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Gefahr für Neulati - Jungschar.biz

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<strong>Gefahr</strong> <strong>für</strong> <strong>Neulati</strong><br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Ein Jugendbuch von Lothar Sauer, erschienen als Neuaflage1971 im Otto –<br />

Maier – Verlag Ravensburg, erstmals 1960 unter dem Titel Die Chronik des<br />

Staates <strong>Neulati</strong>' vom Erich-Schmidt-Verlag, Bielefeld herausgegeben.<br />

Nur zu Vorlese- und Erzählzwecken in der <strong>Jungschar</strong> gedacht – und zu sonst<br />

nichts!<br />

Knabe mit dem Blasrohr ist einer der vier Gründer des Jungenstaates <strong>Neulati</strong>.<br />

Die Freunde bauen sich ein tolles Hauptquartier. Aber ihre Feinde, die<br />

Teichsträßer, entdecken es: <strong>Gefahr</strong> <strong>für</strong> <strong>Neulati</strong>!<br />

Mit List und in harten Kämpfen verteidigen die Bürger von <strong>Neulati</strong> ihr Reich.<br />

Doch dann finden sie eine Bombe aus dem letzten Krieg: <strong>Gefahr</strong> <strong>für</strong> <strong>Neulati</strong>! –<br />

<strong>Gefahr</strong> <strong>für</strong> alle!<br />

10. August .............................................................................................................................................3<br />

11. August .............................................................................................................................................4<br />

12. August .............................................................................................................................................5<br />

20. August .............................................................................................................................................7<br />

23. August ...........................................................................................................................................10<br />

25. August ...........................................................................................................................................11<br />

26. August ...........................................................................................................................................11<br />

28. August ...........................................................................................................................................16<br />

29. August ...........................................................................................................................................21<br />

30. August ...........................................................................................................................................29<br />

31. August ...........................................................................................................................................33<br />

1. September........................................................................................................................................33<br />

2. September........................................................................................................................................33<br />

3. September........................................................................................................................................33<br />

4. September........................................................................................................................................34<br />

5. September........................................................................................................................................42<br />

6. September........................................................................................................................................44<br />

7. September........................................................................................................................................44<br />

1/49


Die grauen Wolken fuhren gelassen durch den Regen. Ich finde, das ist ein wundervoller Satz, und<br />

deshalb habe ich ihn auch an den Anfang dieser Blätter gesetzt. Die grauen Wolken also fuhren gelassen<br />

durch den Regen, als wir unter dem Regendach der Limonadenbude die Gründung unserer Bande<br />

beschlossen. Wir, das waren vier Mann: Goggo, Knabe, Marabu und ich.<br />

Vor uns sprang der Regen tausendfach in winzigen Fontänen vom Asphalt, über unsern Köpfen rann er<br />

knisternd auf das Leinwanddach, hinter uns die Limonadentante hatte ihren Schalter zugeknallt und<br />

machte Mittagspause, denn es war so gegen eins, und wir waren auf dem Heimweg von der Schule.<br />

Goggo lehnte mürrisch mit dem Hinterkopf am Holz der Budenwand, spielte mit den Riemen seiner<br />

Mappe und bezeichnete die Witterung als „polizeiwidriges Pladderwetter“, der Ausdruck war typisch <strong>für</strong><br />

ihn; denn Goggo ist Sohn eines Studienrates in Deutsch und kennt eine Masse verwegener Vokabeln.<br />

Marabu liebkoste unterdessen seine rosa Spritzpistole, die er eben erst am Teich geladen hatte, setzte sie<br />

sich manchmal an die Schläfe, aber schoss nicht, denn wir waren ohnehin schon sehr befeuchtet. Knabe<br />

belutschte versonnen sein Blasrohr, mit dem er seit einigen Tagen das Zielschießen übte; ich aber guckte<br />

den Himmel an, aus dem der Regen gleichmäßig herunterstrich, und die Stimmung war, wie Goggo sich<br />

ausdrücken würde, „gelangweilt und redefaul“.<br />

Schließlich schob Knabe sein Beerengeschütz in die Tasche zurück und bemerkte hintersinnig: „Ich hatte<br />

da übrigens neulich ‘ne kleine Idee.“<br />

„Was du nicht sagst“, gähnte Goggo und klappte den Mund erst wieder zu, als Knabe gelassen fortfuhr:<br />

