht,<br />
dass nur der Wille bestimmt, wer nach oben<br />
kommt.<br />
Wie? Es ist die Gnade der Geburt, ob ich ein<br />
Unternehmenschef werde oder ...<br />
Ja. Wir sind keine Fahrstuhlgesellschaft, in der<br />
es für die meisten nach oben geht, wie es in den<br />
80ern des vergangenen Jahrhunderts manchmal<br />
noch hieß. Zum Manager wird man geboren.<br />
Vier von fünf Managern der 100 größten<br />
Unternehmen stammen aus den oberen drei<br />
Prozent der Bevölkerung, dem Großbürgertum,<br />
nur ein Chef aus den DAX30Unternehmen<br />
ist ein Arbeiterkind. Bei den meisten anderen<br />
Vorstandschefs waren die Eltern Unternehmer,<br />
Manager, hohe Beamte oder Adel. Man kennt<br />
sich. Das ist eine wirklich geschlossene Gesellschaft.<br />
Der kürzlich an einer Überdosis Heroin verstorbene<br />
Gottfried Graf von Bismarck hat in<br />
Oxford studiert, hatte schlechte Noten, und er<br />
sagte: „Wenn ich mich um einen Job bewerbe<br />
und auf der Liste steht Meier, Müller, Schmidt<br />
oder von Bismarck, bin ich ziemlich sicher,<br />
dass ich den Job bekomme.“<br />
Natürlich. Denn jeder Chef denkt: Der tickt<br />
wie ich. Der ist dem gleichen Wertesystem<br />
verbunden. Der weiß, wie man sich richtig bewegt,<br />
kann über Opern plaudern, kann Regeln<br />
bewusst oder ironisch verletzen, er hat den<br />
richtigen Habitus, die Aura: Ich gehöre dazu.<br />
Er strahlt Souveränität aus.<br />
„es macht ja schon einen unterschieD,<br />
ob sie es aLs arbeiterkinD zum stuDienrat<br />
schaFFen oDer ob sie aLs sohn eines<br />
amtsrichters auch stuDieren können.“<br />
Das kann man doch alles lernen.<br />
Nein.<br />
In Bernard Shaws Komödie „Pygmalion“ bringt der Sprachforscher Professor<br />
Higgins dem Blumenmädchen Eliza Doolittle Oxford-Englisch bei, damit sie als<br />
Herzogin auftreten kann. Und sie kann es.<br />
Es mag mal klappen. Aber wie man sich Oben bewegt, wie man mit Macht richtig<br />
umgeht, das lernt man nur, wenn man in diesem Milieu aufgewachsen ist. Mein<br />
Vater war Finanzchef des Bistums Paderborn. Bei uns am Abendbrottisch ging es<br />
um die Auseinandersetzungen im Erzbistum, um Prälat, Generalvikar, Kardinal.<br />
Um Millionäre im Ruhrgebiet, die keine Kirchensteuern zahlen wollten, aber sich<br />
Sorgen machten um die angemessene kirchliche Beerdigung. Ich habe von Kindesbeinen<br />
an ganz automatisch mitbekommen, was Macht bedeutdet, wie die oberste<br />
Schicht tickt, wie man sich da bewegt.<br />
Und Sie meinen tatsächlich, das ließe sich<br />
nicht anlernen?<br />
Nein. Das ist auch der Grund, weshalb persönliche Auswahlgespräche bei den Universitäten<br />
verstärkt in Mode kommen. So findet, unabhängig von den Noten, eine<br />
gezielte soziale Selektion statt. Bei so einem Aufnahmegespräch an der ENA, einer<br />
EliteUniversität in Frankreich, war eine Frage: Wie tief ist die Donau in Wien?<br />
Die brillanteste Antwort kam von einem Bewerber, dessen Vater schon an der ENA<br />
war: „Unter welcher Brücke meinen Sie denn?“ Er wußte natürlich nicht, wie tief<br />
die Donau ist, redete aber selbstbewusst los. So etwas macht Eindruck.<br />
Ich würde sagen: Das ist eine Schlagfertigkeit,<br />
die man sich antrainieren kann.<br />
Nein. Eine Sicherheit. Ein Arbeiterkind gerät in so einer Situation, in der es ums<br />
Ganze geht, in Panik. Verzweifelt versucht es zu ergründen, wie tief die Donau ist,<br />
oder es schweigt, was der schlimmste Fehler ist.<br />
Klaus Kleinfeld, ein Arbeiterkind<br />
aus Bremen, hat es zum Vorstandschef<br />
von Siemens gebracht.<br />
Ja, es gibt immer die Ausnahme. Es gab auch Jürgen Schrempp, der von ganz unten<br />
kam. Aber als er gehen musste, lachte man bei der Deutschen Bank in Frankfurt<br />
diabolisch auf: Endlich war er weg, der Parvenü. Er war ihnen zu laut, zu wenig<br />
distinguiert. Aufsteiger bekommen oft Chancen in Umbruchzeiten, wenn Umstrukturierungen<br />
anstehen. Sie sind in der Regel die Härteren. Kleinfeld kam zu<br />
Siemens als Kostenkiller, um Mitarbeiter zu entlassen, nun geht er zur amerikanischen<br />
Firma Alcoa, da wird von ihm das gleiche erwartet. Kleinfeld bestätigt meine<br />
These, dass Habitus, Souveranität letztendlich oft wichtiger sind als Bildung.<br />
Aber er hatte doch Erfolg!<br />
Nein, als er wirklich gefordert war, versagte er.<br />
Kleinfeld hat gelernt, Kosten zu sparen, darauf<br />
war er getrimmt. Betriebswirtschaft – das kann<br />
er. Aber als er mit dem Korruptionsskandal bei<br />
Siemens konfrontiert war, war er überfordert.<br />
Wenn man ihn im Fernsehen sah, tat er einem<br />
fast leid: Er war fahrig, unsicher, hatte überhaupt<br />
keine Vorstellung, wie er mit dieser politischen<br />
Frage umgehen sollte. Er musste gehen.<br />
Es ist düster, was Sie sagen: Es heißt doch, egal<br />
wie ich mich mühe, ich habe keine Chance.<br />
Nein. Es gibt ja nicht nur Armut und Reichtum,<br />
es gibt ja – noch – ein breites Mittelfeld.<br />
Es macht ja schon einen Unterschied, ob Sie es<br />
als Arbeiterkind zum Studienrat schaffen oder<br />
ob Sie als Sohn eines Amtsrichters auch studieren<br />
können und danach einen ordentlichen Job<br />
bekommen. Aber der Kampf um die Plätze in<br />
Sicherheit wird härter. Ein Zeichen, dass die<br />
Zeiten härter werden, ist auch, dass nun bei<br />
uns ganz offensiv über Elite und Eliteuniversitäten<br />
geredet wird.<br />
Es war unter Rot-Grün, es war der sozialdemokratische<br />
Kanzler Gerhard Schröder, Kind<br />
einer Putzfrau und eines Hilfsarbeiters, der<br />
nach Elite-Universiäten rief.<br />
Ja. Es ist eine bittere Ironie: Ohne die Bildungsoffensive<br />
der 60er und 70er Jahre des vorigen<br />
Jahrhunderts, als der Staat wirklich mal Geld in<br />
die Ausbildung seiner Bürger steckte, hätte er<br />
seinen Aufstieg nie geschafft. Aber es gibt immer<br />
viele Aufsteiger, die vergessen, woher sie<br />
kommen. Sie sichern nun ihre Privilegien ab.<br />
Das ist ein Grund, weshalb bei uns so hartnäckig,<br />
so erbittert und gegen bessere Wissen am<br />
dreigliedrigen Schulsystem festgehalten wird.<br />
Das ist doch ein bißchen primitiv gedacht.<br />
Nein, überhaupt nicht. Dieses Schulsystem<br />
sorgt dafür, dass über die Hälfte der Kinder,<br />
fast 60 Prozent, aus dem Kampf um ein Studium<br />
und relativ gute Arbeitsplätze herausfällt.<br />
Da wird ganz früh, viel zu früh sortiert. Man<br />
bemäntelt das, behauptet stattdessen, dass Gesamtschulen...
30 Im Gespräch<br />
31<br />
Für Kanzlerin Merkel sind<br />
sie „sozialistische Gleichmacherei“.<br />
..., wo Gute und Schlechte zusammen sind, die Schlechten das Niveau nach unten<br />
ziehen. Keine wissenschaftliche Untersuchung bestätigt dies. In Skandinavien zeigt<br />
sich dagegen, dass auch die Guten profitieren. Nein, es geht einfach um die Frage:<br />
Ist man bereit, mehr Geld in die Ausbildung zu stecken? Ist man bereit, mehr Lehrer,<br />
Pädagogen, Professoren einzustellen? Ist man bereit, dass die Bildungschancen<br />
gerechter verteilt werden? Darum geht es.<br />
Beim Verband der Deutschen Industrie BDI heißt es ganz kategorisch:<br />
„Ohne Elitenförderung ist Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig!“<br />
Und die Ministerin Buhlman ergänzt: „Wir brauchen eine Leistungselite.“<br />
Das ist ein Schlagwort. Es soll rechtfertigen, dass ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung<br />
viel bessere Bedingungen bekommt als der Rest.<br />
Wissen Sie wie der Duden „Elite“ definiert?<br />
Nein.<br />
Als „Auslese der Besten“.<br />
Das ist eine Definition, die nichts mit unserer Wirklichkeit zu tun hat. Ich habe mir<br />
gerade in einer Studie...<br />
Sie ist soeben unter dem Titel „Eliten und Macht<br />
in Europa“ erschienen.<br />
... Frankreich, Großbritannien, also Länder mit EliteEinrichtungen untersucht,<br />
auch die USA angeschaut: Es gibt definitiv keinen Zusammenhang zwischen dem<br />
wirtschaftlichem Erfolg eines Landes und seinen elitären Bildungseinrichtungen.<br />
Was es allerdings eindeutig gibt: Je exklusiver und teurer die Eliteeinrichtungen<br />
sind, desto größer sind die sozialen Unterschiede, desto aggressiver sind auch die<br />
Lebensbedingungen, desto rauer der Alltag. In Großbritannien, in den USA ist<br />
jeder Fünfte arm. In Skandinavien jeder Zehnte. Die Wahrscheinlichkeit, in Großbritannien<br />
oder in den USA überfallen, ausgeraubt oder ermordet zu werden, ist<br />
um ein Vielfaches höher als in den skandinavischen Ländern. Und wir sind eindeutig<br />
auf dem Weg zum rauen, zum amerikanischen Modell.<br />
Hilft Bildung denn gegen Raubüberfälle?<br />
Bildung allein sicherlich nicht. Aber Sie müssen sehen, dass sich der Sozialstaat in<br />
seinen Kernbereichen auflöst, in der Steuerpolitik, im Bildungsbereich. Deutschland<br />
polarisiert sich dramatisch: unendlicher Reichtum auf der einen Seite, zunehmende<br />
Armut auf der anderen. Hoffnungslosigkeit. Aggressionen. Den Armen<br />
kennt man. Es gab ja neulich eine Unterschichtendiskussion, das gleiche müsste<br />
man auch über die Reichen machen.<br />
Sie sind Soziologe – machen Sie es.<br />
Der Reiche bleibt unerkannt. Geld ist scheu. Man macht sich unbeliebt, wenn man<br />
die Reichen untersuchen will. Wir haben über 100 Milliardäre, so viele wie Großbritannien,<br />
Frankreich, Italien und Spanien zusammen. Die Reichen leben in einer<br />
anderen Welt. Es hat sich eine kleine Schicht von Personen herausgebildet, die<br />
immer weniger mit dem Rest der Gesellschaft<br />
zu tun hat. Sie auch kaum mehr wahrnimmt.<br />
Utz Claasen, der entlassene Vorstandschef von<br />
EnBW, er ist gerade mal 44 Jahre alt, bekommt<br />
für die vier Jahre die er bei EnBW gearbeitet<br />
hat, bis zu seinem Rentenalter ein Übergangsgeld<br />
von 400.000 Euro jährlich, danach als Pension<br />
diesselbe Summe bis zum Tode.<br />
Er hat im letzten Jahr ein Buch veröffentlicht:<br />
„Mut zur Wahrheit“.<br />
Ja, und darin verkündet er, Deutschland lebe<br />
seit Jahren über seine Verhältnisse.<br />
Er spricht aber nicht von sich.<br />
Nein, wie zynisch sein Buch ist, merkt er gar<br />
nicht. Er sieht nur sich und seine Gruppe – die<br />
Ackermanns, die Kleinfelds. Neulich wurden<br />
am selben Tag zwei Zahlen bekannt: Die Dax<br />
30Vorstandsmitglieder verdienen im Schnitt –<br />
ohne Sondervergütungen – 3,4 Millionen Euro.<br />
1,9 Millionen Kinder in Deutschland leben in<br />
Armut. Hinter den Zahlen heißt das: Hunger.<br />
Es gibt Kinder, die vor Hunger dem Unterricht<br />
nicht mehr folgen können. In keinem Land,<br />
außer den USA, sind Kinder länger arm als<br />
bei uns. Aber die Manager und viele Politiker<br />
bekommen diese Wirklichkeit gar nicht mit,<br />
sie haben auch keine Lust, sich mit dem Rest<br />
der Bürger abzugeben. Sie fühlen sich als Elite,<br />
sie möchten – wie in Frankreich, England,<br />
USA – für sich exklusive Institutionen, wo sie<br />
noch mehr als bisher unter Ihresgleichen sein<br />
können.<br />
In den 70ern des vorigen Jahrhunderts studierte<br />
ich in den USA am Amherst College, dort<br />
trafen sich die Kinder der Geld-, Finanz- und<br />
Adelsaristokratie. Einer meiner Fußballpartner<br />
war Prinz Albert von Monaco. Ein paar Kilometer<br />
von unserem Campus entfernt war die<br />
staatliche Universität von Massachusetts. Für<br />
die Amherstianer hieß sie „the zoo“, der Zoo,<br />
die Affen dort. Also: Die Begüterten schauen<br />
voll elitärer Verachtung nach unten, man weiß,<br />
was man hat, man weiß, wer man ist.<br />
Ja, wir gehen in dieselbe Richtung, und in vielleicht<br />
20 Jahren – wenn die Bevölkerung sich<br />
nicht wehrt – werden wir EliteUniversitäten und EliteSchulen haben. Es werden<br />
daraus dann enge, lebenslange Netzwerke entstehen, die Elite wird dann noch<br />
homogener als bisher, sie wird sich noch besser abschotten, sie wird ihre Interessen<br />
noch besser durchsetzen können. Es wird dann, von Kindesbeinen an, soziale<br />
Trennungen, zwei Welten geben. Der Trend ist eindeutig: hin zu mehr Ungerechtigkeit.<br />
Wie erklären Sie sich das?<br />
Ohne die skandinavischen Länder verklären zu wollen: Es sind egalitäre Gesellschaften.<br />
Sie haben höhere Steuersätze, aber sie haben auch ein besseres<br />
Bildungswesen, 60 bis 70 Prozent eines Jahrgangs studieren, sie sind<br />
also für die Zukunft besser gewappnet als wir. Bei uns wurden, wie gesagt,<br />
die Steuern für die Besserverdienenden und die Industrie dramatisch gesenkt.<br />
Unter Gerhard Schröder gab es dazu noch einen Bruch in der politischen<br />
Elite: In den 90er Jahren kamen nur fünf von 16 KabinettsMitliedern<br />
aus bürgerlichen Kreisen, Finanzminster Waigels Vater war zum Beispiel Maurerpolier;<br />
bei Schröder kam dann jeder Zweite, jetzt unter Merkel sind von den 16<br />
Mitglieder des Kabinetts zehn aus dem Großbürgertum. Das hat Auswirkungen.<br />
Das ist ein ganz anderes Milieu, ein anderes Denken. Mitgefühl schwindet. In dieser<br />
Elite rücken die Interessen der normalen Bürger aus dem Blickfeld. Die können<br />
sich gar nicht vorstellen, dass 500 Euro Studiengebühr jemand vom Studium<br />
abhalten kann.<br />
Wen zählen Sie zur Elite?<br />
Die wirkliche Elite, also die Elite, die gesamtgesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen<br />
kann, das sind rund 4000 Personen: Es sind die wichtigsten Minister im<br />
Bundeskabinett, große Familienunternehmer, die Vorstände großer Unternehmen,<br />
hohe Beamte in der Berliner Ministerialbürokratie, die Richter an den hohen Gerichten,<br />
die über Steuerrecht oder Studiengebühren entscheiden können.<br />
In Ihrem dicken Buch über die Macht nennen Sie keine Namen. Aber wer sind<br />
nun die wirklich mächtigen Herren und Damen?<br />
Mir geht es nicht um einzelne Namen.<br />
Die zwei Aldi-Brüder besitzen 37 Milliarden Euro – das reicht aus, um<br />
116 Fußballplätze mit 500-Euro-Scheinen zuzupflastern.<br />
Familienunternehmer wie Aldi, also die zwei AlbrechtBrüder, oder auch Otto sind<br />
mächtig. Sie – als Einzelpersonen – können Milliarden bewegen, sie können entscheiden,<br />
wieviel Geld zu welchen Bedingungen wo investiert wird. Oder wenn Sie<br />
sich die Familien Piëch und Porsche angucken, die Porsche und VW kontrollieren<br />
– von ihren Entscheidungen hängen Hunderttausende ab. Oder die QuandtFamilie,<br />
jener Zweig, der bei BMW und, bis vor kurzem, beim Pharmakonzern Altana<br />
die Mehrheit hat: Da ist die wirkliche Macht. Diese Familie hat einen ungeheuren<br />
Einfluß auf die Infrastruktur und die Industriepolitik, auf die Arbeitslosenzahlen.<br />
Dass Altana, immerhin ein erfolgreiches DAXUnternehmen, verkauft wurde – das<br />
war eine Entscheidung der Frau Quandt. Oder wenn BMW ein neues Werk baut,<br />
löst das eine Standortdiskussion in ganz Europa aus. Wer kriegt den Zuschlag? Wer<br />
bietet die steuerlich günstigsten Bedingungen, die günstigsten Arbeitskräfte?<br />
Wie muss ich mir das vorstellen:<br />
Da greift Frau Quandt zum Telefon<br />
und ruft in Berlin an?<br />
Nein, sie ruft da nicht an. Die Politik geht zu<br />
ihr oder zu den BMWVorständen, sie möchte<br />
ja, dass in Leipzig ein BMWWerk entsteht.<br />
Mächtig ist auch jemand wie Manfred Schneider,<br />
der frühere Chef von Bayer Leverkusen,<br />
immer noch im Aufsichtsrat von sechs Unternehmen.<br />
Wenn er sagt, was er vor einiger Zeit<br />
tat: „Man muss sich ernsthaft die Frage stellen,<br />
ob wir nicht den sozialen Standard spürbar reduzieren<br />
sollen? Warum reichen nicht 25 Urlaubstage<br />
statt der bisherigen 30?“, dann ist das<br />
nicht einfach so dahin gesagt. Dann verändert<br />
diese Frage das soziale Klima in Deutschland.<br />
Das ist der unendliche Reiz der Macht: Ich bin<br />
unabhängig, und ich kann Dinge beeinflussen.<br />
„Liberté, égalité, fraternité!“ – diese Ideale<br />
der französichen Revolution, sind sie nur ein<br />
Traum?<br />
Diese Werte sind wohl in meinem Leben nicht<br />
errreichbar. Aber unser Kurs, das zeigt auch<br />
der Armutsbericht der Bundesregierung, ist<br />
im Moment klar: hin zu mehr Ungerechtigkeit.<br />
Aber da muss man sich dann eingestehen,<br />
was das bedeudet: mehr Gewalt, mehr<br />
Kriminalität.<br />
nachdruck des Gespräch aus dem<br />
„Stern“ 41/2007 in erweiterter Fassung.<br />
Mit freundlicher Genehmigung des Interviewers.<br />
„Stern“-Autor Arno luik, 53, unterrichtet als<br />
Dozent an der Zeitenspiegel-Reportageschule.
