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Spezial - Volkshochschule Reutlingen GmbH

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GO<br />

<strong>Spezial</strong><br />

Bildung für Alle!<br />

90 Jahre Verein für Volksbildung reutlingen


Liebe Leserinnen<br />

und Leser,<br />

Tai Chi morgens im Garten des Heimatmuseums; die Entdeckung<br />

des Flammennebels im Sternbild Orion; der weltweit<br />

schnellste Französischkurs im TGV von Stuttgart nach<br />

Paris: Die Liste der Bildungsaktivitäten des Vereins für<br />

Volksbildung ist nahezu endlos. Unter dem Dach des von<br />

Emil Gminder 1918 gegründeten Vereins engagieren sich<br />

heute 15 Bildungseinrichtungen. Musikschule und <strong>Volkshochschule</strong><br />

sind zwar <strong>GmbH</strong>s, aber überlebt hat sich der<br />

Verein keineswegs. Er ist das Dach und die Klammer aller<br />

Arbeitsbereiche.<br />

Diese enge Verzahnung ist unverzichtbar, denn der Zusammenhalt<br />

der Einrichtungen, also die gewonnenen Synergieeffekte,<br />

machen die Stärke des Vereins und seiner<br />

Untergliederungen aus. Darüber hinaus aber ist die Idee<br />

von Gminder nach wie vor brandaktuell. Gminder sprach<br />

davon, dass Deutschland zwar als Volk der Dichter und<br />

Denker gelte, aber diese hätten sich doch auf einen relativ<br />

kleinen Kreis beschränkt. Wesentlich sei, dass jeder bei<br />

allem was er tue, sich dabei etwas denke, eine Ahnung davon<br />

habe, auch von den Dingen und Vorgängen, die die<br />

Menschen betreffen. Jeder müsse zu eigenem Urteil fähig<br />

sein, nur dann bestehe auch Aussicht auf wirtschaftlichen<br />

Erfolg. Gminder ging in seiner Konzeption über zweckorientiertes<br />

Funktionswissen weit hinaus. Die aufgeklärten,<br />

emanzipierten Bürger, die sich auf der Basis von moralischen<br />

Standards ihr eigenes Urteil bilden – dieses Ziel ist<br />

für den Verein bis heute maßgeblich.<br />

„Bildung für alle“, nicht Elitenbildung, ist daher das Ziel,<br />

und deshalb finden wir neben der Musik­ und <strong>Volkshochschule</strong><br />

unter anderem ein Abendgymnasium, eine Fachschule<br />

für Ergotherapie, eine Jugendkunstschule, das Business<br />

&Management Institut, die Reutlinger Gesundheitsakade­<br />

mie und seit drei Jahren die Zeitenspiegel­Reportageschule<br />

Günter Dahl. Junge Nachwuchsjournalisten lernen hier das<br />

Hand­ und Kopfwerk der Reportage und die Grundlagen<br />

eines ethisch verantworteten Journalismus. Das Reportagemagazin<br />

GO ist die Abschlussarbeit eines jeden Jahrgangs.<br />

Zum 90sten Geburtstag des Vereins haben wir Schülerinnen<br />

und Schüler, Absolventen und Dozenten unserer Journalistenschule<br />

gebeten, über den Verein für Volksbildung zu<br />

berichten; dafür danken wir ihnen. Zugleich feiern wir 60<br />

Jahre <strong>Volkshochschule</strong> und 20 Jahre Haus der VHS.<br />

Wir wollten wissen, wie es aussieht, wenn von außen auf<br />

uns geblickt wird. In diesem GO­<strong>Spezial</strong> finden Sie Reportagen<br />

über unsere Arbeit. Sie erfahren, warum Integrationskurse<br />

schwierig und notwendig sind, warum für uns Pistoia<br />

nicht irgendeine Stadt in der Toskana ist, was sich hinter<br />

dem Begriff „Kreativkarussell“ verbirgt, wie schwierig für<br />

viele Frauen der Wiedereinstieg in den Beruf ist, und warum<br />

es Menschen gibt, die sich im Morgengrauen mit Begeisterung<br />

zum gemeinsamen Tai Chi treffen. Es sind Schlaglichter<br />

auf eine Einrichtung, die darüber hinaus noch viel mehr<br />

zu bieten hat.<br />

Aber gerade diese Vielfalt macht es unmöglich, in einem<br />

solchen Jubiläums­Magazin der hervorragenden Arbeit aller<br />

gerecht zu werden. Darum sind es Beispiele, die für viele<br />

stehen. Die Lektüre soll zudem Spaß machen und Neugier<br />

wecken, auf das, was sich unter unserem Dach tagtäglich tut.<br />

Soviel Spaß, wie wir selbst bei unserer Arbeit empfinden.<br />

Ihr<br />

Dr. Ulrich Bausch


inhaLt<br />

Editorial 01<br />

Wir sind das Team 04<br />

Im Gespräch mit Dr. Ulrich Bausch: Morgens gerne zur Arbeit gehen 06<br />

Taiji: Den Drachen anschauen 12<br />

Sternwarte: Über den Dächern von <strong>Reutlingen</strong> 14<br />

Die Anfänge der Volksbildung: Wissen ist Macht! 22<br />

Im Gespräch mit Prof. Michael Hartmann:<br />

„Das Gerede von der Leistungselite soll doch nur Privilegien absichern“ 26<br />

Alphabetisierung: Von der Seele geschrieben 32<br />

Im Gespräch mit Karin Schmicker: „Fehler gehören einfach dazu“ 34<br />

Abendgymnasium: Besser spät als nie – Abitur am Abend 38<br />

Im Gespräch mit Dr. Rainer Märklin:<br />

„Die Bedeutung der Erwachsenenbildung wird unterschätzt“ 40<br />

Verein<br />

für Volksbildung<br />

Architektur: Ort urbanen Lebens 42<br />

Musikschule: Wo Sprache aufhört, fängt Musik an 46<br />

Musikschule: Musik ohne Grenzen 48<br />

Jugendkunstschule: Fröhliches Tohuwabohu 50<br />

Pistoia: Toskanische Träume 52<br />

Cafeteria: Der Fels in der Bar 56<br />

Integration: Die Deutschmacherin 58<br />

TGV: „Je m’appelle Annemarie“ 60<br />

Kontaktstelle: Zwischen Kindern, Kochtopf und Karriere 62<br />

Ergotherapie: Um die Ecke sehen und denken 66<br />

Reportageschule: Der Erfolg des Schrebergartens 69<br />

Ausstellung: „Wenn das Foto nicht gut genug ist, warst du nicht nah genug dran“ 72<br />

Impressum 80


Wir sind<br />

das team<br />

m it a rbeiter i n nen<br />

und mitarbeiter der<br />

mu si k schu le u nd<br />

Vhs reutlingen


6 Im Gespräch<br />

7<br />

„morgens gern zur arbeit gehen“<br />

interview mit Volkshochschul-geschäftsführer dr. ulrich bausch<br />

Autor: phIlIpp mAusshArdt<br />

FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />

90 Jahre Verein für Volksbildung. Wo sehen Sie von der Gründung bis heute die<br />

Meilensteine in der Entwicklung des Vereins?<br />

Diese Meilensteine verbinden sich natürlich mit Personen. Emil Gminder, der Ideengeber,<br />

Gründer, Geldgeber und langjähriger Leiter des Vereins. Er hat damals<br />

die Stadtverwaltung davon überzeugen können, die Spitalkirche umzubauen, er<br />

hat persönlich Umbaupläne entworfen und dafür gesorgt, dass der Volksbildungsverein<br />

<strong>Reutlingen</strong> als erster in Württemberg seine Veranstaltungen in einem eigenen<br />

Gebäude abhalten konnte. Die nächste Epoche würde ich mit den Namen<br />

Oskar Kalbfell und Hans Wilhelm Zeller verbinden. Schon im Herbst 1945 tauchte<br />

der Gedanke auf, in <strong>Reutlingen</strong> eine richtige <strong>Volkshochschule</strong> zu gründen. Gminders<br />

Volksbildungshaus war kaum beschädigt, und die französische Militärverwaltung<br />

signalisierte Zustimmung. Im Februar 1946 erteilte der damalige Gouverneur<br />

Widmer die förmliche Genehmigung, und die Geschäftsführung übernahm Ingenieur<br />

Hans Wilhelm Zeller. Die Stadt sorgte für die Instandsetzung und den Unterhalt<br />

des Volksbildungshauses. 1948 fand dann die förmliche Wiedergründung des<br />

Vereins für Volksbildung statt. Zeller und Kalbfell ergänzten sich ideal. Zeller legte<br />

von Anfang an Wert darauf, dass neben der Allgemeinbildung auch die berufliche<br />

Bildung breiten Raum einnahm. Kalbfell, der 25 Jahre den Verein führte, sorgte<br />

auch dafür, dass alle Einrichtungen außerhalb des ersten Bildungswegs unter dem<br />

Dach des Vereins untergebracht wurden. Zum Beispiel die Sternwarte oder später<br />

das Abendgymnasium. Hans Haußmann, der für eine weitere Epoche steht, setzte<br />

diese Tradition fort. Er integrierte die Musikschule 1970 in die VHS und gründete<br />

unter anderem die Fachschule für Ergotherapie und die Jugendkunstschule.<br />

Sein historisches Verdienst ist aber vor allem das Haus der <strong>Volkshochschule</strong> in<br />

der Spendhausstraße, welches bis heute vielen anderen <strong>Volkshochschule</strong>n als vorbildlich<br />

gilt. Er hat es nicht nur mitkonzipiert, sondern auch politisch erkämpft.<br />

Haußmann hat sich unvergleichlich für die VHS in <strong>Reutlingen</strong>, aber auch für die<br />

Idee der <strong>Volkshochschule</strong> bundesweit engagiert.<br />

Und wo setzen Sie Ihren Schwerpunkt?<br />

Wir haben den Universalismus­Anspruch der <strong>Volkshochschule</strong>n aufgegeben und<br />

müssen heute unterschiedliche Zielgruppen unterschiedlich ansprechen. Daher<br />

haben wir sogenannte Submarken gegründet.<br />

Kein Unternehmen würde seine Führungskräfte<br />

in einen VHS­Kurs schicken. Jedenfalls nicht,<br />

wenn es um Führungskräftetraining geht. Diese<br />

Angebote übernimmt unser Business & Management<br />

Institut (BMI). Die Firmen wissen,<br />

das Institut wird von einer verlässlichen und<br />

seriösen Einrichtung, der VHS, getragen, aber<br />

das Institut selbst wendet sich speziell an die<br />

Zielgruppe der professionellen Entscheider. So<br />

ist das auch in anderen Bereichen. Gleichzeitig<br />

behalten wir das Kerngeschäft der <strong>Volkshochschule</strong>n<br />

im Auge: Weiterbildung für alle auf<br />

unterschiedlichen Niveaustufen.<br />

Mehr Angebote, obwohl in den letzten Jahren<br />

die Zuschüsse vom Land gekürzt wurden. Wie<br />

soll das funktionieren?<br />

Ein Viertel der Deutschen sind in den letzten<br />

fünf Jahren finanziell regelrecht abgesackt. Fast<br />

acht Millionen arbeiten im so genannten Niedriglohnsektor<br />

und selbst im wohlhabenden<br />

<strong>Reutlingen</strong> vermittelt die Arbeitsverwaltung<br />

Jobs für unter fünf Euro brutto. Dieser Personenkreis<br />

und natürlich die Arbeitslosen können<br />

sich VHS­Kurse nicht mehr leisten. Das macht<br />

mir Sorge, weil damit der soziale Bildungsauftrag<br />

auf der Strecke bleibt. Vor allem durch Kürzung<br />

öffentlicher Mittel sind die VHS­Gebühren<br />

in Baden­Württemberg in den letzten zehn Jahren<br />

um rund 130 Prozent angestiegen. Die Reallöhne<br />

sind in der gleichen Zeit gefallen. Unser<br />

Motto „Bildung für alle“ ist daher keine Zustandsbeschreibung, sondern eine Forderung<br />

von höchster Relevanz. Deutschland ist in diesem Punkt in den letzten Jahren<br />

immer weiter zurückgefallen. Im europäischen Vergleich sind die Ausgaben für Erwachsenenbildung<br />

in Deutschland weit unterdurchschnittlich. Dänemark gibt zum<br />

Beispiel pro Kopf doppelt so viel für Erwachsenenbildung aus wie Deutschland.<br />

In manchen Städten wurde schon über die Schließung von Volkhochschulen<br />

diskutiert. Wie sieht das in <strong>Reutlingen</strong> aus?<br />

Ständig werden Studien veröffentlicht, die belegen, dass wir in der Erwachsenenbildung<br />

mehr tun sollten. Aber ein Kurswechsel in der Politik ist nicht erkennbar.<br />

Dabei zählen Investitionen in Bildung zu den volkswirtschaftlich rentabelsten<br />

überhaupt. Ein komplexer Staat braucht Menschen mit eigenem Denken und Urteilskraft.<br />

Die <strong>Volkshochschule</strong>n und die Musikschulen, auch die Jugendkunstschulen<br />

im Land werden sicher überleben. Aber wenn die Landesmittel nicht<br />

deutlich und schnell angehoben werden, geht der soziale Bildungsauftrag baden.<br />

Wir haben in <strong>Reutlingen</strong> zum Glück frühzeitig damit begonnen, rentable Institutionen<br />

wie das BMI einzurichten, mit denen wir teilweise die finanziellen Ausfälle<br />

auffangen können. Darüber hinaus haben wir ein starkes Verbundsystem durch<br />

Partnergemeinden, die gemeinsam mit uns ihre VHS betreiben. Gemeinden wie<br />

Gomaringen oder Dettingen haben Zugang zu einem sehr vielseitigen Programm,<br />

das sie alleine nicht stemmen könnten.<br />

Worauf beruht denn der Erfolg des BMI?<br />

Das Institut hat unter der Leitung von Margit Amon seinen Umsatz in den letzten<br />

zwei Jahren mehr als verdoppelt. Wir garantieren zum Beispiel den Bildungserfolg.<br />

Das klingt etwas merkwürdig, ist aber einfach und einleuchtend. Wir wissen, wie<br />

viele Trainingseinheiten nötig sind, um einen Erfolg zu erzielen. Wenn der Kunde<br />

nicht zufrieden ist, schulen wir weiter, bis er zufrieden ist. Auf unsere Kosten. Bis<br />

heute gab es keinen Garantiefall. Sicher sind wir aber auch erfolgreich, weil wir die<br />

Angebote mit den Kunden abstimmen und uns an den konkreten Bedürfnissen der<br />

Betriebe orientieren. Besonders begeistert sind die Kunden von den firmenübergreifenden<br />

Trainings. Verschiedene Firmen beschicken hier gemeinsam ein Führungs­<br />

kräftetraining. Die Teilnehmer genießen es, von<br />

anderen Firmenkulturen lernen zu können.<br />

War das BMI das Vorbild für die Reutlinger<br />

Gesundheitsakademie?<br />

Ja. Das Muster ist das gleiche. Ärzte bilden sich<br />

nicht an einer <strong>Volkshochschule</strong> fort. An einer<br />

Gesundheitsakademie dagegen schon. Brigitte<br />

Albrecht – der Leiterin – ist es gelungen, das<br />

Angebot in nur einem Jahr mehr als zu verdoppeln.<br />

Die neuen Räume in Betzingen werden<br />

sehr gut angenommen, es ist einfach erstaunlich,<br />

wie groß das Weiterbildungsengagement<br />

gerade bei den Medizinalfachberufen ist.<br />

Was läuft konkret in der Gesundheitsakademie?<br />

Das sind fachspezifische Fortbildungen, etwa<br />

zu speziellen Therapien für Demenzkranke,<br />

wir bilden zum Entspannungspädagogen aus<br />

oder bieten eine sprachheilpädagogischen Zusatzqualifikation<br />

an. Ein wichtiges Feld sind die<br />

Weiterbildungen für Ergotherapeuten. Durch<br />

unsere Ergo­Fachschule sind wir bei dieser<br />

Zielgruppe sehr bekannt, daher herrscht hier<br />

auch die größte Nachfrage.<br />

Das jüngste Kind unter dem Dach des Vereins<br />

ist eine Journalistenschule. Warum beschäftigt<br />

sich eine VHS mit Journalismus?<br />

<strong>Volkshochschule</strong>n beschäftigen sich schon lange<br />

mit Journalismus. Der wichtigste Fernsehpreis,<br />

der Grimme­Preis, wird von den Volkshoch­


Verein für VoLksbiLdung e.V.<br />

1918<br />

abendgymnasium (agr)<br />

1967<br />

abendhauptschuLe<br />

1973<br />

business & management<br />

institut (bmi)<br />

1999<br />

VoLkshochschuLe (Vhs)<br />

seit 1994 gmbh<br />

european Learning<br />

support agency gmbh (eLsa)<br />

2004<br />

biLdungsprojekte der<br />

Vhs reutLingen gmbh (bip)<br />

1996<br />

berufsfachschuLe für<br />

ergotherapie (et-schuLe)<br />

1980<br />

zeitenspiegeLreportageschuLe<br />

günter dahL<br />

2005<br />

stiftung VoLksbiLdung<br />

1982<br />

Stiftungsratsvorsitzende: OB Barbara Bosch / Stellv. Stiftungsratsvorsitzender: Harald Helm<br />

Vorstand: Bürgermeister Peter Rist, Bürgermeister Robert Hahn<br />

Geschäftsführung: Sandra Knaupp (Stadt <strong>Reutlingen</strong>, Amt für Wirtschaft und Immobilien)<br />

Stiftungsratsmitglieder aus dem Gemeinderat: Rainer Buck, Conrad Dolderer,<br />

Dr. Knut Hochleitner, Ernst-Ullrich Schmidt, Annette Seiz, Sebastian Weigle, Thomas Ziegler<br />

Stiftungsratsmitglieder aus dem Kreis der Stifter: Harald Helm, Günter Reiff, Eugen Schäufele, Inge Villforth<br />

dr. rainer märkLin<br />

stiftung, 1998<br />

musikschuLe (msr)<br />

1970, seit 1994 gmbh<br />

design+kommunikationsakademie<br />

reutLingen (dekart)<br />

2004<br />

reutLinger gesundheits-<br />

akademie (rega)<br />

2001<br />

kontaktsteLLe<br />

frau und beruf<br />

1992<br />

sternWarte<br />

1956<br />

jugendkunstschuLe (juks)<br />

1991


10 Im Gespräch<br />

schulen verliehen. Erstaunlich ist es aber eigentlich schon, dass die <strong>Volkshochschule</strong>n<br />

nicht schon längst in der Journalistenausbildung tätig sind, zumal die Qualität<br />

des Journalismus ein Bildungsfaktor von zentraler Bedeutung ist. Die Schule freilich<br />

existiert nur durch die Kooperation mit einer großen Journalisten­Agentur. Die<br />

Agentur „Zeitenspiegel“ liefert das journalistische Know­how, die <strong>Volkshochschule</strong><br />

das Bildungsmanagement. Wir wollen den Qualitätsjournalismus fördern und einen<br />

Beitrag zu ethisch verantwortetem Journalismus leisten. Nach drei Jahren kann sich<br />

die Bilanz sehen lassen. Die Abschlussarbeiten der Schüler sind herausragend, und<br />

viele Absolventen können schon beachtliche Karrieren vorweisen.<br />

Kommt bei einer Journalistenschule, einer Gesundheitsakademie oder einem<br />

Institut für Führungskräfte die klassische VHS-Arbeit nicht zu kurz?<br />

Zunächst sind das ja keine Widersprüche. Die klassische VHS­Arbeit wird von uns<br />

genauso intensiv und ernsthaft betrieben wie die Submarken. Frank Mayer verantwortet<br />

zum Beispiel den für uns traditionell sehr wichtigen Bereich der beruflichen<br />

Bildung und ist hier sehr erfolgreich. Allerdings wären wir ohne die Submarken<br />

gar nicht in der Lage, z. B. Allgemeinbildung in guter Qualität anzubieten.<br />

Die Reutlinger <strong>Volkshochschule</strong> lässt die Qualität ihrer Arbeit durch die so<br />

genannte ISO-Zertifizierung prüfen und bewerten. Das ist teuer und aufwendig.<br />

Warum wird ein solcher Aufwand getrieben?<br />

Wir möchten sicherstellen, dass das, was wir tun, auf einem guten Niveau geschieht.<br />

Daher ist es sinnvoll, dass Prüfer von außen<br />

kommen und kontrollieren. Das hält uns auch<br />

dazu an, uns ständig weiterzuentwickeln. Von<br />

ganz besonderer Bedeutung ist dabei die Dozentenauswahl.<br />

Gerade weil wir hier sehr pingelig<br />

sind, haben wir einen hervorragenden Ruf was<br />

den Stamm unserer Lehrkräfte betrifft. Der eigentliche<br />

Grund für unseren Erfolg basiert aber<br />

schlicht auf unseren Mitarbeitern, die sich unglaublich<br />

engagieren, immer wieder neue Ideen<br />

hervorbringen und dafür sorgen, dass man<br />

morgens gerne arbeiten geht. Es herrscht eine<br />

enorme Kooperationsbereitschaft zwischen den<br />

Einrichtungen. Diese Kultur der wechselseitigen<br />

Unterstützung – ob zwischen Musikschule und<br />

VHS, ob zwischen den Abteilungen und dem<br />

BMI – macht die Stärke des Vereins aus.<br />

<<br />

15 biLdungseinrichtungen<br />

... unter dem dach des Vereins für Volksbildung mit<br />

insgesamt 8,3 millionen euro umsatz<br />

ABEnDHAUPTSCHUlE<br />

Alle, die eine Schule vorzeitig oder nur mit Abgangszeugnis<br />

verlassen haben, haben bei der Abendhauptschule<br />

die Möglichkeit, in Ganztags- oder Abendkursen<br />

den Hauptschulabschluss auf dem zweiten<br />

Bildungsweg nachzuholen.<br />

ABEnDGyMnASIUM<br />

In <strong>Reutlingen</strong> kann man am einzigen Abendgymnasium<br />

mit eigenem Schulhaus in Baden-Württemberg die<br />

Allgemeine Hochschulreife oder die Fachhochschulreife<br />

nachholen.<br />

BIlDUnGSPROjEKTE DER VHS REUTlInGEn GMBH<br />

Realisiert Auftragsmaßnahmen für die Arbeitsverwaltung,<br />

Integrationskurse und Programme des Europäischen<br />

Sozialfonds.<br />

BUSInESS&MAnAGEMEnT InSTITUT<br />

Maßgeschneiderte Trainings für Firmen und öffentliche<br />

Arbeitgeber, Bildungsbedarfsanalysen und Personalentwicklungskonzepte.<br />

Innovatives Konzept mit<br />

firmenübergreifender Führungskräftereihe.<br />

EUROPEAn lEARnInG SUPPORT AGEnCy GMBH<br />

Beratungs- und Bildungsmaßnahmen, auch in Zusammenarbeit<br />

mit internationalen Partnern, Personal- und<br />

Dozentenvermittlung, Vertrieb von lehr- und lernmitteln.<br />

DESIGn+KOMMUnIKATIOnS-AKADEMIE<br />

Berufsorientierte lehrgänge, die gezielt auf eine Ausbildung<br />

im Bereich Kultur und Design vorbereiten.<br />

BERUFSFACHSCHUlE FüR ERGOTHERAPIE<br />

Die Reutlinger ET-Schule bildet seit über 25 jahren<br />

mit herausragenden Ergebnissen beim Staatsexamen<br />

junge Ergotherapeuten aus. Sie ist die erste Schule<br />

bundesweit, die das höchste Qualitätszertifikat des<br />

Berufsverbandes erhalten hat.<br />

REUTlInGER GESUnDHEITS AKADEMIE<br />

Fortbildungen für Fachberufe im Gesundheitswesen<br />

(Pflegeberufe, Heilmittelberufe, Therapeuten, Ärzte).<br />

KOnTAKTSTEllE FRAU UnD BERUF<br />

Berät Frauen in allen Fragen der Beruflichen Bildung<br />

und zeigt Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Familie<br />

und Beruf auf.<br />

jUGEnDKUnSTSCHUlE<br />

über 2.000 Kinder und jugendliche in den Programmbereichen<br />

Kreativkarussell, Kinderwerkstatt, tänzerische<br />

Früherziehung und Ballett, bildhaftes/plastisches<br />

Gestalten, Foto und Film, Tanz, Theater, Zirkus und<br />

Musik.<br />

DR. RAInER MÄRKlIn STIFTUnG<br />

Fördert Projekte und nachwuchstalente der jugendkunstschule<br />

und der Musikschule.<br />

MUSIKSCHUlE<br />

In allen Sparten der E- und U-Musik verwirklichen<br />

über 2.000 Kinder, jugendliche und Erwachsene ihre<br />

musikalischen Wünsche auf den unterschiedlichsten<br />

Instrumenten. Wöchentlich mehr als 1.000 Unterrichtsstunden<br />

und über 250 Veranstaltungen pro jahr<br />

verdeutlichen die leistungsfähigkeit der Musikschule.<br />

STERnWARTE<br />

Sie ist durch ihre Verbindung von künstlichem und<br />

echtem Sternenhimmel unter einem Dach mit Planetarium<br />

und einem Observatorium landesweit einmalig.<br />

VOlKSHOCHSCHUlE<br />

Mit 2.600 Kursen pro jahr, 28.000 Kursteilnehmern und<br />

85.000 Unterrichtseinheiten ist sie die drittgrößte VHS<br />

in Baden-Württemberg nach Stuttgart und Mannheim.<br />

Sie löst damit jährlich über 300.000 Innenstadtbesuche<br />

aus. Zweig- und Außenstellen in 12 Stadtteilen und<br />

nachbargemeinden sorgen für kurze Wege und ein<br />

profiliertes Bildungsangebot auch vor Ort. In Qualität<br />

und Kundenorientierung belegt die VHS einen Spitzenplatz<br />

in der Region und bundesweit. Seit 1996<br />

ist sie als einer der ersten Bildungsträger nach DIn<br />

En ISO 9001:2000 zertifiziert. Sie ist akkreditiert als<br />

linux-Zentrum, CISCO-Academy und Microsoft-Schulungszentrum,<br />

ist Schulungs- und Prüfungszentrum für<br />

den Europäischen Computerführerschein ECDl und<br />

einziges Prüfungszentrum für Cambridge-Zertifikate im<br />

neckar-Alb-Kreis.<br />

ZEITEnSPIEGEl-REPORTAGESCHUlE<br />

GünTER DAHl<br />

Hat sich als einzige journalistenschule in Deutschland<br />

der journalistischen „Königsdisziplin“, der Reportage,<br />

verschrieben.