„Ich habe da nämlich per Zufall das Wort Italien mal von hinten gelesen.“<br />

Goggo furchte die Brauen und stellte im Geiste die Buchstaben um, aber Marabu konnte das schneller<br />

und sagte befremdet: „Neilati! Na ja, und was dann?“<br />

„Dann ändre ich das um, damit es besser klingt, und kriege dann <strong>Neulati</strong> raus“, erklärte Knabe<br />

seelenruhig.<br />

„Spannend“, gähnte Goggo, „und was soll das?“<br />

Knabe furchte seine Alabasterstirne, mit der ihn Goggo so gerne veräppelt, und erklärte bieder: „Ratet<br />

mal!“<br />

Woraufhin ich die Vermutung wagte, dass <strong>Neulati</strong> wohl so etwas wäre wie ein Ländername. „Klar, das<br />

ist ein Phantasiestaat“, schloss auch Marabu sich an, „klingt noch nicht mal übel, find‘ ich!“<br />

Aber Goggo blieb finster; er spuckte müde in die nächste Pfütze, lehnte seinen Hinterkopf ans Holz<br />

zurück und fragte: „Und was soll das jetzt im Endeffekt?“<br />

„Das soll im Endeffekt der Vorschlag sein“, versetzte Knabe, „dass man diesen Staat <strong>Neulati</strong> gründen<br />

könnte. Wir sind zu vieren, und das reicht ja, und es wäre mal was anderes.“<br />

Goggo ließ das Knibbeln an der Mappe bleiben, schüttelte erregt seine schwarze Mähne und meinte<br />

betroffen: „Du bist ein Edelknabe, Mensch! Wo hast du die Idee her?“<br />

„Das hab‘ ich dir doch grad erklärt“, versetzte Knabe. „Wobei du dich natürlich selber schon als König<br />

vorgesehen hast!“ mutmaßte Marabu.<br />

„Quatsch, König!“ schaltete sich Goggo ein, „<strong>Neulati</strong> wird natürlich Republik! Das kriegt ‘ne<br />

demokratische Verfassung, mit Wahlrecht und Gleichberechtigung und so!“ Er war auf das Spezialgebiet<br />

seines Vaters, Politik, geraten und redete wie ein Wasserfall. „Und dann gibt‘s Krieg mit echter<br />

Kriegserklärung!“ hoffte Marabu. „Dann hauen wir die Teichsträßer mal in die Pfanne mit allen<br />

Schikanen“ — die Teichstraße (Häuptling: Stitz Schlosser!) liegt nämlich seit langem mit uns in der<br />

Fehde. Und ich regte an, auch ein Büdchen zu bauen als Hauptstadt des Staates, und zweitens, ein<br />

Tagebuch anzulegen, worin der Staatsgeschichtsschreiber alle Ereignisse einträgt:<br />

„Diesen Schreiber müssen wir natürlich erst ernennen“, schlug ich vor.<br />

„Na, Marabu,<br />

du alte Kuh,<br />

was meinst denn du dazu?“<br />

(Auf Marabu lässt sich ja allerhand reimen, und deshalb veruze ich Marabu gerne durch möglichst blöde<br />

Reime auf u.)<br />

Marabu lächelte bloß noch, er war das gewöhnt; aber sowohl dem Büdchen als auch dem Chronisten<br />

stimmte er zu. Wir hatten auf einmal die Köpfe voll Pläne und stiefelten los durch den Regen, den keiner<br />

mehr spürte. Marabu entriss seinem erbsengrünen Anorak die Spritzpistole, die er eben erst geladen<br />

hatte, sandte Knabe einen wohlgezielten Spritzer in die weiche blonde Tolle und erklärte: „Die Taufe<br />