32 AlphABetIsIerunG<br />
33<br />
Von der seeLe geschrieben<br />
Wie ein Lese- und schreibkurs das Leben verändern kann<br />
Autor: sAschA hellmAnn<br />
FotoGrAF: olIver reInhArdt<br />
Drei Millionen deutschsprachige Erwachsene können<br />
in Deutschland nicht ausreichend lesen und<br />
schreiben. <strong>Volkshochschule</strong>n und andere Einrichtungen<br />
bieten Alphabetisierungskurse für Erwachsene<br />
an – einer von ihnen ist Edgar Hörz.<br />
Als Nathalie stirbt, schreibt Edgar Hörz in sein Tagebuch:<br />
„Nun ist sie nicht mehr da, und ich vermisse sie. Sie ist mit<br />
achtundzwanzig Jahren gestorben. Ich vermisse sie und die<br />
Gespräche sehr. Wenn ich es nicht aushalte, gehe ich ans<br />
Grab und rede mit ihr. Dann geht es mir besser.“ Nathalie<br />
war seine beste Freundin, ihr verdankt er, dass er Lesen und<br />
Schreiben kann. Als er es lernte, war Edgar Hörz ein erwachsener<br />
Mann.<br />
Edgar Hörz wird 1964 in <strong>Reutlingen</strong> geboren. Er kommt<br />
in die Grundschule. Bleibt dort aber nicht lange. Lesen und<br />
Schreiben sind sein Problem. Er wechselt zur Sonderschule,<br />
die damals noch „Hilfsschule“ heißt. Geholfen wird ihm dort<br />
aber nicht, sein Problem bleibt. Es sei anders als heute gewesen:<br />
„Wenn die Lehrer merkten, dass du nicht mitkommst,<br />
wurdest du abgeschoben.“ Nach insgesamt neun Schuljahren<br />
verlässt er die Sonderschule ohne Abschluss. Sein Problem<br />
hat wenigstens einen Namen: LeseSchreibSchwäche.<br />
Edgar Hörz arbeitet als angelernter Gipser. „Ich weiß<br />
nicht, woran es lag“, sagt er. Hörz ist 43 Jahre alt, kräftige<br />
Statur, Glatze, große blaue Augen. „Ich habe das Lesen nicht<br />
vermisst. Wenn es mich interessiert hätte, hätte ich es vielleicht<br />
auch gepackt.“ Er kommt auch so durch. Nur seine Familie<br />
und seine engen Freunde wissen, dass er bis auf seinen<br />
Namen weder lesen noch schreiben kann. Es stört sie nicht.<br />
Sie lesen selbst keine Zeitungen, keine Bücher. Sie können<br />
aber helfen. Lesen ihm in einem Lokal auch mal die Speisekarte<br />
vor.<br />
Mit achtzehn Jahren will er den Führerschein machen.<br />
Nur wie, wenn man die Fragen auf dem Fragebogen nicht<br />
lesen kann? Seine Schwester lernt jeden Tag mit ihm zwei<br />
Stunden. Sie liest die Fragen vor und die Antworten. „Es war<br />
eine harte Zeit“, erinnert sich Edgar Hörz. Auch in der Führerscheinprüfung<br />
müssen ihm die Fragen und Antworten<br />
vorgelesen werden. Er besteht.<br />
Der „Käferfan“ schraubt ein Jahr mit Freunden an einem<br />
VWKäfer herum: Überschlagbügel, versteiftes Fahrwerk,<br />
abgestimmte Felgen und Bremsen, Porschemotor, 200 km/h<br />
Spitze. Mit seinen Schallplatten fährt er jeden Samstag zur<br />
Reutlinger Eishalle und legt auf. Allerdings unter erschwerten<br />
Bedingungen. Da er die Songs vorher übers Mikro ankündigt,<br />
aber nicht lesen kann, muss er jede Platte auswendig<br />
lernen. Deswegen hört er sich zuhause die Platten so oft<br />
an, bis er ganz sicher ist. Der zwanzigjährige Edgar Hörz<br />
steht in der Mitte der Eishalle auf einem Podest. Gebeugt<br />
über Plattenteller. Um ihn herum fahren Jungen und Mädchen<br />
auf Schlittschuhen. Er ist der Discjockey. Die Mädchen<br />
ziehen ihre Bahnen zu seiner Musik. Der „King“ in der Eishalle<br />
kann nicht lesen und schreiben. Bis er Nathalie kennen<br />
lernt.<br />
Sie hat einen Freund, und er hat eine Freundin. Trotzdem<br />
werden sie beste Freunde. Edgar Hörz schreibt später: „Wir<br />
waren wie Bruder und Schwester. Wir haben alles zusammen<br />
gemacht. Gekocht und zusammen gewohnt, Baden gegangen<br />
und gemalt.“ Da ist er mittlerweile zum zweiten Mal<br />
verheiratet und hat einen Sohn bekommen – Daniel. Seine<br />
Frau arbeitet als Köchin in einer Kindertagesstätte. Edgar<br />
Hörz verdient Geld als Gerüstbauer. Doch das Geld ist immer<br />
knapp. Er will Daniel später einmal bei den Schulaufgaben<br />
helfen. Ein Arbeitskollege, der von seiner Leseschwäche<br />
Spät, aber nicht zu spät hat Edgar Hörz in einem Alphabetisierungskurs der VHS<br />
das lesen und Schreiben gelernt.<br />
weiß, stößt im Internet auf ein Angebot der <strong>Volkshochschule</strong><br />
<strong>Reutlingen</strong>: Zwölf Kursabende für zwölf Euro. Nathalie unterstützt<br />
den Plan.<br />
Edgar Hörz meldet sich an. Parallel zum Kurs bearbeitet er<br />
Aufgaben im Internet. Jeden Tag. Nachdem er neun Stunden<br />
Gerüste aufgebaut und abends seinen Sohn ins Bett gebracht<br />
hat. Daniel wünscht sich, dass ihm sein Vater Geschichten<br />
vorliest, die er sich bisher immer ausgedacht hatte. Bei den<br />
Hausaufgaben kann er Daniel nun helfen.<br />
An zwei Kursen hat Edgar Hörz bisher teilgenommen,<br />
und er will noch weitere besuchen. Sie haben sein Leben<br />
bereits verändert. Vieles kann er nun lesen, manches auch<br />
schreiben. Er besitzt jetzt einen Bibliotheksausweis, liest<br />
jeden Tag die kürzeren Artikel in der Zeitung, chattet im<br />
Internet. Er kann Briefe lesen, bei denen er früher Hilfe gebraucht<br />
hat. Seinen Freunden hat er im letzten Sommer zum<br />
ersten Mal in seinem Leben eine Postkarte geschrieben.<br />
Nun hat er auch an einem Literaturwettbewerb teilgenommen<br />
– für Menschen mit LeseSchreibSchwäche. Edgar<br />
Hörz hätte über Musik, sein SchlangenHobby oder seinen<br />
Käfer schreiben können. Aber er wollte über Nathalie schreiben.<br />
„Weil so viel von ihr in mir liegt, lebt sie in mir weiter.“<br />
Darüber hat er geschrieben. „Ich habe es mir von der Seele<br />
geschrieben.“<br />
34 Im Gespräch<br />
35<br />
„fehLer gehören einfach dazu“<br />
die diplom-päd agog i n k a r i n schmic ker, 4 2 , g ibt a n der V h s reut l i ngen<br />
seit drei jahren den kurs „Lesen und schreiben lernen“ – alphabetisierung für<br />
erwachsene. tanja krämer sprach mit ihr über den alltag von analphabeten,<br />
die Lehren aus pisa und die guten seiten von fehlerhaften texten<br />
AutorIn: tAnjA krämer<br />
FotoGrAF: olIver reInhArdt<br />
Die Bundesregierung schätzt die Zahl der Analphabeten in Deutschland<br />
auf vier Millionen – das sind fünf Prozent der Bevölkerung. Können diese<br />
Menschen alle nicht lesen und schreiben?<br />
Analphabetismus kann man in drei Gruppen einteilen: Es gibt Menschen, die gar<br />
nicht lesen und schreiben können. Die können auch ein einzelnes Schriftzeichen<br />
nicht einem Laut zuordnen. Andere können stockend lesen und schreiben, orientieren<br />
sich aber allein am gehörten Wort. Da unsere Sprache nicht lautgetreu ist,<br />
machen sie sehr viele Fehler. Und dann gibt es noch die dritte Gruppe. Sie können<br />
schon flüssiger lesen und schreiben, machen aber immer noch viele Fehler und<br />
sind sehr unsicher.<br />
Wenn diese Menschen grundsätzlich schreiben können, warum zählt<br />
man sie dann zu den Analphabeten?<br />
Ob jemand als Analphabet gilt, hängt nicht nur davon ab, was er oder sie an Leseund<br />
Schreibkenntnissen mitbringt, sondern muss daran gemessen werden, welchen<br />
Grad an Fertigkeiten er braucht, um in unserer Gesellschaft zurecht zu kommen.<br />
Vor fünfzig Jahren wären Personen, die grob lesen und schreiben konnten,<br />
nicht in diese Kategorie gefallen. Damals gab es viele Hilfstätigkeiten, mit denen<br />
man Geld verdienen konnte, ohne dass Lesen und Schreiben eine Rolle gespielt<br />
hätte. Man war Teil der Gesellschaft. Diese Hilfstätigkeiten fallen zunehmend weg.<br />
Weil die Ansprüche in unserer Gesellschaft wachsen, erhöht sich automatisch auch<br />
die Zahl derer, die diesen Anforderungen nicht gewachsen sind – und darum als<br />
Analphabeten gelten.<br />
Wie kann es passieren, dass jemand die Schule besucht,<br />
ohne Lesen und Schreiben zu lernen?<br />
Manchmal ist der Grund eine unentdeckte Legasthenie oder ein Hörschaden, der<br />
zu spät erkannt wird. Oft aber entwickelt sich Analphabetismus als Folge sozialer<br />
Faktoren: In unserem Schulsystem sollen die Kinder nach der ersten Klasse<br />
grundsätzlich das Lesen und Schreiben erlernt haben. Das funktioniert bei all jenen<br />
Kindern, die schon ein gewisses Vorverständnis von Schrift haben, die also<br />
schon wissen, dass es sich um Zeichen handelt, die man irgendwie deuten kann.<br />
Kommt ein Kind aber aus einer bildungsfernen<br />
Familie, in der Lesen keine Rolle spielt, in<br />
der es weder Bücher noch Zeitungen gibt, hat<br />
es ein solches Verständnis nicht. Zudem setzt<br />
die Schule einer Unterstützung der Kinder<br />
durch das Elternhaus voraus. Wenn die wegen<br />
schwieriger Familienverhältnisse nicht gegeben<br />
ist, wird es für ein Kind schnell schwierig.<br />
Später gehen alle davon aus, dass die Grundkenntnisse<br />
schon vorhanden sind.<br />
Ist Analphabetismus ein Problem sozial<br />
schwacher Familien?<br />
Ja, denn hier kommen oft viele problematische<br />
Aspekte zusammen. Selbst wenn die Eltern ihr<br />
Kind fördern wollen, scheitert es häufig am<br />
Geld. Nachhilfeuntericht kostet. Und in den<br />
Schulen gibt es einfach noch zu wenig Fördergruppen,<br />
die individuell auf die Probleme der<br />
Kinder eingehen können. Die große Zahl der<br />
Analphabeten ist nicht zuletzt auch den vielen<br />
Schulabgängern ohne Abschluss zuzuschreiben.<br />
Die PISA-Ergebnisse der letzten Jahre haben<br />
die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Ein Fünftel<br />
der Grundschüler können demnach nicht<br />
ausreichend lesen und schreiben. Was müsste<br />
man tun, um solche Zahlen zu verhindern?<br />
Das Schulsystem ist insgesamt zu undurchlässig.<br />
Bildung hängt in Deutschland noch immer<br />
extrem von der sozialen Herkunft ab. Das muss<br />
sich ändern.<br />
Karin Schmicker hat die Erfahrung gemacht, dass nur<br />
wenige den Mut haben, andere über ihre lese- und Rechtschreibschwäche<br />
zu informieren.