12 tAIjI<br />

den drachen anschauen<br />

mit taiji lernen, das ich bewusst wahrzunehmen<br />

AutorIn: jAdrAnkA kursAr<br />

FotoGrAFIn: AmrAI coen<br />

Alle Kursteilnehmer stehen in entspannter, gerader Körperhaltung mit leicht angewinkelten<br />

Knien auf dem Rasen im Garten des Heimatmuseums. Die Sonne scheint, während eine<br />

Gärtnerin die weißen Rosensträucher stutzt. „Achten Sie auf die Verbindung von oben und<br />

unten und drehen Sie die Hüfte nach rechts“, sagt Siegbert Allgaier zu seinen Schülern. „Schauen Sie<br />

den Drachen an.“ Die geschmeidigen Bewegungen des Taiji resultieren aus imaginären Bildern, die in<br />

einer bestimmten Abfolge von den Schülern geübt werden. „Der Drache ist das Himmelstier, das man<br />

sich im Geiste vorstellt, und der Drache ist die Verbindung zwischen Himmel und Erde in der chinesischen<br />

Mythologie“, sagt Allgaier. Wörtlich bedeutet Taiji „großer Balken“. Sinngemäß wird Taiji als<br />

ein Pfeiler interpretiert. Ein Pfeiler, der am unteren Ende tief in der Erde verankert ist, während am<br />

oberen Ende der Balken den Himmel wie ein Dach trägt. „Nach dem Taioismus mit Ying und Yang ist<br />

somit die Verbindung von Himmel und Erde maßgeblich“, sagt Allgaier.<br />

Allgaier unterrichtet seit sechzehn Jahren an der VHS <strong>Reutlingen</strong>. „Taiji ist wie Wasser, permanent<br />

in Bewegung“, sagt er. „Eine Meditation in Bewegung. Keine Kampfsportart“. Nicht immer gelingt es<br />

allen Schülern, die Bewegungen sanft zu vollführen. „Das Üben braucht seine Zeit“, weiß Allgaier, „in<br />

der westlichen Kultur haben wir eine große Distanz zu unserem Körper, und das führt letztendlich<br />

dazu, dass wir uns angespannt bewegen.“<br />

Kurz darauf zeigt der Meister seinen Volkshochschülern, wie man als Katze durch das Gras schleicht.<br />

Es sieht einfach aus, ist es aber nicht. „Man lernt erst mit den Jahren, wie sich Knie, Arme oder Schulter<br />

bewegen“, weiß Allgaier, „und mit der Zeit werden auch die Atmung und der Kreislauf unterstützt,<br />

der Trainierende kann vielleicht besser schlafen.“ Doch neben dem gesundheitlichen geht es vor allem<br />

um den gesamtheitlichen Aspekt, um das bewusste Wahrnehmen des eigenen Ichs.<br />

Mao Zedong, Chinas großer Revolutionär, sah genau darin eine Bedrohung. 1956 ließ er Qigong<br />

und alle Kampfkünste verbieten. Nur Taiji wurde als Volksgymnastik zugelassen, allerdings unter<br />

staatlicher Kontrolle, in einer abgewandelten Form mit wenigen Bildern. Doch mutige Taiji­Meister<br />

praktizierten den Yang­Stil heimlich weiter. So haben sich bis heute auch in China die 108 Bilderabfolgen<br />

erhalten.<br />

Die Taiji­Schüler der VHS <strong>Reutlingen</strong> stehen am Ende des Trainings wieder in entspannter Haltung<br />

da: „Nun schließen Sie das Tor und öffnen Sie ihre Augen“, sagt Allgaier. Die Schüler lachen gelöst.<br />

„Lachen“ sagt Allgaier, „ist der Schlüssel zum Glück.“<br />

<<br />

Oben / Siegbert Allgaier in Aktion.<br />

Rechts / Taiji im Garten des Heimatmuseums.


über den dächern Von reutLingen<br />

ein abend auf der Volkssternwarte<br />

Autoren: tAnjA krämer und phIlIpp jArke<br />

FotoGrAF: olIver reInhArdt


„Ich seh’ den Sternenhimmel . . .“<br />

– Blick durchs große Teleskop.


18 sternwArte<br />

Energisch stapft der kleine blonde Junge vier Stufen<br />

einer Metalltreppe hinauf. Dann beugt er sich leicht<br />

nach vorne, hält eine Hand vor das linke Auge und<br />

späht mit dem anderen in das Okular eines großen Teleskops.<br />

Nach einigen Sekunden wendet er sich strahlend seiner<br />

Mutter zu: „Guck mal, da ist was ganz Schönes!“ ruft er.<br />

„Ja“, sagt seine Mutter, „das ist der Saturn.“<br />

Es ist Samstagabend, kurz nach 21 Uhr. Mit dem letzten<br />

Tageslicht hat sich eine bunte Gruppe auf dem Dach der Ferdinand­von­Steinbeis­Schule<br />

in einer kleinen Kuppel versammelt:<br />

Kinder mit ihren Vätern und Müttern, Studenten,<br />

Rentner. Sie alle wollen heute nur eines: Sterne gucken auf<br />

der Volkssternwarte <strong>Reutlingen</strong>.<br />

Jedes Wochenende führen hier ehrenamtliche Astronomen<br />

in die Kunst der Sternenkunde ein. Einer von ihnen<br />

ist der Diplom­Geograph Dr. Frank­Martin Rapp. Während<br />

der begeisterte Junge jetzt die Metallstufen hinunter klettert,<br />

bittet Rapp den nächsten Interessierten an das Linsenteleskop.<br />

„Achten Sie einmal genau auf den Ring um den<br />

Saturn“, rät er dem älteren Herrn, „vielleicht erkennen Sie<br />

dann den Schatten, den die Sonne darauf wirft.“<br />

links / Unermessliches Universum.<br />

Das Teleskop wird anhand der Sternenzeit ausgerichtet.<br />

Rechts / Sternbilder werden in die Kuppel<br />

des Planetariums projiziert.<br />

Eng ist es in der kleinen Kuppel, die Besucher stehen dicht<br />

an dicht. Mit dunklen Holzleisten ausgekleidet, wölbt sich<br />

über ihnen das bewegliche Dach. Eine Luke gibt den Blick<br />

auf den Himmel frei. Erste Sterne funkeln in der Dämmerung.<br />

In der Mitte des Raumes thront massiv und schwer das<br />

große Teleskop, für kleinere Besucher wird die Metalltreppe<br />

hinzu geschoben. Der Reihe nach blicken alle Besucher einmal<br />

durchs Rohr auf die kleine graue Scheibe, die in Wirklichkeit<br />

der zweitgrößte Planet unseres Sonnensystems ist.<br />

In der Zwischenzeit erläutert Frank­Martin Rapp den Umgang<br />

mit dem Teleskop und die Besonderheiten des Saturn.<br />

Die Sterngucker sind fasziniert. „Das sieht aus wie im Schulbuch“,<br />

sagt eine ältere Dame.<br />

Solche Worte hört der Sternwärter gern. Für ihn und seine<br />

achtzehn ehrenamtlichen Kollegen ist die Begeisterung<br />

der Besucher die größte Belohnung. „Besonders schön ist<br />

es, wenn kleine Kinder zum ersten Mal durchs Teleskop<br />

schauen“, sagt Frank­Martin Rapp und blickt auf den kleinen<br />

blonden Jungen, der an der Hand seiner Mutter darauf<br />

wartet, wieder auf die Metalltreppe steigen zu dürfen. „Im<br />

Fernsehen schnappen viele nur Halbwissen auf “, weiß der<br />

Fachmann. „Kinder haben zum Beispiel häufig Angst vor<br />

Schwarzen Löchern, die sind ihnen unheimlich. Wir erklären<br />

ihnen, dass es dazu keinen Grund gibt.“<br />

Auf einem Regal an der Wand leuchten rot die Ziffern<br />

zweier Digitaluhren. Die eine zeigt die Uhrzeit an, die andere<br />

die Sternenzeit. Frank­Martin Rapp zeigt den verwunderten<br />

Gästen ein schmales Büchlein, eng bedruckt mit Tabellen<br />

und Zahlenkolonnen. „Anhand der Sternenzeit kann ich<br />

hier nachschauen, wie ich das Teleskop ausrichten muss, um<br />

zum Beispiel den Saturn zu finden“, erklärt er. Dann zeigt er<br />

die zwei großen Drehräder, mit denen das Teleskop in Position<br />

gebracht werden kann. Die Kinder schauen skeptisch<br />

drein.<br />

Dass Sterngucker gute Mathematikkenntnisse brauchen,<br />

wird erst jetzt so manchem klar. Rapp wirft einen Blick auf<br />

die Ziffern. Die Sternenuhr zeigt 12:45:16 – es ist langsam<br />

Zeit, nach draußen zu gehen. Die internationale Raumstation<br />

ISS wird erwartet. Wenige Minuten später stehen alle<br />

Besucher auf der Plattform, welche die Sternwarte umgibt,<br />

sie schauen gebannt nach Westen zu einem dunklen, schweren<br />

Wolkenturm. Da müsste sie gleich erscheinen, die ISS.<br />

Genau um 21:37 Uhr soll sie auf ihrer Umlaufbahn im Erdorbit<br />

über <strong>Reutlingen</strong> auftauchen. Aber sie taucht nicht auf.<br />

Die Besucher werden unruhig, wenden immer häufiger den<br />

Kopf zu Frank­Martin Rapp und seinem Kollegen, die angestrengt<br />

den Himmel absuchen. „Da“, ruft Rapp schließlich,<br />

„da ist sie!“ Er deutet auf einen winzigen hellen Punkt am<br />

Himmel, nicht größer als ein Stern. Aber ein Stern, der sich<br />

ziemlich schnell bewegt. Längst ist er auf der anderen Seite<br />

des Abendhimmels angekommen. Die Besucher drehen sich<br />

zu ihm um, einige suchen noch, als die ISS schon in den Wolken<br />

verschwunden ist. „Manchmal“, sagt der Sternwärter,<br />

„berichten mir Besucher auch von UFO­Sichtungen. Bislang<br />

konnten wir aber leider jedes Phänomen aufklären.“ Leider?<br />

„Naja, es ist eben nicht schön, den Menschen ihre Illusionen<br />

zu nehmen“, sagt er. „Aber bis jetzt sind vor unseren Teleskopen<br />

eben noch keine Außerirdischen aufgetaucht.“


20 sternwArte<br />

21<br />

„Im Grunde bestehen wir auch nur aus Sternenmaterie“:<br />

Astronom Frank-Martin Rapp erklärt einer Schulklasse die Umlaufbahnen.<br />

Doch für Enttäuschung bleibt keine Zeit. Längst ist Frank­<br />

Martin Rapp über eine Treppe hinab zur unteren Dachterrasse<br />

der Ferdinand­von­Steinbeis­Schule gegangen, um<br />

den Besuchern die nächste Attraktion zu zeigen: Das vielleicht<br />

kleinste Planetarium der Welt, das sich hinter einer<br />

unscheinbaren Tür hinter der Treppe versteckt. Ein leicht<br />

harziger Duft strömt den Besuchern entgegen, als sie sich einer<br />

nach dem anderen auf eine kreisrunde Bank setzen, über<br />

der sich eine helle Kuppel spannt. Rapp hat hinter einem<br />

Pult mit verwirrend vielen Hebeln und Schaltern Platz genommen.<br />

Es wird dunkel, sphärische Musik erklingt. Dann<br />

geht der Mond auf. Die Deichsel des Großen Wagens weist<br />

auf den funkelnden Polarstern. Am südlichen Firmament<br />

leuchtet der Saturn, später erscheint die Milchstraße.<br />

Nur knappe vier Meter misst das Firmament hier im<br />

Planetarium, an die Decke geworfen von einem schwarzen,<br />

stählernen Ungetüm, das einem Science­Fiction­Film der<br />

70er Jahre entsprungen sein könnte: dem Sternenprojektor.<br />

Die Kugel ist überzogen mit winzigen Löchern, durch die<br />

das Licht der Sterne an die Decke strahlt. Der Projektor<br />

surrt und brummt, während Frank­Martin Rapp die Nacht<br />

im Zeitraffer ablaufen lässt und die Sternbilder über den<br />

Köpfen der Besucher kreisen. Hin und wieder ruckelt es<br />

ein wenig – der Technik des Planetariums sind seine Jahre<br />

deutlich anzumerken. Dennoch ist es der ganze Stolz der<br />

Reutlinger Hobbyastronomen: „Wir sind die einzige Sternwarte<br />

in Baden­Württemberg mit eigenem Planetarium“,<br />

sagt Rapp.<br />

Nach der Show geht es noch einmal rauf zum Teleskop.<br />

Während die einen wieder den Saturn betrachten, suchen<br />

die anderen die Sternbilder, die ihnen eben im Planetarium<br />

erklärt wurden. Frank­Martin Rapp steht zwischen den Besuchern<br />

und lässt seinen Blick über den schwarzen Nachthimmel<br />

schweifen. Seit seiner Kindheit schwärmt er von<br />

den Sternen: „Es ist einfach faszinierend, sich mit etwas zu<br />

beschäftigen, auf das der Mensch keinen Einfluss hat“, sagt<br />

er und fügt hinzu: „Im Grunde bestehen wir auch nur aus<br />

Sternenmaterie.“ Dann geht Rapp wieder in die Sternwarte,<br />

um zu schauen, ob einer der Besucher noch etwas wissen<br />

will. Kurz vor 23 Uhr ist endgültig Schluss, die letzten Sterngucker<br />

gehen nach Hause.<br />

Im Abstellraum der Sternwarte brennt noch Licht. Zwischen<br />

kleineren Teleskopen, Sternenkarten und jeder Menge<br />

Büchern haben es sich einige der ehrenamtlichen Sternwärter<br />

gemütlich gemacht. Während Frank­Martin Rapp noch<br />

schnell das Planetarium abschließt, beginnen seine Kollegen<br />

bereits zu fachsimpeln. Die Nacht ist noch jung.<br />

<<br />

InFO<br />

Die Volkssternwarte <strong>Reutlingen</strong> wurde 1956<br />

ge gründet und thront auf dem Dach der Ferdinandvon-Steinbeis-Schule,<br />

mitten im Herzen der der Stadt.<br />

Jeden Samstag abend laden die 19 ehrenamtlichen<br />

Mitarbeiter die Besucher ein, die Welt der Sterne und<br />

Planeten zu erkunden. Mit einer Reihe von Teleskopen<br />

lassen sich die Himmelskörper bis zu 250fach vergrößern,<br />

und im Planetarium funkeln selbst bei schlechtem<br />

Wetter Tausende Sterne.<br />

Die Führungen dauern 60 bis 90 Minuten und kosten<br />

2,50 Euro, ermäßigt einen Euro weniger. Während der<br />

Schulferien und im Juli und August finden keine Führungen<br />

statt. Das aktuelle Programm der Sternwarte<br />

steht auf deren Internetseite.<br />

Für Schulklassen und Vereine bietet die Sternwarte<br />

Gruppenführungen an, Kinder können im Planetarium<br />

Geburtstag feiern.<br />

Kontakt:<br />

Sternwarte <strong>Reutlingen</strong><br />

Karlstr. 40<br />

72764 <strong>Reutlingen</strong><br />

Telefon: 0 71 21 / 33 61 22<br />

email: info@sternwarte-reutlingen.de<br />

Internet: www.sternwarte-reutlingen.de


22 dIe AnFänGe der volksBIldunG<br />

23<br />

„Wissen ist macht!“<br />

Von den a n f ä ngen der Vol k s- u nd a rbeiterbi ldu ng i n reut l i ngen<br />

zur modernen erwachsenen bildung heute<br />

Autor: wolFGAnG AlBer<br />

Wir wollen ein Volk von Denkern großziehen,<br />

welches durch Wissen und Arbeit auf den Höhen<br />

der Menschheit wandeln soll. So gewinnen,<br />

so bezwingen wir am besten die Welt. Wir haben ja nur Ketten<br />

zu verlieren, wenn wir in das Reich der Erkenntnis eindringen.<br />

Dazu, brauchen wir nur: Mehr Licht!“ Das schrieb Laura<br />

Schradin im Jahr 1909 in einem Aufsatz mit dem Titel „Wissen<br />

ist Macht!“ Mit der ursprünglich von Francis Bacon stammenden,<br />

später von Wilhelm Liebknecht verwendeten Parole<br />

skizzierte die erste SPD­Landtagsabgeordnete <strong>Reutlingen</strong>s<br />

zugleich die beiden großen Linien der Bildung im 19. und 20.<br />

Jahrhundert: zum einen Volksaufklärung und Volksbildung,<br />

zum anderen Arbeiterbildung.<br />

Die Volksaufklärung wollte pragmatisch­utilitaristisch<br />

oder auch humanistisch­philantropisch Licht in die düsteren<br />

sozialen Verhältnisse des Landvolkes und des „gemeinen<br />

Mannes“ bringen. Dafür stehen Namen wie Johann Bernhard<br />

Basedow, Heinrich Zschokke, Johann Heinrich Pestalozzi,<br />

Johann Heinrich Campe oder Adolph Diesterweg, dafür stehen<br />

volksaufklärerische Schriften, die um 1800 aufkommenden<br />

Lesegesellschaften sowie die in den 20er Jahren des 19.<br />

Jahrhunderts entstehenden bürgerlichen Bildungsvereine.<br />

Auch die allmählich sich entwickelnden Volksschulen sowie<br />

die Zucht­ und Armenhäuser hatten neben der „sittlichen<br />

Hebung“ die Vermittlung bürgerlicher Werte und disziplinierender<br />

Tugenden zum Inhalt. Volksbildung war kompensatorische<br />

Erziehung und Anleitung zur „Industriosität“, sie<br />

sollte Qualifikationen für die komplexer werdende Arbeitswelt<br />

vermitteln.<br />

Zugleich aber wollten bürgerliche Ideologen wie der<br />

preußische Pädagoge Georg Philipp Ludolph von Beckedorff<br />

die „naturgemäße Ungleichheit der Standesbildung“<br />

zementieren, indem sie ein wenig Teilhabe, aber letztlich<br />

keine Gleichheit einräumten. Selbst der Vater der Berufsschulen,<br />

Georg Michael Kerschensteiner, nach dem auch in<br />

<strong>Reutlingen</strong> eine Einrichtung benannt ist, propagierte zwar<br />

den Geist, aber eben auch den Untertanengeist: „Der Wert<br />

unserer Schulerziehung, soweit sie die großen Volksmassen<br />

genießen, beruht im wesentlichen weniger auf der Ausbildung<br />

des Gedankenkreises als vielmehr in der konsequenten<br />

Erziehung zu fleißiger, gewissenhafter, sauberer Arbeit,<br />

in der stetigen Gewöhnung zu unbedingtem Gehorsam und<br />

treuer Pflichterfüllung und in der autoritativen unablässigen<br />

Anleitung zum Ausüben der Dienstgefälligkeit.“<br />

Die zweite große Linie der Erwachsenenbildung, die Arbeiterbildung,<br />

nahm einen Slogan der bürgerlichen Aufklärung<br />

wörtlich: „Bildung macht frei.“ Ganz im Sinne des<br />

„Manifestes der Kommunistischen Partei“ von Karl Marx<br />

und Friedrich Engels von 1848, an das sich Laura Schradin<br />

anlehnte und dessen Aufforderung zur Revolution lautete:<br />

„Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten.<br />

Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder,<br />

vereinigt euch!“<br />

Bei der Befreiung der Arbeiterklasse sollte politische Organisation<br />

mit lernender Emanzipation einhergehen. Dafür<br />

sorgten Arbeiterbildungsvereine, die in ihren Anfängen vor<br />

allem von Handwerksgesellen getragen wurden und im Vormärz<br />

und in der Revolution 1848 ihre erste Gründungswelle<br />

hatten. In <strong>Reutlingen</strong>, das lässt sich im Ausstellungskatalog<br />

„Freiheit oder Tod. Die Reutlinger Pfingstversammlung und<br />

die Revolution von 1848/49“ aus dem Jahr 1998 nachlesen,<br />

trat bei der Volksversammlung vom 21. September 1848<br />

erstmals der vom Schustergesellen Georg Bauer angeführte<br />

„Arbeiterverein“ in Erscheinung. Er bestand aus rund 30<br />

Gesellen und Fabrikarbeitern, von denen einige 1849 in einer<br />

„Arbeiterkompagnie“ nach Baden zogen, um die revolutionären<br />

Errungenschaften zu verteidigen.<br />

In <strong>Reutlingen</strong> waren es zudem mutige Männer wie Gustav<br />

Heerbrandt, Carl Friedrich Schnitzer oder Friedrich Schradin,<br />

die mit der Herausgabe demokratischer Blätter wie dem<br />

„Reutlinger & Mezinger Courier“ (später „Reutlinger Courier“)<br />

oder dem „Reutlinger Volksblatt“ für demokratische<br />

Diskussionsforen sorgten, für Pressefreiheit und Freiheit der<br />

politischen Betätigung kämpften. Gustav Heerbrandt (1819­<br />

1896), der nach der Niederschlagung der Revolution verhaftet,<br />

auf den Hohenasperg gebracht und zur Emigration<br />

in die USA gezwungen wurde, war auch Mitbegründer der<br />

Reutlinger Turngemeinde von 1846 und des Löschvereins<br />

von 1847.<br />

Lernen im Vorwärtsgehen<br />

Neben der Notwendigkeit der organisatorischen Stärkung<br />

republikanischer Gedanken proklamierte Heerbrandt „Bildung<br />

sei unsere Losung“. 1846 gründete er mit Johannes<br />

Kurz, einem Neffen des Schriftstellers Hermann Kurz, den<br />

„Leseverein“, der eine Bibliothek für „Unbemittelte“ einrichtete.<br />

Auch hier gingen Politik und Bildung Hand in Hand,<br />

Mitglieder des Lesevereins organisierten etwa eine Sympathiekundgebung<br />

für die Märzgefallenen. Die Obrigkeit<br />

beobachtete die Vereine misstrauisch und verdächtigte sie,<br />

den Mitgliedern Grundsätze beizubringen, „welche geeignet<br />

sind, sie in politischer Hinsicht zu corrumpiren“, heißt es<br />

1847 im Bericht der Kreisregierung.<br />

Mit dem Scheitern der Revolution und dem restaurativen<br />

württembergischen Vereinsgesetz kam die frühe Erwachsenenbildungsarbeit<br />

bald wieder zum Erliegen. In <strong>Reutlingen</strong><br />

wurden 1849, unmittelbar nach der Generalversammlung<br />

der württembergischen Arbeitervereine, Arbeiterverein und<br />

Leseverein aufgelöst, der demokratische Volksverein wurde<br />

1852 verboten. Die Ideen indes lebten in Turn­ und Gesangvereinen<br />

als Tarnorganisationen fort.<br />

1862 wurde dann die Gewerbefreiheit eingeführt, der<br />

Staat erkannte die Notwendigkeit von Wirtschaftsförderung<br />

und „gewerblicher Bildung“. 1864 fiel das Vereinsverbot,<br />

eine zweite Gründungswelle von Bildungsvereinen setzte<br />

ein. In <strong>Reutlingen</strong> wurde am 10. Juli 1863 der „Arbeiterbildungsverein“<br />

gegründet, dessen Geschichte sich ausführlich<br />

in dem 1990 erschienenen, bis heute grundlegenden Buch<br />

von Paul Landmesser und Peter Päßler „Wir lernen im Vorwärtsgehen!<br />

Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung<br />

in <strong>Reutlingen</strong> 1844­1949“ nachlesen lässt.<br />

laura Schradin (1878-1937)<br />

Der Verein führte in seinen Stauten formale Paragraphen<br />

oder harmlose Zwecke wie Unterstützung durch eine Krankenkasse,<br />

Auszahlung von Reisegeld bei Wanderschaft sowie<br />

die Absicht auf, „den mehrstimmigen Gesang gesellschaftlicher<br />

Lieder zu veredeln“. Bald gab es aber Bildungsvorträge,<br />

so über Hermann Schultze­Delitzschs „Arbeiterkatechismus“,<br />

oder Unterricht „Im Rechtschreiben und Styl“; zudem<br />

wurde eine Bibliothek mit politischer und unterhaltender<br />

Literatur aufgebaut. Der Stempel des Vereins, der in den<br />

Jahren nach seiner Gründung zwischen 70 und 80 Mitglieder<br />

hatte, zeigte die verschlungenen Hände als Symbol der<br />

Arbeiterverbrüderung. Bei großen Feiern hing im Saal ein<br />

Transparent mit der Aufschrift „Arbeit bringt Segen – Bildung<br />

macht frei – Einigkeit macht stark“. Der Verein wurde<br />

von bürgerlicher Seite angefeindet, die Arbeiter wurden als<br />

Faulenzer denunziert; zudem fehlte es an Räumlichkeiten<br />

für die Bildungsarbeit.<br />

Das VoLk zu eigenem<br />

urteiL erziehen<br />

Einigkeit aber machte stark, und zur Stärkung der Arbeiterklasse<br />

wollte August Bebel beitragen, der auf Einladung<br />

des Arbeiterbildungsvereins am 18. November 1869 im Saal<br />

des Gasthofs „Zum Bad“ über die „Wichtigkeit der sozialen<br />

Bewegung der Arbeitswelt“ sprach. Allmählich vollzog sich<br />

der Schritt von der Arbeiterbildung zur Arbeiterpolitik, von<br />

kleinen Vereinen zu großen Organisationen, und auch der<br />

Reutlinger Arbeiterbildungsverein orientierte sich an der<br />

1869 konstituierten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.