2/49


unseres neuen Staates auf den Namen <strong>Neulati</strong> wurde soeben mit einem Schuss Teichwasser an seinem<br />

Erfinder Knabe symbolisch vollzogen.<br />

Knabe angelte postwendend sein Blasrohr aus der Tasche, schoss Marabu eine Ebereschenbeere aus zwei<br />

Metern Entfernung gegen das Knie und fuhr fort:<br />

„Als Gegengabe wurde die Übersendung von Beerenobst an Marabu ebenfalls symbolisch vollzogen!“,<br />

womit der Festakt abgeschlossen war.<br />

Auf dem Heimweg wurde die Verfassung von <strong>Neulati</strong> weiter ausgeknobelt: Für Beschlüsse musste<br />

jeweils eine Mehrheit von drei Stimmen gegen eine existieren. Bei Stimmengleichheit, also bei zwei<br />

gegen zwei, konnte in weniger wichtigen Fällen das Los entscheiden, also Knobeln oder Pfennigwerfen;<br />

die Entscheidung, wann das Los entscheiden durfte, musste durch erneute Stimmabgabe getroffen<br />

werden. Kam bei dieser erneuten Abstimmung ebenfalls die Gleichheit zwei zu zwei heraus, so hatte das<br />

als positiv zu gelten und bedeutete also ein Ja <strong>für</strong> das Los.<br />

Natürlich war es Goggo, der diese Sorte Grundgesetz ausgetüftelt hatte, er hielt es <strong>für</strong> glasklar und<br />

unmissverständlich. Uns aber summte der Kopf. Ich hoffe indessen, es einigermaßen deutlich<br />

ausgedrückt zu haben.<br />

Ich wurde nämlich noch auf dem Nachhauseweg zum Staats-Chronisten von <strong>Neulati</strong> ernannt! Die Wahl<br />

fiel auf mich, weil ich früher schon mal ein paar Hefte voll Wildwestgeschichten spintisiert hab‘ und der<br />

unbestritten beste Aufsatzschreiber unsrer Klasse bin. Ich übernahm mein Amt mit gelassenem Stolz und<br />

versprach, dass mein Füller nicht rosten solle!<br />

Jetzt sitz ich also hier am Tisch und nenne meinen Namen nicht, denn als Chronist bin ich verpflichtet,<br />

von mir selbst in der dritten Person zu berichten. Wer eine Chronik zu schreiben hat, in der er selber<br />

mitspielt —und das ist bei mir der Fall —‚ der pflegt sich stets nur in der dritten Person zu erwähnen, das<br />

ist in den Chroniken üblich und macht einen unparteiischen Eindruck. Caesar beispielsweise schrieb in<br />

diesem Stile den Bericht von seinen eignen Kriegen. Also jedes Mal, wo es heißen musste: „Am nächsten<br />

Morgen führte ich das Heer bis an die Küste“ schrieb er: „Am nächsten Morgen führte Caesar das Heer<br />

an die Küste.“<br />

So denke ich das also auch zu halten: Jedes Mal, wo von mir die Rede ist, schreibe ich: Der Chronist,<br />

oder auch mal zur Abwechslung: Der Geschichtsschreiber.<br />

(Im übrigen aber ist Caesar ein schauderhaft schweres Latein; der Chronist zum Beispiel hatte in der<br />

ersten Klassenarbeit, wo wir einen Caesartext bekamen, bloß vier plus!)<br />

Und so sitzt er denn nun hier und ist gerüstet: Hoffen wir, dass allerhand passiert! Auch wenn er sich die<br />

Finger dabei wundschreibt. Bitte wenden!<br />

10. August<br />

Beginn der regelmäßigen Geschichtsschreibung des Staates <strong>Neulati</strong><br />