36 Im Gespräch<br />
37<br />
Wie beeinflusst Analphabetismus den Alltag eines Menschen?<br />
Eine Lese und Schreibschwäche beeinträchtigt auf vielfache Weise. Wir können<br />
uns das gar nicht vorstellen, weil für uns vieles selbstverständlich ist. Wir müssen<br />
uns nicht merken, wie das Emblem einer bestimmten Marke aussieht, oder<br />
die Verpackung. Wir lesen das einfach. Wir machen uns einen Einkaufszettel und<br />
müssen uns die Liste nicht im Kopf merken. Auch das Vergleichen von Preisen ist<br />
für uns kein Problem. Analphabeten müssen sich für all das Strategien ausdenken.<br />
Sie haben oft ein sehr gutes Gedächtnis.<br />
Wieso bleiben Analphabeten so lange unentdeckt?<br />
Menschen mit Analphabetismus delegieren viel. Beim Gang zu einer Behörde hat<br />
man seine Brille nicht dabei und bittet den Beamten, das Schreiben vorzulesen.<br />
Oder man hat die Hand verbunden und kann darum nicht schreiben. Manche<br />
schicken auch den Ehepartner vor – und begeben sich so in eine heikle Abhängigkeit.<br />
Dazu kommt, dass Analphabetismus immer noch ein Tabu ist. Nur wenige<br />
haben den Mut, die Umwelt über ihre Schwäche zu informieren. Analphabetismus<br />
gilt für viele – auch für die Betroffenen – immer noch als Dummheit. Man fühlt<br />
sich ziemlich klein und nichtig, wenn alle um einen herum lesen und schreiben<br />
können, nur man selbst kann es nicht.<br />
Was bewegt die Menschen, letztlich doch einen<br />
Alphabetisierungskurs zu besuchen?<br />
Es geht ganz viel um Unabhängigkeit. Meine Schüler wollen selbstbewusster werden,<br />
selbständiger. Für den konkreten Schritt sind oft Lebensumbrüche ausschlaggebend.<br />
Die Männer sind etwa von Arbeitslosigkeit bedroht oder arbeitslos geworden.<br />
Sie erhoffen sich von dem Kurs berechtigterweise eine Verbesserung ihrer<br />
Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt aber auch familiäre Gründe: Zwei meiner<br />
Schüler zum Beispiel wollen Lesen und Schreiben lernen, um ihre Kinder in der<br />
Schule unterstützen zu können. Das finde ich ganz enorm.<br />
Und was ist mit den Frauen?<br />
Alphabetisierungskurse werden in der Regel mehr von Männern besucht. Frauen<br />
sind unterrepräsentiert. Sie ziehen sich auf das alte Rollenbild zurück und werden<br />
Hausfrau und Mutter. Darum erreichen wir sie viel schlechter als Männer. In meinem<br />
aktuellen Kurs sitzt neben drei Männern nur eine Frau.<br />
Wie lange brauchen Ihre Schüler, bis sie lesen und schreiben können?<br />
Das hängt von den Vorkenntnissen ab und ist schwer einzuschätzen. Sicher ist aber:<br />
Bei einer Sitzung pro Woche kann ich niemandem innerhalb eines halben Jahres Lesen<br />
und Schreiben beibringen. Die Menschen müssen sich auf ein langes Zeitfenster<br />
einlassen.<br />
Gibt es für Sie als Dozentin besondere Herausforderungen mit diesen Schülern?<br />
Die Lernniveaus sind sehr unterschiedlich. Außerdem haben meine Schüler vor<br />
dem Unterricht bereits einen vollen Arbeitstag hinter sich gebracht. Da kann ich<br />
dann beispielsweise nicht erwarten, dass sie regelmäßig Hausaufgaben machen.<br />
Weil Alphabetisierung für Erwachsene nicht an den Hochschulen gelehrt wird,<br />
muss ich mich als Dozentin zudem viel selbst weiterbilden.<br />
Wie sieht eine typische Unterrichtsstunde<br />
bei Ihnen aus?<br />
Ich arbeite viel mit Spielen, etwa mit einfachen<br />
Kreuzworträtseln oder SilbenBingo. Meine<br />
Schüler sollen Spaß haben beim Lernen. Wichtig<br />
ist auch das Silbentraining: Wenn man beim<br />
Lesen eines Wortes dessen Silben erkennt, wird<br />
das Gedächtnis entlastet, man muss sich nicht<br />
Buchstaben für Buchstaben merken. Das wird<br />
gerade bei längeren Wörtern wichtig. Denn<br />
Lesen ist eine sehr analytische, anstrengende<br />
Tätigkeit. Nach manchen Stunden sind meine<br />
Schüler regelrecht erschlagen. Fehler machen<br />
gehört einfach dazu. Nur durch sie lernt man<br />
– und ich kann dadurch beurteilen, welchen<br />
Wissensstand mein Schüler gerade hat.<br />
Was sind Ihre schönsten Momente?<br />
Wenn es den Leuten Spaß macht. Bei mir im<br />
Kurs wird viel gelacht. Es ist eine sehr entspannte<br />
Atmosphäre. Schön ist es auch immer, wenn<br />
die Leute stolz sind auf ihre Fortschritte. Ein<br />
Teilnehmer hat einen sehr persönlichen Text<br />
für einen Wettbewerb des Bundesverbandes<br />
für Alphabetisierung geschrieben. Der wurde<br />
zusammen mit anderen Einsendungen in einem<br />
Buch veröffentlicht. Wenn meine Schüler<br />
Lust bekommen, etwas Persönliches schriftlich<br />
auszudrücken, habe ich mein Ziel erreicht.<br />
<<br />
InFO<br />
Die ersten Alphabetisierungskurse für Erwachsene gab es in Deutschland 1978 als Antwort<br />
auf die zunehmenden Anforderungen im Berufsleben. Heute übernehmen vor allem<br />
die <strong>Volkshochschule</strong>n diese Aufgabe. Etwa 20.000 Erwachsene lernen dort derzeit Lesen<br />
und Schreiben. Häufig werden die Kurse subventioniert. So auch in der VHS <strong>Reutlingen</strong>:<br />
Eine Sitzung kostet die Teilnehmer nur einen Euro. So soll verhindert werden, dass Menschen<br />
dem Angebot aus Geldmangel fernbleiben.<br />
Kontakt:<br />
<strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong><br />
Spendhausstraße 6<br />
72764 <strong>Reutlingen</strong><br />
Telefon: 0 71 21 / 33 61 35<br />
email: sfuchs@vhsrt.de<br />
Internet: www.vhsrt.de<br />
Anwälte<br />
Reinhard Meister<br />
Michael Maier<br />
Rolf Krause<br />
Ulrich Steinacher<br />
Gabriele Maier<br />
meister,<br />
maier,<br />
krause &<br />
kollegen<br />
Und hier finden Sie uns<br />
Ihr gutes Recht<br />
Rechtsgebiete<br />
Arbeitsrecht<br />
Familienrecht<br />
Erbrecht<br />
Steuerrecht<br />
Mietrecht<br />
Privates Baurecht<br />
Reiserecht<br />
Strafrecht<br />
Verkehrsrecht<br />
Sozialrecht<br />
Arzthaftungs- und<br />
Medizinrecht<br />
Anwaltskanzlei Meister, Maier, Krause & Kollegen<br />
Bismarckstraße 26 72622 Nürtingen<br />
Fon 0 70 22/97 93-0 Fax 0 70 22/97 93-97<br />
www.kanzlei-meister.de Zentrale@kanzlei-meister.de
38 ABendGymnAsIum<br />
besser spät aLs nie: abitur am abend<br />
achtzig schüler büffeln im abendg ymnasium reutlingen, das zum Verein f ür<br />
Volksbildung gehört, auf das abitur. jeden abend drücken sie die schulbank.<br />
tagsüber tragen sie brötchen aus, sitzen im büro oder an der kasse im supermarkt.<br />
AutorIn / FotoGrAFIn: BIrGItt cordes<br />
Das Gymnasium musste sie in der elften Klasse abbrechen.<br />
Kathrin M. wurde mit achtzehn schwanger.<br />
Sie verließ die Schule und kümmerte sich um<br />
ihre kleine Tochter. „Mir war klar, dass ich als alleinerziehende<br />
Mutter ohne Schulabschluss keinen guten Job finden<br />
würde“, sagt die 23Jährige. Seit drei Jahren lernt sie wieder<br />
Vokabeln, berechnet Formeln, ihr Lieblingsfach ist Mathe.<br />
Sie holt ihr Abitur am Abendgymnasium <strong>Reutlingen</strong> nach.<br />
Es ist kurz nach 17 Uhr. Während aus den Büros der Innenstadt<br />
die Angestellten in den Feierabend strömen, füllt<br />
sich langsam der Schulhof in der PeterRoseggerStraße 3.<br />
Um 18:30 Uhr beginnt der Unterricht. Kathrin hat sich an<br />
der gegenüberliegenden Tankstelle ein Sandwich und eine<br />
Apfelschorle gekauft, sie zündet sich eine Zigarette an und<br />
begrüßt ihren Freund mit einem Kuss. Sie haben sich in der<br />
Schule kennengelernt.<br />
Kathrins Unterricht beginnt mit Englisch. „Heute nehmen<br />
wir das politische System der Vereinigten Staaten durch“,<br />
sagt Lehrerin Raphaele Wilger. In Klasse 3a sitzen auf hellbraunen<br />
Holzstühlen fünf junge Frauen und sieben junge<br />
Männer mit müden Gesichtern. Einige kramen noch Hefte<br />
und Bücher aus ihren Taschen. Wilger fragt zunächst einige<br />
Fachbegriffe ab. „Embassy, what does embassy mean? Bettina“,<br />
fragt Wilger. „Sorry, I didn’t pay attention“, antwortet<br />
Bettina, sie hat gerade nicht aufgepasst und wird rot. „Embassy?“,<br />
wiederholt Wilger ruhig und ohne vorwurfsvollen<br />
Blick. „Ähem, ach ja, Botschaft“, sagt Bettina. „Ich versuche<br />
den Unterricht so zu gliedern, dass wir mit dem Stoff durchkommen,<br />
aber ich die Schüler nicht überfordere. Ich weiß,<br />
dass die sie sehr viel leisten müssen“, sagt Wilger.<br />
Zur Zeit büffeln in Deutschland rund 38 000 Erwachsene<br />
in Abendschulen und Tageskollegs für ihr Abitur. Der Großteil<br />
entscheidet sich direkt nach einer Ausbildung oder nach<br />
ein paar Jahren im Berufsleben für den zweiten Bildungsweg.<br />
Rund achtzig junge Erwachsene besuchen das Abendgymnasium<br />
in <strong>Reutlingen</strong>. Die meisten sind zwischen 24<br />
und 28 Jahre alt und stehen entweder im Berufsleben oder<br />
haben eine Berufsausbildung abgeschlossen. „Früher lag<br />
das Einstiegsalter bei Ende zwanzig“, sagt Schulleiter Ulrich<br />
Barth. Dreißig Neuanmeldungen gehen bei Barth jedes Jahr<br />
ein. „Die Zahl der Bewerber hat sich in den letzten zehn Jahren<br />
nicht groß verändert.“<br />
360 Euro kostet die Schule pro Jahr. Viele Schüler werden<br />
von ihren Eltern unterstützt. Die größten Probleme, die vier<br />
Jahre zu finanzieren, haben junge Erwachsene, die keinen<br />
Zuschuss von Zuhause erhalten, weil in der Familie das Geld<br />
knapp ist. Diese Gruppe, die immerhin zwanzig Prozent der<br />
Neuzugänge ausmacht, schafft es in der Regel nicht bis zum<br />
Abitur. „Oft stehen Paare mit Kindern die doppelte Belastung<br />
nicht durch. Alleinerziehende haben Probleme, einen<br />
zuverlässigen Babysitter zu finden. Es scheitert häufig an<br />
Beziehungsproblemen“, weiß Barth.<br />
Nicht einmal der Realschulabschluss reicht inzwischen<br />
für viele Berufsausbildungen. Lena, 27, scheiterte schon bei<br />
den Aufnahmegesprächen zu mehreren Logopädenschulen<br />
am fehlenden Abitur. Bis sie es hat, jobbt sie in einem Supermarkt:<br />
„Die Arbeit fordert mich nicht, so kann ich mich<br />
wenigstens gut auf die Schule konzentrieren.“<br />
Felix, 28, will sich an der Fachhochschule <strong>Reutlingen</strong><br />
einschreiben und Maschinenbau studieren. „Vier Jahre sind<br />
eine lange Zeit“, sagt er. Er kann das Ende kaum erwarten.<br />
Vier Jahre, in denen er auf vieles verzichten musste. Felix<br />
rückt seine schwarze Baskenmütze nach hinten und kratzt<br />
sich die Stirn. Er bläst den Rauch seiner Zigarette in die Luft.<br />
„Manchmal hatte ich echt keine Lust mehr, jeden Abend<br />
hierher zu kommen. Jetzt, wo das Studium in greifbarer<br />
Nähe ist, bin ich stolz, dass ich durchgehalten habe.“<br />
21:30 Uhr. Die Schulglocke läutet, Schluss für heute. Die<br />
Klasse 3a redet über die letzte Stunde, sie hatten Mathematik.<br />
„Unser Lehrer ist so toll. Ich war immer eine Niete in<br />
Mathe, aber mit ihm bringt es richtig Spaß“, sagt Kathrin.<br />
Sie nimmt ihre schwarze Tasche und läuft mit den anderen<br />
hinaus auf den Schulhof. Draußen ist es noch warm. Die müden<br />
Gesichter sind verschwunden. Kathrin grinst die Gruppe<br />
an und sagt: „Kommt, gehen wir noch was trinken!“<br />
<<br />
Auch wenn die Konzentration<br />
schwer fällt: Abendgymnasiasten<br />
im Klassenzimmer.<br />
InFO<br />
Am Abendgymnasium <strong>Reutlingen</strong> können Berufstätige oder Bewerber, die eine<br />
Berufsausbildung abgeschlossen haben, die Allgemeine Hochschulreife in drei<br />
bis vier Jahren nachholen. Angerechnet werden außerdem Arbeitslosigkeit, Zivildienst,<br />
Bundeswehr und Führen eines Haushalts mit Angehörigen oder Kindern.<br />
Auch die Mittlere Reife (zwei Jahre) und die Fachhochschulreife (zwei bis drei<br />
Jahre) bietet die Schule an. Das Mindestalter ist 19 Jahre. Die jährlichen Schulkosten<br />
betragen 360 Euro, die in zwei Raten bezahlt werden können.<br />
Kontakt:<br />
Abendgymnasium <strong>Reutlingen</strong><br />
Peter-Rosegger-Straße 3<br />
72762 <strong>Reutlingen</strong><br />
Telefon: 0 71 21 / 33 61 22<br />
email: agr@vhsrt.de<br />
Internet: www.agreutlingen.de
40 Im Gespräch<br />
„die bedeutung der erWachsenenbiLdung<br />
Wird unterschätzt“<br />
Vhs-aufsichtsratschef dr. rainer märklin setzt in seinem engagement auf klare Worte<br />
AutorIn: dAnIelA schröder<br />
FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />
Er gehört zur <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong> wie der Spanisch-Kurs<br />
ins Frühjahrsprogramm: Dr. Rainer Märklin, Vorsitzender des VHS-<br />
Aufsichtsrats und Gründer der nach ihm benannten Stiftung zur<br />
Förderung junger Musik- und Kunsttalente.<br />
Im Gespräch blickt Märklin auf den Start seines langjährigen Engagements<br />
im Bildungsbereich zurück und beschreibt aktuelle und künftige<br />
Herausforderungen für die VHS.<br />
Herr Dr. Märklin, was war der letzte VHS-Kursus, den Sie besucht haben?<br />
Ein Kurs in EDV (lacht). Als ich im September 2002 aus dem Beruf ausgeschieden<br />
und in ein anderes Büro gezogen bin, habe ich zu meiner Sekretärin gesagt: Frau<br />
Fuchs, jetzt sind wir bald blank, die BankFachleute stehen nicht mehr zur Verfügung.<br />
Da habe ich dann sechs Samstage von früh bis spät PC gelernt.<br />
Wann und warum stiegen Sie bei der VHS <strong>Reutlingen</strong> ein?<br />
Als ich im Vorstand der Volksbank <strong>Reutlingen</strong> begann, war gerade der Neubau<br />
des Bankgebäudes fertig. Beim Einzug im Frühjahr 1978 lernte ich den damaligen<br />
VHSGeschäftsführer Hans Haußmann kennen. Daraus entwickelte sich ein<br />
enger Kontakt, gemeinsam haben wir viele Veranstaltungen in der Bank organisiert.<br />
Haußmann fragte mich, ob ich in den Vorstand des Vereins für Volksbildung<br />
und damit in den Vorstand der VHS kommen wolle. Mit meiner Wahl zum<br />
Vorstandsmitglied wurde ich automatisch auch im Bereich Jugendkunstschule und<br />
Musikschule tätig. Nachdem diese in <strong>GmbH</strong>s umgewandelt wurden, wurde ich<br />
Aufsichtsratsvorsitzender der VHS.<br />
Was waren die bisher schwierigsten Situationen in ihrem Amt?<br />
Es gab eine Reihe schwieriger Fragen, die zu lösen waren. Eine der wichtigsten war<br />
die Bestellung der neuen Geschäftsführung 1998. Die Entscheidung fiel auf Dr.<br />
Ulrich Bausch. Die Entwicklung der VHS in den vergangenen zehn Jahren belegt,<br />
dass dies eine gute Entscheidung war. Immer schwieriger wurde die Finanzierung<br />
unserer Einrichtungen, denn die Zuschüsse vom Land BadenWürttemberg nah<br />
men ständig ab. Die Verhandlungen mit der<br />
Stadt über die veränderte Situation bedeuteten<br />
einige Jahre sehr intensive Arbeit.<br />
Welchen Einfluss hat der VHS-Aufsichtsratschef<br />
auf das Programm der VHS?<br />
Jedes Programm wird im Aufsichtsrat besprochen<br />
und beschlossen. Doch das Schwergewicht<br />
der Programmgestaltung liegt bei der<br />
Geschäftsführung. Wäre in der großen Linie<br />
etwas korrekturbedürftig, dann könnte und<br />
würde der Aufsichtsrat Möglichkeit haben<br />
einzugreifen. Doch wir entscheiden natürlich<br />
nicht darüber, ob dieses Semester Französisch<br />
oder Chinesisch angeboten wird. Schließlich<br />
sind wir keine Fachleute in der Erwachsenenbildung.<br />
Hat sich das Kurs-Angebot in den<br />
vergangenen Jahren verändert?<br />
Eine wichtige neue Perspektive ist, dass es<br />
neben den Angeboten für alle Interessierten<br />
auch Bildungsangebote für spezifische Gruppe<br />
oder Firmen gibt. In den Unternehmen<br />
selbst werden bestimmte Sprachkurse oder<br />
ManagementSeminare gehalten. Eine weitere<br />
Änderung ist der gestiegene Stellenwert<br />
der Gesundheitskurse wie die Reutlinger Gesundheitsakademie<br />
(REGA). Diese spezifischen<br />
Angebote haben das allgemeine VHS<br />
Programm, wie man es landläufig versteht,<br />
ergänzt und bereichert.<br />
Wie muss sich die VHS <strong>Reutlingen</strong> in Zukunft präsentieren?<br />
Sie muss auf jeden Fall auf der Höhe der Zeit bleiben. Dabei muss sie ihren Grundauftrag<br />
erfüllen und die berufliche und die politische Weiterbildung für alle betreiben.<br />
Gleichzeitig gilt es jedoch, den Bedarf an neuen Angeboten zu erkennen<br />
und entsprechend aufzugreifen. Bildung in den Betrieben und Gesundheit sind die<br />
stärksten Zweige, die im Augenblick vorangetrieben werden. Im sozialen Bereich<br />
müssen Mitbürger, die behindert sind oder sich nur schwer in die Gesellschaft einbinden<br />
können, Angebote erhalten. Dabei spielt auch die Jugendkunstschule eine<br />
wichtige Rolle.<br />
Stichwort Jugendkunstschule. Was gab den Ausschlag,<br />
junge Talente über Ihre Stiftung zu fördern?<br />
Die Idee wurde an meinem 60. Geburtstag geboren. Anstelle von Geschenken hatte<br />
ich die Gäste um Spenden gebeten. Ursprünglich sollte das Geld für Noten, Papier<br />
und Instrumente an die Musikschule und die Jugendkunstschule gehen. Es kam aber<br />
so viel zusammen, dass wir uns entschieden, das Geld nicht nur für Materialien auszugeben,<br />
sondern eine dauerhafte Einrichtung auf die Beine zu stellen.<br />
Geht es allein um die Finanzierung von Materialien?<br />
Heute geht es um mehr. Wir wollen musikalisch und kreativ begabten jungen Menschen,<br />
die nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, eine nachhaltige und<br />
andauernde Ausbildung ermöglichen. Ein elfjähriger Schlagzeuger etwa, dessen allein<br />
erziehende Mutter den Einzelunterricht nicht bezahlen kann. Oder auch begabte<br />
Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich den Unterricht nicht leisten<br />
können. Die Förderung kann bis zur Vorbereitung für die Aufnahme an der Musikhochschule<br />
gehen. Pro Jahr setzt die Stiftung bis zu 7.000 Euro ein. Rund 5.000<br />
davon stammen aus Eigenkapital, der Rest sind Spenden der Stiftungsmitglieder.<br />
Was ist die herausragende Eigenschaft der VHS <strong>Reutlingen</strong>?<br />
Die VHS und ihre Einrichtungen haben sich einer hohen Qualität verschrieben,<br />
die man nachprüfen kann. Bildung als Grundlage für die private und die berufliche<br />
Entwicklung ist Aufgabe und Verantwortung der öffentlichen Hand. Daraus er<br />
DR. RAInER MÄRKlIn,<br />
geboren am 2. Mai 1938 in nagold.<br />
jurastudium in Tübingen und Heidelberg.<br />
Von 1977 bis 2002 Vorstandssprecher der<br />
Volksbank <strong>Reutlingen</strong>. Ab 1986 Mitglied,<br />
seit 1992 Vorsitzender des Vereins für Volksbildung<br />
<strong>Reutlingen</strong>. Seit 1994 Aufsichtsratsvorsitzender<br />
der VHS <strong>Reutlingen</strong> <strong>GmbH</strong>.<br />
geben sich Verpflichtungen für alle Beteiligten.<br />
Der Verein für Volksbildung, Stadt, Gemeinden,<br />
Landkreis und Land sind laut Verfassung<br />
als Träger der VHS dazu verpflichtet, qualitativ<br />
hochwertige Erwachsenenbildung zu ermöglichen.<br />
Sie dürfen es nicht plätschern lassen und<br />
ihre Prioritäten anders setzen.<br />
Besteht in <strong>Reutlingen</strong> die Gefahr<br />
es plätschern zu lassen?<br />
Ich sehe schon die Gefahr. Der Verfassungsauftrag<br />
ist zwar erkannt, wird bestätigt und auch<br />
artikuliert. Doch durch die schwierigen Haushaltssituationen<br />
der vergangenen Jahre sind<br />
zum Teil Entwicklungen entstanden, die mir<br />
den Eindruck vermitteln, dass die Bedeutung<br />
der Erwachsenenbildung leicht in Vergessenheit<br />
gerät und unterschätzt wird. Die große<br />
Masse derer, die auf diese Bildungseinrichtung<br />
angewiesen sind, die können sich nicht artikulieren.<br />
Es braucht engagierte Menschen, die<br />
sich dafür einsetzen.<br />
ort urbanen Lebens:<br />
das haus der VoLkshochschuLe<br />
Autor: wolFGAnG AlBer<br />
FotoGrAFen: Bernd klumpp, steFAn junGer<br />
Ein Haus muss wie eine kleine Stadt sein, oder es ist kein rechtes Haus.“ So zitierte der damalige<br />
VHSLeiter Hans Haußmann bei der Einweihung des neuen Hauses der Reutlinger <strong>Volkshochschule</strong><br />
im November 1988 den Architekten Aldo van Eyck. Damit ist die Funktion des<br />
Gebäudes umrissen, das mit Stadtbibliothek und Kunstmuseum Spendhaus eine zentrale Kulturachse<br />
<strong>Reutlingen</strong>s bildet: Es symbolisiert die Öffnung der <strong>Volkshochschule</strong> zur Stadt und ihre Offenheit für<br />
die Bedürfnisse der Bevölkerung.<br />
Der vom Karlsruher Büro Rossmann und Partner entworfene Bau mit einer Nutzfläche von nahezu<br />
3000 Quadratmetern wurde für 17 Millionen Mark errichtet; das Geld brachte die Stiftung Volksbildung<br />
mit Unterstützung des Fabrikanten Karl Danzer auf. Die architektonische Idee variiert eine<br />
mittelalterliche Situation: Vier miteinander verbundene Einzelhäuser, die sich als Ensemble um einen<br />
Lichthof gruppieren, unter dessen gläserner Haube ein Turm auf schmalen Stelzen in der zentralen<br />
Halle steht.<br />
Die Anordnung der Einzelhäuser entspricht der funktionalen Aufteilung: Verwaltungs und Bürotrakt<br />
an der Spendhausstraße, Medien und Veranstaltungsbau zur Lederstraße hin, Kursräume entlang<br />
der Oberamteistraße und der Gasse zum Spendhaus. Alle Teile und Stockwerke sind durch kurze<br />
Wege über die umlaufenden Galerien, einläufige Treppen und die Flure miteinander verbunden.<br />
In diese offene Zone fließt Helligkeit vier Geschosse tief über umlaufende Bänder und Oberlichter,<br />
zwischen den Häusern enden die Galerien an raumhoch verglasten Fenstern, neben den Türen der<br />
Kursräume bieten Seitenfenster Einblicke. Die Klarheit der Gliederung und der Einfall des Lichts<br />
signalisieren logische und erhellende Erkenntnis.<br />
Der Turm bildet eine eigene Ebene gegenüber den Geschossen. Über Brücken zugänglich, bietet er<br />
Sitz und Ausstellungsmöglichkeiten, er ist Zone der Kontemplation und Kommunikation außerhalb<br />
des Kurs und Seminarbetriebs. Der gläserne Eingangsbereich samt der Caféteria schafft Übergänge<br />
zwischen innen und außen, der halböffentliche Sektor wird zum öffentlichen Schaufenster, das zu Besuch<br />
und Begegnung einlädt. Die <strong>Volkshochschule</strong> ist ein Ort der Kommunalität, der demokratischen<br />
Bildung und des urbanen Austausches.<br />
<<br />
43
44 ArchItektur<br />
45<br />
links / Von außen zeigt sich die <strong>Volkshochschule</strong> mit spitzen<br />
Giebeln, Sprossenfenstern und umlaufenden Stahlbandprofilen<br />
als moderne Variante des alten Fachwerkhauses.<br />
Rechts / Im Innern des Volkshochschulhauses gruppieren sich<br />
Turm, Treppen und Galerien zu offenen Verbindungsebenen.