24 dIe AnFänGe der volksBIldunG<br />

25<br />

Emil Gminder (1873-1963)<br />

Später bauten Sozialdemokratie und Gewerkschaften eigene<br />

Bildungseinrichtungen wie „Marxistische Arbeiterschule“<br />

oder „Volks­Unterrichtskurse“ auf, die in <strong>Reutlingen</strong> ebenfalls<br />

angeboten wurden.<br />

Mit den Sozialistengesetzen begann eine weitere Phase<br />

der Illegalität, die Parteiarbeit wurde wiederum in geselligen<br />

Vereinen fortgeführt, wie dem 1881 in <strong>Reutlingen</strong> aus<br />

einem Schreinerfachverein hervorgegangene „Gesangverein<br />

Frohsinn“. Der Reutlinger Arbeiterbildungsverein verbürgerlichte<br />

zusehend und verlor schließlich sein politisches<br />

Profil; wie andere lokale Vereine, schloss er Sozialsten aus.<br />

1919 vereinigte sich sein „Dramaturgischer Klub“ mit dem<br />

Gesangverein „Frohsinn“. Auch wenn sich in Annoncen aus<br />

jener Zeit noch das Signum Arbeiterbildungsverein findet,<br />

statt klassenkämpferischer Bildung wurde nun vor allem<br />

unterhaltsames Theater geboten; 1928 ging daraus das heutige<br />

Naturtheater <strong>Reutlingen</strong> hervor. Die Arbeiterbewegung<br />

führte ihre eigenen Bildungseinrichtungen weiter, hinzu kamen<br />

Gesang­, Sport­ und Wandervereine, in denen ebenfalls<br />

Geselligkeit gepflegt wurde.<br />

Zugleich wandte sich das Bürgertum verstärkt der Erwachsenenbildung<br />

zu. Am 16. März 1918 gründete der Textilfabrikant<br />

Emil Gminder mit anderen Reutlinger Honoratioren<br />

den Volksbildungsverein, dem er bis 1936 vorstand.<br />

Mit dem Verein und dem Umbau der Spitalkirche zum 1922<br />

eingeweihten Volksbildungshaus legte Gminder den Grundstein<br />

für die heutige <strong>Volkshochschule</strong>. Er war gewiss ein<br />

traditionalistisch­paternalistischer Unternehmer, und mit<br />

guter Ausbildung für Fachkräfte ging es ihm durchaus um<br />

wirtschaftliche Interessen. Aber zugleich sah er die politi­<br />

sche Notwendigkeit, den Staat zu modernisieren, Klassengegensätze<br />

abzubauen, um so revolutionären Bestrebungen<br />

vorzubeugen.<br />

Die Familie Gminder hatte bereits durch den Bau der Arbeitersiedlung<br />

Gmindersdorf einen Beitrag zur Verbesserung<br />

der sozialen Lage der Arbeiter in <strong>Reutlingen</strong> geleistet, und<br />

Emil Gminders Bildungsbestrebungen zeigten jene philantropischen<br />

und pragmatischen Züge, welche der bürgerlichen<br />

Volksbildung seit Anfang innewohnten. Sie versprach dem<br />

Proletariat Aufstiegschancen und verfolgte so die Integration<br />

der Arbeiterklasse in den bürgerlichen Staat – Reform statt<br />

Revolution. In seiner Absichtserklärung zur Gründung des<br />

Volksbildungsvereins schrieb Gminder 1917: „Wenn wir nach<br />

dieser Richtung mit Erfolg wirken, helfen wir, enorme wirtschaftliche<br />

Werte zu schaffen und zu erhalten, wir werden das<br />

Volk mehr und mehr zu einem eigenen Urteil erziehen, als das<br />

bisher leider der Fall war und wir werden auch indirekt an der<br />

moralischen Hebung unseres Volkes arbeiten.“<br />

Hermann Bausinger schreibt in seinem Essay „Bildung<br />

macht frei“ in der Festschrift zum 75­jährigen Bestehen<br />

des Vereins für Volksbildung, dass der Begriff Volksbildung<br />

einem nach dem Ersten Weltkrieg aufkommenden neuen<br />

Harmoniebedürfnis entsprach: „Die äußere und innere Not<br />

schien eine Trennung nach Klassen nicht länger zu erlauben.<br />

Was sich schon im Krieg selbst angebahnt hatte: die Überwindung<br />

von Klassenschranken durch nationale Loyalität<br />

– das schien den Wortführern der neuen pädagogischen Bewegung<br />

auch das für die Bewältigung der Nachkriegsprobleme<br />

geeignete Prinzip.“<br />

Fit Für Den konkurrenzkampF<br />

Freilich zeigte die Folgezeit, darauf weist Uwe Loewer in seinem<br />

Beitrag „Von der Volksbildung zur Weiterbildung“ in<br />

eben dieser Festschrift hin, dass Gminders programmatisch<br />

und didaktisch moderner Ansatz bald konterkariert, anstelle<br />

eines praxisorientierten ganzheitlichen Lernkonzepts für<br />

untere Schichten eher eine akademische Orientierung verfolgt<br />

wurde – „Bildung des Volkes anstatt Volksbildung“. Zugleich<br />

gab es eine Tendenz zur Vermittlung der Volks(tums)<br />

ideologie. Und so konnte der Volksbildungsverein mehr<br />

oder weniger nahtlos in die „NS­Gemeinschaft Kraft durch<br />

Freude“ überführt werden.<br />

Die Neugründung des Vereins für Volksbildung 1946, der<br />

Wandel der Fort­ und Weiterbildung, die Erfolgsgeschichte<br />

der Reutlinger <strong>Volkshochschule</strong>, die Wiederaufbau­ und Entwicklungsleistung<br />

der verdienstvollen Vorsitzenden nach Emil<br />

Gminder, Oskar Kalbfell (1946­1975) und Gerhard Noller<br />

Die Mitglieder des Reutlinger Arbeiterbildungsvereins.<br />

(1975­1992), der Weitblick der Geschäftsführer Hans Wilhelm<br />

Zeller (1946­1970) und Hans Haußmann (1970­1992), welche<br />

die VHS angebotsorientiert den Erfordernissen des Bildungsmarktes<br />

anpassten, ist in den Festschriften des Vereins und im<br />

Buch zum Abschied von Hans Haußmann hinreichend beschrieben<br />

worden.<br />

Hier soll nur auf die Zäsur eingegangen werden, die mit der<br />

Umwandlung von <strong>Volkshochschule</strong> und Musikschule in zwei<br />

Gesellschaften mit beschränkter Haftung eintrat. Der Verein<br />

für Volksbildung aber besteht bis heute und ist seit 1994<br />

alleiniger Gesellschafter, zudem unterhält er Einrichtungen<br />

vom Abendgymnasium bis zur Kontaktstelle Frau und Beruf,<br />

von der Sternwarte bis zur Design­ und Kommunikations­<br />

Akademie, ist Mitbegründer der Dr. Rainer Märklin Stiftung.<br />

Märklin ist seit 1992 Vorsitzender des Vereins für Volksbildung,<br />

als Geschäftsführer der <strong>Volkshochschule</strong> fungiert seit<br />

1998 Dr. Ulrich Bausch. Beide haben mit den Aufsichtsgremien,<br />

in denen auch die Stadt vertreten ist, die VHS fit gemacht<br />

für den sich verschärfenden Konkurrenzdruck. Und obgleich<br />

die Fort­ und Weiterbildung auf einem immer härter umkämpften<br />

Bildungsmarkt und angesichts immer rascher sich<br />

wandelnder Leistungsanforderungen in einer globalisierten<br />

Welt reagieren muss, wurde schon unter Haußmann und wird<br />

bis heute unter Bausch politische Bildung weiter gepflegt.<br />

Beide verstanden und verstehen sich als fachliche Bildungsmanager<br />

und politische Köpfe, die den gesellschaftlichen Diskurs<br />

vorantreiben. Mit zahlreichen Veranstaltungen haben sie<br />

meinungsbildend in der Stadt gewirkt.<br />

Bausch hielt 2001 bei der Mitgliederversammlung des Vereins<br />

für Volksbildung einen Vortrag über „Weiterbildung<br />

zwischen öffentlichen Auftrag und Kommerzialisierung“.<br />

Darin bezeichnet er öffentlich verantwortete und finanzierte<br />

Bildung als „zwingende Funktionsvoraussetzung für<br />

den demokratischen und sozialen Industriestaat“. Steigende<br />

Bildungsanforderungen machten steigende, nicht sinkende<br />

öffentliche Ausgaben notwendig. Damit steht Bausch in der<br />

Tradition der Volks­ und Arbeiterbildung. Es geht heute bei<br />

einer zunehmenden Ökonomisierung unseres Lebens und<br />

der Reduktion des Menschen auf ein Konsumwesen um<br />

mehr als reine Qualifikationsvermittlung für den Arbeitsmarkt.<br />

Es geht um Bildung als emanzipatorischen Anspruch<br />

und politisches Postulat. Und dem widerspricht auch nicht<br />

der empirische Befund, dass die Deutschen im Unterschied<br />

etwa zu den Skandinaviern Fortbildungsmuffel seien.<br />

Denn hier liegt eine dauerhafte Aufgabe der <strong>Volkshochschule</strong>:<br />

In einer weiter alternden Gesellschaft ist lebenslanges<br />

Lernen für den Staat und seine Bürger eine schlichte Notwendigkeit.<br />

Oder um es mit den Worten von Laura Schradin<br />

zu sagen, die vor über hundert Jahren voraussah: „Und wir<br />

müssen lernen. Müssen es um so mehr, weil gerade unsere<br />

Zeit große Forderungen an die Menschheit stellt. Erkenntnis<br />

sammeln bedeutet Macht!! Nicht bloß für den einzelnen,<br />

sondern erst recht für die Nationen. Nur diejenige Nation<br />

wird an der Spitze der Völker marschieren, welche darnach<br />

strebt, geistig regsame, denkende, statt gläubige, erkennende<br />

Menschen zu erziehen.“<br />

<<br />

Abdruck der Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des<br />

Heimatmuseums <strong>Reutlingen</strong>.


26 Im Gespräch<br />

27<br />

„das gerede Von der LeistungseLite<br />

soLL doch nur priViLegien absichern“<br />

ein gespräch mit dem soziologen prof. michael hartmann<br />

Autor: Arno luIk<br />

FotoGrAF: volker hInz<br />

Wer klug und fleißig ist, schafft es nach oben. Das ist ein Märchen.<br />

Es ist die Gnade der richtigen Geburt, die eine Spitzenposition in der<br />

Wirtschaft garantiert. Zum Manager wird man geboren. Vier von fünf<br />

Chefs der 100 größten deutschen Unternehmen stammen aus den oberen<br />

drei Prozent der Bevölkerung, dem Großbürgertum. nur ein Vorstandsvorsitzender<br />

aus den DAX-30-Unternehmen ist ein Arbeiterkind.<br />

Deutschland im Jahre 2008 – von wegen Gleichheit und Gerechtigkeit,<br />

von wegen Chancengleichheit.<br />

Karriere machen Kinder aus der Oberschicht und sonst fast niemand –<br />

sagt Michael Hartmann. Er ist Professor für Soziologie an Technischen<br />

Universität Darmstadt. Seit vielen Jahren beschäftigt sich der 56-Jährige<br />

mit einem Thema, das hierzulande in der Forschung tabuisiert ist:<br />

Den Reichen. Dem Führungspersonal der Bundesrepublik. Der Elite und<br />

ihren Leistungen.<br />

Hartmann kennt dieses Milieu von Kindesbeinen an, er kennt jene, die<br />

Macht haben und sie behalten wollen, er weiß, wie sie ticken: „Mein Vater<br />

war Finanzchef des Erzbistums Paderborn. Am Abendbrottisch ging<br />

es bei uns um Millionäre, die keine Kirchensteuer zahlen wollten, aber<br />

sich Sorgen machten um die angemessene christliche Beerdigung.“<br />

Tausende von Lebens- und Berufsverläufen, das System privater Schulen<br />

und privater Universitäten hat er fakten versessen für seine Bücher<br />

(etwa: „Der Mythos von Leistungseliten“, „Eliten und Macht in Europa“)<br />

seziert und analysiert. Für ihn ist das herrschende, vor allem das für<br />

die Zukunft geplante Bildungssystem, ein sorgsam konstruiertes System,<br />

das dafür sorgt, dass „die deutsche Elite ein geschlossener Kreis“<br />

bleibt, der seinen nachwuchs vor allem „im Großbürgertum sucht“.<br />

Für den Darmstädter Wissenschaftler ist das in der Politik und den Medien<br />

um sich greifende „Gerede von Elite“ nur ein ideologisches Mittel,<br />

um Privilegien abzusichern. Im Übrigen sei das auch ein Grund,<br />

weshalb bei uns so hartnäckig und gegen besseres Wissen am dreigliedrigen<br />

Schulsystem festgehalten wird: „Dieses Schulsystem sorgt<br />

dafür, dass über die Hälfte der Kinder, fast 60 Prozent, aus dem Kampf<br />

um ein Studium und relativ gute Arbeitsplätze<br />

herausfällt.“<br />

So ungerecht findet Hartmann die Zustände,<br />

dass er in seinem letzten Buch<br />

für einen deutschen Professor ungewöhnlich<br />

klare Worte findet. nein, der<br />

Wissenschaftler ruft nicht zur Revolte<br />

auf, das nicht. Aber wer ein gerechteres<br />

Land haben möchte, ein Land, in dem die<br />

Kluft zwischen Arm und Reich nicht immer<br />

größer wird, der, so Hartmann, müsse<br />

sich schon im Widerstand üben: „nur<br />

wenn die Verlierer sich wehren, beginnt<br />

vielleicht bei den Eliten ein Umdenken.“<br />

Deutschland stehe nun an einem Scheideweg,<br />

so Michael Hartmann im Gespräch<br />

mit Arno Luik, letztendlich gehe<br />

es um die Frage, in was für einem Land<br />

wollen wir eigentlich leben? Hartmann:<br />

„Unser Kurs, das zeigt auch der Armutsbericht<br />

der Bundesregierung, ist im Moment<br />

klar: hin zu mehr Ungerechtigkeit.<br />

Aber da muss man sich dann eingestehen,<br />

was das bedeutet: mehr Gewalt,<br />

mehr Kriminalität.“<br />

„Eindeutiger Trend zu mehr Ungerechtigkeit“:<br />

Michael Hartmann mit „Stern“-Autor Arno luik (links).


28 Im Gespräch<br />

29<br />

Arno luik im Gespräch mit Michael Hartmann:<br />

Herr Hartmann, es ruft die Kanzlerin Angela Merkel, es ruft der SPD-Chef<br />

Kurt Beck, und es ruft Herr Stoiber, sie alle rufen: „Bildung!“ Mehr Bildung!<br />

Wir brauchen mehr Bildung!“ Sie sagen, nur wer klug ist, hat eine Chance,<br />

kann es schaffen, kommt nach oben.<br />

Ja, ja, sie rufen, das stimmt schon, und es macht sich auch gut als Schlagzeile. Aber<br />

es sind Sonntagssprüche. Wenn es ihnen wirklich ernst wäre, dann müssten sie<br />

sich als Erstes fragen: Was sind uns die Schulen, die Universitäten wirklich wert?<br />

Dann müssten sie sofort aufhören, den Bildungsbereich weiter auszuquetschen.<br />

Schulgebäude, Universitäten zerfallen. In den letzten zehn Jahren wurden fast 1500<br />

Professorenstellen eingespart, bei den Geisteswissenschaften fielen über zehn Prozent<br />

weg, manche Fächer werden regelrecht ausgelöscht.<br />

Sie sind wütend.<br />

Nein, aber die Politik macht doch das Gegenteil von dem, was sie lautstark verkündet.<br />

Nehmen Sie die jetzt beschlossene Steuerreform für Unternehmen, sie wird<br />

fünf bis zehn Milliarden kosten: Geld, das auch für die Bildung fehlt. Wir müssen<br />

aber – sofort – mehr in die frühkindliche Bildung investieren, das dreigliedrige<br />

Schulsystem muss abgeschafft werden. Es ist historisch überholt, ist aber eine heilige<br />

Kuh, die sich niemand zu schlachten traut. Doch diese Strukturen aus den<br />

50er Jahren des vorigen Jahrhunderts sorgen dafür, dass immer mehr Leute auf der<br />

Strecke bleiben.<br />

Der gerade erschienene OECD-Bericht gibt Deutschland – wieder einmal –<br />

fürchterlich schlechte Noten in Sachen Bildung.<br />

Und das zu Recht. Die anderen Ländern stecken einfach viel mehr Geld in ihr<br />

Bildungssystem. Bei uns wird gespart, gespart. Fast alles, was an den Schulen, den<br />

Hochschulen im Moment passiert, von der Einführung der Studiengebühren bis<br />

hin zu diesen sogenannten Elite­Universitäten – das führt nicht zu mehr und besseren<br />

Studenten. Fast alles läuft darauf hinaus, dass die Bildung, wie die Gesellschaft<br />

im Allgemeinen, immer mehr auseinanderreißt.<br />

„Bildung ist Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist<br />

Bildung“ – das ist ein Motto der SPD.<br />

Das ist ja nicht falsch. Aber in ihrem Grundsatzprogramm hat sich die SPD von<br />

der Verteilungsgerechtigkeit verabschiedet, doch die ist aufs Engste mit der<br />

Chancengleichheit verbunden. Im Klartext: Kinder, die in Familien aufwachsen,<br />

die Hartz IV bekommen oder seit zwei Generationen nicht mehr regelmäßig<br />

beschäftigt sind, haben so gut wie keine Chancen, sie sind die geborenen<br />

Verlierer.<br />

Die Zahlen sind erschreckend: 85 000 Jugendliche verlassen<br />

jährlich die Schulen ohne Abschluss.<br />

Dem muss sich die Gesellschaft endlich ernsthaft stellen: Ein Viertel aller 15­Jährigen<br />

kann nicht richtig lesen oder schreiben. 15 Prozent eines Jahrgangs werden<br />

komplett abgehängt, sind ohne Perspektive.<br />

Keine Gesellschaft hält so etwas auf die Dauer<br />

aus. Aber diese Jugendliche sind nicht einfach<br />

dumm.<br />

Wirklich nicht?<br />

Nein, es sind die Strukturen, die sie aus der<br />

Gesellschaft katapultieren.<br />

Der Soziologe Ralf Dahrendorf würde Ihnen da<br />

vehement widersprechen. Er sagt: Der Einzelne<br />

ist nicht mehr das, als was er geboren ist oder<br />

was er besitzt, sondern nur noch, was er kann.<br />

Das ist ein Unsinn, ein Mythos, der bewusst am<br />

Leben gehalten wird. Es stimmt einfach nicht,<br />

dass nur der Wille bestimmt, wer nach oben<br />

kommt.<br />

Wie? Es ist die Gnade der Geburt, ob ich ein<br />

Unternehmenschef werde oder ...<br />

Ja. Wir sind keine Fahrstuhlgesellschaft, in der<br />

es für die meisten nach oben geht, wie es in den<br />

80ern des vergangenen Jahrhunderts manchmal<br />

noch hieß. Zum Manager wird man geboren.<br />

Vier von fünf Managern der 100 größten<br />

Unternehmen stammen aus den oberen drei<br />

Prozent der Bevölkerung, dem Großbürgertum,<br />

nur ein Chef aus den DAX­30­Unternehmen<br />

ist ein Arbeiterkind. Bei den meisten anderen<br />

Vorstandschefs waren die Eltern Unternehmer,<br />

Manager, hohe Beamte oder Adel. Man kennt<br />

sich. Das ist eine wirklich geschlossene Gesellschaft.<br />

Der kürzlich an einer Überdosis Heroin verstorbene<br />

Gottfried Graf von Bismarck hat in<br />

Oxford studiert, hatte schlechte Noten, und er<br />

sagte: „Wenn ich mich um einen Job bewerbe<br />

und auf der Liste steht Meier, Müller, Schmidt<br />

oder von Bismarck, bin ich ziemlich sicher,<br />

dass ich den Job bekomme.“<br />

Natürlich. Denn jeder Chef denkt: Der tickt<br />

wie ich. Der ist dem gleichen Wertesystem<br />

verbunden. Der weiß, wie man sich richtig bewegt,<br />

kann über Opern plaudern, kann Regeln<br />

bewusst oder ironisch verletzen, er hat den<br />

richtigen Habitus, die Aura: Ich gehöre dazu.<br />

Er strahlt Souveränität aus.<br />

„es macht ja schon einen unterschieD,<br />

ob sie es aLs arbeiterkinD zum stuDienrat<br />

schaFFen oDer ob sie aLs sohn eines<br />

amtsrichters auch stuDieren können.“<br />

Das kann man doch alles lernen.<br />

Nein.<br />

In Bernard Shaws Komödie „Pygmalion“ bringt der Sprachforscher Professor<br />

Higgins dem Blumenmädchen Eliza Doolittle Oxford-Englisch bei, damit sie als<br />

Herzogin auftreten kann. Und sie kann es.<br />

Es mag mal klappen. Aber wie man sich Oben bewegt, wie man mit Macht richtig<br />

umgeht, das lernt man nur, wenn man in diesem Milieu aufgewachsen ist. Mein<br />

Vater war Finanzchef des Bistums Paderborn. Bei uns am Abendbrottisch ging es<br />

um die Auseinandersetzungen im Erzbistum, um Prälat, Generalvikar, Kardinal.<br />

Um Millionäre im Ruhrgebiet, die keine Kirchensteuern zahlen wollten, aber sich<br />

Sorgen machten um die angemessene kirchliche Beerdigung. Ich habe von Kindesbeinen<br />

an ganz automatisch mitbekommen, was Macht bedeutdet, wie die oberste<br />

Schicht tickt, wie man sich da bewegt.<br />

Und Sie meinen tatsächlich, das ließe sich<br />

nicht anlernen?<br />

Nein. Das ist auch der Grund, weshalb persönliche Auswahlgespräche bei den Universitäten<br />

verstärkt in Mode kommen. So findet, unabhängig von den Noten, eine<br />

gezielte soziale Selektion statt. Bei so einem Aufnahmegespräch an der ENA, einer<br />

Elite­Universität in Frankreich, war eine Frage: Wie tief ist die Donau in Wien?<br />

Die brillanteste Antwort kam von einem Bewerber, dessen Vater schon an der ENA<br />

war: „Unter welcher Brücke meinen Sie denn?“ Er wußte natürlich nicht, wie tief<br />

die Donau ist, redete aber selbstbewusst los. So etwas macht Eindruck.<br />

Ich würde sagen: Das ist eine Schlagfertigkeit,<br />

die man sich antrainieren kann.<br />

Nein. Eine Sicherheit. Ein Arbeiterkind gerät in so einer Situation, in der es ums<br />

Ganze geht, in Panik. Verzweifelt versucht es zu ergründen, wie tief die Donau ist,<br />

oder es schweigt, was der schlimmste Fehler ist.<br />

Klaus Kleinfeld, ein Arbeiterkind<br />

aus Bremen, hat es zum Vorstandschef<br />

von Siemens gebracht.<br />

Ja, es gibt immer die Ausnahme. Es gab auch Jürgen Schrempp, der von ganz unten<br />

kam. Aber als er gehen musste, lachte man bei der Deutschen Bank in Frankfurt<br />

diabolisch auf: Endlich war er weg, der Parvenü. Er war ihnen zu laut, zu wenig<br />

distinguiert. Aufsteiger bekommen oft Chancen in Umbruchzeiten, wenn Umstrukturierungen<br />

anstehen. Sie sind in der Regel die Härteren. Kleinfeld kam zu<br />

Siemens als Kostenkiller, um Mitarbeiter zu entlassen, nun geht er zur amerikanischen<br />

Firma Alcoa, da wird von ihm das gleiche erwartet. Kleinfeld bestätigt meine<br />

These, dass Habitus, Souveranität letztendlich oft wichtiger sind als Bildung.<br />

Aber er hatte doch Erfolg!<br />

Nein, als er wirklich gefordert war, versagte er.<br />

Kleinfeld hat gelernt, Kosten zu sparen, darauf<br />

war er getrimmt. Betriebswirtschaft – das kann<br />

er. Aber als er mit dem Korruptionsskandal bei<br />

Siemens konfrontiert war, war er überfordert.<br />

Wenn man ihn im Fernsehen sah, tat er einem<br />

fast leid: Er war fahrig, unsicher, hatte überhaupt<br />

keine Vorstellung, wie er mit dieser politischen<br />

Frage umgehen sollte. Er musste gehen.<br />

Es ist düster, was Sie sagen: Es heißt doch, egal<br />

wie ich mich mühe, ich habe keine Chance.<br />

Nein. Es gibt ja nicht nur Armut und Reichtum,<br />

es gibt ja – noch – ein breites Mittelfeld.<br />

Es macht ja schon einen Unterschied, ob Sie es<br />

als Arbeiterkind zum Studienrat schaffen oder<br />

ob Sie als Sohn eines Amtsrichters auch studieren<br />

können und danach einen ordentlichen Job<br />

bekommen. Aber der Kampf um die Plätze in<br />

Sicherheit wird härter. Ein Zeichen, dass die<br />

Zeiten härter werden, ist auch, dass nun bei<br />

uns ganz offensiv über Elite und Eliteuniversitäten<br />

geredet wird.<br />

Es war unter Rot-Grün, es war der sozialdemokratische<br />

Kanzler Gerhard Schröder, Kind<br />

einer Putzfrau und eines Hilfsarbeiters, der<br />

nach Elite-Universiäten rief.<br />

Ja. Es ist eine bittere Ironie: Ohne die Bildungsoffensive<br />

der 60er und 70er Jahre des vorigen<br />

Jahrhunderts, als der Staat wirklich mal Geld in<br />

die Ausbildung seiner Bürger steckte, hätte er<br />

seinen Aufstieg nie geschafft. Aber es gibt immer<br />

viele Aufsteiger, die vergessen, woher sie<br />

kommen. Sie sichern nun ihre Privilegien ab.<br />

Das ist ein Grund, weshalb bei uns so hartnäckig,<br />

so erbittert und gegen bessere Wissen am<br />

dreigliedrigen Schulsystem festgehalten wird.<br />

Das ist doch ein bißchen primitiv gedacht.<br />

Nein, überhaupt nicht. Dieses Schulsystem<br />

sorgt dafür, dass über die Hälfte der Kinder,<br />

fast 60 Prozent, aus dem Kampf um ein Studium<br />

und relativ gute Arbeitsplätze herausfällt.<br />

Da wird ganz früh, viel zu früh sortiert. Man<br />

bemäntelt das, behauptet stattdessen, dass Gesamtschulen...


