44 ArchItektur 45 links / Von außen zeigt sich die <strong>Volkshochschule</strong> mit spitzen Giebeln, Sprossenfenstern und umlaufenden Stahlbandprofilen als moderne Variante des alten Fachwerkhauses. Rechts / Im Innern des Volkshochschulhauses gruppieren sich Turm, Treppen und Galerien zu offenen Verbindungsebenen.
46 musIkschule 47 Wo sprache aufhört, fängt musik an an der musikschule reutlingen lernen auch geistig behinderte kinder, sich ganz neu auszudrücken AutorIn: kArIn kontny FotoGrAF: peter Bernreuther Wenn Axel zum Löwen wird, dann beben die Wände. Und die sonst so stille Sarah lässt einen ganzen Vogelschwarm zwitschern, die Geige unters Kinn geklemmt. Oder Julia, deren mächtiges Wummern am Schlagzeug an eine durch den Dschungel trampelnde Elefantenherde erinnern soll. Das Zauberzeichen dazu gibt Musiklehrer Peter Stary mit einer fast unmerklichen Bewegung. Generalprobe für das musikalische Erzählstück „Pippi in Musikalien“. Im kleinen Saal des Spitalhofs in <strong>Reutlingen</strong> ist die Aufregung spürbar, aber auch Konzentration und Stolz. In drei Tagen ist es soweit. Dann werden die zwölf Mädchen und Jungen, die jetzt im Kreis stehen, ihren großen Auftritt haben. Beim Tag der offenen Tür der Musikschule <strong>Reutlingen</strong> wollen sie zeigen, was sie im vergangenen Jahr gelernt haben. Die jungen Musiker sind geistig behinderte Kinder und Jugendliche der PeterRoseggerSchule im Alter zwischen acht und sechzehn Jahren. „Heute gehen wir das ganze Programm durch“, sagt Peter Stary und drückt den beiden Kindern links und rechts neben sich die Hand, als wolle er sie ermutigen. Ein paar Jungen und Mädchen machen es ihm nach und geben einen Händedruck an ihren Nachbarn weiter. Wie eine Welle des gegenseitigen Zuspruchs wandert er im Kreis umher. Manchmal müssen solche Gesten der Zuneigung und Aufmerksamkeit füreinander sein. Weil ein Auftritt für die Mädchen und Jungen eine enorme Leistung ist. Denn viele von ihnen brauchen ständig einen Begleiter, können ihre Schuhe nicht ohne Hilfe binden und manchmal keinen ganzen Satz formulieren. Weil ihnen die Gedanken im Kopf einfach verloren gehen. Sich in Luft auflösen oder nur als Fetzen ihren Weg nach draußen finden. Doch wie weggeblasen scheint das Handicap jedes Einzelnen zu sein, sobald sie beginnen, zusammen zu musizieren. „Mit den Tönen gehen wir runter und rauf “, singt Peter Stary. Lässt dabei den Oberkörper nach unten fallen und richtet sich dann wieder auf. Die Kinder und sechs weitere Lehrer, welche die Musikschüler von der PeterRosegger Schule betreuen, machen es ihm nach. Wie das Blattwerk einer durstigen Pflanze hängen sie ihre Arme nach unten, um sie kurz danach wieder nach oben zu strecken. Aufrecht und gestärkt wie nach einem erfrischenden Sommerregen. Jetzt kann es richtig losgehen. Jedes Kind schnappt sich sein Instrument oder setzt sich davor. Axel hängt sich ein glänzendes Saxophon an das Band um seinen Nacken. Julia nimmt hinter dem Schlagzeug Platz, und die kleine Sarah, die heute ihren zehnten Geburtstag feiert, umfasst vorsichtig den Hals ihrer Violine. Während Peter Stary von Pippi Langstrumpfs Reise durch Musikalien erzählt, setzen die Musiker nach und nach ein. Jeder kennt die Stelle, an der er sein Instrument sprechen lassen darf. Musikalien – das Land, in dem statt Sätzen Melodien erklingen – ist vielen der jungen Musiker über das vergangene Jahr zu so etwas wie einem Zuhause geworden. Zu einem Ort, an dem sie sich sicher fühlen, weil sie ihn langsam kennen gelernt haben. Stück für Stück und Ton für Ton. „Im Prinzip entspricht der Unterricht den Musikstunden aller anderen Schüler an der Musikschule <strong>Reutlingen</strong>“, sagt Leiterin Karin Hurle, die heute als Zuhörerin dabei ist. In der zweiten Stuhlreihe hat sie Platz genommen, weil Peter Stary sie scherzend vor Axel warnte, der, wenn er den Löwen im Stück gibt, manchmal gefährlich nahe kommen kann. „In unserem Musikgarten, dem Unterrichtsangebot für Babys und Kleinkinder bis zu 18 Monaten, werden die Kleinen Beseeltes Spiel: Sarah probt für ihren großen Auftritt. ganz ähnlich an die Musik herangeführt, wie die Schüler der RoseggerSchule.“ Sie experimentieren mit Rasseln und Klanghölzern und lernen nebenbei durch Kreistänze, was es bedeutet, wenn Musik ins Blut geht. „Danach folgt das Erarbeiten einzelner Teile eines Musikstückes mit einem Instrumentallehrer – wie im Individualunterricht für andere Schüler auch“, sagt Hurle. Am Ende, in der dritten Phase, steht schließlich das gemeinsame Vorspiel in einem Orchester oder als Solist. Auch Axel beherrscht sein Solo als Löwe perfekt. Um seinen Kopf trägt er eine Löwenmähne aus gelben, braunen und orangefarbenen Stofffetzen. Wenn seine Mitschüler das Lied „In the jungle the lion sleeps tonight“ anstimmen, werden seine Hände zu Pfoten mit scharfen Krallen, und sein Mund öffnet sich, um ein gefährliches Fauchen von sich zu geben. Ganz tief unten aus der Kehle kommt das Knurren, mit dem er auf die Musikschulleiterin zugeht, um dann aber kurz vor ihrem Stuhl wieder umzudrehen. Am Hals von Sarahs Violine sind bunte Aufkleber angebracht, die ihr zeigen, wie sie greifen muss. Noten kann Sarah genauso wenig lesen wie Axel. Vielleicht wird sie es aufgrund ihrer Behinderung, dem DownSyndrom, auch nie lernen. Doch schlimm ist das nicht, denn mit dem AufkleberTrick kommt Sarah ganz gut zurecht. „Die Musik muss jedem Kind auf den Leib geschrieben werden“, sagt Karin Hurle. Julia, die beim Schlagzeugspielen so souverän wirkt wie der Drummer einer ProfiBand, hat zum Beispiel mit Flöte angefangen. „Die Atemtechnik fiel ihr schwer. Die Töne wollten nicht so recht kommen.“ Mit dem Schlagzeug scheint die 16Jährige aber ihr Element gefunden zu haben. Kraftvoll bedient sie die Pauke, lässt locker die Sticks über das Metall des Beckens tanzen, so dass es prasselt wie Tausende von Nägeln, die zu Boden fallen. „Bravo, Julia!“ ruft ihr Peter Stary, der Leiter der Musikgruppe, am Ende ihres Solos zu. „Am Samstag klappt das genauso gut.“ Julia nickt und wird ein wenig rot. „Auf das Konzert freu’ ich mich“, sagt sie, „ da kommt mein Vater und hört zu.“ Alles ganz normal.