Gründung des Staates: 9. August, gegen 1 Uhr mittags<br />

Zahl der Bürger zum Zeitpunkt der Gründung: 4<br />

Nämlich:<br />

1. Goggo (Spitzname; wirklicher Vorname: Gottfried; wenn man ihn besonders ärgern will, nennt<br />

man ihn Götz), 13 Jahre. Bestes Fach: Geschichte.<br />

2. Knabe (Spitzname, da vom Lateinpauker Ipsi einmal so genannt), 14 Jahre. Klassenprimus.<br />

3. Marabu (Spitzname von unbekannter Herkunft), 12 Jahre, aber schon sehr stark, er legt zum<br />

Beispiel Knabe. Kann fabelhaft zeichnen.<br />

4. (aus Bescheidenheit an letzter Stelle:) Chronist (Spitzname, der erst seit gestern existiert), 13<br />

Jahre. Primus in Deutsch.<br />

Alle vier Bürger sind gleichberechtigt. Rangstufen gibt es keine.<br />

3/49


11. August<br />

Heute erste Beratung über den Bau eines Regierungszentrums, das heißt eines Büdchens. Wir hatten uns<br />

im Engelwald (von den Erwachsenen wegen der dort stattfindenden Kriege meistens Bengelwald<br />

genannt) in einen Bombentrichter gesetzt und diskutierten den Ort, wo das Büdchen am verstecktesten<br />

wäre. Dass nur der Wald in Frage kam, war klar. Marabu schlug die Buchenschonung am Stadtwall vor,<br />

sie war mit Verbotsschildern förmlich eingezäunt und wurde deshalb nur selten betreten. Knabe war<br />

einverstanden, desgleichen der Chronist, bloß Goggo fand das „illegal“.<br />

„Wenn wir die Hauptstadt auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates anlegen“, schimpfte er, „dann hat<br />

dieser andere Staat auch das Recht, sie hernach zu zerstören.“<br />

„Drück dich weniger geschwollen aus!“ verlangte der Chronist. „Du meinst, wenn ein Flurhüter<br />

dahinterkommt, macht er uns das Büdchen kaputt?“<br />

„Jawohl!“ schmollte Goggo.<br />

„Wir müssen es selbstredend so versteckt anlegen, dass es keiner findet“, sagte Knabe und schoss mit<br />

dem Blasrohr auf sechs Meter Entfernung gegen einen Buchenstamm.<br />

„Im Übrigen aber hat Goggo ja sein famoses Abstimmungssystem entwickelt, und wir wollen also mal<br />

abstimmen Wer ist da<strong>für</strong>, die Hauptstadt in der Buchenschonung anzulegen?“<br />

Marabu, Knabe und der Geschichtsschreiber hoben die Hand. „Unanfechtbar“, brummte Goggo, „also<br />

mach ich mit.“<br />

Wir pilgerten sofort zum Baugelände. Die Buchenschonung ist ungefähr dreihundert Meter lang und liegt<br />

auf dem Abhang vor der alten Stadtmauer, die übrigens an diesem Teil der Stadt noch stellenweise<br />

erhalten ist. Dann gab es eine zweite Abstimmung:<br />

„Ich bin da<strong>für</strong>, das Büdchen unterirdisch anzulegen“, äußerte Marabu.<br />

„Und wo willst du mit der Erde hin?“ fragte der Chronist.<br />

„Die Erde schütten wir in einen Bombentrichter.“ „Das fällt aber auf!“<br />

„Dann decken wir sie eben mit Laub und Reisig wieder zu.“<br />

„Vor allem muss man erst mal diesen Bombentrichter finden“, brummte Goggo.<br />

„Schon passiert!“ erklärte Knabe. „Kommt mal mit!“ und stürmte uns durch das Gebüsch voran. Wenig<br />

später standen wir vor einem Bombentrichter. Hohes Gras wuchs büschelweise auf dem Grund; über den<br />