46 musIkschule<br />
47<br />
Wo sprache aufhört, fängt musik an<br />
an der musikschule reutlingen lernen auch geistig behinderte kinder,<br />
sich ganz neu auszudrücken<br />
AutorIn: kArIn kontny<br />
FotoGrAF: peter Bernreuther<br />
Wenn Axel zum Löwen wird, dann beben die<br />
Wände. Und die sonst so stille Sarah lässt einen<br />
ganzen Vogelschwarm zwitschern, die<br />
Geige unters Kinn geklemmt. Oder Julia, deren mächtiges<br />
Wummern am Schlagzeug an eine durch den Dschungel<br />
trampelnde Elefantenherde erinnern soll. Das Zauberzeichen<br />
dazu gibt Musiklehrer Peter Stary mit einer fast unmerklichen<br />
Bewegung.<br />
Generalprobe für das musikalische Erzählstück „Pippi in<br />
Musikalien“. Im kleinen Saal des Spitalhofs in <strong>Reutlingen</strong> ist<br />
die Aufregung spürbar, aber auch Konzentration und Stolz.<br />
In drei Tagen ist es soweit. Dann werden die zwölf Mädchen<br />
und Jungen, die jetzt im Kreis stehen, ihren großen Auftritt<br />
haben. Beim Tag der offenen Tür der Musikschule <strong>Reutlingen</strong><br />
wollen sie zeigen, was sie im vergangenen Jahr gelernt<br />
haben. Die jungen Musiker sind geistig behinderte Kinder<br />
und Jugendliche der PeterRoseggerSchule im Alter zwischen<br />
acht und sechzehn Jahren.<br />
„Heute gehen wir das ganze Programm durch“, sagt Peter<br />
Stary und drückt den beiden Kindern links und rechts<br />
neben sich die Hand, als wolle er sie ermutigen. Ein paar<br />
Jungen und Mädchen machen es ihm nach und geben einen<br />
Händedruck an ihren Nachbarn weiter. Wie eine Welle<br />
des gegenseitigen Zuspruchs wandert er im Kreis umher.<br />
Manchmal müssen solche Gesten der Zuneigung und<br />
Aufmerksamkeit füreinander sein. Weil ein Auftritt für<br />
die Mädchen und Jungen eine enorme Leistung ist. Denn<br />
viele von ihnen brauchen ständig einen Begleiter, können<br />
ihre Schuhe nicht ohne Hilfe binden und manchmal keinen<br />
ganzen Satz formulieren. Weil ihnen die Gedanken im<br />
Kopf einfach verloren gehen. Sich in Luft auflösen oder<br />
nur als Fetzen ihren Weg nach draußen finden. Doch wie<br />
weggeblasen scheint das Handicap jedes Einzelnen zu sein,<br />
sobald sie beginnen, zusammen zu musizieren.<br />
„Mit den Tönen gehen wir runter und rauf “, singt Peter<br />
Stary. Lässt dabei den Oberkörper nach unten fallen und<br />
richtet sich dann wieder auf. Die Kinder und sechs weitere<br />
Lehrer, welche die Musikschüler von der PeterRosegger<br />
Schule betreuen, machen es ihm nach. Wie das Blattwerk einer<br />
durstigen Pflanze hängen sie ihre Arme nach unten, um<br />
sie kurz danach wieder nach oben zu strecken. Aufrecht und<br />
gestärkt wie nach einem erfrischenden Sommerregen. Jetzt<br />
kann es richtig losgehen.<br />
Jedes Kind schnappt sich sein Instrument oder setzt sich<br />
davor. Axel hängt sich ein glänzendes Saxophon an das Band<br />
um seinen Nacken. Julia nimmt hinter dem Schlagzeug Platz,<br />
und die kleine Sarah, die heute ihren zehnten Geburtstag<br />
feiert, umfasst vorsichtig den Hals ihrer Violine. Während<br />
Peter Stary von Pippi Langstrumpfs Reise durch Musikalien<br />
erzählt, setzen die Musiker nach und nach ein. Jeder kennt<br />
die Stelle, an der er sein Instrument sprechen lassen darf.<br />
Musikalien – das Land, in dem statt Sätzen Melodien erklingen<br />
– ist vielen der jungen Musiker über das vergangene Jahr<br />
zu so etwas wie einem Zuhause geworden. Zu einem Ort,<br />
an dem sie sich sicher fühlen, weil sie ihn langsam kennen<br />
gelernt haben. Stück für Stück und Ton für Ton.<br />
„Im Prinzip entspricht der Unterricht den Musikstunden<br />
aller anderen Schüler an der Musikschule <strong>Reutlingen</strong>“, sagt<br />
Leiterin Karin Hurle, die heute als Zuhörerin dabei ist. In<br />
der zweiten Stuhlreihe hat sie Platz genommen, weil Peter<br />
Stary sie scherzend vor Axel warnte, der, wenn er den Löwen<br />
im Stück gibt, manchmal gefährlich nahe kommen kann.<br />
„In unserem Musikgarten, dem Unterrichtsangebot für Babys<br />
und Kleinkinder bis zu 18 Monaten, werden die Kleinen<br />
Beseeltes Spiel:<br />
Sarah probt für ihren großen Auftritt.<br />
ganz ähnlich an die Musik herangeführt, wie die Schüler<br />
der RoseggerSchule.“ Sie experimentieren mit Rasseln und<br />
Klanghölzern und lernen nebenbei durch Kreistänze, was<br />
es bedeutet, wenn Musik ins Blut geht. „Danach folgt das<br />
Erarbeiten einzelner Teile eines Musikstückes mit einem Instrumentallehrer<br />
– wie im Individualunterricht für andere<br />
Schüler auch“, sagt Hurle. Am Ende, in der dritten Phase,<br />
steht schließlich das gemeinsame Vorspiel in einem Orchester<br />
oder als Solist.<br />
Auch Axel beherrscht sein Solo als Löwe perfekt. Um seinen<br />
Kopf trägt er eine Löwenmähne aus gelben, braunen<br />
und orangefarbenen Stofffetzen. Wenn seine Mitschüler das<br />
Lied „In the jungle the lion sleeps tonight“ anstimmen, werden<br />
seine Hände zu Pfoten mit scharfen Krallen, und sein<br />
Mund öffnet sich, um ein gefährliches Fauchen von sich zu<br />
geben. Ganz tief unten aus der Kehle kommt das Knurren,<br />
mit dem er auf die Musikschulleiterin zugeht, um dann aber<br />
kurz vor ihrem Stuhl wieder umzudrehen. Am Hals von Sarahs<br />
Violine sind bunte Aufkleber angebracht, die ihr zeigen,<br />
wie sie greifen muss. Noten kann Sarah genauso wenig lesen<br />
wie Axel. Vielleicht wird sie es aufgrund ihrer Behinderung,<br />
dem DownSyndrom, auch nie lernen. Doch schlimm ist das<br />
nicht, denn mit dem AufkleberTrick kommt Sarah ganz gut<br />
zurecht. „Die Musik muss jedem Kind auf den Leib geschrieben<br />
werden“, sagt Karin Hurle.<br />
Julia, die beim Schlagzeugspielen so souverän wirkt wie<br />
der Drummer einer ProfiBand, hat zum Beispiel mit Flöte<br />
angefangen. „Die Atemtechnik fiel ihr schwer. Die Töne wollten<br />
nicht so recht kommen.“ Mit dem Schlagzeug scheint die<br />
16Jährige aber ihr Element gefunden zu haben. Kraftvoll<br />
bedient sie die Pauke, lässt locker die Sticks über das Metall<br />
des Beckens tanzen, so dass es prasselt wie Tausende von Nägeln,<br />
die zu Boden fallen. „Bravo, Julia!“ ruft ihr Peter Stary,<br />
der Leiter der Musikgruppe, am Ende ihres Solos zu. „Am<br />
Samstag klappt das genauso gut.“ Julia nickt und wird ein<br />
wenig rot. „Auf das Konzert freu’ ich mich“, sagt sie, „ da<br />
kommt mein Vater und hört zu.“ Alles ganz normal.<br />
48 musIkschule<br />
49<br />
musik ohne grenzen<br />
drei monate alt ist der jüngste schüler an der musikschule reutlingen,<br />
81 jahre zählt der älteste<br />
AutorIn: kArIn kontny<br />
FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />
Musik bereichert die Menschen immer“, findet<br />
Karin Hurle, Leiterin der Musikschule <strong>Reutlingen</strong><br />
(msr). Die Zahl der Schüler scheint das zu<br />
bestätigen: 2100 von ihnen werden an der msr von 103 Lehrern<br />
unterrichtet. Und es werden immer mehr.<br />
Schon bei den ganz Kleinen fängt in <strong>Reutlingen</strong> die musikalische<br />
Förderung an. Insgesamt zehn Gruppen hat der so<br />
genannte Musikgarten, in dem der jüngste Besucher gerade<br />
einmal drei Monate alt ist, die älteren sind vier Jahre. Für<br />
die Gruppe der vier bis sechsjährigen Jungen und Mädchen<br />
bietet die Reutlinger Einrichtung musikalische Früherziehung<br />
und legt damit vielleicht sogar den Grundstein für die<br />
eine oder andere Musikerkarriere.<br />
Wie bei der jungen Pianistin Heike Hummel (17) oder der<br />
Sopranistin Melanie Bühler (24). Die beiden haben schon<br />
seit einigen Jahren Einzelunterricht an der Musikschule<br />
und nahmen im Mai am Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“<br />
teil. Der Nachwuchswettbewerb für Amateure, der in<br />
diesem Jahr in Karlsruhe stattfand, zeichnet jedes Jahr besondere<br />
musikalische Leistungen aus. Die Musikerinnen erhielten<br />
den 3. Bundespreis im Fach Gesang (Melina Bühler)<br />
und den 2. Bundespreis für bemerkenswerte Leistungen als<br />
Klavierbegleiterin (Heike Hummel). Dabei waren die Schülerinnen<br />
vor dem Wettbewerb nicht einmal in besonderen<br />
Förderklassen, sondern sind nach Angaben von Karin Hurle<br />
„aus dem normalen Stamm an Schülern erwachsen“. Durch<br />
„Leistungskontrolle mit viel Fingerspitzengefühl“ konnten<br />
die beiden die Qualität ihrer Musik aber immer mehr<br />
steigern. Den „Kick“ für die Teilnahme am Wettbewerb gab<br />
ihnen letztendlich ein gemeinsames Konzert mit der Württembergischen<br />
Philharmonie <strong>Reutlingen</strong>.<br />
Auch bei anderen Wettbewerben kann die Reutlinger<br />
Musikschule auf gute Leistungen zurückblicken. Beim Landeswettbewerb<br />
„folk & worldmusic“ erhielt im Jahr 2007 die<br />
Gruppe „hot folk“ der msr einen Förderpreis. Der Wettbewerb<br />
für Landesfolklore wird getragen vom Landesmusikrat.<br />
Unterstützt wird er außerdem vom Landesverband der Musikschulen.<br />
Das Besondere an dem Wettbewerb: Er wurde<br />
vom stellvertretenden Schulleiter Peter Bernreuther konzipiert.<br />
Die msr richtet die Aktion, die bereits fünf Mal stattgefunden<br />
hat, von Anfang an aus. Ensembles aus ganz Baden<br />
Württemberg konkurrieren dabei um die von der Volksbank<br />
<strong>Reutlingen</strong> gestifteten Geldpreise.<br />
Bei Wettbewerben tritt der älteste Schüler der Musikschule<br />
zwar nicht mehr an. Er ist 81 Jahre alt und sein Instrument<br />
würde man nicht leicht erraten: Er spielt Schlagzeug.<br />
<<br />
InFO<br />
Alles hört auf die Dirigentin: Musikschul-Ensemble bei einem Konzert im Foyer<br />
der <strong>Volkshochschule</strong>. Die Förderung beginnt schon im Vorschulalter.<br />
An der Musikschule lernen Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Klassen-, Gruppen- oder Einzelunterricht.<br />
Im Musikgarten für Kleinkinder und der Musikalischen Früherziehung für Vorschulkinder führt die Musikschule<br />
spielerisch mit Tanz, Bewegung, Singen und Spiel auf elementaren Instrumenten in die Welt von Rhythmus<br />
und Melodie ein. Qualifizierter Instrumental- und Vokalunterricht fördert gezielt musikalische Begabungen und<br />
ermöglicht das gemeinsame Musizieren in Orchestern, Chören und Ensembles. In allen Sparten der E- und<br />
U-Musik können Jugendliche und Erwachsene ihre musikalischen Wünsche auf den unterschiedlichsten Instrumenten<br />
verwirklichen.<br />
Kontakt:<br />
Musikschule der <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong><br />
Spendhausstraße 6<br />
72764 <strong>Reutlingen</strong><br />
Telefon: 0 71 21 / 33 61 44<br />
email: info@musikschule-reutlingen.de<br />
Internet: www.musikschule-reutlingen.de
50 juGendkunstschule<br />
51<br />
fröhLiches tohuWabohu<br />
im kreativkarussell dreht sich alles um die künstlerischen kräfte,<br />
die in kindern stecken<br />
Autor: thomAs Becker<br />
FotoGrAF: peter Bernreuther<br />
Die kreativen Kräfte von Kindern und Jugendlichen<br />
zu wecken und in spielerischer Weise fortzuentwickeln,<br />
das ist das Ziel des „Kreativkarussells“.<br />
Es wird seit 2003 gemeinsam von Jugendkunstschule und<br />
Musikschule angeboten. Die Idee ist nicht ganz neu. Beispiele<br />
aus NordrheinWestfalen hatten Musikschulleiterin<br />
Karin Hurle inspiriert. Mit ihren Überlegungen rannte sie<br />
bei der Jugendkunstschule, in deren Verantwortungsbereich<br />
die meisten Sparten liegen, offene Türen ein.<br />
Gestalten, Tanzen, Trommeln und Theaterspielen wird<br />
über die Gesamtdauer eines Schuljahres in vier Aktionsphasen<br />
angeboten. Jeweils etwa neun Wochen lang erfahren die<br />
Kids eine Kunstsparte, dann dreht sich das Karussell. Dabei<br />
entkommen dann auch Jungen nicht dem Unterrichtsblock<br />
„tänzerische Bewegung“ – und sie entdecken, wie viel Spaß<br />
das macht. Ganz nebenbei lernen die Jungen und Mädchen<br />
auf diese Weise, welche musischen oder andere künstlerischen<br />
Talente in ihnen schlummern. Denn im Laufe der Zeit<br />
wird deutlich, wo der spontane Spaß an der Sache auf echte<br />
Motivation schließen lässt.<br />
Wichtig ist auch das Erleben von Gemeinschaft: Ohne<br />
Leistungsdruck gemeinsam mit anderen zu gestalten, zu<br />
trommeln, zu singen, sich zu bewegen und Theaterszenen<br />
zu erfinden. Und am Ende geht es darum, die Erfahrungen,<br />
Erlebnisse und das Gelernte in einer Abschlusspräsentation<br />
den Freunden, Eltern oder Großeltern vorzustellen. Das<br />
schafft Verantwortungsbewusstsein und lässt ganz unbewusst<br />
das Erfahrene vertiefen.<br />
Die 36 Kinder des ersten KreativkarussellKurses hatten<br />
sich zum Thema „Dschungel“ allerhand einfallen lassen:<br />
PappmachéViecher wurden gebaut, damit es im Dschungel<br />
auch richtig abgehen konnte. Seither gab es Themen wie<br />
„Unterwasserwelt“ oder, im Schuljahr 2006/2007, „Zirkus“.<br />
Immer war der Schlussakkord ein fulminantes, fröhliches<br />
Tohuwabohu, das allen Beteiligten und auch dem Publikum<br />
klar gemacht hat: Ein Jahr Kreativkarussell ist eine begeisternde<br />
und inspirierende Erfahrung.<br />
Und nicht nur die Erfahrungen der Kids sind ausgesprochen<br />
positiv. Auch den Eltern haben spätestens die Abschlusspräsentationen<br />
deutlich gemacht, dass es sich lohnt,<br />
den Kindern kreative Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten.<br />
Ähnlich, wenn auch mit anderen Vorzeichen, verhält es sei<br />
bei den beiden ZirkusProjekten der Jugendkunstschule (JUKS)<br />
„Pipistrella“ und „Zansiba“. Auch hier werden den acht bis<br />
13Jährigen von den Zirkuslehrern zwar artistische Höchstleistungen<br />
abverlangt. Was sie dabei aber auch noch lernen ist Respekt,<br />
Toleranz und Verantwortung im Umgang untereinander.<br />
<<br />
Beim Spiel mit den Reifen sollen die Kinder Kreativität<br />
und Körpergefühl entwickeln.<br />
InFO<br />
Unsere technisch orientierte Umwelt erfordert zusehends persönliche Gestaltungsfreiräume.<br />
Beim Umgang mit Farben, Formen und Materialien fördern die Kurse der Jugendkunstschule die Ideefindung,<br />
schulen die Kreativität, sensibilisiert für ästhetische Prozesse. In den Ateliers und Werkstätten können<br />
Kinder ab eineinhalb Jahren malen, zeichnen, bildhauern, drucken, fotografieren und die verschiedensten<br />