30 Im Gespräch<br />

31<br />

Für Kanzlerin Merkel sind<br />

sie „sozialistische Gleichmacherei“.<br />

..., wo Gute und Schlechte zusammen sind, die Schlechten das Niveau nach unten<br />

ziehen. Keine wissenschaftliche Untersuchung bestätigt dies. In Skandinavien zeigt<br />

sich dagegen, dass auch die Guten profitieren. Nein, es geht einfach um die Frage:<br />

Ist man bereit, mehr Geld in die Ausbildung zu stecken? Ist man bereit, mehr Lehrer,<br />

Pädagogen, Professoren einzustellen? Ist man bereit, dass die Bildungschancen<br />

gerechter verteilt werden? Darum geht es.<br />

Beim Verband der Deutschen Industrie BDI heißt es ganz kategorisch:<br />

„Ohne Elitenförderung ist Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig!“<br />

Und die Ministerin Buhlman ergänzt: „Wir brauchen eine Leistungselite.“<br />

Das ist ein Schlagwort. Es soll rechtfertigen, dass ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung<br />

viel bessere Bedingungen bekommt als der Rest.<br />

Wissen Sie wie der Duden „Elite“ definiert?<br />

Nein.<br />

Als „Auslese der Besten“.<br />

Das ist eine Definition, die nichts mit unserer Wirklichkeit zu tun hat. Ich habe mir<br />

gerade in einer Studie...<br />

Sie ist soeben unter dem Titel „Eliten und Macht<br />

in Europa“ erschienen.<br />

... Frankreich, Großbritannien, also Länder mit Elite­Einrichtungen untersucht,<br />

auch die USA angeschaut: Es gibt definitiv keinen Zusammenhang zwischen dem<br />

wirtschaftlichem Erfolg eines Landes und seinen elitären Bildungseinrichtungen.<br />

Was es allerdings eindeutig gibt: Je exklusiver und teurer die Eliteeinrichtungen<br />

sind, desto größer sind die sozialen Unterschiede, desto aggressiver sind auch die<br />

Lebensbedingungen, desto rauer der Alltag. In Großbritannien, in den USA ist<br />

jeder Fünfte arm. In Skandinavien jeder Zehnte. Die Wahrscheinlichkeit, in Großbritannien<br />

oder in den USA überfallen, ausgeraubt oder ermordet zu werden, ist<br />

um ein Vielfaches höher als in den skandinavischen Ländern. Und wir sind eindeutig<br />

auf dem Weg zum rauen, zum amerikanischen Modell.<br />

Hilft Bildung denn gegen Raubüberfälle?<br />

Bildung allein sicherlich nicht. Aber Sie müssen sehen, dass sich der Sozialstaat in<br />

seinen Kernbereichen auflöst, in der Steuerpolitik, im Bildungsbereich. Deutschland<br />

polarisiert sich dramatisch: unendlicher Reichtum auf der einen Seite, zunehmende<br />

Armut auf der anderen. Hoffnungslosigkeit. Aggressionen. Den Armen<br />

kennt man. Es gab ja neulich eine Unterschichtendiskussion, das gleiche müsste<br />

man auch über die Reichen machen.<br />

Sie sind Soziologe – machen Sie es.<br />

Der Reiche bleibt unerkannt. Geld ist scheu. Man macht sich unbeliebt, wenn man<br />

die Reichen untersuchen will. Wir haben über 100 Milliardäre, so viele wie Großbritannien,<br />

Frankreich, Italien und Spanien zusammen. Die Reichen leben in einer<br />

anderen Welt. Es hat sich eine kleine Schicht von Personen herausgebildet, die<br />

immer weniger mit dem Rest der Gesellschaft<br />

zu tun hat. Sie auch kaum mehr wahrnimmt.<br />

Utz Claasen, der entlassene Vorstandschef von<br />

EnBW, er ist gerade mal 44 Jahre alt, bekommt<br />

für die vier Jahre die er bei EnBW gearbeitet<br />

hat, bis zu seinem Rentenalter ein Übergangsgeld<br />

von 400.000 Euro jährlich, danach als Pension<br />

diesselbe Summe bis zum Tode.<br />

Er hat im letzten Jahr ein Buch veröffentlicht:<br />

„Mut zur Wahrheit“.<br />

Ja, und darin verkündet er, Deutschland lebe<br />

seit Jahren über seine Verhältnisse.<br />

Er spricht aber nicht von sich.<br />

Nein, wie zynisch sein Buch ist, merkt er gar<br />

nicht. Er sieht nur sich und seine Gruppe – die<br />

Ackermanns, die Kleinfelds. Neulich wurden<br />

am selben Tag zwei Zahlen bekannt: Die Dax­<br />

30­Vorstandsmitglieder verdienen im Schnitt –<br />

ohne Sondervergütungen – 3,4 Millionen Euro.<br />

1,9 Millionen Kinder in Deutschland leben in<br />

Armut. Hinter den Zahlen heißt das: Hunger.<br />

Es gibt Kinder, die vor Hunger dem Unterricht<br />

nicht mehr folgen können. In keinem Land,<br />

außer den USA, sind Kinder länger arm als<br />

bei uns. Aber die Manager und viele Politiker<br />

bekommen diese Wirklichkeit gar nicht mit,<br />

sie haben auch keine Lust, sich mit dem Rest<br />

der Bürger abzugeben. Sie fühlen sich als Elite,<br />

sie möchten – wie in Frankreich, England,<br />

USA – für sich exklusive Institutionen, wo sie<br />

noch mehr als bisher unter Ihresgleichen sein<br />

können.<br />

In den 70ern des vorigen Jahrhunderts studierte<br />

ich in den USA am Amherst College, dort<br />

trafen sich die Kinder der Geld-, Finanz- und<br />

Adelsaristokratie. Einer meiner Fußballpartner<br />

war Prinz Albert von Monaco. Ein paar Kilometer<br />

von unserem Campus entfernt war die<br />

staatliche Universität von Massachusetts. Für<br />

die Amherstianer hieß sie „the zoo“, der Zoo,<br />

die Affen dort. Also: Die Begüterten schauen<br />

voll elitärer Verachtung nach unten, man weiß,<br />

was man hat, man weiß, wer man ist.<br />

Ja, wir gehen in dieselbe Richtung, und in vielleicht<br />

20 Jahren – wenn die Bevölkerung sich<br />

nicht wehrt – werden wir Elite­Universitäten und Elite­Schulen haben. Es werden<br />

daraus dann enge, lebenslange Netzwerke entstehen, die Elite wird dann noch<br />

homogener als bisher, sie wird sich noch besser abschotten, sie wird ihre Interessen<br />

noch besser durchsetzen können. Es wird dann, von Kindesbeinen an, soziale<br />

Trennungen, zwei Welten geben. Der Trend ist eindeutig: hin zu mehr Ungerechtigkeit.<br />

Wie erklären Sie sich das?<br />

Ohne die skandinavischen Länder verklären zu wollen: Es sind egalitäre Gesellschaften.<br />

Sie haben höhere Steuersätze, aber sie haben auch ein besseres<br />

Bildungswesen, 60 bis 70 Prozent eines Jahrgangs studieren, sie sind<br />

also für die Zukunft besser gewappnet als wir. Bei uns wurden, wie gesagt,<br />

die Steuern für die Besserverdienenden und die Industrie dramatisch gesenkt.<br />

Unter Gerhard Schröder gab es dazu noch einen Bruch in der politischen<br />

Elite: In den 90er Jahren kamen nur fünf von 16 Kabinetts­Mitliedern<br />

aus bürgerlichen Kreisen, Finanzminster Waigels Vater war zum Beispiel Maurerpolier;<br />

bei Schröder kam dann jeder Zweite, jetzt unter Merkel sind von den 16<br />

Mitglieder des Kabinetts zehn aus dem Großbürgertum. Das hat Auswirkungen.<br />

Das ist ein ganz anderes Milieu, ein anderes Denken. Mitgefühl schwindet. In dieser<br />

Elite rücken die Interessen der normalen Bürger aus dem Blickfeld. Die können<br />

sich gar nicht vorstellen, dass 500 Euro Studiengebühr jemand vom Studium<br />

abhalten kann.<br />

Wen zählen Sie zur Elite?<br />

Die wirkliche Elite, also die Elite, die gesamtgesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen<br />

kann, das sind rund 4000 Personen: Es sind die wichtigsten Minister im<br />

Bundeskabinett, große Familienunternehmer, die Vorstände großer Unternehmen,<br />

hohe Beamte in der Berliner Ministerialbürokratie, die Richter an den hohen Gerichten,<br />

die über Steuerrecht oder Studiengebühren entscheiden können.<br />

In Ihrem dicken Buch über die Macht nennen Sie keine Namen. Aber wer sind<br />

nun die wirklich mächtigen Herren und Damen?<br />

Mir geht es nicht um einzelne Namen.<br />

Die zwei Aldi-Brüder besitzen 37 Milliarden Euro – das reicht aus, um<br />

116 Fußballplätze mit 500-Euro-Scheinen zuzupflastern.<br />

Familienunternehmer wie Aldi, also die zwei Albrecht­Brüder, oder auch Otto sind<br />

mächtig. Sie – als Einzelpersonen – können Milliarden bewegen, sie können entscheiden,<br />

wieviel Geld zu welchen Bedingungen wo investiert wird. Oder wenn Sie<br />

sich die Familien Piëch und Porsche angucken, die Porsche und VW kontrollieren<br />

– von ihren Entscheidungen hängen Hunderttausende ab. Oder die Quandt­Familie,<br />

jener Zweig, der bei BMW und, bis vor kurzem, beim Pharmakonzern Altana<br />

die Mehrheit hat: Da ist die wirkliche Macht. Diese Familie hat einen ungeheuren<br />

Einfluß auf die Infrastruktur und die Industriepolitik, auf die Arbeitslosenzahlen.<br />

Dass Altana, immerhin ein erfolgreiches DAX­Unternehmen, verkauft wurde – das<br />

war eine Entscheidung der Frau Quandt. Oder wenn BMW ein neues Werk baut,<br />

löst das eine Standortdiskussion in ganz Europa aus. Wer kriegt den Zuschlag? Wer<br />

bietet die steuerlich günstigsten Bedingungen, die günstigsten Arbeitskräfte?<br />

Wie muss ich mir das vorstellen:<br />

Da greift Frau Quandt zum Telefon<br />

und ruft in Berlin an?<br />

Nein, sie ruft da nicht an. Die Politik geht zu<br />

ihr oder zu den BMW­Vorständen, sie möchte<br />

ja, dass in Leipzig ein BMW­Werk entsteht.<br />

Mächtig ist auch jemand wie Manfred Schneider,<br />

der frühere Chef von Bayer Leverkusen,<br />

immer noch im Aufsichtsrat von sechs Unternehmen.<br />

Wenn er sagt, was er vor einiger Zeit<br />

tat: „Man muss sich ernsthaft die Frage stellen,<br />

ob wir nicht den sozialen Standard spürbar reduzieren<br />

sollen? Warum reichen nicht 25 Urlaubstage<br />

statt der bisherigen 30?“, dann ist das<br />

nicht einfach so dahin gesagt. Dann verändert<br />

diese Frage das soziale Klima in Deutschland.<br />

Das ist der unendliche Reiz der Macht: Ich bin<br />

unabhängig, und ich kann Dinge beeinflussen.<br />

„Liberté, égalité, fraternité!“ – diese Ideale<br />

der französichen Revolution, sind sie nur ein<br />

Traum?<br />

Diese Werte sind wohl in meinem Leben nicht<br />

errreichbar. Aber unser Kurs, das zeigt auch<br />

der Armutsbericht der Bundesregierung, ist<br />

im Moment klar: hin zu mehr Ungerechtigkeit.<br />

Aber da muss man sich dann eingestehen,<br />

was das bedeudet: mehr Gewalt, mehr<br />

Kriminalität.<br />

nachdruck des Gespräch aus dem<br />

„Stern“ 41/2007 in erweiterter Fassung.<br />

Mit freundlicher Genehmigung des Interviewers.<br />

„Stern“-Autor Arno luik, 53, unterrichtet als<br />

Dozent an der Zeitenspiegel-Reportageschule.


32 AlphABetIsIerunG<br />

33<br />

Von der seeLe geschrieben<br />

Wie ein Lese- und schreibkurs das Leben verändern kann<br />

Autor: sAschA hellmAnn<br />

FotoGrAF: olIver reInhArdt<br />

Drei Millionen deutschsprachige Erwachsene können<br />

in Deutschland nicht ausreichend lesen und<br />

schreiben. <strong>Volkshochschule</strong>n und andere Einrichtungen<br />

bieten Alphabetisierungskurse für Erwachsene<br />

an – einer von ihnen ist Edgar Hörz.<br />

Als Nathalie stirbt, schreibt Edgar Hörz in sein Tagebuch:<br />

„Nun ist sie nicht mehr da, und ich vermisse sie. Sie ist mit<br />

achtundzwanzig Jahren gestorben. Ich vermisse sie und die<br />

Gespräche sehr. Wenn ich es nicht aushalte, gehe ich ans<br />

Grab und rede mit ihr. Dann geht es mir besser.“ Nathalie<br />

war seine beste Freundin, ihr verdankt er, dass er Lesen und<br />

Schreiben kann. Als er es lernte, war Edgar Hörz ein erwachsener<br />

Mann.<br />

Edgar Hörz wird 1964 in <strong>Reutlingen</strong> geboren. Er kommt<br />

in die Grundschule. Bleibt dort aber nicht lange. Lesen und<br />

Schreiben sind sein Problem. Er wechselt zur Sonderschule,<br />

die damals noch „Hilfsschule“ heißt. Geholfen wird ihm dort<br />

aber nicht, sein Problem bleibt. Es sei anders als heute gewesen:<br />

„Wenn die Lehrer merkten, dass du nicht mitkommst,<br />

wurdest du abgeschoben.“ Nach insgesamt neun Schuljahren<br />

verlässt er die Sonderschule ohne Abschluss. Sein Problem<br />

hat wenigstens einen Namen: Lese­Schreib­Schwäche.<br />

Edgar Hörz arbeitet als angelernter Gipser. „Ich weiß<br />

nicht, woran es lag“, sagt er. Hörz ist 43 Jahre alt, kräftige<br />

Statur, Glatze, große blaue Augen. „Ich habe das Lesen nicht<br />

vermisst. Wenn es mich interessiert hätte, hätte ich es vielleicht<br />

auch gepackt.“ Er kommt auch so durch. Nur seine Familie<br />

und seine engen Freunde wissen, dass er bis auf seinen<br />

Namen weder lesen noch schreiben kann. Es stört sie nicht.<br />

Sie lesen selbst keine Zeitungen, keine Bücher. Sie können<br />

aber helfen. Lesen ihm in einem Lokal auch mal die Speisekarte<br />

vor.<br />

Mit achtzehn Jahren will er den Führerschein machen.<br />

Nur wie, wenn man die Fragen auf dem Fragebogen nicht<br />

lesen kann? Seine Schwester lernt jeden Tag mit ihm zwei<br />

Stunden. Sie liest die Fragen vor und die Antworten. „Es war<br />

eine harte Zeit“, erinnert sich Edgar Hörz. Auch in der Führerscheinprüfung<br />

müssen ihm die Fragen und Antworten<br />

vorgelesen werden. Er besteht.<br />

Der „Käferfan“ schraubt ein Jahr mit Freunden an einem<br />

VW­Käfer herum: Überschlagbügel, versteiftes Fahrwerk,<br />

abgestimmte Felgen und Bremsen, Porschemotor, 200 km/h<br />

Spitze. Mit seinen Schallplatten fährt er jeden Samstag zur<br />

Reutlinger Eishalle und legt auf. Allerdings unter erschwerten<br />

Bedingungen. Da er die Songs vorher übers Mikro ankündigt,<br />

aber nicht lesen kann, muss er jede Platte auswendig<br />

lernen. Deswegen hört er sich zuhause die Platten so oft<br />

an, bis er ganz sicher ist. Der zwanzigjährige Edgar Hörz<br />

steht in der Mitte der Eishalle auf einem Podest. Gebeugt<br />

über Plattenteller. Um ihn herum fahren Jungen und Mädchen<br />

auf Schlittschuhen. Er ist der Discjockey. Die Mädchen<br />

ziehen ihre Bahnen zu seiner Musik. Der „King“ in der Eishalle<br />

kann nicht lesen und schreiben. Bis er Nathalie kennen<br />

lernt.<br />

Sie hat einen Freund, und er hat eine Freundin. Trotzdem<br />

werden sie beste Freunde. Edgar Hörz schreibt später: „Wir<br />

waren wie Bruder und Schwester. Wir haben alles zusammen<br />

gemacht. Gekocht und zusammen gewohnt, Baden gegangen<br />

und gemalt.“ Da ist er mittlerweile zum zweiten Mal<br />

verheiratet und hat einen Sohn bekommen – Daniel. Seine<br />

Frau arbeitet als Köchin in einer Kindertagesstätte. Edgar<br />

Hörz verdient Geld als Gerüstbauer. Doch das Geld ist immer<br />

knapp. Er will Daniel später einmal bei den Schulaufgaben<br />

helfen. Ein Arbeitskollege, der von seiner Leseschwäche<br />

Spät, aber nicht zu spät hat Edgar Hörz in einem Alphabetisierungskurs der VHS<br />

das lesen und Schreiben gelernt.<br />

weiß, stößt im Internet auf ein Angebot der <strong>Volkshochschule</strong><br />

<strong>Reutlingen</strong>: Zwölf Kursabende für zwölf Euro. Nathalie unterstützt<br />

den Plan.<br />

Edgar Hörz meldet sich an. Parallel zum Kurs bearbeitet er<br />

Aufgaben im Internet. Jeden Tag. Nachdem er neun Stunden<br />

Gerüste aufgebaut und abends seinen Sohn ins Bett gebracht<br />

hat. Daniel wünscht sich, dass ihm sein Vater Geschichten<br />

vorliest, die er sich bisher immer ausgedacht hatte. Bei den<br />

Hausaufgaben kann er Daniel nun helfen.<br />

An zwei Kursen hat Edgar Hörz bisher teilgenommen,<br />

und er will noch weitere besuchen. Sie haben sein Leben<br />

bereits verändert. Vieles kann er nun lesen, manches auch<br />

schreiben. Er besitzt jetzt einen Bibliotheksausweis, liest<br />

jeden Tag die kürzeren Artikel in der Zeitung, chattet im<br />

Internet. Er kann Briefe lesen, bei denen er früher Hilfe gebraucht<br />

hat. Seinen Freunden hat er im letzten Sommer zum<br />

ersten Mal in seinem Leben eine Postkarte geschrieben.<br />

Nun hat er auch an einem Literaturwettbewerb teilgenommen<br />

– für Menschen mit Lese­Schreib­Schwäche. Edgar<br />

Hörz hätte über Musik, sein Schlangen­Hobby oder seinen<br />

Käfer schreiben können. Aber er wollte über Nathalie schreiben.<br />

„Weil so viel von ihr in mir liegt, lebt sie in mir weiter.“<br />

Darüber hat er geschrieben. „Ich habe es mir von der Seele<br />

geschrieben.“<br />


34 Im Gespräch<br />

35<br />

„fehLer gehören einfach dazu“<br />

die diplom-päd agog i n k a r i n schmic ker, 4 2 , g ibt a n der V h s reut l i ngen<br />

seit drei jahren den kurs „Lesen und schreiben lernen“ – alphabetisierung für<br />

erwachsene. tanja krämer sprach mit ihr über den alltag von analphabeten,<br />

die Lehren aus pisa und die guten seiten von fehlerhaften texten<br />

AutorIn: tAnjA krämer<br />

FotoGrAF: olIver reInhArdt<br />

Die Bundesregierung schätzt die Zahl der Analphabeten in Deutschland<br />

auf vier Millionen – das sind fünf Prozent der Bevölkerung. Können diese<br />

Menschen alle nicht lesen und schreiben?<br />

Analphabetismus kann man in drei Gruppen einteilen: Es gibt Menschen, die gar<br />

nicht lesen und schreiben können. Die können auch ein einzelnes Schriftzeichen<br />

nicht einem Laut zuordnen. Andere können stockend lesen und schreiben, orientieren<br />

sich aber allein am gehörten Wort. Da unsere Sprache nicht lautgetreu ist,<br />

machen sie sehr viele Fehler. Und dann gibt es noch die dritte Gruppe. Sie können<br />

schon flüssiger lesen und schreiben, machen aber immer noch viele Fehler und<br />

sind sehr unsicher.<br />

Wenn diese Menschen grundsätzlich schreiben können, warum zählt<br />

man sie dann zu den Analphabeten?<br />

Ob jemand als Analphabet gilt, hängt nicht nur davon ab, was er oder sie an Leseund<br />

Schreibkenntnissen mitbringt, sondern muss daran gemessen werden, welchen<br />

Grad an Fertigkeiten er braucht, um in unserer Gesellschaft zurecht zu kommen.<br />

Vor fünfzig Jahren wären Personen, die grob lesen und schreiben konnten,<br />

nicht in diese Kategorie gefallen. Damals gab es viele Hilfstätigkeiten, mit denen<br />

man Geld verdienen konnte, ohne dass Lesen und Schreiben eine Rolle gespielt<br />

hätte. Man war Teil der Gesellschaft. Diese Hilfstätigkeiten fallen zunehmend weg.<br />

Weil die Ansprüche in unserer Gesellschaft wachsen, erhöht sich automatisch auch<br />

die Zahl derer, die diesen Anforderungen nicht gewachsen sind – und darum als<br />

Analphabeten gelten.<br />

Wie kann es passieren, dass jemand die Schule besucht,<br />

ohne Lesen und Schreiben zu lernen?<br />

Manchmal ist der Grund eine unentdeckte Legasthenie oder ein Hörschaden, der<br />

zu spät erkannt wird. Oft aber entwickelt sich Analphabetismus als Folge sozialer<br />

Faktoren: In unserem Schulsystem sollen die Kinder nach der ersten Klasse<br />

grundsätzlich das Lesen und Schreiben erlernt haben. Das funktioniert bei all jenen<br />

Kindern, die schon ein gewisses Vorverständnis von Schrift haben, die also<br />

schon wissen, dass es sich um Zeichen handelt, die man irgendwie deuten kann.<br />

Kommt ein Kind aber aus einer bildungsfernen<br />

Familie, in der Lesen keine Rolle spielt, in<br />

der es weder Bücher noch Zeitungen gibt, hat<br />

es ein solches Verständnis nicht. Zudem setzt<br />

die Schule einer Unterstützung der Kinder<br />

durch das Elternhaus voraus. Wenn die wegen<br />

schwieriger Familienverhältnisse nicht gegeben<br />

ist, wird es für ein Kind schnell schwierig.<br />

Später gehen alle davon aus, dass die Grundkenntnisse<br />

schon vorhanden sind.<br />

Ist Analphabetismus ein Problem sozial<br />

schwacher Familien?<br />

Ja, denn hier kommen oft viele problematische<br />

Aspekte zusammen. Selbst wenn die Eltern ihr<br />

Kind fördern wollen, scheitert es häufig am<br />

Geld. Nachhilfeuntericht kostet. Und in den<br />

Schulen gibt es einfach noch zu wenig Fördergruppen,<br />

die individuell auf die Probleme der<br />

Kinder eingehen können. Die große Zahl der<br />

Analphabeten ist nicht zuletzt auch den vielen<br />

Schulabgängern ohne Abschluss zuzuschreiben.<br />

Die PISA-Ergebnisse der letzten Jahre haben<br />

die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Ein Fünftel<br />

der Grundschüler können demnach nicht<br />

ausreichend lesen und schreiben. Was müsste<br />

man tun, um solche Zahlen zu verhindern?<br />

Das Schulsystem ist insgesamt zu undurchlässig.<br />

Bildung hängt in Deutschland noch immer<br />

extrem von der sozialen Herkunft ab. Das muss<br />

sich ändern.<br />

Karin Schmicker hat die Erfahrung gemacht, dass nur<br />

wenige den Mut haben, andere über ihre lese- und Rechtschreibschwäche<br />

zu informieren.


36 Im Gespräch<br />

37<br />

Wie beeinflusst Analphabetismus den Alltag eines Menschen?<br />

Eine Lese­ und Schreibschwäche beeinträchtigt auf vielfache Weise. Wir können<br />

uns das gar nicht vorstellen, weil für uns vieles selbstverständlich ist. Wir müssen<br />

uns nicht merken, wie das Emblem einer bestimmten Marke aussieht, oder<br />

die Verpackung. Wir lesen das einfach. Wir machen uns einen Einkaufszettel und<br />

müssen uns die Liste nicht im Kopf merken. Auch das Vergleichen von Preisen ist<br />

für uns kein Problem. Analphabeten müssen sich für all das Strategien ausdenken.<br />

Sie haben oft ein sehr gutes Gedächtnis.<br />

Wieso bleiben Analphabeten so lange unentdeckt?<br />

Menschen mit Analphabetismus delegieren viel. Beim Gang zu einer Behörde hat<br />

man seine Brille nicht dabei und bittet den Beamten, das Schreiben vorzulesen.<br />

Oder man hat die Hand verbunden und kann darum nicht schreiben. Manche<br />

schicken auch den Ehepartner vor – und begeben sich so in eine heikle Abhängigkeit.<br />

Dazu kommt, dass Analphabetismus immer noch ein Tabu ist. Nur wenige<br />

haben den Mut, die Umwelt über ihre Schwäche zu informieren. Analphabetismus<br />

gilt für viele – auch für die Betroffenen – immer noch als Dummheit. Man fühlt<br />

sich ziemlich klein und nichtig, wenn alle um einen herum lesen und schreiben<br />

können, nur man selbst kann es nicht.<br />

Was bewegt die Menschen, letztlich doch einen<br />

Alphabetisierungskurs zu besuchen?<br />

Es geht ganz viel um Unabhängigkeit. Meine Schüler wollen selbstbewusster werden,<br />

selbständiger. Für den konkreten Schritt sind oft Lebensumbrüche ausschlaggebend.<br />

Die Männer sind etwa von Arbeitslosigkeit bedroht oder arbeitslos geworden.<br />

Sie erhoffen sich von dem Kurs berechtigterweise eine Verbesserung ihrer<br />

Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt aber auch familiäre Gründe: Zwei meiner<br />

Schüler zum Beispiel wollen Lesen und Schreiben lernen, um ihre Kinder in der<br />

Schule unterstützen zu können. Das finde ich ganz enorm.<br />

Und was ist mit den Frauen?<br />

Alphabetisierungskurse werden in der Regel mehr von Männern besucht. Frauen<br />

sind unterrepräsentiert. Sie ziehen sich auf das alte Rollenbild zurück und werden<br />

Hausfrau und Mutter. Darum erreichen wir sie viel schlechter als Männer. In meinem<br />

aktuellen Kurs sitzt neben drei Männern nur eine Frau.<br />

Wie lange brauchen Ihre Schüler, bis sie lesen und schreiben können?<br />

Das hängt von den Vorkenntnissen ab und ist schwer einzuschätzen. Sicher ist aber:<br />

Bei einer Sitzung pro Woche kann ich niemandem innerhalb eines halben Jahres Lesen<br />

und Schreiben beibringen. Die Menschen müssen sich auf ein langes Zeitfenster<br />

einlassen.<br />

Gibt es für Sie als Dozentin besondere Herausforderungen mit diesen Schülern?<br />

Die Lernniveaus sind sehr unterschiedlich. Außerdem haben meine Schüler vor<br />

dem Unterricht bereits einen vollen Arbeitstag hinter sich gebracht. Da kann ich<br />

dann beispielsweise nicht erwarten, dass sie regelmäßig Hausaufgaben machen.<br />

Weil Alphabetisierung für Erwachsene nicht an den Hochschulen gelehrt wird,<br />

muss ich mich als Dozentin zudem viel selbst weiterbilden.<br />

Wie sieht eine typische Unterrichtsstunde<br />

bei Ihnen aus?<br />

Ich arbeite viel mit Spielen, etwa mit einfachen<br />

Kreuzworträtseln oder Silben­Bingo. Meine<br />

Schüler sollen Spaß haben beim Lernen. Wichtig<br />

ist auch das Silbentraining: Wenn man beim<br />

Lesen eines Wortes dessen Silben erkennt, wird<br />

das Gedächtnis entlastet, man muss sich nicht<br />

Buchstaben für Buchstaben merken. Das wird<br />

gerade bei längeren Wörtern wichtig. Denn<br />

Lesen ist eine sehr analytische, anstrengende<br />

Tätigkeit. Nach manchen Stunden sind meine<br />

Schüler regelrecht erschlagen. Fehler machen<br />

gehört einfach dazu. Nur durch sie lernt man<br />

– und ich kann dadurch beurteilen, welchen<br />

Wissensstand mein Schüler gerade hat.<br />

Was sind Ihre schönsten Momente?<br />

Wenn es den Leuten Spaß macht. Bei mir im<br />

Kurs wird viel gelacht. Es ist eine sehr entspannte<br />

Atmosphäre. Schön ist es auch immer, wenn<br />

die Leute stolz sind auf ihre Fortschritte. Ein<br />

Teilnehmer hat einen sehr persönlichen Text<br />

für einen Wettbewerb des Bundesverbandes<br />

für Alphabetisierung geschrieben. Der wurde<br />

zusammen mit anderen Einsendungen in einem<br />

Buch veröffentlicht. Wenn meine Schüler<br />

Lust bekommen, etwas Persönliches schriftlich<br />

auszudrücken, habe ich mein Ziel erreicht.<br />

<<br />

InFO<br />

Die ersten Alphabetisierungskurse für Erwachsene gab es in Deutschland 1978 als Antwort<br />

auf die zunehmenden Anforderungen im Berufsleben. Heute übernehmen vor allem<br />

die <strong>Volkshochschule</strong>n diese Aufgabe. Etwa 20.000 Erwachsene lernen dort derzeit Lesen<br />

und Schreiben. Häufig werden die Kurse subventioniert. So auch in der VHS <strong>Reutlingen</strong>:<br />