Rand neigten sich die seit dem Kriege nachgewachsenen Buchenbüsche, die in dieser Schonung drei bis<br />

vier Meter Höhe haben.<br />

Überhaupt ist die Schonung ein wahrer Verhau aus niedrigem Unterholz, ein wüst verfilztes Dickicht, in<br />

dem man keine drei Meter weit sehen kann. Und deshalb war sie <strong>für</strong> den Büdchenbau famos geeignet.<br />

„Wir schütten diesen Trichter einfach zu“, schlug Knabe vor.<br />

„Und wenn dann mal einer vorbeikommt, dann nimmt er das hin, ohne sich zu wundern“, knurrte Goggo<br />

sarkastisch.<br />

„Das muss man schon riskieren“, sagte Marabu, „aber wer kennt den Trichter überhaupt? Es gibt so viele<br />

hier, dass keiner sie auswendig weiß. Ich bitte also um Abstimmung: Wer ist <strong>für</strong> den Bau eines<br />

unterirdischen Büdchens in der Nähe dieses Trichters?“<br />

„Ich opponiere!“ grunzte Goggo.<br />

Aber Knabe, Marabu und der Geschichtsschreiber hoben die Hand.<br />

„Also wieder überstimmt“, seufzte Goggo.<br />

„Der Erfinder der Demokratie von <strong>Neulati</strong> muss die Folgen seines Systems eben tragen!“ höhnte<br />

Marabu.<br />

„Tut er ja auch!“ maulte Goggo.<br />

„Redet nicht soviel! Ich bitte Knabe, uns sofort den Ort zu zeigen, wo der Bunker liegen soll.“<br />

Knabe stiefelte also ins Dickicht, wo es am dicksten war, und machte nach zehn Metern halt. Wir knieten<br />

hinter ihm und zupften uns die Ästchen aus den Haaren. Dicht überm Boden war das Dickicht noch<br />

locker; man konnte, wenn man sich auf den Bauch legte, zwischen den schnurgeraden Reihen der<br />

Buchenstämmchen wie durch eine Allee zehn Meter weit sehen. Sobald man sich aber aufrichtete, hatte<br />

man verfilztes Astgewucher vorm Gesicht.<br />

Goggo angelte sich vorsichtig eine grüne Raupe aus dem Nacken und vermutete: „Also in diesem<br />

Urwald soll nach der Meinung des Kongresses die Hauptstadt <strong>Neulati</strong>s entstehen? Viel Vergnügen!“<br />

4/49


Marabu schoss sich mit der Pistole einen Spritzer Wasser in den Mund, spuckte es aus und sagte: „Am<br />

besten mieten wir ein Förderband, um die Erde in den Trichter zu transportieren.“<br />

„Marabu,<br />

das Känguru,<br />

ist natürlich mal wieder zu faul dazu!“ reimte tadelnd der Chronist.<br />

„Unser Chronist<br />

redet mal wieder Mist!“ revanchierte sich Marabu. Knabe aber meinte: „Erstens dürfen wir das Dickicht<br />

hier auf keinen Fall zerschneiden, denn es dient dem Büdchen hinterher als Tarnung; zweitens muss das<br />

Ausschachten mucksmäuschenstill passieren.“<br />

„Vielleicht erfindest du <strong>für</strong> diesen Zweck eine Spitzhacke mit Schalldämpfer“, witzelte Goggo; aber<br />

Knabe versetzte gelassen: „Wir brauchen bloß eine Rosenschere zum Abzwacken der Wurzeln und ein<br />

paar kleine Hacken. Der Boden hier ist reiner Lehm, da kann man leise arbeiten.“<br />

Und er kratzte mit der Hand das Laub beiseite, bis der Lehm auf einer Fläche von anderthalb mal zwei<br />

Meter zutage trat. Die Reihen der Buchen hatten einen Abstand von zwei Metern, so dass der Rand der<br />