handwerklichen Techniken erlernen. Die 1991 gegründete Jugendkunstschule ist mittlerweile die drittgrößte<br />
Jugendkunstschule im Ländle.<br />
Kontakt:<br />
Jugendkunstschule <strong>Reutlingen</strong><br />
Spendhausstraße 6<br />
72764 <strong>Reutlingen</strong><br />
Telefon: 0 71 21 / 33 61 33<br />
email: jugendkunstschule@vhsrt.de<br />
Internet: www.vhsrt.de
52 pIstoIA<br />
53<br />
toskanische träume<br />
die <strong>Volkshochschule</strong> pflegt beziehungen zu der stadt pistoia<br />
Autor: wolFGAnG AlBer<br />
FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />
Wer Ambrogio Lorenzettis Fresko „Die gute<br />
Regierung“ von 1338/40 im Palazzo Pubblico<br />
von Siena genauer betrachtet, kann sie entdecken:<br />
Am unteren Bildrand treibt ein Bauer ein kleines<br />
Schwein vor sich her. Es ist schwarz und hat einen weißen<br />
Fellstreifen um den Bauch – das „Cinta Senese“, eine von<br />
der Wildsau abstammende Rasse. Sie stand kurz vor dem<br />
Aussterben, bis ein Konsortium sie schützte, Züchter sie<br />
wieder zur Schlachtreife päppelten. Vom Fleisch dieser frei<br />
lebenden Tiere stammen Schinken, Salami und Speck, den<br />
Metzgereien in Pistoia herstellen. Beim Toskanischen Markt<br />
italienischer Erzeuger und Direktvermarkter vor drei Jahren<br />
in <strong>Reutlingen</strong> servierte Luciano Bertini von der Genießerorganisation<br />
„Slow Food“ Pistoia in der italienisch angehauchten<br />
VHSCafeteria „La Bruschetta“ kulinarische Kostproben<br />
vom Cinta Senese wie cremigen, auf der Zunge zergehenden<br />
Lardo oder aromatischbetörenden Prosciutto.<br />
Der seit 2004 im September im Reutlinger Spitalhof abgehaltene<br />
Markt bringt den Schwaben den toskanischen Himmel<br />
auf Erden näher: Salsiccia und Olivenöl, Pecorino und<br />
Chianti, Vin Santo und Cantuccini, Olivenbäume und ländliche<br />
Keramik. Ein südlicher Wärmestrom in der nördlichen<br />
Kältezone, mediterranes Flair, wie es die Tübinger mit im ihrem<br />
umbrischprovencalischen Markt schon seit Jahren im<br />
Überfluss haben.<br />
Zu verdanken haben die Reutlinger den Toskanischen<br />
Markt der <strong>Volkshochschule</strong> und Claudia Ross. Die aus <strong>Reutlingen</strong><br />
stammende Sprachlehrerin lebt seit zwei Jahrzehnten<br />
in dem 30 Kilometer nordwestlich von Florenz im Herzen<br />
der Toskana gelegenen Pistoia. 1998 schlug sie der VHS eine<br />
Kooperation für Deutsch beziehungsweise Italienischkurse<br />
vor, so entstanden die ersten „TandemKurse“: Wer Ita<br />
Olivenöl und Brot, Salami und Pecorino, Wein und Honig<br />
aus der Gegend um Pistoia sind gefragte <strong>Spezial</strong>itäten beim<br />
Toskanischen Markt im Reutlinger Spitalhof.<br />
lienisch lernen will, wohnt in einer Gastfamilie in Pistoia,<br />
hat vormittags ItalienischUnterricht, nimmt nachmittags<br />
am kultur und landeskundlichen Programm teil und lernt<br />
abends zusammen mit dem Gastgeber beim TandemUnterricht<br />
Deutsch und Italienisch. Drei Monate später kommen<br />
dann die italienischen TandemPartner zum Gegenbesuch<br />
nach <strong>Reutlingen</strong> zu einem entsprechenden Sprach und Kulturprogramm.<br />
Da Pistoia überregional auch bekannt ist für seine Tradition<br />
der Schinkenveredelung, fragten die Wirtschaftsförderer<br />
Pistoias bei der VHS an, ob <strong>Reutlingen</strong> denn nicht gleichfalls<br />
über ein altehrwürdiges Metzgerhandwerk verfüge. VHS<br />
Leiter Ulrich Bausch verwies auf Wolfgang Göbel, stellte<br />
einen Kontakt zwischen den Innungen her, und eine Delegation<br />
von Reutlinger Metzgern brach auf, um die Pistoieser<br />
Kollegen kennenzulernen. Aus dieser „SalamiSchwarzwurstTaktik“<br />
entstand der Toskanische Markt. Inzwischen<br />
sind an der Kooperation neben VHS und Metzgerinnungen<br />
noch die Stadtmarketing und Tourismusorganisationen<br />
beider Kommunen beteiligt.<br />
Die VHS hat die Zusammenarbeit inzwischen auf kulturelle<br />
Angebote ausgeweitet. Begleitend zum Markt zeigte<br />
sie 2006 Arbeiten des 1901 in Pistoia geborenen, 1980 in<br />
Viareggio gestorbenen, weltbekannten Bildhauers, Malers<br />
und Grafikers Marino Marini sowie seines heute 86jährigen<br />
Schülers Jorio Vivarelli. 2007 waren dann in der VHS<br />
„Die Metamorphosen des Pinocchio“ von Paolo Tesi zu sehen,<br />
die auf den naseweisen Holzbengel anspielen, den der<br />
aus dem Dorf Collodi bei Pistoia stammende Autor Carlo<br />
Collodi 1881 als Abenteuergeschichte für eine Wochenzeitung<br />
und 1883 für sein weltweit verkauftes Kinderbuch<br />
geschaffen hat.
54 pIstoIA<br />
55<br />
Pistoia bietet nicht nur kulinarische Köstlichkeiten, sondern<br />
auch kulturelle Highlights wie das alljährliche Blues<br />
Festival mit Stars wie B. B. King oder Chuck Berry. Die<br />
Stadt mit rund 92.000 Einwohnern hat zudem eine große<br />
Geschichte, von der insbesondere Sakralbauten der Romanik<br />
und Renaissance zeugen. Von den Römern im zweiten<br />
Jahrhundert unter dem Namen Pistorum gegründet, wurde<br />
Pistoia nach wechselvoller Geschichte und Zerstörung<br />
durch die Ostgoten im Jahr 406 im 12. Jahrhundert eine<br />
unabhängige „Comune“ mit regem Handel und florierender<br />
Wirtschaft. Später geriet Pistoia in die Machtkämpfe<br />
zwischen Ghibellinen und Guelfen und unter den Einfluss<br />
von Florenz. Papst Clemens VII. gründete in der ersten<br />
Hälfte des 16. Jahrhunderts das Großherzogtum Pistoia,<br />
das ins Großherzogtum Toskana überging. Damit kam die<br />
Stadt in den Machtbereich der Medici, die auch im Stadtbild<br />
Spuren hinterließen.<br />
Im Zentrum von Pistoia befindet sich die Piazza del Duomo<br />
mit dem romanischen Dom San Zeno. In der Nähe steht<br />
das nach Plänen von Andrea Pisano 1359 erbaute Baptisterium.<br />
Sehenswert sind weiter die 1495 von Ventura Vitoni<br />
errichtete Chiesa della Madonna dell’Umiltà mit einer der<br />
größten Kuppeln Italiens und das Ospedale del Ceppo aus<br />
dem 13. Jahrhundert mit seiner außergewöhnlichen Fassade.<br />
Über seinen mittelalterlichen Kern hinaus ist Pistoia heute<br />
ein wichtiger Standort der Metallverarbeitung, insbesondere<br />
der Eisenbahnindustrie. Und manche Etymologen leiten das<br />
Wort „Pistole“ aus dem Namen der Stadt ab, die im 16. Jahrhundert<br />
eine bedeutende Waffenschmiede war.<br />
„Pistoia hat alles, was ein toskanisches Traumstädtchen<br />
ausmacht“, schrieb Stephan Orth 2007 in „Spiegel online“.<br />
Der Satz zeigt einmal mehr die deutsche ItalienSeh(n)<br />
sucht, die auch an <strong>Reutlingen</strong> nicht vorbeigegangen ist. Am<br />
stärksten kommt sie vielleicht in der Familie des Dichters<br />
Hermann Kurz (1813–1873) zum Ausdruck. Seine Frau, die<br />
„rote“ Marie geborene von Brunnow (1826–1911), nannte<br />
einen der vier Söhne „Balde“ aus Verehrung für den italienischen<br />
Freiheitskämpfer Garibaldi. Die Mutter und drei<br />
ihrer fünf Kinder zog es mit Macht gen Süden. Alfred wurde<br />
Fremdenarzt in Venedig, er behandelte Richard Wagner und<br />
Friedrich Nietzsche. Alfred nannte seine Kinder Tristan und<br />
gleichfalls Isolde; Wagner wiederum soll von der Übersetzung<br />
des Epos' durch Hermann Kurz zu seiner Oper angeregt<br />
worden sein. Edgar machte in Florenz eine Arztpraxis<br />
auf, zu seinen Patienten zählten der Maler Alfred Böcklin<br />
oder der Kunsthistoriker Aby Warburg. Edgar ließ Mutter<br />
Marie und Schwester Isolde, Balde und Haushälterin Fina<br />
nachkommen; Balde starb bald darauf.<br />
Isolde war von Florenz fasziniert, bekam Kontakt zu<br />
Böcklin und zur Schriftstellerin Gisela von Arnim, der<br />
Tochter von Bettina von Arnim. In Florenz entstanden die<br />
„Florentiner Novellen“ und die „Italienischen Erzählungen“,<br />
die Isolde Kurz berühmt machen sollten. Im Fischerdorf<br />
Forte dei Marmi bei Viareggio gab es eine kleine deutsche<br />
Künstlerkolonie, eine frühe ToskanaFraktion. Dort traf<br />
Isolde auch den Bildhauer Adolf von Hildebrand, der ihr<br />
ein Sommerhäuschen einrichtete. Und hier begegnete sie<br />
der Schauspielerin Eleonora Duse und dem Schriftsteller<br />
Gabriele d'Annunzio. Das Häuschen wurde ihr „Ankerplatz<br />
der Seele“, so die Literaturwissenschaftlerin Gisela Schlientz.<br />
Nachdem die Mutter nach der Rückkehr in Deutschland gestorben<br />
war, zog Isolde Kurz ebenfalls wieder zurück nach<br />
München und später nach Tübingen. 2004 benannte Forte<br />
dei Marmi eine Piazza nach ihr.<br />
In Ambrogio lorenzettis Fresko „Die gute Regierung“ ist<br />
es rechts unten zu sehen: Das schwarze „Cinta senese“ mit<br />
dem weißem Fellstreifen um den Bauch. Eine alte Schweinerasse,<br />
die heute wieder in der Toskana gezüchtet wird.<br />
Ein Familienzweig blieb in Italien, ihn hat die mit der Familie<br />
Kurz verwandte Reutlinger Historikerin Heidi Stelzer<br />
erforscht: Tristan heiratete eine Italienerin, hatte mit ihr<br />
drei Kinder. Die Tochter Carmen Sylva wurde 1944 mit 560<br />
Menschen bei einem Massaker der WaffenSS im norditalienischen<br />
Bergdorf Sant’ Anna di Stazzema ermordet. Das<br />
Gedenken an die Familie hält der Nachfahre Carlo Barberi<br />
lebendig, zu den Erinnerungsstücken gehört auch der<br />
Schreibtisch von Isolde Kurz. Und in einem anderen Familienzweig<br />
heißt ein Junge wieder Hermann Kurz.<br />
Einen Ankerplatz der Seele, aber auch Verständnis für<br />
seelische Nöte fanden in Italien noch andere Reutlinger. In<br />
Arezzo suchten Studierende der damaligen Fachhochschule<br />
für Sozialwesen <strong>Reutlingen</strong> lernend Erkenntnisse aus der<br />
Reformbewegung der „AntiPsychiatrie“, die hier eines ihrer<br />
Zentren hatte. In Talla machten einst Aktivisten des Jugendclubs<br />
„Zelle“ Urlaub. Und in diesem Örtchen im Casentino<br />
südlich von Florenz baute die Reutlinger Familie Maußhardt<br />
ein heruntergekommenes Bauerhaus aus, das nun bisweilen<br />
Schülerinnen und Schülern der an der VHS beheimateten<br />
„ZeitenspiegelReportageschule“ als Domizil für Rechercheund<br />
Schreibarbeiten fern von <strong>Reutlingen</strong> dient.<br />
Der Tübinger Kulturwissenschaftler Bernd Jürgen Warneken<br />
hat soeben „Eine Wiedererinnerung an Edgar Kurz“<br />
geschrieben und dabei einen Satz von Isolde Kurz zitiert, in<br />
dem bereits Perspektiven über das romantische ItalienBild<br />
hinaus aufscheinen: „Vielleicht waren wir eine Probe der Europäer<br />
von übermorgen“, heißt es in Isoldes Buch „Die Pilgerfahrt<br />
nach dem Unerreichlichen“ von 1938. Auch Edgar,<br />
so Warneken, sei „ein Muster, ein Vorbild für transnationale<br />
Mobilität“ gewesen: „Nach Italia, nach Italia!“<br />
Weniger emphatisch, aber nicht weniger intensiv beschreiten<br />
nun die Pistoieser den umgekehrten Weg nach <strong>Reutlingen</strong>.<br />
Und noch in diesem Jahr soll es wiederum im Gegenzug<br />
einen schwäbischen Markt und eine Ausstellung mit Werken<br />
von Reutlinger Künstlern in Pistoia geben. <strong>Reutlingen</strong><br />
hat sieben Partnerschaften, eine italienische Kommune ist<br />
nicht darunter. Mit Pistoia ist nun eine Städtepartnerschaft<br />
unterhalb der offiziellen politischen Schwelle entstanden. Im<br />
Gegensatz zu manch anderer Verbandelung ist sie nicht von<br />
oben verordnet, sondern wird von unten mit Leben erfüllt.<br />
Die <strong>Volkshochschule</strong> hat damit zugleich Lernprozesse angestoßen,<br />
mit der die europäische Idee über den jeweiligen<br />
Kirchturmhorizont hinaus als Beziehung zwischen Menschen<br />
lebendig werden kann.<br />
56 cAFeterIA<br />
feLs in der bar<br />
aniello palumbo betreibt die Volkshochschul-cafeteria „La bruschetta“<br />
Autor: BAstIAn henrIchs<br />
FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />
Am frühen Nachmittag steht Aniello Palumbo<br />
hinter dem Tresen, hält ein Glas gegen das Licht,<br />
prüft, ob es sauber ist. Um diese Tageszeit ist es<br />
ruhiger im „La Bruschetta.“ Aus den Augenwinkeln bemerkt<br />
er einen Mann, der sich draußen an einen Tisch setzt. Palumbo<br />
wirft die Espressomaschine an. Er kennt viele seiner<br />
Gäste und weiß, was sie wünschen.<br />
Aniello Palumbo kommt aus der Nähe von Pompeji. Er<br />
hat früh begonnen, am Lebenstraum vom eigenen Restaurant<br />
zu arbeiten. Mit dreizehn Jahren jobbte er in einer Pizzeria.<br />
Der Besitzer bot ihm eine Wette an: Er müsse einen<br />
halben Liter Lambrusco trinken, mit Pausen zwar, aber ohne<br />
abzusetzen. Dann werde er ihm zeigen, wie man Pizza backt.<br />
Palumbo trank ohne abzusetzen, er bekam den Job. In der<br />
neunten Klasse schmiss er die Schule, zog bei seinen Eltern<br />
aus. In Restaurants stieg er bis zum „Chef de Rang“ auf. Da<br />
verliebte er sich. Aber die Arbeit in einem Restaurant, die<br />
langen Nächte, die kurzen Wochenenden, tun keiner Liebe<br />
gut. Palumbo wurde Verkäufer für Kurzwaren.<br />
Er tat es aus Liebe, und seiner Frau Maria Luisa versprach<br />
er, in Italien zu bleiben. „Ich war sehr unglücklich, aber ich<br />
wollte mein Versprechen halten“, sagt Palumbo. Doch irgendwann<br />
sah seine Frau das traurige Gesicht ihres Aniello.<br />
Nun war sie es, die ihm vorschlug, nach Deutschland zu<br />
gehen und dort seinen Traum vom eigenen Restaurant zu<br />
verwirklichen.<br />
Aniello Palumbo brauchte nicht lange, um fündig zu werden.<br />
„Zuerst wollte ich die VHSCafeteria nicht übernehmen,<br />
alles war viel zu steril und langweilig eingerichtet“, sagt er,<br />
„aber dann habe ich das Potenzial erkannt.“ Er machte daraus<br />
ein italienisches Bistro mit dekorierten Tischen, verspiegeltem<br />
Spirituosenregal hinter der Bar, großer Espressomaschine, ita<br />
lienischer Karte. „Wir machen fast alles selber“, sagt Palumbo.<br />
Die Zutaten lässt er frisch aus Italien liefern – nur die Brezeln<br />
sind tiefgefroren. „Ich bin zwar Italiener“, sagt Palumbo und<br />
streicht mit der Hand die Spitzen des weißen Tischdeckchens<br />
glatt, „aber ich liebe die deutsche Mentalität.“ In Italien sagen<br />
sie schon „Aniello der Deutsche“ zu ihm.<br />
Morgens, bevor er aufschließt, kontrolliert Palumbo als erstes<br />