Eine Sitzung kostet die Teilnehmer nur einen Euro. So soll verhindert werden, dass Menschen<br />

dem Angebot aus Geldmangel fernbleiben.<br />

Kontakt:<br />

<strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong><br />

Spendhausstraße 6<br />

72764 <strong>Reutlingen</strong><br />

Telefon: 0 71 21 / 33 61 35<br />

email: sfuchs@vhsrt.de<br />

Internet: www.vhsrt.de<br />

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38 ABendGymnAsIum<br />

besser spät aLs nie: abitur am abend<br />

achtzig schüler büffeln im abendg ymnasium reutlingen, das zum Verein f ür<br />

Volksbildung gehört, auf das abitur. jeden abend drücken sie die schulbank.<br />

tagsüber tragen sie brötchen aus, sitzen im büro oder an der kasse im supermarkt.<br />

AutorIn / FotoGrAFIn: BIrGItt cordes<br />

Das Gymnasium musste sie in der elften Klasse abbrechen.<br />

Kathrin M. wurde mit achtzehn schwanger.<br />

Sie verließ die Schule und kümmerte sich um<br />

ihre kleine Tochter. „Mir war klar, dass ich als alleinerziehende<br />

Mutter ohne Schulabschluss keinen guten Job finden<br />

würde“, sagt die 23­Jährige. Seit drei Jahren lernt sie wieder<br />

Vokabeln, berechnet Formeln, ihr Lieblingsfach ist Mathe.<br />

Sie holt ihr Abitur am Abendgymnasium <strong>Reutlingen</strong> nach.<br />

Es ist kurz nach 17 Uhr. Während aus den Büros der Innenstadt<br />

die Angestellten in den Feierabend strömen, füllt<br />

sich langsam der Schulhof in der Peter­Rosegger­Straße 3.<br />

Um 18:30 Uhr beginnt der Unterricht. Kathrin hat sich an<br />

der gegenüberliegenden Tankstelle ein Sandwich und eine<br />

Apfelschorle gekauft, sie zündet sich eine Zigarette an und<br />

begrüßt ihren Freund mit einem Kuss. Sie haben sich in der<br />

Schule kennengelernt.<br />

Kathrins Unterricht beginnt mit Englisch. „Heute nehmen<br />

wir das politische System der Vereinigten Staaten durch“,<br />

sagt Lehrerin Raphaele Wilger. In Klasse 3a sitzen auf hellbraunen<br />

Holzstühlen fünf junge Frauen und sieben junge<br />

Männer mit müden Gesichtern. Einige kramen noch Hefte<br />

und Bücher aus ihren Taschen. Wilger fragt zunächst einige<br />

Fachbegriffe ab. „Embassy, what does embassy mean? Bettina“,<br />

fragt Wilger. „Sorry, I didn’t pay attention“, antwortet<br />

Bettina, sie hat gerade nicht aufgepasst und wird rot. „Embassy?“,<br />

wiederholt Wilger ruhig und ohne vorwurfsvollen<br />

Blick. „Ähem, ach ja, Botschaft“, sagt Bettina. „Ich versuche<br />

den Unterricht so zu gliedern, dass wir mit dem Stoff durchkommen,<br />

aber ich die Schüler nicht überfordere. Ich weiß,<br />

dass die sie sehr viel leisten müssen“, sagt Wilger.<br />

Zur Zeit büffeln in Deutschland rund 38 000 Erwachsene<br />

in Abendschulen und Tageskollegs für ihr Abitur. Der Großteil<br />

entscheidet sich direkt nach einer Ausbildung oder nach<br />

ein paar Jahren im Berufsleben für den zweiten Bildungsweg.<br />

Rund achtzig junge Erwachsene besuchen das Abendgymnasium<br />

in <strong>Reutlingen</strong>. Die meisten sind zwischen 24<br />

und 28 Jahre alt und stehen entweder im Berufsleben oder<br />

haben eine Berufsausbildung abgeschlossen. „Früher lag<br />

das Einstiegsalter bei Ende zwanzig“, sagt Schulleiter Ulrich<br />

Barth. Dreißig Neuanmeldungen gehen bei Barth jedes Jahr<br />

ein. „Die Zahl der Bewerber hat sich in den letzten zehn Jahren<br />

nicht groß verändert.“<br />

360 Euro kostet die Schule pro Jahr. Viele Schüler werden<br />

von ihren Eltern unterstützt. Die größten Probleme, die vier<br />

Jahre zu finanzieren, haben junge Erwachsene, die keinen<br />

Zuschuss von Zuhause erhalten, weil in der Familie das Geld<br />

knapp ist. Diese Gruppe, die immerhin zwanzig Prozent der<br />

Neuzugänge ausmacht, schafft es in der Regel nicht bis zum<br />

Abitur. „Oft stehen Paare mit Kindern die doppelte Belastung<br />

nicht durch. Alleinerziehende haben Probleme, einen<br />

zuverlässigen Babysitter zu finden. Es scheitert häufig an<br />

Beziehungsproblemen“, weiß Barth.<br />

Nicht einmal der Realschulabschluss reicht inzwischen<br />

für viele Berufsausbildungen. Lena, 27, scheiterte schon bei<br />

den Aufnahmegesprächen zu mehreren Logopädenschulen<br />

am fehlenden Abitur. Bis sie es hat, jobbt sie in einem Supermarkt:<br />

„Die Arbeit fordert mich nicht, so kann ich mich<br />

wenigstens gut auf die Schule konzentrieren.“<br />

Felix, 28, will sich an der Fachhochschule <strong>Reutlingen</strong><br />

einschreiben und Maschinenbau studieren. „Vier Jahre sind<br />

eine lange Zeit“, sagt er. Er kann das Ende kaum erwarten.<br />

Vier Jahre, in denen er auf vieles verzichten musste. Felix<br />

rückt seine schwarze Baskenmütze nach hinten und kratzt<br />

sich die Stirn. Er bläst den Rauch seiner Zigarette in die Luft.<br />

„Manchmal hatte ich echt keine Lust mehr, jeden Abend<br />

hierher zu kommen. Jetzt, wo das Studium in greifbarer<br />

Nähe ist, bin ich stolz, dass ich durchgehalten habe.“<br />

21:30 Uhr. Die Schulglocke läutet, Schluss für heute. Die<br />

Klasse 3a redet über die letzte Stunde, sie hatten Mathematik.<br />

„Unser Lehrer ist so toll. Ich war immer eine Niete in<br />

Mathe, aber mit ihm bringt es richtig Spaß“, sagt Kathrin.<br />

Sie nimmt ihre schwarze Tasche und läuft mit den anderen<br />

hinaus auf den Schulhof. Draußen ist es noch warm. Die müden<br />

Gesichter sind verschwunden. Kathrin grinst die Gruppe<br />

an und sagt: „Kommt, gehen wir noch was trinken!“<br />

<<br />

Auch wenn die Konzentration<br />

schwer fällt: Abendgymnasiasten<br />

im Klassenzimmer.<br />

InFO<br />

Am Abendgymnasium <strong>Reutlingen</strong> können Berufstätige oder Bewerber, die eine<br />

Berufsausbildung abgeschlossen haben, die Allgemeine Hochschulreife in drei<br />

bis vier Jahren nachholen. Angerechnet werden außerdem Arbeitslosigkeit, Zivildienst,<br />

Bundeswehr und Führen eines Haushalts mit Angehörigen oder Kindern.<br />

Auch die Mittlere Reife (zwei Jahre) und die Fachhochschulreife (zwei bis drei<br />

Jahre) bietet die Schule an. Das Mindestalter ist 19 Jahre. Die jährlichen Schulkosten<br />

betragen 360 Euro, die in zwei Raten bezahlt werden können.<br />

Kontakt:<br />

Abendgymnasium <strong>Reutlingen</strong><br />

Peter-Rosegger-Straße 3<br />

72762 <strong>Reutlingen</strong><br />

Telefon: 0 71 21 / 33 61 22<br />

email: agr@vhsrt.de<br />

Internet: www.agreutlingen.de


40 Im Gespräch<br />

„die bedeutung der erWachsenenbiLdung<br />

Wird unterschätzt“<br />

Vhs-aufsichtsratschef dr. rainer märklin setzt in seinem engagement auf klare Worte<br />

AutorIn: dAnIelA schröder<br />

FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />

Er gehört zur <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong> wie der Spanisch-Kurs<br />

ins Frühjahrsprogramm: Dr. Rainer Märklin, Vorsitzender des VHS-<br />

Aufsichtsrats und Gründer der nach ihm benannten Stiftung zur<br />

Förderung junger Musik- und Kunsttalente.<br />

Im Gespräch blickt Märklin auf den Start seines langjährigen Engagements<br />

im Bildungsbereich zurück und beschreibt aktuelle und künftige<br />

Herausforderungen für die VHS.<br />

Herr Dr. Märklin, was war der letzte VHS-Kursus, den Sie besucht haben?<br />

Ein Kurs in EDV (lacht). Als ich im September 2002 aus dem Beruf ausgeschieden<br />

und in ein anderes Büro gezogen bin, habe ich zu meiner Sekretärin gesagt: Frau<br />

Fuchs, jetzt sind wir bald blank, die Bank­Fachleute stehen nicht mehr zur Verfügung.<br />

Da habe ich dann sechs Samstage von früh bis spät PC gelernt.<br />

Wann und warum stiegen Sie bei der VHS <strong>Reutlingen</strong> ein?<br />

Als ich im Vorstand der Volksbank <strong>Reutlingen</strong> begann, war gerade der Neubau<br />

des Bankgebäudes fertig. Beim Einzug im Frühjahr 1978 lernte ich den damaligen<br />

VHS­Geschäftsführer Hans Haußmann kennen. Daraus entwickelte sich ein<br />

enger Kontakt, gemeinsam haben wir viele Veranstaltungen in der Bank organisiert.<br />

Haußmann fragte mich, ob ich in den Vorstand des Vereins für Volksbildung<br />

und damit in den Vorstand der VHS kommen wolle. Mit meiner Wahl zum<br />

Vorstandsmitglied wurde ich automatisch auch im Bereich Jugendkunstschule und<br />

Musikschule tätig. Nachdem diese in <strong>GmbH</strong>s umgewandelt wurden, wurde ich<br />

Aufsichtsratsvorsitzender der VHS.<br />

Was waren die bisher schwierigsten Situationen in ihrem Amt?<br />

Es gab eine Reihe schwieriger Fragen, die zu lösen waren. Eine der wichtigsten war<br />

die Bestellung der neuen Geschäftsführung 1998. Die Entscheidung fiel auf Dr.<br />

Ulrich Bausch. Die Entwicklung der VHS in den vergangenen zehn Jahren belegt,<br />

dass dies eine gute Entscheidung war. Immer schwieriger wurde die Finanzierung<br />

unserer Einrichtungen, denn die Zuschüsse vom Land Baden­Württemberg nah­<br />

men ständig ab. Die Verhandlungen mit der<br />

Stadt über die veränderte Situation bedeuteten<br />

einige Jahre sehr intensive Arbeit.<br />

Welchen Einfluss hat der VHS-Aufsichtsratschef<br />

auf das Programm der VHS?<br />

Jedes Programm wird im Aufsichtsrat besprochen<br />

und beschlossen. Doch das Schwergewicht<br />

der Programmgestaltung liegt bei der<br />

Geschäftsführung. Wäre in der großen Linie<br />

etwas korrekturbedürftig, dann könnte und<br />

würde der Aufsichtsrat Möglichkeit haben<br />

einzugreifen. Doch wir entscheiden natürlich<br />

nicht darüber, ob dieses Semester Französisch<br />

oder Chinesisch angeboten wird. Schließlich<br />

sind wir keine Fachleute in der Erwachsenenbildung.<br />

Hat sich das Kurs-Angebot in den<br />

vergangenen Jahren verändert?<br />

Eine wichtige neue Perspektive ist, dass es<br />

neben den Angeboten für alle Interessierten<br />

auch Bildungsangebote für spezifische Gruppe<br />

oder Firmen gibt. In den Unternehmen<br />

selbst werden bestimmte Sprachkurse oder<br />

Management­Seminare gehalten. Eine weitere<br />

Änderung ist der gestiegene Stellenwert<br />

der Gesundheitskurse wie die Reutlinger Gesundheitsakademie<br />

(REGA). Diese spezifischen<br />

Angebote haben das allgemeine VHS­<br />

Programm, wie man es landläufig versteht,<br />

ergänzt und bereichert.<br />

Wie muss sich die VHS <strong>Reutlingen</strong> in Zukunft präsentieren?<br />

Sie muss auf jeden Fall auf der Höhe der Zeit bleiben. Dabei muss sie ihren Grundauftrag<br />

erfüllen und die berufliche und die politische Weiterbildung für alle betreiben.<br />

Gleichzeitig gilt es jedoch, den Bedarf an neuen Angeboten zu erkennen<br />

und entsprechend aufzugreifen. Bildung in den Betrieben und Gesundheit sind die<br />

stärksten Zweige, die im Augenblick vorangetrieben werden. Im sozialen Bereich<br />

müssen Mitbürger, die behindert sind oder sich nur schwer in die Gesellschaft einbinden<br />

können, Angebote erhalten. Dabei spielt auch die Jugendkunstschule eine<br />

wichtige Rolle.<br />

Stichwort Jugendkunstschule. Was gab den Ausschlag,<br />

junge Talente über Ihre Stiftung zu fördern?<br />

Die Idee wurde an meinem 60. Geburtstag geboren. Anstelle von Geschenken hatte<br />

ich die Gäste um Spenden gebeten. Ursprünglich sollte das Geld für Noten, Papier<br />

und Instrumente an die Musikschule und die Jugendkunstschule gehen. Es kam aber<br />

so viel zusammen, dass wir uns entschieden, das Geld nicht nur für Materialien auszugeben,<br />

sondern eine dauerhafte Einrichtung auf die Beine zu stellen.<br />

Geht es allein um die Finanzierung von Materialien?<br />

Heute geht es um mehr. Wir wollen musikalisch und kreativ begabten jungen Menschen,<br />

die nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, eine nachhaltige und<br />

andauernde Ausbildung ermöglichen. Ein elfjähriger Schlagzeuger etwa, dessen allein<br />

erziehende Mutter den Einzelunterricht nicht bezahlen kann. Oder auch begabte<br />

Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich den Unterricht nicht leisten<br />

können. Die Förderung kann bis zur Vorbereitung für die Aufnahme an der Musikhochschule<br />

gehen. Pro Jahr setzt die Stiftung bis zu 7.000 Euro ein. Rund 5.000<br />

davon stammen aus Eigenkapital, der Rest sind Spenden der Stiftungsmitglieder.<br />

Was ist die herausragende Eigenschaft der VHS <strong>Reutlingen</strong>?<br />

Die VHS und ihre Einrichtungen haben sich einer hohen Qualität verschrieben,<br />

die man nachprüfen kann. Bildung als Grundlage für die private und die berufliche<br />

Entwicklung ist Aufgabe und Verantwortung der öffentlichen Hand. Daraus er­<br />

DR. RAInER MÄRKlIn,<br />

geboren am 2. Mai 1938 in nagold.<br />

jurastudium in Tübingen und Heidelberg.<br />

Von 1977 bis 2002 Vorstandssprecher der<br />

Volksbank <strong>Reutlingen</strong>. Ab 1986 Mitglied,<br />

seit 1992 Vorsitzender des Vereins für Volksbildung<br />

<strong>Reutlingen</strong>. Seit 1994 Aufsichtsratsvorsitzender<br />

der VHS <strong>Reutlingen</strong> <strong>GmbH</strong>.<br />

geben sich Verpflichtungen für alle Beteiligten.<br />

Der Verein für Volksbildung, Stadt, Gemeinden,<br />

Landkreis und Land sind laut Verfassung<br />

als Träger der VHS dazu verpflichtet, qualitativ<br />

hochwertige Erwachsenenbildung zu ermöglichen.<br />

Sie dürfen es nicht plätschern lassen und<br />

ihre Prioritäten anders setzen.<br />

Besteht in <strong>Reutlingen</strong> die Gefahr<br />

es plätschern zu lassen?<br />

Ich sehe schon die Gefahr. Der Verfassungsauftrag<br />

ist zwar erkannt, wird bestätigt und auch<br />

artikuliert. Doch durch die schwierigen Haushaltssituationen<br />

der vergangenen Jahre sind<br />

zum Teil Entwicklungen entstanden, die mir<br />

den Eindruck vermitteln, dass die Bedeutung<br />

der Erwachsenenbildung leicht in Vergessenheit<br />

gerät und unterschätzt wird. Die große<br />

Masse derer, die auf diese Bildungseinrichtung<br />

angewiesen sind, die können sich nicht artikulieren.<br />

Es braucht engagierte Menschen, die<br />

sich dafür einsetzen.<br />


ort urbanen Lebens:<br />

das haus der VoLkshochschuLe<br />

Autor: wolFGAnG AlBer<br />

FotoGrAFen: Bernd klumpp, steFAn junGer<br />

Ein Haus muss wie eine kleine Stadt sein, oder es ist kein rechtes Haus.“ So zitierte der damalige<br />

VHS­Leiter Hans Haußmann bei der Einweihung des neuen Hauses der Reutlinger <strong>Volkshochschule</strong><br />

im November 1988 den Architekten Aldo van Eyck. Damit ist die Funktion des<br />

Gebäudes umrissen, das mit Stadtbibliothek und Kunstmuseum Spendhaus eine zentrale Kulturachse<br />

<strong>Reutlingen</strong>s bildet: Es symbolisiert die Öffnung der <strong>Volkshochschule</strong> zur Stadt und ihre Offenheit für<br />

die Bedürfnisse der Bevölkerung.<br />

Der vom Karlsruher Büro Rossmann und Partner entworfene Bau mit einer Nutzfläche von nahezu<br />

3000 Quadratmetern wurde für 17 Millionen Mark errichtet; das Geld brachte die Stiftung Volksbildung<br />

mit Unterstützung des Fabrikanten Karl Danzer auf. Die architektonische Idee variiert eine<br />

mittelalterliche Situation: Vier miteinander verbundene Einzelhäuser, die sich als Ensemble um einen<br />

Lichthof gruppieren, unter dessen gläserner Haube ein Turm auf schmalen Stelzen in der zentralen<br />

Halle steht.<br />

Die Anordnung der Einzelhäuser entspricht der funktionalen Aufteilung: Verwaltungs­ und Bürotrakt<br />

an der Spendhausstraße, Medien­ und Veranstaltungsbau zur Lederstraße hin, Kursräume entlang<br />

der Oberamteistraße und der Gasse zum Spendhaus. Alle Teile und Stockwerke sind durch kurze<br />

Wege über die umlaufenden Galerien, einläufige Treppen und die Flure miteinander verbunden.<br />

In diese offene Zone fließt Helligkeit vier Geschosse tief über umlaufende Bänder und Oberlichter,<br />

zwischen den Häusern enden die Galerien an raumhoch verglasten Fenstern, neben den Türen der<br />

Kursräume bieten Seitenfenster Einblicke. Die Klarheit der Gliederung und der Einfall des Lichts<br />

signalisieren logische und erhellende Erkenntnis.<br />

Der Turm bildet eine eigene Ebene gegenüber den Geschossen. Über Brücken zugänglich, bietet er<br />

Sitz­ und Ausstellungsmöglichkeiten, er ist Zone der Kontemplation und Kommunikation außerhalb<br />

des Kurs­ und Seminarbetriebs. Der gläserne Eingangsbereich samt der Caféteria schafft Übergänge<br />

zwischen innen und außen, der halböffentliche Sektor wird zum öffentlichen Schaufenster, das zu Besuch<br />

und Begegnung einlädt. Die <strong>Volkshochschule</strong> ist ein Ort der Kommunalität, der demokratischen<br />

Bildung und des urbanen Austausches.<br />

<<br />

43


44 ArchItektur<br />

45<br />

links / Von außen zeigt sich die <strong>Volkshochschule</strong> mit spitzen<br />

Giebeln, Sprossenfenstern und umlaufenden Stahlbandprofilen<br />

als moderne Variante des alten Fachwerkhauses.<br />

Rechts / Im Innern des Volkshochschulhauses gruppieren sich<br />

Turm, Treppen und Galerien zu offenen Verbindungsebenen.


46 musIkschule<br />

47<br />

Wo sprache aufhört, fängt musik an<br />

an der musikschule reutlingen lernen auch geistig behinderte kinder,<br />

sich ganz neu auszudrücken<br />

AutorIn: kArIn kontny<br />

FotoGrAF: peter Bernreuther<br />

Wenn Axel zum Löwen wird, dann beben die<br />

Wände. Und die sonst so stille Sarah lässt einen<br />

ganzen Vogelschwarm zwitschern, die<br />

Geige unters Kinn geklemmt. Oder Julia, deren mächtiges<br />

Wummern am Schlagzeug an eine durch den Dschungel<br />

trampelnde Elefantenherde erinnern soll. Das Zauberzeichen<br />

dazu gibt Musiklehrer Peter Stary mit einer fast unmerklichen<br />

Bewegung.<br />

Generalprobe für das musikalische Erzählstück „Pippi in<br />

Musikalien“. Im kleinen Saal des Spitalhofs in <strong>Reutlingen</strong> ist<br />

die Aufregung spürbar, aber auch Konzentration und Stolz.<br />

In drei Tagen ist es soweit. Dann werden die zwölf Mädchen<br />

und Jungen, die jetzt im Kreis stehen, ihren großen Auftritt<br />

haben. Beim Tag der offenen Tür der Musikschule <strong>Reutlingen</strong><br />

wollen sie zeigen, was sie im vergangenen Jahr gelernt<br />

haben. Die jungen Musiker sind geistig behinderte Kinder<br />

und Jugendliche der Peter­Rosegger­Schule im Alter zwischen<br />

acht und sechzehn Jahren.<br />

„Heute gehen wir das ganze Programm durch“, sagt Peter<br />

Stary und drückt den beiden Kindern links und rechts<br />

neben sich die Hand, als wolle er sie ermutigen. Ein paar<br />

Jungen und Mädchen machen es ihm nach und geben einen<br />

Händedruck an ihren Nachbarn weiter. Wie eine Welle<br />

des gegenseitigen Zuspruchs wandert er im Kreis umher.<br />

Manchmal müssen solche Gesten der Zuneigung und<br />

Aufmerksamkeit füreinander sein. Weil ein Auftritt für<br />

die Mädchen und Jungen eine enorme Leistung ist. Denn<br />

viele von ihnen brauchen ständig einen Begleiter, können<br />

ihre Schuhe nicht ohne Hilfe binden und manchmal keinen<br />

ganzen Satz formulieren. Weil ihnen die Gedanken im<br />

Kopf einfach verloren gehen. Sich in Luft auflösen oder<br />

nur als Fetzen ihren Weg nach draußen finden. Doch wie<br />

weggeblasen scheint das Handicap jedes Einzelnen zu sein,<br />

sobald sie beginnen, zusammen zu musizieren.<br />

„Mit den Tönen gehen wir runter und rauf “, singt Peter<br />

Stary. Lässt dabei den Oberkörper nach unten fallen und<br />

richtet sich dann wieder auf. Die Kinder und sechs weitere<br />

Lehrer, welche die Musikschüler von der Peter­Rosegger­<br />

Schule betreuen, machen es ihm nach. Wie das Blattwerk einer<br />

durstigen Pflanze hängen sie ihre Arme nach unten, um<br />

sie kurz danach wieder nach oben zu strecken. Aufrecht und<br />

gestärkt wie nach einem erfrischenden Sommerregen. Jetzt<br />

kann es richtig losgehen.<br />

Jedes Kind schnappt sich sein Instrument oder setzt sich<br />

davor. Axel hängt sich ein glänzendes Saxophon an das Band<br />

um seinen Nacken. Julia nimmt hinter dem Schlagzeug Platz,<br />

und die kleine Sarah, die heute ihren zehnten Geburtstag<br />

feiert, umfasst vorsichtig den Hals ihrer Violine. Während<br />

Peter Stary von Pippi Langstrumpfs Reise durch Musikalien<br />

erzählt, setzen die Musiker nach und nach ein. Jeder kennt<br />

die Stelle, an der er sein Instrument sprechen lassen darf.<br />

Musikalien – das Land, in dem statt Sätzen Melodien erklingen<br />

– ist vielen der jungen Musiker über das vergangene Jahr<br />

zu so etwas wie einem Zuhause geworden. Zu einem Ort,<br />

an dem sie sich sicher fühlen, weil sie ihn langsam kennen<br />

gelernt haben. Stück für Stück und Ton für Ton.<br />

„Im Prinzip entspricht der Unterricht den Musikstunden<br />

aller anderen Schüler an der Musikschule <strong>Reutlingen</strong>“, sagt<br />