die Kaffeemaschine, schaut nach, ob die Milch noch haltbar<br />
ist, wirft einen kritischen Blick in die Küche. Alles muss<br />
sauber, alles muss perfekt sein. Er mag es, wenn Verabredungen<br />
eingehalten werden, und er organisiert gerne. Trotzdem:<br />
Beim Sprechen wedelt er ununterbrochen mit den Händen,<br />
während er seine Gäste in einen kurzen Plausch verwickelt,<br />
häufig redet er zwischendurch ein paar Worte italienisch<br />
und ist zu Scherzen aufgelegt.<br />
„Ich wollte immer ein richtiges Restaurant haben“, sagt<br />
Aniello Palumbo, „aber hier habe ich viel mehr Möglichkeiten<br />
und brauche nicht nachts zu arbeiten.“ Dafür schuftet er<br />
vierzehn Stunden täglich, nur sonntags ist „La Bruschetta“<br />
geschlossen.<br />
Stressig wird es für Palumbo immer dann, wenn die VHS<br />
Kursteilnehmer um zehn Uhr große Pause haben, und zur<br />
Mittagszeit. Dann muss alles vorbereitet sein und wie am<br />
Schnürchen laufen. Seine Frau ist in der Küche, Fabrizio Remondini<br />
bedient im Bistro. Palumbo steht wie ein Fels an<br />
der Bar und schaut, wer von den Stammgästen kommt, um<br />
ihm die Bestellung von den Lippen abzulesen.<br />
Je voller es wird, desto glücklicher sieht Aniello Palumbo<br />
aus. „Das hier ist mein Leben“, sagt der 49Jährige und zieht<br />
die Mundwinkel so hoch, dass sie die Enden seines Schnauzbarts<br />
berühren.<br />
58 InteGrAtIon<br />
59<br />
die deutschmacherin<br />
i m mer meh r au slä nder wol len deut sch ler nen u nd melden<br />
sich zu integrationskursen an<br />
AutorIn: hAtIce kIlIcer<br />
FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />
Ein Wirbelwind betritt den Klassenraum. Monika<br />
Calmbach rudert mit den Armen, zeigt, während<br />
sie spricht, mit den Fingern auf Bilder, als wären die<br />
21 Schüler vor ihr taub. „Auto“, sagt sie und fragt: „Der, die<br />
oder das?“ Menzur aus dem Libanon meldet sich: „Auto das“<br />
sagt er und erntet ein freundliches Nicken. „Fast richtig, das<br />
Auto.“<br />
Heute ist der dritte Tag in Stufe 1, Grundkurs für Einwanderer,<br />
die den Integrationskurs besuchen, um Deutsch<br />
zu lernen. Serben sitzen neben Georgiern, Libanesen neben<br />
Türken, Südamerikaner neben Philippinen – und keiner<br />
versteht ein Wort Deutsch. An fünf Vormittagen die Woche<br />
unterrichtet Monika Calmbach die Gruppe im dritten Stock<br />
der <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong>.<br />
Auf einem Blatt Papier steht „Telefonnummer“. Blaise aus<br />
dem Kamerun sagt: „Das Telefonnummer.“ Wieder nur fast<br />
richtig. „Es heißt das Telefon, aber die Telefonnummer“, erklärt<br />
die Lehrerin. Blaise schüttelt den Kopf und fasst sich<br />
an die Stirn. Die vergangenen zehn Jahre lebte er in Italien<br />
und arbeitete als Konditor. „Eigentlich bin ich Italiener, ich<br />
spreche perfekt italienisch“, sagt er stolz. Seit wenigen Tagen<br />
ist er in Deutschland, er hat sich in eine Reutlingerin verliebt.<br />
Blaise will nicht in einem Land leben, dessen Sprache<br />
er nicht versteht.<br />
Als nächstes sollen die Schülerinnen und Schüler Sätze<br />
vervollständigen: „Wie heißt Du? Woher kommst Du? Ich<br />
bin?“ Der 14jährige Cody aus den USA protestiert: „Nein,<br />
das ist keine Frage!“ „Ja, das stimmt“, sagt Lehrerin Calmbach.<br />
„Ich bin . . . muss mit einem Punkt enden. Da habe ich<br />
wohl einen Fehler gemacht.“ Die Klasse lacht. Die studierte<br />
Sozialpädagogin nimmt es gelassen. Schließlich macht sie<br />
diese Arbeit schon seit zwanzig Jahren. „Es ist nur schade,<br />
dass wir so große Klassen haben. Einundzwanzig Schüler<br />
sind ganz schön viel. Optimal wären sechzehn Leute in einem<br />
Kurs. Das würde auch den Studenten mehr bringen.<br />
Manchmal geht der eine oder andere unter.“<br />
160 Schüler haben sich zu den Kursen im vergangenen<br />
Halbjahr angemeldet, die Zahl wächst stetig. Seit Anfang<br />
2006 haben fast 900 Einwanderer einen Integrationskurs an<br />
der VHS durchlaufen. Drei von vier Absolventen bestehen<br />
die Prüfung, die Deutschkenntnisse eines Hauptschulabschlusses<br />
verlangt.<br />
Die Lehrerin möchte allerdings mehr als Sprachkenntnisse<br />
vermitteln. Schließlich wollen nicht wenige Kursteilnehmer<br />
einmal die deutsche Staatsangehörigkeit – und dazu müssen<br />
sie auch Grundkenntnisse in Geschichte, Kultur, Recht und<br />
Politik besitzen. 45 Stunden sind dafür insgesamt vorgesehen<br />
– „zu wenig“, findet Monika Calmbach, „da kann man<br />
viele Themen nur kurz anreißen.“<br />
Ausländer müssen sich laut einer Verordnung der Bundesregierung<br />
mit einem Euro pro Stunde an den Kosten<br />
beteiligen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge<br />
bezahlt zudem einen kleinen Beitrag. „Das reicht bei weitem<br />
nicht aus, um die tatsächlichen Kurskosten zu decken“, sagt<br />
VHSGeschäftsführer Ulrich Bausch, „zumal wir gezwungen<br />
sind, für jeden Teilnehmer 37 Formulare auszufüllen.“<br />
Dennoch will er die Kurse auch in Zukunft weiter anbieten:<br />
„Die <strong>Volkshochschule</strong> ist ein Ort der Integration, in ihr sollen<br />
sich auch Einwanderer heimisch fühlen.“<br />
<<br />
Deutsch ist eine schwere Sprache –<br />
macht aber auch Spaß zu lernen: Schüler<br />
im Integrationskurs.
60 tGv<br />
61<br />
„je m’appeLLe annemarie“<br />
dreieinhalb stunden braucht der tgV von stuttgart nach paris – zeit genug,<br />
u m i m „ schnel l sten sprac h k u r s der Welt “ ei n paar f ra n zösi sche redewendu ngen<br />
zu lernen.<br />
Autor: phIlIpp mAusshArdt<br />
FotoGrAF: erIc vAzzoler<br />
Schülerinnen im rollenden Klassenzimmer:<br />
Bis Paris wissen sie, wie man sich in Frankreich begrüßt.<br />
Susanne Fuchs hat die Tafel unter den Arm geklemmt,<br />
Stifte, Papier und ihre Vesperdose mit Nudelsalat<br />
sind im Rucksack verstaut. Vom Bahnsteig 11 des<br />
Stuttgarter Bahnhofs beobachtet sie, wie ihr Klassenzimmer<br />
in den Kopfbahnhof einrollt. Es hat rund 26.000 PS und<br />
bringt es auf eine Spitzengeschwindigkeit von 330 Stundenkilometern.<br />
Der TGV (Train à Grand Vitesse), der seit wenigen<br />
Wochen dreimal am Tag Stuttgart mit Paris verbindet,<br />
ist das „schnellste Klassenzimmer“ der Welt. Reisende<br />
können in einem abgetrennten Abteil die Grundlagen der<br />
französischen Sprache lernen.<br />
In Wagen 18, wo normalerweise die Zöllner sitzen, ist<br />
heute das Abteil mit seinen acht Sitzplätzen für Frau Fuchs<br />
und ihre Schüler reserviert. Kaum hat der TGV den Stuttgarter<br />
Bahnhof verlassen, begrüßt der Zugbegleiter die zugestiegenen<br />
Fahrgäste über den Bordlautsprecher, weist erst<br />
auf das Zugbistro und dann auf „einen besonderen Service“<br />
hin: „In wenigen Minuten beginnt in Wagen 18 ein Französischkurs<br />
für Anfänger.“ Da hat Susanne Fuchs bereits ihre<br />
Tafel mit Saugnäpfen an das Abteilfenster geheftet, ihre Unterlagen<br />
zurecht gelegt und wartet auf die Schüler. Etwas unsicher<br />
nähert sich eine Frau: „Ist das hier der Sprachkurs?“<br />
Bald sitzt sie mit sechs anderen Reisenden dicht an dicht in<br />
den weichen Sesseln, der Unterricht kann beginnen.<br />
Drei Freundinnen auf dem Weg zu einem vergnüglichen<br />
Wochenende, zwei Rathausmitarbeiterinnen einer schwäbischen<br />
Kleinstadt auf Betriebsausflug und ein Student aus<br />
Konstanz, der sich in Paris ein Zimmer für sein Praktikum<br />
suchen will, üben sich in den Nasallauten. „Bonjour, je<br />
m’appelle Annemarie“, sagt die Rathausangestellte fehlerfrei<br />
aber mit dem harten Akzent der Albbewohner, da ist der<br />
TGV noch nicht einmal in Straßburg.<br />
Die Idee zu diesem Sprachkurs hatte die <strong>Volkshochschule</strong><br />
<strong>Reutlingen</strong>, die bereits seit zehn Jahren Bahnpendlern auf<br />
der Strecke nach Stuttgart die Fahrtzeit mit Vokabeln und<br />
Grammatik verkürzt. Deutscher Bahn (DB) und ihrem französischen<br />
Partner SNCF, die die Route in Kooperation betreiben,<br />
gefiel der Vorschlag. Bei einem Testversuch im September<br />
waren die Plätze in wenigen Minuten ausgebucht,<br />
seit Oktober gibt es den Sprachkurs einmal monatlich ab<br />
Stuttgart. Allerdings nur in der einen Richtung. Denn beim<br />
Versuch, den nach Deutschland reisenden Franzosen im<br />
Gegenzug erste Kenntnisse der deutschen Sprache anzubieten,<br />
blieb das „fliegenden Klassenzimmer“ leer.<br />
Draußen fliegen weiße CharolaisRinder und Zaunpfosten<br />
vorbei, im Zollabteil lernt man die Trinkgeldregel auf<br />
französisch: „Nie dem Kellner das Geld direkt geben, man<br />
lässt es auf einem kleinen Teller am Tisch liegen.“ Lehrerin<br />
Kursleiterin Susanne Fuchs im TGV: Draußen fliegen<br />
die Rinder vorbei.<br />
Fuchs hat die Zahlen eins bis zehn an die Tafel geschrieben.<br />
Noch stockend ringen die Kursteilnehmer um die Aussprache:<br />
„Vier Eintrittskarten für den Louvre bitte, vier Erwachsene<br />
und zwei Kinder.“ „Geht doch schon prima“, ermuntert<br />
Susanne Fuchs den Studenten, und der strahlt.<br />
Kurz vor Paris bestellt „Annemarie d’Albstadt“ ihr erstes<br />
Menu auf französisch: „Une salade de crevettes, s’il vous<br />
plaît“. Alle klatschen. Und bekommen zur Belohnung noch<br />
ein Ringbuch mit nützlichen Redewendungen geschenkt.<br />
„Gut gegangen“, sagt Susanne Fuchs und zeigt auf die bisher<br />
von niemand bemerkten Metallhaken an der Wand des<br />
Abteils. „Sollte im Zug jemand verhaftet werden“, erklärt<br />
Fuchs, „wird er von den Zöllnern hier mit Handschellen fest<br />
gemacht. Dann muss der Kurs leider ausfallen.“<br />
<<br />
InFO<br />
Der Kurs findet alle zwei Wochen freitags im TGV<br />
ab Stuttgart um 08:54 Uhr statt und kostet 30 Euro<br />
pro Person.<br />
Kontakt:<br />
<strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong><br />
Spendhausstraße 6<br />
72764 <strong>Reutlingen</strong><br />
Telefon: 07121/336-0<br />
email: sprachkurs-tgv@vhsrt.de<br />
Internet: www.vhsrt.de
zWischen kindern, kochtopf und karriere<br />
familie und job unter einen hut zu bringen, ist nicht einfach.<br />
die Vol k shochschu le reut l i ngen bietet ku r se a n , d ie frauen au f d ie<br />
rückkehr in den beruf vorbereiten<br />
AutorIn: nIcolA meIer<br />
FotoGrAFIn: AmrAI coen<br />
Große blaue Kulleraugen gucken die Mama an. Ver<br />
schlafen steht Annika neben dem Auto und lässt<br />
sich die hellblaue Regenjacke überziehen. Sie hat gerade<br />
keine Lust auf den Kindergarten. Der Himmel über dem<br />
Parkplatz ist wolkenverhangen. Es nieselt. „Komm Annika“,<br />
sagt Carmen Holtz und nimmt die rechte Hand ihrer jüngsten<br />
Tochter. Schmollend stapft Annika los, ihre kleine rosa Barbietasche<br />
fest an sich gedrückt. Der Abschied im Kindergarten ist<br />
kurz. Eine Umarmung und ein dicker Kuss, dann eilt Mutter<br />
Holtz mit schnellen Schritten zurück zum Parkplatz.<br />
Wenn Carmen Holtz ihre Tochter morgens um viertel<br />
vor acht im Kindergarten absetzt, ist sie schon zwei Stunden<br />
auf den Beinen. Hat das Frühstück vorbereitet, sich überlegt,<br />
was es zum Mittagessen gibt und die Wäsche gemacht.<br />
All das, was anfällt in einem FünfPersonenHaushalt, in<br />
dem die Mutter wieder in den Beruf einsteigen will. Carmen<br />
Holtz ist 40 Jahre alt, war früher Chefsekretärin und hat drei<br />
Kinder. Annika ist drei, Jasmin acht und Jonas elf Jahre alt.<br />
„Ich bin ganz arg gern Mutter und liebe meine Kinder sehr“,<br />
sagt Holtz. „Aber arbeiten möchte ich trotzdem wieder.“ Seit<br />
Februar besucht sie den Kurs „W.I.E. – Wiedereinstieg. Individuell.<br />
Erfolgreich.“ an der <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong>.<br />
Jeden Morgen fährt Holtz die knappe halbe Stunde von<br />
Großengstingen nach <strong>Reutlingen</strong>, um sich auf die Rückkehr<br />
in den Beruf vorzubereiten. Der Kurs wird zweimal jährlich<br />
von der „Kontaktstelle Frau und Beruf “ angeboten. Er richtet<br />
sich an Frauen, die früher im kaufmännischen Bereich<br />
gearbeitet haben und besteht aus fünf Monaten Unterricht<br />
und zweieinhalb Monaten Praktikum. Die Agentur für Arbeit<br />
fördert den Kurs.<br />
Pünktlich um halb neun sitzt Holtz zusammen mit 13<br />
anderen Frauen im Computerraum der VHS. Die Haltung<br />
63<br />
der Frauen ist aufrecht, ihre Blicke sind hellwach. Sie wollen<br />
lernen. Lernen, um bald wieder arbeiten zu können. Ingrid<br />
Notter hat einen Platz in der ersten Reihe und hört mit konzentriertem<br />
Gesichtsausdruck zu, wie man Geschäftsbriefe<br />
erstellt. Die gelernte Industriekauffrau hat wie Holtz der Familie<br />
wegen aufgehört zu arbeiten. Ihr Mann brachte zwei<br />
Teenager mit in die Ehe, dann kam der gemeinsame Sohn<br />
Tobias. Der ist inzwischen fast erwachsen und Notter seit<br />
vier Jahren geschieden. Noch lebt sie vom Unterhalt ihres<br />
ExMannes, zwei Nachmittage in der Woche jobbt sie bei<br />
einem kleinen Raumausstatter im Verkauf. Doch die paar<br />
Stunden reichen ihr nicht. Notter will einen Halbtagsjob.<br />
„Ich bin sehr positiv eingestellt“, sagt sie. „Aber ich weiß<br />
auch, wie die Chancen auf dem Arbeitsmarkt in meinem Alter<br />
sind.“ Notter ist 52 Jahre alt, sieht mit ihrer sportlichen<br />
Kleidung, den goldblond gesträhnten Haaren und der faltenfreien<br />
Haut aber zehn Jahre jünger aus.<br />
Am anderen Ende des Raumes sitzt Carmen Holtz und ist<br />
frustriert, weil Word gerade nicht so will wie sie. Die Kursleiterin<br />
hilft, der Geschäftsbrief nimmt Form an. Mit ordentlicher<br />
Handschrift macht Holtz sich Notizen auf ihrem<br />
Block. Die Kursunterlagen liegen fein säuberlich abgeheftet<br />
vor ihr in einem Ordner, der genauso pink ist wie die Bluse,<br />
die sie heute zu Jeans und Turnschuhen trägt. Auf Trennblättern<br />
hat Holtz die Inhalte der einzelnen Kurseinheiten<br />
geschrieben: Ablage, Schriftverkehr, Excel, Internet, Word.<br />
„Am meisten bringt mir der EDVTeil“, sagt die Wiedereinsteigerin.<br />
Drei Stunden dauert der Kurs täglich, geklönt wird<br />
in der ViertelStundenPause um zehn. Nach dem Unterricht<br />
ist dafür keine Zeit mehr, dann eilen Holtz, Notter und<br />
die anderen Teilnehmerinnen los, um ihre Kinder abzuholen<br />
und zu kochen.
64 kontAktstelle<br />
65<br />
Oben / Schöne Aussichten: Ingrid notter (links) und die anderen<br />
Kursteilnehmerinnen haben gute Chancen auf einen job.<br />
Rechts / Unheimlich motiviert: Carmen Holtz, hier mit ihrer<br />
jüngsten Tochter Annika, will zurück in ihren Beruf.<br />
Notter drückt aufs Gaspedal ihres schwarzen Golfs und<br />
düst nach Wannweil, wo sie mit Tobias in einem kleinen Einfamilienhaus<br />
wohnt. Auf der Couch im Wohnzimmer zappt<br />
Tobias zwischen „RTL Punkt 12“ und den French Open auf<br />
Eurosport, während Notter den Tisch deckt. Tobias ist 17<br />
Jahre alt und macht seinen Realschulabschluss. „Tobias, hast<br />
Du aufgeräumt?“, ruft Notter aus der Küche, während sie die<br />
BologneseSoße für die Spaghetti umrührt. „Tobias stand<br />
immer an erster Stelle“, sagt Notter und stellt Nudeln und<br />
Soße auf den Tisch. Natürlich habe sie schon früher überlegt,<br />
in den Beruf zurückzukehren. „Aber Job, Kinder und<br />
Haushalt – da wäre Tobias auf der Strecke geblieben. Ich bewundere<br />
die Frauen, die das alles unter einen Hut kriegen.“<br />
„Da ist dann ja auch ein Mann“, sagt Tobias. „Stimmt“, sagt<br />
Notter und gabelt eine Portion Spaghetti auf. „Bei mir geht’s<br />
nicht geteilt durch zwei.“<br />
Bei Familie Holtz gibt es heute Gemüseeintopf. Rasend<br />
schnell schnippelt Carmen Holtz Möhren und Zwiebeln<br />
klein. Annika wirbelt durch die Küche, ihre Schwester Jasmin<br />
deckt im Wohnzimmer den Tisch. „Darüber, dass ich<br />
arbeiten gehe, würde ich mit meinen Kindern nicht diskutieren“,<br />
sagt die dreifache Mutter. „Natürlich erstmal nur<br />
Teilzeit. Ein Vollzeitjob mit drei kleinen Kindern, das geht<br />
nicht.“ Dafür mangele es in Deutschland zu sehr an der Betreuung<br />
der Schulkinder, sagt sie. „Wenn das durch Ganztagsschulen<br />
mit einer richtig guten Lernbetreuung geregelt<br />
wäre, dann könnte ich mehr arbeiten.“<br />
Ingrid und Tobias Notter essen zum Nachtisch noch ein<br />
MarsEis, dann werden die schmutzigen Teller ab und Notters<br />
Bewerbungsunterlagen auf den Tisch geräumt. Notter<br />
ruft bei der Firma an, bei der sie sich um ein Praktikum beworben<br />
hat. Die Praktikumsplätze werden nicht vermittelt,<br />
aber die Frauen bekommen im Kurs Hilfe bei der Bewerbung.<br />
Notter sieht angespannt aus. Sie wählt, wartet und<br />
fragt dann höflich nach ihrer Ansprechpartnerin. „Ach so,<br />
die Frau Wilhelm ist heute nicht da. Wann kann ich sie denn<br />
morgen erreichen?“ Heute hatte die Bewerberin keinen Erfolg.<br />
„Ich muss bis morgen warten.“ Sie packt ihre Tasche,<br />
in zwanzig Minuten muss sie beim Raumausstatter sein.<br />
„Leben kann ich von dem Job nicht“, sagt Notter. „Lieber<br />
hätte ich eine richtige Halbtagsstelle.“ Dann wäre sie auch<br />
nicht mehr auf den Unterhalt ihres ExMannes angewiesen.<br />
„Das wäre ein Stück Unabhängigkeit.“<br />
In der Küche von Carmen Holtz duftet es nach Eintopf.<br />
Der Blick der Mutter wechselt zwischen Wanduhr und Küchenfenster.<br />
„Eigentlich müsste Jonas schon hier sein“, sagt<br />
sie. Einen Moment später geht die Haustür und ihr Ältester<br />
lässt im Flur den Rucksack fallen. „Jetzt sind wir komplett.“<br />
Holtz trägt den dampfenden Topf ins Wohnzimmer. „Essen<br />
ist fertig!“ Seit fast acht Stunden ist die 40Jährige jetzt ohne<br />
Unterbrechung auf den Beinen. Zeit für sich hat sie tagsüber<br />
kaum. Elternabende, Zahnarzttermine oder Probleme bei<br />
den Hausaufgaben, irgendwas ist immer. „Klar ist es stressig“,<br />
sagt Holtz, „und es gibt schon mal eine Woche, in der<br />
ich darüber nachdenke, ob es mit einem Job nicht zuviel<br />
wird. Aber dann kommt die nächste Woche und es wird besser.“<br />
Wieder zurück in den Beruf will sie unbedingt. „Ich tue<br />
das für mich“, sagt sie.<br />
Ihre Chance, einen Job zu finden, ist gut. Die Erfolgsbilanz<br />
der WiedereinstiegsKurse ist beachtlich. Ein Jahr nach<br />
dem Kurs haben 85 Prozent der Frauen einen Job. Die Firmen<br />
sollten nicht so viel Angst vor Frauen mit Kindern haben,<br />
findet Holtz. „Mag sein, dass sie nur Teilzeit arbeiten.<br />
Aber wenn eine Frau sich für den Wiedereinstieg entscheidet,<br />
dann ist sie motiviert. Sogar unheimlich motiviert.“ Sie<br />
schließt die Augen und faltet die Hände zum Tischgebet.<br />
Carmen Holtz ist motiviert. Sogar unheimlich motiviert.<br />
66 erGotherApIe<br />
67<br />
um die ecke sehen und denken<br />
die ergot herapieschu le a n der Vol k shochschu le bi ldet f ü r<br />
praxisnahe heilmittelberufe aus<br />
Autor: olIver keppler<br />
FotoGrAF: steFAn junGer<br />
Sonja Gottwald steht im Klassenraum und wendet ihren Schülern den Rücken zu. Sie holt aus<br />
einem Regal, das neben der grünen Tafel steht, ein gold glänzendes Brillenetui hervor. Vorsichtig<br />
öffnet sie die Klappe und nimmt behutsam eine schwarze Brille mit dicken Bügeln, einem<br />
viereckigen Rahmen und seltsam geriffeltem Glas in die Hand – ein DesignerModell sieht anders aus.<br />
Aber um modischen Schnickschnack geht es im Unterricht der Berufsfachschule für Ergotherapie an<br />
der <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong> sowieso nicht.<br />
„Das ist eine PrismenBrille“, sagt Gottwald und reicht sie einer Schülerin. Die zögert kurz, setzt die<br />
Brille auf kichert: „Ich kann mir in den eigenen Ausschnitt schauen“, sagt sie, während sie den Kopf<br />
gerade hält. „Die PrismaBrille“, erklärt Gottwald, „ist für bettlägrige Menschen gedacht.“ Damit könne<br />
man bequem liegen und dennoch ein Buch lesen. Einem Kind würde man das vielleicht so erklären:<br />
Das ist eine Brille, mit der man um die Ecke schauen kann.<br />
Es ist ein kleines, aber symbolisches Accessoire für eine Ergotherapieschule. Zwar müssen die Schüler<br />
hier nicht um irgendwelche Ecken schauen. Aber um die Ecke denken, dass müssen angehende Ergotherapeuten<br />
manchmal schon. „Negativ ausgedrückt“, sagt Heidrun Henschel, Leiterin der Schule,<br />
„ist die Ergotherapie eine große Mischform. Irgendwie machen wir alles.“ Positiv ausgedrückt sei die<br />
Ergotherapie aber ein einzigartiger Beruf, weil er medizinische und sozialwissenschaftliche Grundlagen<br />
hat und sich um die individuellen Bedürfnisse der Klienten kümmert. Ein Ergotherapeut baut<br />
zusammen mit einem Kind einen Turm aus Bauklötzen und trainiert dabei die motorischen Fähigkeiten.<br />
Er zeigt Senioren, wie sie sich im Alter bücken und gefahrlos setzen können. Er trainiert mit<br />
behinderten Menschen den Umgang mit Rollstühlen. Ein Ergotherapeut muss sich mit Materialien und<br />
Werkzeugen auskennen, und er muss wissen, welche Muskeln für welche Bewegungen notwendig sind.<br />
Kreativ arbeiten wollte AnnaMaria Zasun schon lange. „Jeder Patient ist anders, jeden Patienten<br />
muss man anders behandeln“, sagt die 23Jährige. Daher müsse man sehr flexibel sein. Vor zweieinhalb<br />
Jahren entschied sie sich, aus ihrer Heimat Altensteig im Schwarzwald wegzuziehen, um die Ausbildung<br />
an der Berufsfachschule für Ergotherapie in <strong>Reutlingen</strong> zu beginnen. „Ich habe einen Tipp<br />
bekommen“, sagt Zasun. „Die Schule wurde mir von einem Ergotherapeuten empfohlen, bei dem ich<br />
ein Praktikum absolviert habe.“ Ihre Entscheidung bereut sie nicht.<br />
Seit 1977 ist die Ergotherapie ein geregelter Berufsausbildungsgang in Deutschland. Zusammen<br />
mit der Logopädie und der Physiotherapie gehört sie zur Gruppe der Heilmittelberufe. Die Reutlinger<br />
Schule wurde 1980 unter dem Dach der <strong>Volkshochschule</strong> gegründet.<br />
Drei Jahre dauert die Ausbildung, jedes Jahr werden 20 bis 25 Schüler aufgenommen. Auf dem<br />
Stundenplan stehen Fächer wie Anatomie, Hygiene und Arzneimittellehre, aber auch Pädagogik,<br />
Eine Schiene wird hergestellt. Vom Schnittentwurf über das Anmodellieren<br />
bis zur gebrauchsfertigen Schiene zeichnet die Ergotherapeutin verantworlich.<br />
Die angehenden Ergotherapeuten lernen, wie verschiedenste Hilfsmittel individuell<br />
hergestellt werden, um Funktionen zu verbessern oder Alltagstätigkeiten<br />
wieder zu ermöglichen.
68 erGotherApIe<br />
69<br />
Psychologie, Staatskunde und Fachenglisch. Den theoretischen Grundlagen folgen praktische Übungen<br />
in ergotherapeutischen Behandlungsmethoden.<br />
In einem Klassenzimmer stehen dreizehn Schüler in einem Kreis. Sie drücken ihre Hüften durch,<br />
schieben den Kopf nach vorne und machen einen Buckel. Thema der heutigen Stunde: Erkrankungen<br />
an der Wirbelsäule. Lehrerin Gottwald wirft einen Gymnastikball in die Mitte. Durch die Übung sollen<br />
sich die Schüler in die Lage eines Kranken versetzen. Nur mit Mühe nimmt einer der Schüler den<br />
Ball auf und wirft ihn unbeholfen weiter. „Das Blickfeld ist in dieser Haltung ziemlich eingeschränkt<br />
und damit auch die Kommunikation und Kontaktfähigkeit“, sagt Sonja Gottwald. Die Schüler lernen,<br />
welche Muskeln bei dieser Art der Erkrankung gedehnt und gestärkt werden müssen, um die Haltung<br />
zu verbessern.<br />
Für AnnaMaria Zasun ist die Ergotherapie ein Traumberuf. Sie ist im dritten Ausbildungsjahr,<br />
macht derzeit das letzte von vier vorgesehenen Praktika – in einer Ergotherapiepraxis in Pliezhausen.<br />
Im Oktober wird sie ihr Staatsexamen in Händen halten. Im Gegensatz zu Auszubildenden in anderen<br />
Berufen wird sie bis dahin aber noch keinen Cent verdient haben. Im Gegenteil: 410 Euro kostet die<br />
Berufsfachschule im Monat. „Das ist im Vergleich zur dualen Ausbildung mit Lehrbetrieb, Lehrvertrag<br />
und Lehrgehalt natürlich ein Nachteil“, sagt Henschel.<br />
Nach dem Abschluss ist nicht garantiert, dass die Schüler einen gut bezahlten Job ergattern. „Die<br />
Aussichten sind nicht so rosig“, sagt AnnaMaria Zasun. „Aber ich bin optimistisch. Aus dem vergangenen<br />
Jahrgang hat jeder einen Job bekommen.“ Auch Heidrun Henschel ist zuversichtlich. „Innerhalb<br />
eines Jahres schaffen es unsere Schülerinnen und Schüler in den Beruf.“<br />
Für Henschel stelle sich allerdings die Frage, zu welchen Bedingungen die neuen Ergotherapeuten<br />
arbeiten: „Das ist in den vergangenen Jahren ziemlich prekär geworden.“ Schlechte Bezahlung, befristete<br />
Verträge, Teilzeitjobs – all das gehört zum Alltag vieler Ergotherapeuten. Da müssen unsere<br />
Schüler wirklich hochmotiviert sein, wenn sie es schaffen wollen“, sagt Henschel. „Aber das sind sie<br />
auch. Wir haben keine Abbrecher bei unserer Ausbildung.“.<br />
Auch AnnaMaria Zasun glaubt an ihre Chance. Vielleicht kann ich erst einmal eine Schwangerschaftsvertretung<br />
übernehmen. Außerdem sei sie flexibel, so wie es der Beruf verlangt. Wenn sich eine<br />
Stelle in Berlin bietet, „dann gehe ich eben nach Berlin“.<br />
<<br />
InFO<br />
Seit 28 Jahren bildet die Berufsfachschule für Ergotherapie in <strong>Reutlingen</strong> junge Menschen aus.<br />
Der Unterricht ist vielseitig, flexibel, kreativ. Die dreijährige Vollzeitausbildung beginnt jeweils<br />
am 1. Oktober. In den ersten beiden Jahren werden die medizinischen, sozialwissenschaftlichen<br />
und ergotherapeutischen Grundlagen erarbeitet. Im dritten Jahr absolvieren die Schüler<br />
vier Praktika im neurologischen, psychiatrischen und im orthopädischen Bereich sowie in der<br />
Arbeitsrehabilitation. Zugangsvoraussetzungen sind ein mittlerer Schulabschluss oder Abitur.<br />
Erwartet wird zudem ein dreimonatiges Vorpraktikum in einem Berufsfeld der Ergotherapie.<br />
Ergotherapeuten haben vielfältige Tätigkeitsfelder: sie reichen von Kliniken, Rehazentren,<br />
Praxen, Bildungseinrichtungen für behinderte Kinder bis hin zum Produktdesign für therapeutische<br />
Spiele und Hilfsmittel.<br />
Kontakt:<br />
Berufsfachschule für Ergotherapie an der <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong><br />
Spendhausstraße 6<br />
72764 <strong>Reutlingen</strong><br />
Telefon: 0 71 21 / 33 61 43<br />
email: info@etschule-reutlingen.de<br />
Internet: www.etschule-reutlingen.de<br />
der erfoLg des schrebergartens<br />
die „zeitenspiegel-reportageschule günter dahl“ zählt zu den besten<br />
ausbildungsstätten ihrer art in deutschland<br />
Autor: phIlIpp mAusshArdt<br />
FotoGrAF: mArInko BelAnov
70 reportAGeschule<br />
71<br />
Wo bitte liegt <strong>Reutlingen</strong>? Und was soll das<br />
heißen, ‚Kooperation mit der Volkhochschule?’“<br />
Die Anfragen nach einem Platz an<br />
der vor fünf Jahren gegründeten „ZeitenspiegelReportageschule<br />
Günter Dahl“ enthielten stets dieselben beiden<br />
Fragen. Hamburg und München, das wusste man, dort saßen<br />
und sitzen die renommiertesten beiden Journalistenschulen<br />
der Republik. Aber <strong>Reutlingen</strong>, und dann noch<br />
an einer <strong>Volkshochschule</strong>...<br />
Im fünften Jahr des Bestehens müssen solche Fragen immer<br />
seltener beantwortet werden. In dieser nur sehr kurzen<br />
Zeit ist es gelungen, einen Ausbildungsgang zu etablieren,<br />
der in Deutschland wohl einmalig ist: In einem intensiven<br />
einjährigen Kurs werden junge, talentierte Nachwuchsjournalisten<br />
zu Reportern geschult. Benannt nach dem verstorbenen<br />
früheren „Stern“Reporter Günter Dahl, lernen zwölf<br />
Journalistinnen und Journalisten die Grundlagen sauberer<br />
Recherche, kreativer Schreibe und nicht zuletzt ethischer<br />
Verantwortung in einem schwierigen Gewerbe.<br />
Den Grundstock zum Erfolg der Schule haben vor allem<br />
erfahrene Journalisten großer deutscher Magazine gelegt,<br />
die als Dozenten nach <strong>Reutlingen</strong> kommen. Unter ihnen<br />
auch die langjähriger Leiterin der bekanntesten Journalistenschule<br />
Deutschlands, Ingrid Kolb, die 16 Jahre lang der<br />
HenriNannenSchule vorstand. Darin besteht auch die Attraktivität<br />
der Schule: Praktiker, die als Vollblutjournalisten<br />
im Beruf stehen, unterrichten den Nachwuchs. Da kommt<br />
es schon mal vor, dass mitten im Unterricht das Handy klingelt<br />
und ein Dozent zu einem aktuellen Einsatz muss. Davon<br />
profitieren die Kursteilnehmer. Wie organisiert man einen<br />
solchen Einsatz in einem Krisengebiet? Wie beschafft man<br />
sich auf schnellstem Wege Hintergrundinformationen? Noch<br />
während der Ausbildung sind auf diese Weise einige Schüler<br />
der Reportageschule zu einem Auslandseinsatz gekommen.<br />
Um Dozenten, Curriculum und Praktikumsplätze kümmert<br />
sich die in Endersbach (Remstal) beheimatete Reportageagentur<br />
„Zeitenspiegel“, Organisation und Verwaltung<br />
obliegen der VHS. Offenbar traf man damit einen Nerv: Die<br />
Anmeldezahlen steigen jedes Jahr an, die Liste der Dozenten<br />
liest sich wie das Who is Who des deutschen Journalismus.<br />
Und im Kuratorium der Schule sitzen Edzard Reuter (ehem.<br />
Vorstandsvorsitzender der DaimlerBenz AG), Anton Hunger<br />
(Porsche) und Gerd SchulteHillen (ExVorstandschef<br />
Gruner und Jahr) sowie eine Reihe weiterer Persönlichkeiten,<br />
denen die fundierte Ausbildung junger Journalisten am<br />
Herzen liegt.<br />
Für die Teilnehmergebühr von monatlich 200 Euro wird<br />
eine Menge geboten: eine Woche Auslandstraining in Italien,<br />
Kontakte in großen MagazinRedaktionen, Praktikumsstellen<br />
bei „Spiegel“, „Stern“, „Geo“ oder „Zeit.“ Dort<br />