Leiterin Karin Hurle, die heute als Zuhörerin dabei ist. In<br />

der zweiten Stuhlreihe hat sie Platz genommen, weil Peter<br />

Stary sie scherzend vor Axel warnte, der, wenn er den Löwen<br />

im Stück gibt, manchmal gefährlich nahe kommen kann.<br />

„In unserem Musikgarten, dem Unterrichtsangebot für Babys<br />

und Kleinkinder bis zu 18 Monaten, werden die Kleinen<br />

Beseeltes Spiel:<br />

Sarah probt für ihren großen Auftritt.<br />

ganz ähnlich an die Musik herangeführt, wie die Schüler<br />

der Rosegger­Schule.“ Sie experimentieren mit Rasseln und<br />

Klanghölzern und lernen nebenbei durch Kreistänze, was<br />

es bedeutet, wenn Musik ins Blut geht. „Danach folgt das<br />

Erarbeiten einzelner Teile eines Musikstückes mit einem Instrumentallehrer<br />

– wie im Individualunterricht für andere<br />

Schüler auch“, sagt Hurle. Am Ende, in der dritten Phase,<br />

steht schließlich das gemeinsame Vorspiel in einem Orchester<br />

oder als Solist.<br />

Auch Axel beherrscht sein Solo als Löwe perfekt. Um seinen<br />

Kopf trägt er eine Löwenmähne aus gelben, braunen<br />

und orangefarbenen Stofffetzen. Wenn seine Mitschüler das<br />

Lied „In the jungle the lion sleeps tonight“ anstimmen, werden<br />

seine Hände zu Pfoten mit scharfen Krallen, und sein<br />

Mund öffnet sich, um ein gefährliches Fauchen von sich zu<br />

geben. Ganz tief unten aus der Kehle kommt das Knurren,<br />

mit dem er auf die Musikschulleiterin zugeht, um dann aber<br />

kurz vor ihrem Stuhl wieder umzudrehen. Am Hals von Sarahs<br />

Violine sind bunte Aufkleber angebracht, die ihr zeigen,<br />

wie sie greifen muss. Noten kann Sarah genauso wenig lesen<br />

wie Axel. Vielleicht wird sie es aufgrund ihrer Behinderung,<br />

dem Down­Syndrom, auch nie lernen. Doch schlimm ist das<br />

nicht, denn mit dem Aufkleber­Trick kommt Sarah ganz gut<br />

zurecht. „Die Musik muss jedem Kind auf den Leib geschrieben<br />

werden“, sagt Karin Hurle.<br />

Julia, die beim Schlagzeugspielen so souverän wirkt wie<br />

der Drummer einer Profi­Band, hat zum Beispiel mit Flöte<br />

angefangen. „Die Atemtechnik fiel ihr schwer. Die Töne wollten<br />

nicht so recht kommen.“ Mit dem Schlagzeug scheint die<br />

16­Jährige aber ihr Element gefunden zu haben. Kraftvoll<br />

bedient sie die Pauke, lässt locker die Sticks über das Metall<br />

des Beckens tanzen, so dass es prasselt wie Tausende von Nägeln,<br />

die zu Boden fallen. „Bravo, Julia!“ ruft ihr Peter Stary,<br />

der Leiter der Musikgruppe, am Ende ihres Solos zu. „Am<br />

Samstag klappt das genauso gut.“ Julia nickt und wird ein<br />

wenig rot. „Auf das Konzert freu’ ich mich“, sagt sie, „ da<br />

kommt mein Vater und hört zu.“ Alles ganz normal.<br />


48 musIkschule<br />

49<br />

musik ohne grenzen<br />

drei monate alt ist der jüngste schüler an der musikschule reutlingen,<br />

81 jahre zählt der älteste<br />

AutorIn: kArIn kontny<br />

FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />

Musik bereichert die Menschen immer“, findet<br />

Karin Hurle, Leiterin der Musikschule <strong>Reutlingen</strong><br />

(msr). Die Zahl der Schüler scheint das zu<br />

bestätigen: 2100 von ihnen werden an der msr von 103 Lehrern<br />

unterrichtet. Und es werden immer mehr.<br />

Schon bei den ganz Kleinen fängt in <strong>Reutlingen</strong> die musikalische<br />

Förderung an. Insgesamt zehn Gruppen hat der so<br />

genannte Musikgarten, in dem der jüngste Besucher gerade<br />

einmal drei Monate alt ist, die älteren sind vier Jahre. Für<br />

die Gruppe der vier­ bis sechsjährigen Jungen und Mädchen<br />

bietet die Reutlinger Einrichtung musikalische Früherziehung<br />

und legt damit vielleicht sogar den Grundstein für die<br />

eine oder andere Musikerkarriere.<br />

Wie bei der jungen Pianistin Heike Hummel (17) oder der<br />

Sopranistin Melanie Bühler (24). Die beiden haben schon<br />

seit einigen Jahren Einzelunterricht an der Musikschule<br />

und nahmen im Mai am Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“<br />

teil. Der Nachwuchswettbewerb für Amateure, der in<br />

diesem Jahr in Karlsruhe stattfand, zeichnet jedes Jahr besondere<br />

musikalische Leistungen aus. Die Musikerinnen erhielten<br />

den 3. Bundespreis im Fach Gesang (Melina Bühler)<br />

und den 2. Bundespreis für bemerkenswerte Leistungen als<br />

Klavierbegleiterin (Heike Hummel). Dabei waren die Schülerinnen<br />

vor dem Wettbewerb nicht einmal in besonderen<br />

Förderklassen, sondern sind nach Angaben von Karin Hurle<br />

„aus dem normalen Stamm an Schülern erwachsen“. Durch<br />

„Leistungskontrolle mit viel Fingerspitzengefühl“ konnten<br />

die beiden die Qualität ihrer Musik aber immer mehr<br />

steigern. Den „Kick“ für die Teilnahme am Wettbewerb gab<br />

ihnen letztendlich ein gemeinsames Konzert mit der Württembergischen<br />

Philharmonie <strong>Reutlingen</strong>.<br />

Auch bei anderen Wettbewerben kann die Reutlinger<br />

Musikschule auf gute Leistungen zurückblicken. Beim Landeswettbewerb<br />

„folk & worldmusic“ erhielt im Jahr 2007 die<br />

Gruppe „hot folk“ der msr einen Förderpreis. Der Wettbewerb<br />

für Landesfolklore wird getragen vom Landesmusikrat.<br />

Unterstützt wird er außerdem vom Landesverband der Musikschulen.<br />

Das Besondere an dem Wettbewerb: Er wurde<br />

vom stellvertretenden Schulleiter Peter Bernreuther konzipiert.<br />

Die msr richtet die Aktion, die bereits fünf Mal stattgefunden<br />

hat, von Anfang an aus. Ensembles aus ganz Baden­<br />

Württemberg konkurrieren dabei um die von der Volksbank<br />

<strong>Reutlingen</strong> gestifteten Geldpreise.<br />

Bei Wettbewerben tritt der älteste Schüler der Musikschule<br />

zwar nicht mehr an. Er ist 81 Jahre alt und sein Instrument<br />

würde man nicht leicht erraten: Er spielt Schlagzeug.<br />

<<br />

InFO<br />

Alles hört auf die Dirigentin: Musikschul-Ensemble bei einem Konzert im Foyer<br />

der <strong>Volkshochschule</strong>. Die Förderung beginnt schon im Vorschulalter.<br />

An der Musikschule lernen Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Klassen-, Gruppen- oder Einzelunterricht.<br />

Im Musikgarten für Kleinkinder und der Musikalischen Früherziehung für Vorschulkinder führt die Musikschule<br />

spielerisch mit Tanz, Bewegung, Singen und Spiel auf elementaren Instrumenten in die Welt von Rhythmus<br />

und Melodie ein. Qualifizierter Instrumental- und Vokalunterricht fördert gezielt musikalische Begabungen und<br />

ermöglicht das gemeinsame Musizieren in Orchestern, Chören und Ensembles. In allen Sparten der E- und<br />

U-Musik können Jugendliche und Erwachsene ihre musikalischen Wünsche auf den unterschiedlichsten Instrumenten<br />

verwirklichen.<br />

Kontakt:<br />

Musikschule der <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong><br />

Spendhausstraße 6<br />

72764 <strong>Reutlingen</strong><br />

Telefon: 0 71 21 / 33 61 44<br />

email: info@musikschule-reutlingen.de<br />

Internet: www.musikschule-reutlingen.de


50 juGendkunstschule<br />

51<br />

fröhLiches tohuWabohu<br />

im kreativkarussell dreht sich alles um die künstlerischen kräfte,<br />

die in kindern stecken<br />

Autor: thomAs Becker<br />

FotoGrAF: peter Bernreuther<br />

Die kreativen Kräfte von Kindern und Jugendlichen<br />

zu wecken und in spielerischer Weise fortzuentwickeln,<br />

das ist das Ziel des „Kreativkarussells“.<br />

Es wird seit 2003 gemeinsam von Jugendkunstschule und<br />

Musikschule angeboten. Die Idee ist nicht ganz neu. Beispiele<br />

aus Nordrhein­Westfalen hatten Musikschulleiterin<br />

Karin Hurle inspiriert. Mit ihren Überlegungen rannte sie<br />

bei der Jugendkunstschule, in deren Verantwortungsbereich<br />

die meisten Sparten liegen, offene Türen ein.<br />

Gestalten, Tanzen, Trommeln und Theaterspielen wird<br />

über die Gesamtdauer eines Schuljahres in vier Aktionsphasen<br />

angeboten. Jeweils etwa neun Wochen lang erfahren die<br />

Kids eine Kunstsparte, dann dreht sich das Karussell. Dabei<br />

entkommen dann auch Jungen nicht dem Unterrichtsblock<br />

„tänzerische Bewegung“ – und sie entdecken, wie viel Spaß<br />

das macht. Ganz nebenbei lernen die Jungen und Mädchen<br />

auf diese Weise, welche musischen oder andere künstlerischen<br />

Talente in ihnen schlummern. Denn im Laufe der Zeit<br />

wird deutlich, wo der spontane Spaß an der Sache auf echte<br />

Motivation schließen lässt.<br />

Wichtig ist auch das Erleben von Gemeinschaft: Ohne<br />

Leistungsdruck gemeinsam mit anderen zu gestalten, zu<br />

trommeln, zu singen, sich zu bewegen und Theaterszenen<br />

zu erfinden. Und am Ende geht es darum, die Erfahrungen,<br />

Erlebnisse und das Gelernte in einer Abschlusspräsentation<br />

den Freunden, Eltern oder Großeltern vorzustellen. Das<br />

schafft Verantwortungsbewusstsein und lässt ganz unbewusst<br />

das Erfahrene vertiefen.<br />

Die 36 Kinder des ersten Kreativkarussell­Kurses hatten<br />

sich zum Thema „Dschungel“ allerhand einfallen lassen:<br />

Pappmaché­Viecher wurden gebaut, damit es im Dschungel<br />

auch richtig abgehen konnte. Seither gab es Themen wie<br />

„Unterwasserwelt“ oder, im Schuljahr 2006/2007, „Zirkus“.<br />

Immer war der Schlussakkord ein fulminantes, fröhliches<br />

Tohuwabohu, das allen Beteiligten und auch dem Publikum<br />

klar gemacht hat: Ein Jahr Kreativkarussell ist eine begeisternde<br />

und inspirierende Erfahrung.<br />

Und nicht nur die Erfahrungen der Kids sind ausgesprochen<br />

positiv. Auch den Eltern haben spätestens die Abschlusspräsentationen<br />

deutlich gemacht, dass es sich lohnt,<br />

den Kindern kreative Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten.<br />

Ähnlich, wenn auch mit anderen Vorzeichen, verhält es sei<br />

bei den beiden Zirkus­Projekten der Jugendkunstschule (JUKS)<br />

„Pipistrella“ und „Zansiba“. Auch hier werden den acht­ bis<br />

13­Jährigen von den Zirkuslehrern zwar artistische Höchstleistungen<br />

abverlangt. Was sie dabei aber auch noch lernen ist Respekt,<br />

Toleranz und Verantwortung im Umgang untereinander.<br />

<<br />

Beim Spiel mit den Reifen sollen die Kinder Kreativität<br />

und Körpergefühl entwickeln.<br />

InFO<br />

Unsere technisch orientierte Umwelt erfordert zusehends persönliche Gestaltungsfreiräume.<br />

Beim Umgang mit Farben, Formen und Materialien fördern die Kurse der Jugendkunstschule die Ideefindung,<br />

schulen die Kreativität, sensibilisiert für ästhetische Prozesse. In den Ateliers und Werkstätten können<br />

Kinder ab eineinhalb Jahren malen, zeichnen, bildhauern, drucken, fotografieren und die verschiedensten<br />

handwerklichen Techniken erlernen. Die 1991 gegründete Jugendkunstschule ist mittlerweile die drittgrößte<br />

Jugendkunstschule im Ländle.<br />

Kontakt:<br />

Jugendkunstschule <strong>Reutlingen</strong><br />

Spendhausstraße 6<br />

72764 <strong>Reutlingen</strong><br />

Telefon: 0 71 21 / 33 61 33<br />

email: jugendkunstschule@vhsrt.de<br />

Internet: www.vhsrt.de


52 pIstoIA<br />

53<br />

toskanische träume<br />

die <strong>Volkshochschule</strong> pflegt beziehungen zu der stadt pistoia<br />

Autor: wolFGAnG AlBer<br />

FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />

Wer Ambrogio Lorenzettis Fresko „Die gute<br />

Regierung“ von 1338/40 im Palazzo Pubblico<br />

von Siena genauer betrachtet, kann sie entdecken:<br />

Am unteren Bildrand treibt ein Bauer ein kleines<br />

Schwein vor sich her. Es ist schwarz und hat einen weißen<br />

Fellstreifen um den Bauch – das „Cinta Senese“, eine von<br />

der Wildsau abstammende Rasse. Sie stand kurz vor dem<br />

Aussterben, bis ein Konsortium sie schützte, Züchter sie<br />

wieder zur Schlachtreife päppelten. Vom Fleisch dieser frei<br />

lebenden Tiere stammen Schinken, Salami und Speck, den<br />

Metzgereien in Pistoia herstellen. Beim Toskanischen Markt<br />

italienischer Erzeuger und Direktvermarkter vor drei Jahren<br />

in <strong>Reutlingen</strong> servierte Luciano Bertini von der Genießerorganisation<br />

„Slow Food“ Pistoia in der italienisch angehauchten<br />

VHS­Cafeteria „La Bruschetta“ kulinarische Kostproben<br />

vom Cinta Senese wie cremigen, auf der Zunge zergehenden<br />

Lardo oder aromatisch­betörenden Prosciutto.<br />

Der seit 2004 im September im Reutlinger Spitalhof abgehaltene<br />

Markt bringt den Schwaben den toskanischen Himmel<br />

auf Erden näher: Salsiccia und Olivenöl, Pecorino und<br />

Chianti, Vin Santo und Cantuccini, Olivenbäume und ländliche<br />

Keramik. Ein südlicher Wärmestrom in der nördlichen<br />

Kältezone, mediterranes Flair, wie es die Tübinger mit im ihrem<br />

umbrisch­provencalischen Markt schon seit Jahren im<br />

Überfluss haben.<br />

Zu verdanken haben die Reutlinger den Toskanischen<br />

Markt der <strong>Volkshochschule</strong> und Claudia Ross. Die aus <strong>Reutlingen</strong><br />

stammende Sprachlehrerin lebt seit zwei Jahrzehnten<br />

in dem 30 Kilometer nordwestlich von Florenz im Herzen<br />

der Toskana gelegenen Pistoia. 1998 schlug sie der VHS eine<br />

Kooperation für Deutsch­ beziehungsweise Italienischkurse<br />

vor, so entstanden die ersten „Tandem­Kurse“: Wer Ita­<br />

Olivenöl und Brot, Salami und Pecorino, Wein und Honig<br />

aus der Gegend um Pistoia sind gefragte <strong>Spezial</strong>itäten beim<br />

Toskanischen Markt im Reutlinger Spitalhof.<br />

lienisch lernen will, wohnt in einer Gastfamilie in Pistoia,<br />

hat vormittags Italienisch­Unterricht, nimmt nachmittags<br />

am kultur­ und landeskundlichen Programm teil und lernt<br />

abends zusammen mit dem Gastgeber beim Tandem­Unterricht<br />

Deutsch und Italienisch. Drei Monate später kommen<br />

dann die italienischen Tandem­Partner zum Gegenbesuch<br />

nach <strong>Reutlingen</strong> zu einem entsprechenden Sprach­ und Kulturprogramm.<br />

Da Pistoia überregional auch bekannt ist für seine Tradition<br />

der Schinkenveredelung, fragten die Wirtschaftsförderer<br />

Pistoias bei der VHS an, ob <strong>Reutlingen</strong> denn nicht gleichfalls<br />

über ein altehrwürdiges Metzgerhandwerk verfüge. VHS­<br />

Leiter Ulrich Bausch verwies auf Wolfgang Göbel, stellte<br />

einen Kontakt zwischen den Innungen her, und eine Delegation<br />

von Reutlinger Metzgern brach auf, um die Pistoieser<br />

Kollegen kennenzulernen. Aus dieser „Salami­Schwarzwurst­Taktik“<br />

entstand der Toskanische Markt. Inzwischen<br />

sind an der Kooperation neben VHS und Metzgerinnungen<br />

noch die Stadtmarketing­ und Tourismusorganisationen<br />

beider Kommunen beteiligt.<br />

Die VHS hat die Zusammenarbeit inzwischen auf kulturelle<br />

Angebote ausgeweitet. Begleitend zum Markt zeigte<br />

sie 2006 Arbeiten des 1901 in Pistoia geborenen, 1980 in<br />

Viareggio gestorbenen, weltbekannten Bildhauers, Malers<br />

und Grafikers Marino Marini sowie seines heute 86­jährigen<br />

Schülers Jorio Vivarelli. 2007 waren dann in der VHS<br />

„Die Metamorphosen des Pinocchio“ von Paolo Tesi zu sehen,<br />

die auf den naseweisen Holzbengel anspielen, den der<br />

aus dem Dorf Collodi bei Pistoia stammende Autor Carlo<br />

Collodi 1881 als Abenteuergeschichte für eine Wochenzeitung<br />

und 1883 für sein weltweit verkauftes Kinderbuch<br />

geschaffen hat.


54 pIstoIA<br />

55<br />

Pistoia bietet nicht nur kulinarische Köstlichkeiten, sondern<br />

auch kulturelle Highlights wie das alljährliche Blues­<br />

Festival mit Stars wie B. B. King oder Chuck Berry. Die<br />

Stadt mit rund 92.000 Einwohnern hat zudem eine große<br />

Geschichte, von der insbesondere Sakralbauten der Romanik<br />

und Renaissance zeugen. Von den Römern im zweiten<br />

Jahrhundert unter dem Namen Pistorum gegründet, wurde<br />

Pistoia nach wechselvoller Geschichte und Zerstörung<br />

durch die Ostgoten im Jahr 406 im 12. Jahrhundert eine<br />

unabhängige „Comune“ mit regem Handel und florierender<br />

Wirtschaft. Später geriet Pistoia in die Machtkämpfe<br />

zwischen Ghibellinen und Guelfen und unter den Einfluss<br />

von Florenz. Papst Clemens VII. gründete in der ersten<br />

Hälfte des 16. Jahrhunderts das Großherzogtum Pistoia,<br />

das ins Großherzogtum Toskana überging. Damit kam die<br />

Stadt in den Machtbereich der Medici, die auch im Stadtbild<br />

Spuren hinterließen.<br />

Im Zentrum von Pistoia befindet sich die Piazza del Duomo<br />

mit dem romanischen Dom San Zeno. In der Nähe steht<br />

das nach Plänen von Andrea Pisano 1359 erbaute Baptisterium.<br />

Sehenswert sind weiter die 1495 von Ventura Vitoni<br />

errichtete Chiesa della Madonna dell’Umiltà mit einer der<br />

größten Kuppeln Italiens und das Ospedale del Ceppo aus<br />

dem 13. Jahrhundert mit seiner außergewöhnlichen Fassade.<br />

Über seinen mittelalterlichen Kern hinaus ist Pistoia heute<br />

ein wichtiger Standort der Metallverarbeitung, insbesondere<br />

der Eisenbahnindustrie. Und manche Etymologen leiten das<br />

Wort „Pistole“ aus dem Namen der Stadt ab, die im 16. Jahrhundert<br />

eine bedeutende Waffenschmiede war.<br />

„Pistoia hat alles, was ein toskanisches Traumstädtchen<br />

ausmacht“, schrieb Stephan Orth 2007 in „Spiegel online“.<br />

Der Satz zeigt einmal mehr die deutsche Italien­Seh(n)<br />

sucht, die auch an <strong>Reutlingen</strong> nicht vorbeigegangen ist. Am<br />

stärksten kommt sie vielleicht in der Familie des Dichters<br />

Hermann Kurz (1813–1873) zum Ausdruck. Seine Frau, die<br />

„rote“ Marie geborene von Brunnow (1826–1911), nannte<br />

einen der vier Söhne „Balde“ aus Verehrung für den italienischen<br />

Freiheitskämpfer Garibaldi. Die Mutter und drei<br />

ihrer fünf Kinder zog es mit Macht gen Süden. Alfred wurde<br />

Fremdenarzt in Venedig, er behandelte Richard Wagner und<br />

Friedrich Nietzsche. Alfred nannte seine Kinder Tristan und<br />

gleichfalls Isolde; Wagner wiederum soll von der Übersetzung<br />

des Epos' durch Hermann Kurz zu seiner Oper angeregt<br />

worden sein. Edgar machte in Florenz eine Arztpraxis<br />

auf, zu seinen Patienten zählten der Maler Alfred Böcklin<br />

oder der Kunsthistoriker Aby Warburg. Edgar ließ Mutter<br />

Marie und Schwester Isolde, Balde und Haushälterin Fina<br />

nachkommen; Balde starb bald darauf.<br />

Isolde war von Florenz fasziniert, bekam Kontakt zu<br />

Böcklin und zur Schriftstellerin Gisela von Arnim, der<br />

Tochter von Bettina von Arnim. In Florenz entstanden die<br />

„Florentiner Novellen“ und die „Italienischen Erzählungen“,<br />

die Isolde Kurz berühmt machen sollten. Im Fischerdorf<br />

Forte dei Marmi bei Viareggio gab es eine kleine deutsche<br />

Künstlerkolonie, eine frühe Toskana­Fraktion. Dort traf<br />

Isolde auch den Bildhauer Adolf von Hildebrand, der ihr<br />

ein Sommerhäuschen einrichtete. Und hier begegnete sie<br />

der Schauspielerin Eleonora Duse und dem Schriftsteller<br />

Gabriele d'Annunzio. Das Häuschen wurde ihr „Ankerplatz<br />

der Seele“, so die Literaturwissenschaftlerin Gisela Schlientz.<br />

Nachdem die Mutter nach der Rückkehr in Deutschland gestorben<br />

war, zog Isolde Kurz ebenfalls wieder zurück nach<br />

München und später nach Tübingen. 2004 benannte Forte<br />

dei Marmi eine Piazza nach ihr.<br />

In Ambrogio lorenzettis Fresko „Die gute Regierung“ ist<br />

es rechts unten zu sehen: Das schwarze „Cinta senese“ mit<br />

dem weißem Fellstreifen um den Bauch. Eine alte Schweinerasse,<br />

die heute wieder in der Toskana gezüchtet wird.<br />

Ein Familienzweig blieb in Italien, ihn hat die mit der Familie<br />

Kurz verwandte Reutlinger Historikerin Heidi Stelzer<br />

erforscht: Tristan heiratete eine Italienerin, hatte mit ihr<br />

drei Kinder. Die Tochter Carmen Sylva wurde 1944 mit 560<br />

Menschen bei einem Massaker der Waffen­SS im norditalienischen<br />

Bergdorf Sant’ Anna di Stazzema ermordet. Das<br />

Gedenken an die Familie hält der Nachfahre Carlo Barberi<br />

lebendig, zu den Erinnerungsstücken gehört auch der<br />

Schreibtisch von Isolde Kurz. Und in einem anderen Familienzweig<br />

heißt ein Junge wieder Hermann Kurz.<br />

Einen Ankerplatz der Seele, aber auch Verständnis für<br />

seelische Nöte fanden in Italien noch andere Reutlinger. In<br />

Arezzo suchten Studierende der damaligen Fachhochschule<br />

für Sozialwesen <strong>Reutlingen</strong> lernend Erkenntnisse aus der<br />

Reformbewegung der „Anti­Psychiatrie“, die hier eines ihrer<br />

Zentren hatte. In Talla machten einst Aktivisten des Jugendclubs<br />

„Zelle“ Urlaub. Und in diesem Örtchen im Casentino<br />

südlich von Florenz baute die Reutlinger Familie Maußhardt<br />

ein heruntergekommenes Bauerhaus aus, das nun bisweilen<br />

Schülerinnen und Schülern der an der VHS beheimateten<br />

„Zeitenspiegel­Reportageschule“ als Domizil für Rechercheund<br />

Schreibarbeiten fern von <strong>Reutlingen</strong> dient.<br />

Der Tübinger Kulturwissenschaftler Bernd Jürgen Warneken<br />

hat soeben „Eine Wiedererinnerung an Edgar Kurz“<br />

geschrieben und dabei einen Satz von Isolde Kurz zitiert, in<br />

dem bereits Perspektiven über das romantische Italien­Bild<br />

hinaus aufscheinen: „Vielleicht waren wir eine Probe der Europäer<br />

von übermorgen“, heißt es in Isoldes Buch „Die Pilgerfahrt<br />

nach dem Unerreichlichen“ von 1938. Auch Edgar,<br />

so Warneken, sei „ein Muster, ein Vorbild für transnationale<br />

Mobilität“ gewesen: „Nach Italia, nach Italia!“<br />

Weniger emphatisch, aber nicht weniger intensiv beschreiten<br />

nun die Pistoieser den umgekehrten Weg nach <strong>Reutlingen</strong>.<br />

Und noch in diesem Jahr soll es wiederum im Gegenzug<br />

einen schwäbischen Markt und eine Ausstellung mit Werken<br />

von Reutlinger Künstlern in Pistoia geben. <strong>Reutlingen</strong><br />

hat sieben Partnerschaften, eine italienische Kommune ist<br />

nicht darunter. Mit Pistoia ist nun eine Städtepartnerschaft<br />

unterhalb der offiziellen politischen Schwelle entstanden. Im<br />

Gegensatz zu manch anderer Verbandelung ist sie nicht von<br />

oben verordnet, sondern wird von unten mit Leben erfüllt.<br />

Die <strong>Volkshochschule</strong> hat damit zugleich Lernprozesse angestoßen,<br />