nimmt man die „Reutlinger“ inzwischen mit Handkuss.<br />
Die Hamburger Redaktion der Zeitschrift „mare“ schickte<br />
ExSchüler der Reportageschule rund um den Globus, um<br />
zusammen mit Absolventen der Fachhochschule für Fotografie<br />
Hannover ein ganzes Heft zu gestalten. Aber auch regional<br />
hinterlassen die Schüler ihre Handschrift: So erhält<br />
der jeweils letzte Lehrgang von der in <strong>Reutlingen</strong> ansässigen<br />
HeinrichSchmidUnternehmensgruppe den Auftrag, einen<br />
Geschäftsbericht in Reportageform zu erstellen.<br />
Statt einem Abschlusszeugnis produzieren die Reportageschüler<br />
ein eigenes Magazin. „Go“ heißt es, weil es jetzt<br />
hinausgeht in die Welt. Ein Magazin vergleichbarer Qualität<br />
gibt es in Deutschland von keiner anderen journalistischen<br />
Ausbildungseinrichtung.<br />
Vorherige Seite / neue Perspektiven: Reportageschüler<br />
lernen von erfahrenen Praktikern wie Patrick Reinhardt<br />
(rechts) und Maja Smrcek (3. von rechts), wie Wort und<br />
Bild sich gegenseitig ergänzen.<br />
Oben / Gab der Schule seinen namen:<br />
„Reporter des lebens“ Günter Dahl<br />
InFO<br />
Der einjährige Lehrgang beginnt im April und gliedert<br />
sich in vier Unterrichtsquartale: Grundlagen, Praktika,<br />
Vertiefung, Magazin-Redaktion. Angesprochen sind<br />
junge Journalisten mit Schreiberfahrung, Sprachkenntnisse<br />
sind erwünscht. Im ersten Quartal wird<br />
während eines Auslandsaufenthaltes eine Auslandsreportage<br />
angefertigt. Die Lehrgangsgebühren betragen<br />
200 Euro pro Monat, die Teilnehmerzahl ist auf zwölf<br />
beschränkt.<br />
Kontakt:<br />
Zeitenspiegel-Reportageschule Günter Dahl<br />
c/o <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong><br />
Spendhausstraße 6<br />
72764 <strong>Reutlingen</strong><br />
Telefon: 0 71 21 / 33 61 82<br />
email: info@reportageschule.de<br />
Internet: www.reportageschule.de<br />
BadenWürttemberg verfügt zwar über die meisten unabhängigen<br />
Tageszeitungen, und viele Buchverlage sitzen ebenfalls<br />
im Land. Doch als klassischer Medienstandort ist der<br />
Südwesten weitgehend abgemeldet. Da schaut die Republik<br />
nach Hamburg, Berlin oder München. Umso erstaunlicher,<br />
dass eine Initiative ohne staatliche Förderung in wenigen<br />
Jahren eine solche Erfolgsgeschichte schreibt: Die Absolventen<br />
der Schule arbeiten inzwischen als gefragte Reporter für<br />
große deutsche Magazine, sind in überregionalen Redaktionen<br />
gerne gesehene Mitarbeiter, und erst jüngst haben sich<br />
einige Absolventen in Berlin zu einem Journalistenbüro zusammen<br />
geschlossen.<br />
Einmal in <strong>Reutlingen</strong> angekommen, empfinden übrigens<br />
die meisten der Journalistenschüler die Stadt als sympathischen<br />
Standort. Die Ablenkung hält sich in Grenzen – und<br />
Übungsthemen gibt es in Stadt und Umgebung zuhauf. So<br />
wird sich mancher vielleicht schon gewundert haben, wie lokale<br />
Thema ihren Weg in die überregionalen Medien gefunden<br />
haben: Der Verkauf eines Skilifts in Holzelfingen auf der<br />
Schwäbischen Alb... Entenjagd im Reutlinger Wasenwald...<br />
oder der Überlebenskampf eines Milchbauern in Eningen<br />
unter der Achalm... die Republik schaut auf <strong>Reutlingen</strong>. Das<br />
ist übrigens ganz im Sinne von Namensgeber Günter Dahl:<br />
Der „Reporter des Lebens“ wurde vom ehemaligen „Stern“<br />
Gründer Henri Nannen dadurch geadelt, dass er ihm bescheinigte:<br />
„Dahl findet auf zwei Quadratmeter Schrebergarten<br />
mehr Geschichten als andere auf einem Kontinent.“<br />
„Wenn das foto nicht gut genug ist,<br />
Warst du nicht nah genug dran“<br />
Wie die <strong>Volkshochschule</strong> zu einer robert-capa-ausstellung kam<br />
AutorIn: AmrAI coen<br />
FotoGrAF: mArInko BelAnov
74 AusstellunG<br />
Da staunt selbst der Chefreporter<br />
der „Stuttgarter Zeitung“: josef-Otto<br />
Freudenreich betrachtet das Foto<br />
eines Flüchtlingstrecks.<br />
Jeder Bildjournalist kennt diesen Spruch – die Maxime<br />
des legendären Kriegsfotografen Robert Capa. Er ist<br />
immer nah genug dran. Bis er mit vierzig Jahren selbst<br />
Opfer des Krieges wird und 1954 in Indochina auf eine<br />
Landmine tritt. Als er stirbt, hält er seine Kamera in beiden<br />
Händen.<br />
Robert Capa, Mitgründer der Fotoagentur „Magnum“,<br />
sieht man normalerweise nur in den Kunsthäusern der großen<br />
Metropolen wie New York oder Paris. <strong>Reutlingen</strong> im<br />
Frühjahr 2008 zählt nicht zu den Städten, die mit hochkarätigen<br />
Ausstellungen tausende von Besuchern anziehen. Umso<br />
mehr war es eine kleine Sensation, als die <strong>Volkshochschule</strong><br />
<strong>Reutlingen</strong> eine Retrospektive Capas mit knapp 90 seiner<br />
bekanntesten Fotografien zeigte. Über drei Stockwerke verteilt<br />
waren die SchwarzWeißAufnahmen des Pioniers der<br />
Kriegsfotografie zu sehen. Davor wurde die Ausstellung im<br />
NobelMuseum Stockholm gezeigt.
76 AusstellunG<br />
links / Szenen aus dem Spanischen Bürgerkrieg.<br />
Rechts / Magnum-Kuratorin Andréa Holzherr führt<br />
durch die Capa-Ausstellung.<br />
In <strong>Reutlingen</strong> waren nicht nur Bilder des Schreckens ausgestellt.<br />
Capas Arbeit beschränkte sich nicht allein auf Kriegsfotografien.<br />
„Er ist vielfältiger gewesen, als sein Bild in der<br />
Öffentlichkeit suggeriert“, sagte Kunsthistorikerin Andréa<br />
Holzherr von der Fotoagentur „Magnum“ bei der Ausstellungseröffnung<br />
in <strong>Reutlingen</strong>. Neben den Aufnahmen, in<br />
denen er das Leid des Krieges zeigt, entpuppt sich Capa als<br />
einfühlsamer Portraitfotograf. Berühmtheiten wie Ernest<br />
Hemingway, Truman Capote und Ingrid Bergmann ließen<br />
sich von ihm ablichten. Mit Bergmann wird ihm sogar eine<br />
kleine Romanze nachgesagt.<br />
Sein kurzes Leben gleicht einem Abenteuerroman. 1913<br />
wird Endre Friedmann in Budapest geboren. Der Sohn jüdischer<br />
Eltern studiert Politik in Berlin. Um ein bisschen Geld<br />
zu verdienen, fotografiert er für den Berliner „Weltspiegel“,<br />
seine ersten Fotos zeigen Leo Trotzki bei einer Rede in Kopenhagen<br />
und erregen sogleich Aufmerksamkeit. Mit 21<br />
Jahren flüchtet Capa 1934 vor dem NaziRegime nach Paris.<br />
Mit im Gepäck: seine Leica.<br />
Dort hält er sich mit kleinen Fotoaufträgen über Wasser.<br />
Für eine Schweizer Lebensversicherung soll er blonde Mädchen<br />
im Park fotografieren. In einem Café spricht er eines<br />
an, Ruth Cerf ist ihr Name. Ob sie sich nicht von ihm fotografieren<br />
lassen wolle, fragt Endre Friedmann. Der gut aussehende<br />
Mann trägt eine abgenutzte Lederjacke und einen<br />
DreiTageBart, seine schwarzen Haare sind ungekämmt.<br />
„Er war Ruth ein bisschen zu wild. Sie hatte Angst vor ihm“,<br />
sagt Ulrich Bausch, Geschäftsführer der VHS und CapaExperte.<br />
„Deshalb brachte sie ihre mutige Freundin Gerta mit<br />
zum Shooting, obwohl sie gar nicht blond war.“<br />
Die Freundinnen Ruth und Gerta waren wegen ihrer jüdischen<br />
Herkunft, wie Capa auch, vor den Nazis aus Deutschland<br />
nach Paris geflohen. Gerta Pohorylle war als Tochter<br />
polnischer Eltern in Galizien und <strong>Reutlingen</strong> aufgewachsen.<br />
In Paris verdienen die 23jährigen Frauen Ruth und Gerta<br />
ihr Geld als Sekretärinnen. Ihre Freizeit verbringen sie<br />
in Straßencafés, wie der ungarische Fotograf Endre Friedmann.<br />
Als Ruth ihre beste Freundin mit zum Shooting bringt, ist<br />
sie nicht mehr der Star vor der Linse des Fotografen. „Endre<br />
sah Gerta, und die zwei verliebten sich sofort“, weiß Bausch.<br />
Endre bringt Gerta das Fotografieren bei, „er vermittelte ihr<br />
seine ganze Leidenschaft.“<br />
Die beiden können von den Fotoaufträgen aber kaum<br />
leben. Die ständige Geldnot bringt Gerta auf eine Idee. Sie<br />
tauscht Endres Lederjacke gegen einen eleganten Anzug<br />
und verschafft ihm und sich mit einem Künstlernamen eine<br />
neue Identität: Ab jetzt ist er der berühmte amerikanische<br />
Fotograf Robert Capa und sie seine Agentin Gerta Taro. Die<br />
Pariser Zeitungsredaktionen glauben diese Geschichte, und<br />
die Einnahmen des jungen Liebespaares verdreifachen sich.<br />
1936 reisen Capa und Taro nach Spanien, um den Bürgerkrieg<br />
zu dokumentieren. Capa und Taro fotografieren an<br />
vorderster Front. Gerta Taros Fotos zeigen schlafende Soldaten,<br />
republikanische MilizFrauen, die am Strand das Schießen<br />
üben, und eine Kriegswaise, die ihre Suppe löffelt. Taros<br />
Bilder überzeugen durch ihre Nähe zu den Personen.<br />
Capa hat den leidenden Menschen im Fokus. Sein erstes<br />
Bild, das um die Welt geht, entsteht im spanischen Bürgerkrieg.<br />
Er fotografiert einen republikanischen Soldaten im<br />
Moment seines Todes, als er mit dem Gewehr in der Hand<br />
zu Boden stürzt. Es wird sein berühmtestes Bild. Doch der<br />
Krieg, der Capa bekannt und berühmt macht, nimmt ihm<br />
seine große Liebe: In Spanien stirbt seine Lebensgefährtin<br />
Gerta Taro, sie wird von einem Panzer überrollt. Capa macht<br />
sich Vorwürfe, dass er nicht bei ihr ist, als sie stirbt. Wenige<br />
Tage später, an ihrem 27. Geburtstag, muss Capa die<br />
Geliebte in Paris beerdigen. Hunderttausende folgen ihrem
VHS-Geschäftsführer Dr. Ulrich Bausch, Andréa Holzherr und der<br />
Kirchentellinsfurter Bürgermeister Bernhard Knauss vor Capas berühmtesten<br />
Bild eine sterbenden republikanischen Soldaten.<br />
Sarg zum Friedhof PèreLachaise. Der Trauerzug wird zur<br />
Demonstration gegen den Faschismus.<br />
„Damals war sie so berühmt wie ein Popstar“, sagt Bausch.<br />
„Heute kennt man sie nur noch als Capas Geliebte.“ Doch<br />
kürzlich wurden drei Koffer Capas mit Filmrollen auf einem<br />
Dachboden in Mexiko gefunden. Darunter sind Aufnahmen<br />
von Gerta Taro, die nun in New York von Experten bearbeitet<br />
werden. Dieser sensationelle Fund könnte Taros Rolle als<br />
eigenständige Fotografin wieder aufleben lassen. „Wenn die<br />
Bilder endlich ausgewertet sind, wollen wir natürlich Gerta<br />
Taros Fotos in der VHS ausstellen“, sagt Bausch.<br />
Capa fotografiert in den Jahren nach Taros Tod die japanische<br />
Invasion in China, die Schauplätze des Zweiten<br />
Weltkriegs in Europa und den ersten IsraelischArabischen<br />
Krieg. Mit seinen Bildern dokumentierte er fünf Kriege auf<br />
drei Kontinenten. Er fährt auf Panzern, springt aus Flugzeugen,<br />
weicht Kugeln aus und steht in der ersten Frontlinie.<br />
„Das war ein gewaltiger Kick für Capa“, sagt Bausch. „das<br />
Adrenalin machte ihn süchtig.“<br />
Als Fotograf ist er bei der Landung der amerikanischen<br />
Soldaten in der Normandie (DDay) dabei, die am Omaha<br />
Beach an Land gehen. Seine SchwarzWeißFotos gehen<br />
um die Welt und sind selbst noch 50 Jahre später für Steven<br />
Spielberg die stilistische Vorlage zu seinem Film „Der Soldat<br />
James Ryan“.<br />
1947, mit 34 Jahren, gründet Capa zusammen mit Henri<br />
CartierBresson und anderen Kollegen die bis heute renommierteste<br />
Fotoagentur: „Magnum“. Die Agentur ist angeb<br />
lich nach der Zwei LiterChampagnerflasche benannt. „Er<br />
war ein notorischer Trinker und Spieler“, sagt Bausch. „Das<br />
Leid, das er in den Kriegen sah, belastete ihn. Er führte ein<br />
Doppelleben.“ Wenn er nicht in Kriegsgebieten unterwegs<br />
ist, lebt er in der High Society. Viele Berühmtheiten zählen<br />
inzwischen zu seinem Bekanntenkreis: Pablo Picasso, Humphrey<br />
Bogart, Truman Capote. Aber die Welt der Prominenten<br />
ist nichts für Capa. „Hollywood ist die größte Scheiße,<br />
in die ich je getreten bin“, soll er einmal gesagt haben. Für<br />
seinen letzten Fotoauftrag geht er an die Front, um den Krieg<br />
der Franzosen in Indochina zu dokumentieren. Und kehrt<br />
nicht zurück.<br />
Capa entwickelte eine neue Art, den Krieg zu zeigen. Er<br />
befreite die Kriegsfotografie von jeglichem Kitsch, jeglichem<br />
Bombast, jeglicher Heldenromantik, und zeigte das<br />
nackte Leid. „Mit unseren Ausstellungen wollen wir das<br />
Image der <strong>Volkshochschule</strong>n prägen“, sagt Bausch. Auf dem<br />
Weg dahin waren in letzter Zeit auch „Die Metamorphosen<br />
des Pinocchio“, Zeichnungen und Gemälde des renommierten<br />
italienischen Grafikers Paolo Tesi zu sehen. Oder<br />
Grafiken von Marino Marini. Oder aktuelle mexikanische<br />
Druckgrafik.<br />
<<br />
Metall und Elektro –<br />
Deine Zukunft im Beruf!<br />
Die Metall- und Elektroindustrie ist die Herzkammer der Wirtschaft<br />
in Baden-Württemberg: Mit Unternehmen, die zu den<br />
internationalen Top-Adressen gehören, mit Marken und Produkten,<br />
die zu Legenden geworden sind, mit Ingenieuren und<br />
Fachkräften, die zu den kreativsten und qualifiziertesten der<br />
Welt gehören – diese faszinierende und zugleich einzigartige<br />
Mischung ist es, die ihren Erfolg ausmacht.<br />
Erfolgreich wollen wir auch in Zukunft bleiben. Dafür stehen<br />
wir als Arbeitgeberverband Südwestmetall mit unserer<br />
Ausbildungs- und Qualifizierungsinitative „Start 2000 Plus“<br />
und unsere mehr als 1.000 Mitgliedsbetriebe. Sie bilden in<br />
rund 20 attraktiven gewerblich-technischen und kaufmännischen<br />
Berufen aus und bieten Hochschulabsolventen<br />
verschiedenster Fachrichtungen hervorragende und zukunftssichere<br />
Einstiegs- und Karrierechancen im Beruf. Unsere<br />
Unternehmen freuen sich auf motivierte, leistungsbereite und<br />
kreative junge Menschen, damit die Metall- und Elektroindustrie<br />
in Baden-Württemberg die Nummer 1 in der Welt bleibt.<br />
Mehr Informationen unter:<br />
www.suedwestmetall.de oder www.start2000plus.de<br />
SÜDWESTMETALL · Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V.<br />
Löffelstraße 22–24 · 70597 Stuttgart · Tel. +49(0)711 7682-147 · Fax +49(0)711 7682-210 · E-Mail info@suedwestmetall.de<br />
SÜDWESTMETALL · Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V.<br />
Löffelstraße 22–24 · 70597 Stuttgart · Tel. +49(0)711 7682-147 · Fax +49(0)711 7682-210 · E-Mail info@suedwestmetall.de
impressum<br />
© Verein für Volksbildung <strong>Reutlingen</strong> e. V., <strong>Reutlingen</strong> 2008<br />
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in OnlineDienste und Internet sowie Vervielfältigung<br />
auf elektronischen Datenträgern bedürfen der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Herausgebers.<br />
Artdirektion und Layout: Patrick Reinhardt / Zeitenspiegel<br />
Redaktion: Wolfgang Alber, Ulrich Bausch, Stefan Junger, Philipp Maußhardt<br />
Druck: Druckerei Fink, Pfullingen<br />
Verein für Volksbildung <strong>Reutlingen</strong> e. V.<br />
Spendhausstr. 6<br />
D 72764 <strong>Reutlingen</strong><br />
07121 336121<br />
vfv@vhsrt.de<br />
www.vfv.vhsrt.de<br />
Vorstand des Vereins für<br />
VoLksbiLdung e.V.<br />
1. Vorsitzender: Dr. Rainer Märklin<br />
2. Vorsitzender: BM Robert Hahn<br />
Geschäftsführer: Dr. Ulrich Bausch<br />
Prof. Monika Barz<br />
Agnete BauerRatzel<br />
Suse Gnant<br />
Stefan Lachenmann<br />
Ursula Menton<br />
Johannes Ritzi<br />
Anette Rösch<br />
Als Vertreter des Gemeinderats:<br />
ErnstUllrich Schmidt<br />
Annette Seiz<br />
Sebastian Weigle<br />
Thomas Ziegler