mit der die europäische Idee über den jeweiligen<br />

Kirchturmhorizont hinaus als Beziehung zwischen Menschen<br />

lebendig werden kann.<br />


56 cAFeterIA<br />

feLs in der bar<br />

aniello palumbo betreibt die Volkshochschul-cafeteria „La bruschetta“<br />

Autor: BAstIAn henrIchs<br />

FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />

Am frühen Nachmittag steht Aniello Palumbo<br />

hinter dem Tresen, hält ein Glas gegen das Licht,<br />

prüft, ob es sauber ist. Um diese Tageszeit ist es<br />

ruhiger im „La Bruschetta.“ Aus den Augenwinkeln bemerkt<br />

er einen Mann, der sich draußen an einen Tisch setzt. Palumbo<br />

wirft die Espressomaschine an. Er kennt viele seiner<br />

Gäste und weiß, was sie wünschen.<br />

Aniello Palumbo kommt aus der Nähe von Pompeji. Er<br />

hat früh begonnen, am Lebenstraum vom eigenen Restaurant<br />

zu arbeiten. Mit dreizehn Jahren jobbte er in einer Pizzeria.<br />

Der Besitzer bot ihm eine Wette an: Er müsse einen<br />

halben Liter Lambrusco trinken, mit Pausen zwar, aber ohne<br />

abzusetzen. Dann werde er ihm zeigen, wie man Pizza backt.<br />

Palumbo trank ohne abzusetzen, er bekam den Job. In der<br />

neunten Klasse schmiss er die Schule, zog bei seinen Eltern<br />

aus. In Restaurants stieg er bis zum „Chef de Rang“ auf. Da<br />

verliebte er sich. Aber die Arbeit in einem Restaurant, die<br />

langen Nächte, die kurzen Wochenenden, tun keiner Liebe<br />

gut. Palumbo wurde Verkäufer für Kurzwaren.<br />

Er tat es aus Liebe, und seiner Frau Maria Luisa versprach<br />

er, in Italien zu bleiben. „Ich war sehr unglücklich, aber ich<br />

wollte mein Versprechen halten“, sagt Palumbo. Doch irgendwann<br />

sah seine Frau das traurige Gesicht ihres Aniello.<br />

Nun war sie es, die ihm vorschlug, nach Deutschland zu<br />

gehen und dort seinen Traum vom eigenen Restaurant zu<br />

verwirklichen.<br />

Aniello Palumbo brauchte nicht lange, um fündig zu werden.<br />

„Zuerst wollte ich die VHS­Cafeteria nicht übernehmen,<br />

alles war viel zu steril und langweilig eingerichtet“, sagt er,<br />

„aber dann habe ich das Potenzial erkannt.“ Er machte daraus<br />

ein italienisches Bistro mit dekorierten Tischen, verspiegeltem<br />

Spirituosenregal hinter der Bar, großer Espressomaschine, ita­<br />

lienischer Karte. „Wir machen fast alles selber“, sagt Palumbo.<br />

Die Zutaten lässt er frisch aus Italien liefern – nur die Brezeln<br />

sind tiefgefroren. „Ich bin zwar Italiener“, sagt Palumbo und<br />

streicht mit der Hand die Spitzen des weißen Tischdeckchens<br />

glatt, „aber ich liebe die deutsche Mentalität.“ In Italien sagen<br />

sie schon „Aniello der Deutsche“ zu ihm.<br />

Morgens, bevor er aufschließt, kontrolliert Palumbo als erstes<br />

die Kaffeemaschine, schaut nach, ob die Milch noch haltbar<br />

ist, wirft einen kritischen Blick in die Küche. Alles muss<br />

sauber, alles muss perfekt sein. Er mag es, wenn Verabredungen<br />

eingehalten werden, und er organisiert gerne. Trotzdem:<br />

Beim Sprechen wedelt er ununterbrochen mit den Händen,<br />

während er seine Gäste in einen kurzen Plausch verwickelt,<br />

häufig redet er zwischendurch ein paar Worte italienisch<br />

und ist zu Scherzen aufgelegt.<br />

„Ich wollte immer ein richtiges Restaurant haben“, sagt<br />

Aniello Palumbo, „aber hier habe ich viel mehr Möglichkeiten<br />

und brauche nicht nachts zu arbeiten.“ Dafür schuftet er<br />

vierzehn Stunden täglich, nur sonntags ist „La Bruschetta“<br />

geschlossen.<br />

Stressig wird es für Palumbo immer dann, wenn die VHS­<br />

Kursteilnehmer um zehn Uhr große Pause haben, und zur<br />

Mittagszeit. Dann muss alles vorbereitet sein und wie am<br />

Schnürchen laufen. Seine Frau ist in der Küche, Fabrizio Remondini<br />

bedient im Bistro. Palumbo steht wie ein Fels an<br />

der Bar und schaut, wer von den Stammgästen kommt, um<br />

ihm die Bestellung von den Lippen abzulesen.<br />

Je voller es wird, desto glücklicher sieht Aniello Palumbo<br />

aus. „Das hier ist mein Leben“, sagt der 49­Jährige und zieht<br />

die Mundwinkel so hoch, dass sie die Enden seines Schnauzbarts<br />

berühren.<br />


58 InteGrAtIon<br />

59<br />

die deutschmacherin<br />

i m mer meh r au slä nder wol len deut sch ler nen u nd melden<br />

sich zu integrationskursen an<br />

AutorIn: hAtIce kIlIcer<br />

FotoGrAF: mArInko BelAnov<br />

Ein Wirbelwind betritt den Klassenraum. Monika<br />

Calmbach rudert mit den Armen, zeigt, während<br />

sie spricht, mit den Fingern auf Bilder, als wären die<br />

21 Schüler vor ihr taub. „Auto“, sagt sie und fragt: „Der, die<br />

oder das?“ Menzur aus dem Libanon meldet sich: „Auto das“<br />

sagt er und erntet ein freundliches Nicken. „Fast richtig, das<br />

Auto.“<br />

Heute ist der dritte Tag in Stufe 1, Grundkurs für Einwanderer,<br />

die den Integrationskurs besuchen, um Deutsch<br />

zu lernen. Serben sitzen neben Georgiern, Libanesen neben<br />

Türken, Südamerikaner neben Philippinen – und keiner<br />

versteht ein Wort Deutsch. An fünf Vormittagen die Woche<br />

unterrichtet Monika Calmbach die Gruppe im dritten Stock<br />

der <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong>.<br />

Auf einem Blatt Papier steht „Telefonnummer“. Blaise aus<br />

dem Kamerun sagt: „Das Telefonnummer.“ Wieder nur fast<br />

richtig. „Es heißt das Telefon, aber die Telefonnummer“, erklärt<br />

die Lehrerin. Blaise schüttelt den Kopf und fasst sich<br />

an die Stirn. Die vergangenen zehn Jahre lebte er in Italien<br />

und arbeitete als Konditor. „Eigentlich bin ich Italiener, ich<br />

spreche perfekt italienisch“, sagt er stolz. Seit wenigen Tagen<br />

ist er in Deutschland, er hat sich in eine Reutlingerin verliebt.<br />

Blaise will nicht in einem Land leben, dessen Sprache<br />

er nicht versteht.<br />

Als nächstes sollen die Schülerinnen und Schüler Sätze<br />

vervollständigen: „Wie heißt Du? Woher kommst Du? Ich<br />

bin?“ Der 14­jährige Cody aus den USA protestiert: „Nein,<br />

das ist keine Frage!“ „Ja, das stimmt“, sagt Lehrerin Calmbach.<br />

„Ich bin . . . muss mit einem Punkt enden. Da habe ich<br />

wohl einen Fehler gemacht.“ Die Klasse lacht. Die studierte<br />

Sozialpädagogin nimmt es gelassen. Schließlich macht sie<br />

diese Arbeit schon seit zwanzig Jahren. „Es ist nur schade,<br />

dass wir so große Klassen haben. Einundzwanzig Schüler<br />

sind ganz schön viel. Optimal wären sechzehn Leute in einem<br />

Kurs. Das würde auch den Studenten mehr bringen.<br />

Manchmal geht der eine oder andere unter.“<br />

160 Schüler haben sich zu den Kursen im vergangenen<br />

Halbjahr angemeldet, die Zahl wächst stetig. Seit Anfang<br />

2006 haben fast 900 Einwanderer einen Integrationskurs an<br />

der VHS durchlaufen. Drei von vier Absolventen bestehen<br />

die Prüfung, die Deutschkenntnisse eines Hauptschulabschlusses<br />

verlangt.<br />

Die Lehrerin möchte allerdings mehr als Sprachkenntnisse<br />

vermitteln. Schließlich wollen nicht wenige Kursteilnehmer<br />

einmal die deutsche Staatsangehörigkeit – und dazu müssen<br />

sie auch Grundkenntnisse in Geschichte, Kultur, Recht und<br />

Politik besitzen. 45 Stunden sind dafür insgesamt vorgesehen<br />

– „zu wenig“, findet Monika Calmbach, „da kann man<br />

viele Themen nur kurz anreißen.“<br />

Ausländer müssen sich laut einer Verordnung der Bundesregierung<br />

mit einem Euro pro Stunde an den Kosten<br />

beteiligen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge<br />

bezahlt zudem einen kleinen Beitrag. „Das reicht bei weitem<br />

nicht aus, um die tatsächlichen Kurskosten zu decken“, sagt<br />

VHS­Geschäftsführer Ulrich Bausch, „zumal wir gezwungen<br />

sind, für jeden Teilnehmer 37 Formulare auszufüllen.“<br />

Dennoch will er die Kurse auch in Zukunft weiter anbieten:<br />

„Die <strong>Volkshochschule</strong> ist ein Ort der Integration, in ihr sollen<br />

sich auch Einwanderer heimisch fühlen.“<br />

<<br />

Deutsch ist eine schwere Sprache –<br />

macht aber auch Spaß zu lernen: Schüler<br />

im Integrationskurs.


60 tGv<br />

61<br />

„je m’appeLLe annemarie“<br />

dreieinhalb stunden braucht der tgV von stuttgart nach paris – zeit genug,<br />

u m i m „ schnel l sten sprac h k u r s der Welt “ ei n paar f ra n zösi sche redewendu ngen<br />

zu lernen.<br />

Autor: phIlIpp mAusshArdt<br />

FotoGrAF: erIc vAzzoler<br />

Schülerinnen im rollenden Klassenzimmer:<br />

Bis Paris wissen sie, wie man sich in Frankreich begrüßt.<br />

Susanne Fuchs hat die Tafel unter den Arm geklemmt,<br />

Stifte, Papier und ihre Vesperdose mit Nudelsalat<br />

sind im Rucksack verstaut. Vom Bahnsteig 11 des<br />

Stuttgarter Bahnhofs beobachtet sie, wie ihr Klassenzimmer<br />

in den Kopfbahnhof einrollt. Es hat rund 26.000 PS und<br />

bringt es auf eine Spitzengeschwindigkeit von 330 Stundenkilometern.<br />

Der TGV (Train à Grand Vitesse), der seit wenigen<br />

Wochen dreimal am Tag Stuttgart mit Paris verbindet,<br />

ist das „schnellste Klassenzimmer“ der Welt. Reisende<br />

können in einem abgetrennten Abteil die Grundlagen der<br />

französischen Sprache lernen.<br />

In Wagen 18, wo normalerweise die Zöllner sitzen, ist<br />

heute das Abteil mit seinen acht Sitzplätzen für Frau Fuchs<br />

und ihre Schüler reserviert. Kaum hat der TGV den Stuttgarter<br />

Bahnhof verlassen, begrüßt der Zugbegleiter die zugestiegenen<br />

Fahrgäste über den Bordlautsprecher, weist erst<br />

auf das Zugbistro und dann auf „einen besonderen Service“<br />

hin: „In wenigen Minuten beginnt in Wagen 18 ein Französischkurs<br />

für Anfänger.“ Da hat Susanne Fuchs bereits ihre<br />

Tafel mit Saugnäpfen an das Abteilfenster geheftet, ihre Unterlagen<br />

zurecht gelegt und wartet auf die Schüler. Etwas unsicher<br />

nähert sich eine Frau: „Ist das hier der Sprachkurs?“<br />

Bald sitzt sie mit sechs anderen Reisenden dicht an dicht in<br />

den weichen Sesseln, der Unterricht kann beginnen.<br />

Drei Freundinnen auf dem Weg zu einem vergnüglichen<br />

Wochenende, zwei Rathausmitarbeiterinnen einer schwäbischen<br />

Kleinstadt auf Betriebsausflug und ein Student aus<br />

Konstanz, der sich in Paris ein Zimmer für sein Praktikum<br />

suchen will, üben sich in den Nasallauten. „Bonjour, je<br />

m’appelle Annemarie“, sagt die Rathausangestellte fehlerfrei<br />

aber mit dem harten Akzent der Albbewohner, da ist der<br />

TGV noch nicht einmal in Straßburg.<br />

Die Idee zu diesem Sprachkurs hatte die <strong>Volkshochschule</strong><br />

<strong>Reutlingen</strong>, die bereits seit zehn Jahren Bahnpendlern auf<br />

der Strecke nach Stuttgart die Fahrtzeit mit Vokabeln und<br />

Grammatik verkürzt. Deutscher Bahn (DB) und ihrem französischen<br />

Partner SNCF, die die Route in Kooperation betreiben,<br />

gefiel der Vorschlag. Bei einem Testversuch im September<br />

waren die Plätze in wenigen Minuten ausgebucht,<br />

seit Oktober gibt es den Sprachkurs einmal monatlich ab<br />

Stuttgart. Allerdings nur in der einen Richtung. Denn beim<br />

Versuch, den nach Deutschland reisenden Franzosen im<br />

Gegenzug erste Kenntnisse der deutschen Sprache anzubieten,<br />

blieb das „fliegenden Klassenzimmer“ leer.<br />

Draußen fliegen weiße Charolais­Rinder und Zaunpfosten<br />

vorbei, im Zollabteil lernt man die Trinkgeldregel auf<br />

französisch: „Nie dem Kellner das Geld direkt geben, man<br />

lässt es auf einem kleinen Teller am Tisch liegen.“ Lehrerin<br />

Kursleiterin Susanne Fuchs im TGV: Draußen fliegen<br />

die Rinder vorbei.<br />

Fuchs hat die Zahlen eins bis zehn an die Tafel geschrieben.<br />

Noch stockend ringen die Kursteilnehmer um die Aussprache:<br />

„Vier Eintrittskarten für den Louvre bitte, vier Erwachsene<br />

und zwei Kinder.“ „Geht doch schon prima“, ermuntert<br />

Susanne Fuchs den Studenten, und der strahlt.<br />

Kurz vor Paris bestellt „Annemarie d’Albstadt“ ihr erstes<br />

Menu auf französisch: „Une salade de crevettes, s’il vous<br />

plaît“. Alle klatschen. Und bekommen zur Belohnung noch<br />

ein Ringbuch mit nützlichen Redewendungen geschenkt.<br />

„Gut gegangen“, sagt Susanne Fuchs und zeigt auf die bisher<br />

von niemand bemerkten Metallhaken an der Wand des<br />

Abteils. „Sollte im Zug jemand verhaftet werden“, erklärt<br />

Fuchs, „wird er von den Zöllnern hier mit Handschellen fest<br />

gemacht. Dann muss der Kurs leider ausfallen.“<br />

<<br />

InFO<br />

Der Kurs findet alle zwei Wochen freitags im TGV<br />

ab Stuttgart um 08:54 Uhr statt und kostet 30 Euro<br />

pro Person.<br />

Kontakt:<br />

<strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong><br />

Spendhausstraße 6<br />

72764 <strong>Reutlingen</strong><br />

Telefon: 07121/336-0<br />

email: sprachkurs-tgv@vhsrt.de<br />

Internet: www.vhsrt.de


zWischen kindern, kochtopf und karriere<br />

familie und job unter einen hut zu bringen, ist nicht einfach.<br />

die Vol k shochschu le reut l i ngen bietet ku r se a n , d ie frauen au f d ie<br />

rückkehr in den beruf vorbereiten<br />

AutorIn: nIcolA meIer<br />

FotoGrAFIn: AmrAI coen<br />

Große blaue Kulleraugen gucken die Mama an. Ver­<br />

schlafen steht Annika neben dem Auto und lässt<br />

sich die hellblaue Regenjacke überziehen. Sie hat gerade<br />

keine Lust auf den Kindergarten. Der Himmel über dem<br />

Parkplatz ist wolkenverhangen. Es nieselt. „Komm Annika“,<br />

sagt Carmen Holtz und nimmt die rechte Hand ihrer jüngsten<br />

Tochter. Schmollend stapft Annika los, ihre kleine rosa Barbietasche<br />

fest an sich gedrückt. Der Abschied im Kindergarten ist<br />

kurz. Eine Umarmung und ein dicker Kuss, dann eilt Mutter<br />

Holtz mit schnellen Schritten zurück zum Parkplatz.<br />

Wenn Carmen Holtz ihre Tochter morgens um viertel<br />

vor acht im Kindergarten absetzt, ist sie schon zwei Stunden<br />

auf den Beinen. Hat das Frühstück vorbereitet, sich überlegt,<br />

was es zum Mittagessen gibt und die Wäsche gemacht.<br />

All das, was anfällt in einem Fünf­Personen­Haushalt, in<br />

dem die Mutter wieder in den Beruf einsteigen will. Carmen<br />

Holtz ist 40 Jahre alt, war früher Chefsekretärin und hat drei<br />

Kinder. Annika ist drei, Jasmin acht und Jonas elf Jahre alt.<br />

„Ich bin ganz arg gern Mutter und liebe meine Kinder sehr“,<br />

sagt Holtz. „Aber arbeiten möchte ich trotzdem wieder.“ Seit<br />

Februar besucht sie den Kurs „W.I.E. – Wiedereinstieg. Individuell.<br />

Erfolgreich.“ an der <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong>.<br />

Jeden Morgen fährt Holtz die knappe halbe Stunde von<br />

Großengstingen nach <strong>Reutlingen</strong>, um sich auf die Rückkehr<br />

in den Beruf vorzubereiten. Der Kurs wird zweimal jährlich<br />

von der „Kontaktstelle Frau und Beruf “ angeboten. Er richtet<br />

sich an Frauen, die früher im kaufmännischen Bereich<br />

gearbeitet haben und besteht aus fünf Monaten Unterricht<br />

und zweieinhalb Monaten Praktikum. Die Agentur für Arbeit<br />

fördert den Kurs.<br />

Pünktlich um halb neun sitzt Holtz zusammen mit 13<br />

anderen Frauen im Computerraum der VHS. Die Haltung<br />

63<br />

der Frauen ist aufrecht, ihre Blicke sind hellwach. Sie wollen<br />

lernen. Lernen, um bald wieder arbeiten zu können. Ingrid<br />

Notter hat einen Platz in der ersten Reihe und hört mit konzentriertem<br />

Gesichtsausdruck zu, wie man Geschäftsbriefe<br />

erstellt. Die gelernte Industriekauffrau hat wie Holtz der Familie<br />

wegen aufgehört zu arbeiten. Ihr Mann brachte zwei<br />

Teenager mit in die Ehe, dann kam der gemeinsame Sohn<br />

Tobias. Der ist inzwischen fast erwachsen und Notter seit<br />

vier Jahren geschieden. Noch lebt sie vom Unterhalt ihres<br />

Ex­Mannes, zwei Nachmittage in der Woche jobbt sie bei<br />

einem kleinen Raumausstatter im Verkauf. Doch die paar<br />

Stunden reichen ihr nicht. Notter will einen Halbtagsjob.<br />

„Ich bin sehr positiv eingestellt“, sagt sie. „Aber ich weiß<br />

auch, wie die Chancen auf dem Arbeitsmarkt in meinem Alter<br />

sind.“ Notter ist 52 Jahre alt, sieht mit ihrer sportlichen<br />

Kleidung, den goldblond gesträhnten Haaren und der faltenfreien<br />

Haut aber zehn Jahre jünger aus.<br />

Am anderen Ende des Raumes sitzt Carmen Holtz und ist<br />

frustriert, weil Word gerade nicht so will wie sie. Die Kursleiterin<br />

hilft, der Geschäftsbrief nimmt Form an. Mit ordentlicher<br />

Handschrift macht Holtz sich Notizen auf ihrem<br />

Block. Die Kursunterlagen liegen fein säuberlich abgeheftet<br />

vor ihr in einem Ordner, der genauso pink ist wie die Bluse,<br />

die sie heute zu Jeans und Turnschuhen trägt. Auf Trennblättern<br />

hat Holtz die Inhalte der einzelnen Kurseinheiten<br />

geschrieben: Ablage, Schriftverkehr, Excel, Internet, Word.<br />

„Am meisten bringt mir der EDV­Teil“, sagt die Wiedereinsteigerin.<br />

Drei Stunden dauert der Kurs täglich, geklönt wird<br />

in der Viertel­Stunden­Pause um zehn. Nach dem Unterricht<br />

ist dafür keine Zeit mehr, dann eilen Holtz, Notter und<br />

die anderen Teilnehmerinnen los, um ihre Kinder abzuholen<br />

und zu kochen.


64 kontAktstelle<br />

65<br />

Oben / Schöne Aussichten: Ingrid notter (links) und die anderen<br />

Kursteilnehmerinnen haben gute Chancen auf einen job.<br />

Rechts / Unheimlich motiviert: Carmen Holtz, hier mit ihrer<br />

jüngsten Tochter Annika, will zurück in ihren Beruf.<br />

Notter drückt aufs Gaspedal ihres schwarzen Golfs und<br />

düst nach Wannweil, wo sie mit Tobias in einem kleinen Einfamilienhaus<br />

wohnt. Auf der Couch im Wohnzimmer zappt<br />

Tobias zwischen „RTL Punkt 12“ und den French Open auf<br />

Eurosport, während Notter den Tisch deckt. Tobias ist 17<br />

Jahre alt und macht seinen Realschulabschluss. „Tobias, hast<br />

Du aufgeräumt?“, ruft Notter aus der Küche, während sie die<br />

Bolognese­Soße für die Spaghetti umrührt. „Tobias stand<br />

immer an erster Stelle“, sagt Notter und stellt Nudeln und<br />

Soße auf den Tisch. Natürlich habe sie schon früher überlegt,<br />

in den Beruf zurückzukehren. „Aber Job, Kinder und<br />

Haushalt – da wäre Tobias auf der Strecke geblieben. Ich bewundere<br />

die Frauen, die das alles unter einen Hut kriegen.“<br />

„Da ist dann ja auch ein Mann“, sagt Tobias. „Stimmt“, sagt<br />

Notter und gabelt eine Portion Spaghetti auf. „Bei mir geht’s<br />

nicht geteilt durch zwei.“<br />

Bei Familie Holtz gibt es heute Gemüseeintopf. Rasend<br />

schnell schnippelt Carmen Holtz Möhren und Zwiebeln<br />

klein. Annika wirbelt durch die Küche, ihre Schwester Jasmin<br />

deckt im Wohnzimmer den Tisch. „Darüber, dass ich<br />

arbeiten gehe, würde ich mit meinen Kindern nicht diskutieren“,<br />

sagt die dreifache Mutter. „Natürlich erstmal nur<br />

Teilzeit. Ein Vollzeitjob mit drei kleinen Kindern, das geht<br />

nicht.“ Dafür mangele es in Deutschland zu sehr an der Betreuung<br />

der Schulkinder, sagt sie. „Wenn das durch Ganztagsschulen<br />

mit einer richtig guten Lernbetreuung geregelt<br />

wäre, dann könnte ich mehr arbeiten.“<br />

Ingrid und Tobias Notter essen zum Nachtisch noch ein<br />

Mars­Eis, dann werden die schmutzigen Teller ab­ und Notters<br />

Bewerbungsunterlagen auf den Tisch geräumt. Notter<br />

ruft bei der Firma an, bei der sie sich um ein Praktikum beworben<br />

hat. Die Praktikumsplätze werden nicht vermittelt,<br />

aber die Frauen bekommen im Kurs Hilfe bei der Bewerbung.<br />

Notter sieht angespannt aus. Sie wählt, wartet und<br />

fragt dann höflich nach ihrer Ansprechpartnerin. „Ach so,<br />

die Frau Wilhelm ist heute nicht da. Wann kann ich sie denn<br />

morgen erreichen?“ Heute hatte die Bewerberin keinen Erfolg.<br />

„Ich muss bis morgen warten.“ Sie packt ihre Tasche,<br />

in zwanzig Minuten muss sie beim Raumausstatter sein.<br />

„Leben kann ich von dem Job nicht“, sagt Notter. „Lieber<br />

hätte ich eine richtige Halbtagsstelle.“ Dann wäre sie auch<br />

nicht mehr auf den Unterhalt ihres Ex­Mannes angewiesen.<br />

„Das wäre ein Stück Unabhängigkeit.“<br />

In der Küche von Carmen Holtz duftet es nach Eintopf.<br />

Der Blick der Mutter wechselt zwischen Wanduhr und Küchenfenster.<br />

„Eigentlich müsste Jonas schon hier sein“, sagt<br />

sie. Einen Moment später geht die Haustür und ihr Ältester<br />

lässt im Flur den Rucksack fallen. „Jetzt sind wir komplett.“<br />

Holtz trägt den dampfenden Topf ins Wohnzimmer. „Essen<br />

ist fertig!“ Seit fast acht Stunden ist die 40­Jährige jetzt ohne<br />

Unterbrechung auf den Beinen. Zeit für sich hat sie tagsüber<br />

kaum. Elternabende, Zahnarzttermine oder Probleme bei<br />

den Hausaufgaben, irgendwas ist immer. „Klar ist es stressig“,<br />

sagt Holtz, „und es gibt schon mal eine Woche, in der<br />

ich darüber nachdenke, ob es mit einem Job nicht zuviel<br />

wird. Aber dann kommt die nächste Woche und es wird besser.“<br />

Wieder zurück in den Beruf will sie unbedingt. „Ich tue<br />

das für mich“, sagt sie.<br />

Ihre Chance, einen Job zu finden, ist gut. Die Erfolgsbilanz<br />

der Wiedereinstiegs­Kurse ist beachtlich. Ein Jahr nach<br />

dem Kurs haben 85 Prozent der Frauen einen Job. Die Firmen<br />

sollten nicht so viel Angst vor Frauen mit Kindern haben,<br />

findet Holtz. „Mag sein, dass sie nur Teilzeit arbeiten.<br />

Aber wenn eine Frau sich für den Wiedereinstieg entscheidet,<br />

dann ist sie motiviert. Sogar unheimlich motiviert.“ Sie<br />

schließt die Augen und faltet die Hände zum Tischgebet.<br />

Carmen Holtz ist motiviert. Sogar unheimlich motiviert.<br />


66 erGotherApIe<br />

67<br />

um die ecke sehen und denken<br />

die ergot herapieschu le a n der Vol k shochschu le bi ldet f ü r<br />

praxisnahe heilmittelberufe aus<br />

Autor: olIver keppler<br />

FotoGrAF: steFAn junGer<br />

Sonja Gottwald steht im Klassenraum und wendet ihren Schülern den Rücken zu. Sie holt aus<br />

einem Regal, das neben der grünen Tafel steht, ein gold glänzendes Brillenetui hervor. Vorsichtig<br />

öffnet sie die Klappe und nimmt behutsam eine schwarze Brille mit dicken Bügeln, einem<br />

viereckigen Rahmen und seltsam geriffeltem Glas in die Hand – ein Designer­Modell sieht anders aus.<br />

Aber um modischen Schnickschnack geht es im Unterricht der Berufsfachschule für Ergotherapie an<br />

der <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong> sowieso nicht.<br />

„Das ist eine Prismen­Brille“, sagt Gottwald und reicht sie einer Schülerin. Die zögert kurz, setzt die<br />

Brille auf kichert: „Ich kann mir in den eigenen Ausschnitt schauen“, sagt sie, während sie den Kopf<br />

gerade hält. „Die Prisma­Brille“, erklärt Gottwald, „ist für bettlägrige Menschen gedacht.“ Damit könne<br />

man bequem liegen und dennoch ein Buch lesen. Einem Kind würde man das vielleicht so erklären:<br />

Das ist eine Brille, mit der man um die Ecke schauen kann.<br />

Es ist ein kleines, aber symbolisches Accessoire für eine Ergotherapieschule. Zwar müssen die Schüler<br />

hier nicht um irgendwelche Ecken schauen. Aber um die Ecke denken, dass müssen angehende Ergotherapeuten<br />

manchmal schon. „Negativ ausgedrückt“, sagt Heidrun Henschel, Leiterin der Schule,<br />

„ist die Ergotherapie eine große Mischform. Irgendwie machen wir alles.“ Positiv ausgedrückt sei die<br />

Ergotherapie aber ein einzigartiger Beruf, weil er medizinische und sozialwissenschaftliche Grundlagen<br />

hat und sich um die individuellen Bedürfnisse der Klienten kümmert. Ein Ergotherapeut baut<br />

zusammen mit einem Kind einen Turm aus Bauklötzen und trainiert dabei die motorischen Fähigkeiten.<br />

Er zeigt Senioren, wie sie sich im Alter bücken und gefahrlos setzen können. Er trainiert mit<br />

behinderten Menschen den Umgang mit Rollstühlen. Ein Ergotherapeut muss sich mit Materialien und<br />

Werkzeugen auskennen, und er muss wissen, welche Muskeln für welche Bewegungen notwendig sind.<br />

Kreativ arbeiten wollte Anna­Maria Zasun schon lange. „Jeder Patient ist anders, jeden Patienten<br />

muss man anders behandeln“, sagt die 23­Jährige. Daher müsse man sehr flexibel sein. Vor zweieinhalb<br />

Jahren entschied sie sich, aus ihrer Heimat Altensteig im Schwarzwald wegzuziehen, um die Ausbildung<br />

an der Berufsfachschule für Ergotherapie in <strong>Reutlingen</strong> zu beginnen. „Ich habe einen Tipp<br />

bekommen“, sagt Zasun. „Die Schule wurde mir von einem Ergotherapeuten empfohlen, bei dem ich<br />

ein Praktikum absolviert habe.“ Ihre Entscheidung bereut sie nicht.<br />

Seit 1977 ist die Ergotherapie ein geregelter Berufsausbildungsgang in Deutschland. Zusammen<br />

mit der Logopädie und der Physiotherapie gehört sie zur Gruppe der Heilmittelberufe. Die Reutlinger<br />

Schule wurde 1980 unter dem Dach der <strong>Volkshochschule</strong> gegründet.<br />

Drei Jahre dauert die Ausbildung, jedes Jahr werden 20 bis 25 Schüler aufgenommen. Auf dem<br />

Stundenplan stehen Fächer wie Anatomie, Hygiene und Arzneimittellehre, aber auch Pädagogik,<br />

Eine Schiene wird hergestellt. Vom Schnittentwurf über das Anmodellieren<br />

bis zur gebrauchsfertigen Schiene zeichnet die Ergotherapeutin verantworlich.<br />

Die angehenden Ergotherapeuten lernen, wie verschiedenste Hilfsmittel individuell<br />

hergestellt werden, um Funktionen zu verbessern oder Alltagstätigkeiten<br />

wieder zu ermöglichen.


68 erGotherApIe<br />

69<br />

Psychologie, Staatskunde und Fachenglisch. Den theoretischen Grundlagen folgen praktische Übungen<br />

in ergotherapeutischen Behandlungsmethoden.<br />

In einem Klassenzimmer stehen dreizehn Schüler in einem Kreis. Sie drücken ihre Hüften durch,<br />

schieben den Kopf nach vorne und machen einen Buckel. Thema der heutigen Stunde: Erkrankungen<br />

an der Wirbelsäule. Lehrerin Gottwald wirft einen Gymnastikball in die Mitte. Durch die Übung sollen<br />

sich die Schüler in die Lage eines Kranken versetzen. Nur mit Mühe nimmt einer der Schüler den<br />

Ball auf und wirft ihn unbeholfen weiter. „Das Blickfeld ist in dieser Haltung ziemlich eingeschränkt<br />

und damit auch die Kommunikation und Kontaktfähigkeit“, sagt Sonja Gottwald. Die Schüler lernen,<br />

welche Muskeln bei dieser Art der Erkrankung gedehnt und gestärkt werden müssen, um die Haltung<br />

zu verbessern.<br />

Für Anna­Maria Zasun ist die Ergotherapie ein Traumberuf. Sie ist im dritten Ausbildungsjahr,<br />

macht derzeit das letzte von vier vorgesehenen Praktika – in einer Ergotherapiepraxis in Pliezhausen.<br />

Im Oktober wird sie ihr Staatsexamen in Händen halten. Im Gegensatz zu Auszubildenden in anderen<br />

Berufen wird sie bis dahin aber noch keinen Cent verdient haben. Im Gegenteil: 410 Euro kostet die<br />

Berufsfachschule im Monat. „Das ist im Vergleich zur dualen Ausbildung mit Lehrbetrieb, Lehrvertrag<br />

und Lehrgehalt natürlich ein Nachteil“, sagt Henschel.<br />

Nach dem Abschluss ist nicht garantiert, dass die Schüler einen gut bezahlten Job ergattern. „Die<br />

Aussichten sind nicht so rosig“, sagt Anna­Maria Zasun. „Aber ich bin optimistisch. Aus dem vergangenen<br />

Jahrgang hat jeder einen Job bekommen.“ Auch Heidrun Henschel ist zuversichtlich. „Innerhalb<br />

eines Jahres schaffen es unsere Schülerinnen und Schüler in den Beruf.“<br />

Für Henschel stelle sich allerdings die Frage, zu welchen Bedingungen die neuen Ergotherapeuten<br />

arbeiten: „Das ist in den vergangenen Jahren ziemlich prekär geworden.“ Schlechte Bezahlung, befristete<br />

Verträge, Teilzeitjobs – all das gehört zum Alltag vieler Ergotherapeuten. Da müssen unsere<br />

Schüler wirklich hochmotiviert sein, wenn sie es schaffen wollen“, sagt Henschel. „Aber das sind sie<br />

auch. Wir haben keine Abbrecher bei unserer Ausbildung.“.<br />

Auch Anna­Maria Zasun glaubt an ihre Chance. Vielleicht kann ich erst einmal eine Schwangerschaftsvertretung<br />

übernehmen. Außerdem sei sie flexibel, so wie es der Beruf verlangt. Wenn sich eine<br />

Stelle in Berlin bietet, „dann gehe ich eben nach Berlin“.<br />

<<br />

InFO<br />

Seit 28 Jahren bildet die Berufsfachschule für Ergotherapie in <strong>Reutlingen</strong> junge Menschen aus.<br />

Der Unterricht ist vielseitig, flexibel, kreativ. Die dreijährige Vollzeitausbildung beginnt jeweils<br />

am 1. Oktober. In den ersten beiden Jahren werden die medizinischen, sozialwissenschaftlichen<br />

und ergotherapeutischen Grundlagen erarbeitet. Im dritten Jahr absolvieren die Schüler<br />

vier Praktika im neurologischen, psychiatrischen und im orthopädischen Bereich sowie in der<br />

Arbeitsrehabilitation. Zugangsvoraussetzungen sind ein mittlerer Schulabschluss oder Abitur.<br />

Erwartet wird zudem ein dreimonatiges Vorpraktikum in einem Berufsfeld der Ergotherapie.<br />

Ergotherapeuten haben vielfältige Tätigkeitsfelder: sie reichen von Kliniken, Rehazentren,<br />

Praxen, Bildungseinrichtungen für behinderte Kinder bis hin zum Produktdesign für therapeutische<br />

Spiele und Hilfsmittel.<br />

Kontakt:<br />

Berufsfachschule für Ergotherapie an der <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong><br />

Spendhausstraße 6<br />

72764 <strong>Reutlingen</strong><br />

Telefon: 0 71 21 / 33 61 43<br />

email: info@etschule-reutlingen.de<br />

Internet: www.etschule-reutlingen.de<br />

der erfoLg des schrebergartens<br />

die „zeitenspiegel-reportageschule günter dahl“ zählt zu den besten<br />

ausbildungsstätten ihrer art in deutschland<br />

Autor: phIlIpp mAusshArdt<br />

FotoGrAF: mArInko BelAnov


70 reportAGeschule<br />

71<br />

Wo bitte liegt <strong>Reutlingen</strong>? Und was soll das<br />

heißen, ‚Kooperation mit der Volkhochschule?’“<br />

Die Anfragen nach einem Platz an<br />

der vor fünf Jahren gegründeten „Zeitenspiegel­Reportageschule<br />

Günter Dahl“ enthielten stets dieselben beiden<br />

Fragen. Hamburg und München, das wusste man, dort saßen<br />

und sitzen die renommiertesten beiden Journalistenschulen<br />

der Republik. Aber <strong>Reutlingen</strong>, und dann noch<br />

an einer <strong>Volkshochschule</strong>...<br />

Im fünften Jahr des Bestehens müssen solche Fragen immer<br />

seltener beantwortet werden. In dieser nur sehr kurzen<br />

Zeit ist es gelungen, einen Ausbildungsgang zu etablieren,<br />

der in Deutschland wohl einmalig ist: In einem intensiven<br />

einjährigen Kurs werden junge, talentierte Nachwuchsjournalisten<br />

zu Reportern geschult. Benannt nach dem verstorbenen<br />

früheren „Stern“­Reporter Günter Dahl, lernen zwölf<br />

Journalistinnen und Journalisten die Grundlagen sauberer<br />

Recherche, kreativer Schreibe und nicht zuletzt ethischer<br />

Verantwortung in einem schwierigen Gewerbe.<br />

Den Grundstock zum Erfolg der Schule haben vor allem<br />

erfahrene Journalisten großer deutscher Magazine gelegt,<br />

die als Dozenten nach <strong>Reutlingen</strong> kommen. Unter ihnen<br />

auch die langjähriger Leiterin der bekanntesten Journalistenschule<br />

Deutschlands, Ingrid Kolb, die 16 Jahre lang der<br />

Henri­Nannen­Schule vorstand. Darin besteht auch die Attraktivität<br />

der Schule: Praktiker, die als Vollblutjournalisten<br />

im Beruf stehen, unterrichten den Nachwuchs. Da kommt<br />

es schon mal vor, dass mitten im Unterricht das Handy klingelt<br />

und ein Dozent zu einem aktuellen Einsatz muss. Davon<br />

profitieren die Kursteilnehmer. Wie organisiert man einen<br />

solchen Einsatz in einem Krisengebiet? Wie beschafft man<br />

sich auf schnellstem Wege Hintergrundinformationen? Noch<br />

während der Ausbildung sind auf diese Weise einige Schüler<br />

der Reportageschule zu einem Auslandseinsatz gekommen.<br />

Um Dozenten, Curriculum und Praktikumsplätze kümmert<br />

sich die in Endersbach (Remstal) beheimatete Reportageagentur<br />

„Zeitenspiegel“, Organisation und Verwaltung<br />

obliegen der VHS. Offenbar traf man damit einen Nerv: Die<br />

Anmeldezahlen steigen jedes Jahr an, die Liste der Dozenten<br />

liest sich wie das Who is Who des deutschen Journalismus.<br />

Und im Kuratorium der Schule sitzen Edzard Reuter (ehem.<br />

Vorstandsvorsitzender der Daimler­Benz AG), Anton Hunger<br />

(Porsche) und Gerd Schulte­Hillen (Ex­Vorstandschef<br />

Gruner und Jahr) sowie eine Reihe weiterer Persönlichkeiten,<br />

denen die fundierte Ausbildung junger Journalisten am<br />

Herzen liegt.<br />

Für die Teilnehmergebühr von monatlich 200 Euro wird<br />

eine Menge geboten: eine Woche Auslandstraining in Italien,<br />

Kontakte in großen Magazin­Redaktionen, Praktikumsstellen<br />

bei „Spiegel“, „Stern“, „Geo“ oder „Zeit.“ Dort<br />

nimmt man die „Reutlinger“ inzwischen mit Handkuss.<br />

Die Hamburger Redaktion der Zeitschrift „mare“ schickte<br />

Ex­Schüler der Reportageschule rund um den Globus, um<br />

zusammen mit Absolventen der Fachhochschule für Fotografie<br />

Hannover ein ganzes Heft zu gestalten. Aber auch regional<br />

hinterlassen die Schüler ihre Handschrift: So erhält<br />

der jeweils letzte Lehrgang von der in <strong>Reutlingen</strong> ansässigen<br />

Heinrich­Schmid­Unternehmensgruppe den Auftrag, einen<br />

Geschäftsbericht in Reportageform zu erstellen.<br />

Statt einem Abschlusszeugnis produzieren die Reportageschüler<br />

ein eigenes Magazin. „Go“ heißt es, weil es jetzt<br />

hinausgeht in die Welt. Ein Magazin vergleichbarer Qualität<br />

gibt es in Deutschland von keiner anderen journalistischen<br />

Ausbildungseinrichtung.<br />

Vorherige Seite / neue Perspektiven: Reportageschüler<br />

lernen von erfahrenen Praktikern wie Patrick Reinhardt<br />

(rechts) und Maja Smrcek (3. von rechts), wie Wort und<br />

Bild sich gegenseitig ergänzen.<br />

Oben / Gab der Schule seinen namen:<br />

„Reporter des lebens“ Günter Dahl<br />

InFO<br />

Der einjährige Lehrgang beginnt im April und gliedert<br />

sich in vier Unterrichtsquartale: Grundlagen, Praktika,<br />

Vertiefung, Magazin-Redaktion. Angesprochen sind<br />

junge Journalisten mit Schreiberfahrung, Sprachkenntnisse<br />

sind erwünscht. Im ersten Quartal wird<br />

während eines Auslandsaufenthaltes eine Auslandsreportage<br />

angefertigt. Die Lehrgangsgebühren betragen<br />

200 Euro pro Monat, die Teilnehmerzahl ist auf zwölf<br />

beschränkt.<br />

Kontakt:<br />

Zeitenspiegel-Reportageschule Günter Dahl<br />

c/o <strong>Volkshochschule</strong> <strong>Reutlingen</strong><br />

Spendhausstraße 6<br />

72764 <strong>Reutlingen</strong><br />

Telefon: 0 71 21 / 33 61 82<br />

email: info@reportageschule.de<br />

Internet: www.reportageschule.de<br />

Baden­Württemberg verfügt zwar über die meisten unabhängigen<br />

Tageszeitungen, und viele Buchverlage sitzen ebenfalls<br />

im Land. Doch als klassischer Medienstandort ist der<br />

Südwesten weitgehend abgemeldet. Da schaut die Republik<br />

nach Hamburg, Berlin oder München. Umso erstaunlicher,<br />

dass eine Initiative ohne staatliche Förderung in wenigen<br />

Jahren eine solche Erfolgsgeschichte schreibt: Die Absolventen<br />

der Schule arbeiten inzwischen als gefragte Reporter für<br />

große deutsche Magazine, sind in überregionalen Redaktionen<br />

gerne gesehene Mitarbeiter, und erst jüngst haben sich<br />

einige Absolventen in Berlin zu einem Journalistenbüro zusammen<br />

geschlossen.<br />

Einmal in <strong>Reutlingen</strong> angekommen, empfinden übrigens<br />

die meisten der Journalistenschüler die Stadt als sympathischen<br />

Standort. Die Ablenkung hält sich in Grenzen – und<br />

Übungsthemen gibt es in Stadt und Umgebung zuhauf. So<br />

wird sich mancher vielleicht schon gewundert haben, wie lokale<br />

Thema ihren Weg in die überregionalen Medien gefunden<br />

haben: Der Verkauf eines Skilifts in Holzelfingen auf der<br />

Schwäbischen Alb... Entenjagd im Reutlinger Wasenwald...<br />

oder der Überlebenskampf eines Milchbauern in Eningen<br />

unter der Achalm... die Republik schaut auf <strong>Reutlingen</strong>. Das<br />

ist übrigens ganz im Sinne von Namensgeber Günter Dahl:<br />

Der „Reporter des Lebens“ wurde vom ehemaligen „Stern“­<br />

Gründer Henri Nannen dadurch geadelt, dass er ihm bescheinigte:<br />

„Dahl findet auf zwei Quadratmeter Schrebergarten<br />

mehr Geschichten als andere auf einem Kontinent.“<br />


„Wenn das foto nicht gut genug ist,<br />

Warst du nicht nah genug dran“<br />

Wie die <strong>Volkshochschule</strong> zu einer robert-capa-ausstellung kam<br />

AutorIn: AmrAI coen<br />

FotoGrAF: mArInko BelAnov


74 AusstellunG<br />

Da staunt selbst der Chefreporter<br />

der „Stuttgarter Zeitung“: josef-Otto<br />

Freudenreich betrachtet das Foto<br />

eines Flüchtlingstrecks.<br />

Jeder Bildjournalist kennt diesen Spruch – die Maxime<br />

des legendären Kriegsfotografen Robert Capa. Er ist<br />

immer nah genug dran. Bis er mit vierzig Jahren selbst<br />

Opfer des Krieges wird und 1954 in Indochina auf eine<br />

Landmine tritt. Als er stirbt, hält er seine Kamera in beiden<br />

Händen.<br />

Robert Capa, Mitgründer der Fotoagentur „Magnum“,<br />

sieht man normalerweise nur in den Kunsthäusern der großen<br />

Metropolen wie New York oder Paris. <strong>Reutlingen</strong> im<br />

Frühjahr 2008 zählt nicht zu den Städten, die mit hochkarätigen<br />

Ausstellungen tausende von Besuchern anziehen. Umso<br />

mehr war es eine kleine Sensation, als die <strong>Volkshochschule</strong><br />

<strong>Reutlingen</strong> eine Retrospektive Capas mit knapp 90 seiner<br />

bekanntesten Fotografien zeigte. Über drei Stockwerke verteilt<br />

waren die Schwarz­Weiß­Aufnahmen des Pioniers der<br />

Kriegsfotografie zu sehen. Davor wurde die Ausstellung im<br />

Nobel­Museum Stockholm gezeigt.


76 AusstellunG<br />

links / Szenen aus dem Spanischen Bürgerkrieg.<br />

Rechts / Magnum-Kuratorin Andréa Holzherr führt<br />

durch die Capa-Ausstellung.<br />

In <strong>Reutlingen</strong> waren nicht nur Bilder des Schreckens ausgestellt.<br />

Capas Arbeit beschränkte sich nicht allein auf Kriegsfotografien.<br />

„Er ist vielfältiger gewesen, als sein Bild in der<br />

Öffentlichkeit suggeriert“, sagte Kunsthistorikerin Andréa<br />

Holzherr von der Fotoagentur „Magnum“ bei der Ausstellungseröffnung<br />

in <strong>Reutlingen</strong>. Neben den Aufnahmen, in<br />

denen er das Leid des Krieges zeigt, entpuppt sich Capa als<br />

einfühlsamer Portraitfotograf. Berühmtheiten wie Ernest<br />

Hemingway, Truman Capote und Ingrid Bergmann ließen<br />

sich von ihm ablichten. Mit Bergmann wird ihm sogar eine<br />

kleine Romanze nachgesagt.<br />

Sein kurzes Leben gleicht einem Abenteuerroman. 1913<br />

wird Endre Friedmann in Budapest geboren. Der Sohn jüdischer<br />

Eltern studiert Politik in Berlin. Um ein bisschen Geld<br />

zu verdienen, fotografiert er für den Berliner „Weltspiegel“,<br />

seine ersten Fotos zeigen Leo Trotzki bei einer Rede in Kopenhagen<br />

und erregen sogleich Aufmerksamkeit. Mit 21<br />

Jahren flüchtet Capa 1934 vor dem Nazi­Regime nach Paris.<br />

Mit im Gepäck: seine Leica.<br />

Dort hält er sich mit kleinen Fotoaufträgen über Wasser.<br />

Für eine Schweizer Lebensversicherung soll er blonde Mädchen<br />

im Park fotografieren. In einem Café spricht er eines<br />

an, Ruth Cerf ist ihr Name. Ob sie sich nicht von ihm fotografieren<br />

lassen wolle, fragt Endre Friedmann. Der gut aussehende<br />

Mann trägt eine abgenutzte Lederjacke und einen<br />

Drei­Tage­Bart, seine schwarzen Haare sind ungekämmt.<br />

„Er war Ruth ein bisschen zu wild. Sie hatte Angst vor ihm“,<br />

sagt Ulrich Bausch, Geschäftsführer der VHS und Capa­Experte.<br />

„Deshalb brachte sie ihre mutige Freundin Gerta mit<br />

zum Shooting, obwohl sie gar nicht blond war.“<br />

Die Freundinnen Ruth und Gerta waren wegen ihrer jüdischen<br />

Herkunft, wie Capa auch, vor den Nazis aus Deutschland<br />

nach Paris geflohen. Gerta Pohorylle war als Tochter<br />

polnischer Eltern in Galizien und <strong>Reutlingen</strong> aufgewachsen.<br />

In Paris verdienen die 23­jährigen Frauen Ruth und Gerta<br />

ihr Geld als Sekretärinnen. Ihre Freizeit verbringen sie<br />

in Straßencafés, wie der ungarische Fotograf Endre Friedmann.<br />

Als Ruth ihre beste Freundin mit zum Shooting bringt, ist<br />

sie nicht mehr der Star vor der Linse des Fotografen. „Endre<br />

sah Gerta, und die zwei verliebten sich sofort“, weiß Bausch.<br />

Endre bringt Gerta das Fotografieren bei, „er vermittelte ihr<br />

seine ganze Leidenschaft.“<br />

Die beiden können von den Fotoaufträgen aber kaum<br />

leben. Die ständige Geldnot bringt Gerta auf eine Idee. Sie<br />

tauscht Endres Lederjacke gegen einen eleganten Anzug<br />

und verschafft ihm und sich mit einem Künstlernamen eine<br />

neue Identität: Ab jetzt ist er der berühmte amerikanische<br />

Fotograf Robert Capa und sie seine Agentin Gerta Taro. Die<br />

Pariser Zeitungsredaktionen glauben diese Geschichte, und<br />

die Einnahmen des jungen Liebespaares verdreifachen sich.<br />

1936 reisen Capa und Taro nach Spanien, um den Bürgerkrieg<br />

zu dokumentieren. Capa und Taro fotografieren an<br />

vorderster Front. Gerta Taros Fotos zeigen schlafende Soldaten,<br />

republikanische Miliz­Frauen, die am Strand das Schießen<br />

üben, und eine Kriegswaise, die ihre Suppe löffelt. Taros<br />

Bilder überzeugen durch ihre Nähe zu den Personen.<br />

Capa hat den leidenden Menschen im Fokus. Sein erstes<br />

Bild, das um die Welt geht, entsteht im spanischen Bürgerkrieg.<br />

Er fotografiert einen republikanischen Soldaten im<br />

Moment seines Todes, als er mit dem Gewehr in der Hand<br />

zu Boden stürzt. Es wird sein berühmtestes Bild. Doch der<br />

Krieg, der Capa bekannt und berühmt macht, nimmt ihm<br />

seine große Liebe: In Spanien stirbt seine Lebensgefährtin<br />

Gerta Taro, sie wird von einem Panzer überrollt. Capa macht<br />

sich Vorwürfe, dass er nicht bei ihr ist, als sie stirbt. Wenige<br />

Tage später, an ihrem 27. Geburtstag, muss Capa die<br />

Geliebte in Paris beerdigen. Hunderttausende folgen ihrem


VHS-Geschäftsführer Dr. Ulrich Bausch, Andréa Holzherr und der<br />

Kirchentellinsfurter Bürgermeister Bernhard Knauss vor Capas berühmtesten<br />

Bild eine sterbenden republikanischen Soldaten.<br />

Sarg zum Friedhof Père­Lachaise. Der Trauerzug wird zur<br />

Demonstration gegen den Faschismus.<br />

„Damals war sie so berühmt wie ein Popstar“, sagt Bausch.<br />

„Heute kennt man sie nur noch als Capas Geliebte.“ Doch<br />

kürzlich wurden drei Koffer Capas mit Filmrollen auf einem<br />

Dachboden in Mexiko gefunden. Darunter sind Aufnahmen<br />

von Gerta Taro, die nun in New York von Experten bearbeitet<br />

werden. Dieser sensationelle Fund könnte Taros Rolle als<br />

eigenständige Fotografin wieder aufleben lassen. „Wenn die<br />

Bilder endlich ausgewertet sind, wollen wir natürlich Gerta<br />

Taros Fotos in der VHS ausstellen“, sagt Bausch.<br />

Capa fotografiert in den Jahren nach Taros Tod die japanische<br />

Invasion in China, die Schauplätze des Zweiten<br />

Weltkriegs in Europa und den ersten Israelisch­Arabischen<br />

Krieg. Mit seinen Bildern dokumentierte er fünf Kriege auf<br />

drei Kontinenten. Er fährt auf Panzern, springt aus Flugzeugen,<br />

weicht Kugeln aus und steht in der ersten Frontlinie.<br />

„Das war ein gewaltiger Kick für Capa“, sagt Bausch. „das<br />

Adrenalin machte ihn süchtig.“<br />

Als Fotograf ist er bei der Landung der amerikanischen<br />

Soldaten in der Normandie (D­Day) dabei, die am Omaha­<br />

Beach an Land gehen. Seine Schwarz­Weiß­Fotos gehen<br />

um die Welt und sind selbst noch 50 Jahre später für Steven<br />

Spielberg die stilistische Vorlage zu seinem Film „Der Soldat<br />

James Ryan“.<br />

1947, mit 34 Jahren, gründet Capa zusammen mit Henri<br />

Cartier­Bresson und anderen Kollegen die bis heute renommierteste<br />

Fotoagentur: „Magnum“. Die Agentur ist angeb­<br />

lich nach der Zwei Liter­Champagnerflasche benannt. „Er<br />

war ein notorischer Trinker und Spieler“, sagt Bausch. „Das<br />

Leid, das er in den Kriegen sah, belastete ihn. Er führte ein<br />

Doppelleben.“ Wenn er nicht in Kriegsgebieten unterwegs<br />

ist, lebt er in der High Society. Viele Berühmtheiten zählen<br />

inzwischen zu seinem Bekanntenkreis: Pablo Picasso, Humphrey<br />

Bogart, Truman Capote. Aber die Welt der Prominenten<br />

ist nichts für Capa. „Hollywood ist die größte Scheiße,<br />

in die ich je getreten bin“, soll er einmal gesagt haben. Für<br />

seinen letzten Fotoauftrag geht er an die Front, um den Krieg<br />

der Franzosen in Indochina zu dokumentieren. Und kehrt<br />

nicht zurück.<br />

Capa entwickelte eine neue Art, den Krieg zu zeigen. Er<br />

befreite die Kriegsfotografie von jeglichem Kitsch, jeglichem<br />

Bombast, jeglicher Heldenromantik, und zeigte das<br />

nackte Leid. „Mit unseren Ausstellungen wollen wir das<br />

Image der <strong>Volkshochschule</strong>n prägen“, sagt Bausch. Auf dem<br />

Weg dahin waren in letzter Zeit auch „Die Metamorphosen<br />

des Pinocchio“, Zeichnungen und Gemälde des renommierten<br />

italienischen Grafikers Paolo Tesi zu sehen. Oder<br />

Grafiken von Marino Marini. Oder aktuelle mexikanische<br />

Druckgrafik.<br />

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© Verein für Volksbildung <strong>Reutlingen</strong> e. V., <strong>Reutlingen</strong> 2008<br />

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Online­Dienste und Internet sowie Vervielfältigung<br />

auf elektronischen Datenträgern bedürfen der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Herausgebers.<br />

Artdirektion und Layout: Patrick Reinhardt / Zeitenspiegel<br />

Redaktion: Wolfgang Alber, Ulrich Bausch, Stefan Junger, Philipp Maußhardt<br />

Druck: Druckerei Fink, Pfullingen<br />

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07121 336121<br />

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1. Vorsitzender: Dr. Rainer Märklin<br />

2. Vorsitzender: BM Robert Hahn<br />

Geschäftsführer: Dr. Ulrich Bausch<br />

Prof. Monika Barz<br />

Agnete Bauer­Ratzel<br />

Suse Gnant<br />

Stefan Lachenmann<br />

Ursula Menton<br />

Johannes Ritzi<br />

Anette Rösch<br />

Als Vertreter des Gemeinderats:<br />

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