Grube auf jeder Seite ein paar Handbreit von den Bäumchen entfernt sein würde. Zehn Meter weiter<br />

unten am Hang sah man die kleine Lichtung des Bombentrichters schimmern, und Goggo, der noch<br />

immer Opposition spielte, schlug also vor, eine Eisenbahn vom Büdchen zum Trichter zu bauen, um die<br />

Erde zu transportieren.<br />

„Goggo wird bestimmt mal Ingenieur“, lobte der Chronist, „aber seine Idee ist gar nicht so übel! Man<br />

müsste eine Art von großem Kuchenblech haben, einen flachen Blechkasten, den man mit einer Kordel<br />

wie einen Schlitten vom Büdchen zum Trichter und wieder zurück schleift. Die Schleifspuren müssten<br />

natürlich hinterher verwischt und mit Laubwerk zugedeckt werden:<br />

Marabu, du Kakadu,<br />

was meinst nun du dazu?“<br />

„Ich merke, Chronist, dass du doch nicht so dämlich bist!“ zahlte Marabu zurück. Dann stahlen wir uns<br />

aus der Schonung fort und vereinbarten <strong>für</strong> morgen Nachmittag, das ist ein Samstag, den Beginn der<br />

Ausschachtungsarbeiten. Der Geschichtsschreiber sollte eine Gartenschere besorgen, die drei andern<br />

jeder eine Hacke oder Kohlenschaufel. Den Blechkasten wollte Marabu ausfindig machen.<br />

Während der Chronist dies schreibt, liegt die Gartenschere bereits in seiner Schublade.. Er hat nämlich<br />

glücklicherweise ein eigenes Zimmer und kann darin verstecken, was er will. Im Übrigen hat er heute<br />

genug geschrieben und legt sich jetzt schlafen: Es ist schon viertel vor zehn!<br />

12. August<br />

Heute Nachmittag um 15 Uhr 15 traf der Chronist, mit der Baumschere unter der Jacke, am<br />

Bombentrichter ein. Vom Bauplatz her hörte man gedämpfte Hackenschläge; der Geschichtsschreiber<br />

robbte unter dem Dschungel durch zum Büdchen und erkannte Goggo, der bereits einen Riesenhaufen<br />

Erde vor sich liegen hatte und gelb beschmiert war wie ein Indianer.<br />

„Hoffentlich kommt Marabu mit seinem Kasten bald!“ erklärte er und pustete erschossen vor sich hin.<br />

„Ich weiß kaum noch, wohin mit meiner Erde.“<br />

Gott sei Dank kam fast im selben Augenblick schon Marabu mit seiner Kiste angezockelt. „Spät kommt<br />

er, doch er kommt!“ zitierte Goggo. Er hatte das Zitat von seinem Vater, dem Deutschpauker, der es oft<br />

gebrauchte, wenn Goggo zu spät kam.<br />

Aber Marabu war nicht zum Witzeln aufgelegt: „Die Teichsträßer haben schon Lunte gerochen!“ zischte<br />

er aufgeregt. „Lasst euch kurz erzählen, wie. Ich habe den Kasten beim Wassersäger gekauft.“<br />

(Einfügung des Chronisten: Wassersäger ist der Altmetallhändler unseres Viertels.) „Für siebzig<br />

Pfennig.“<br />

„Wir werden selbstverständlich sofort eine Staatskasse gründen und aus ihr die Geldfrage regeln!“<br />

unterbrach ihn Goggo.<br />

„Meinetwegen“, nickte Marabu, „aber lass mich weiterreden! Als ich nämlich mit dem Kasten unterm<br />

Arm durch die Toreinfahrt abhaue, steht auf der Straße Stitz Schlosser...“<br />

Der Chronist sieht sich genötigt zu erklären, wer Stitz Schlosser ist. Stitz Schlosser ist der Häuptling der<br />

Teichstraße. Er ist 14 Jahre alt, einsachtundsechzig groß und Mittelläufer in der Schülermannschaft<br />

5/49


unseres ASV. Die ersten Spuren von Stitz Schlossers Dasein entdeckte der Chronist übrigens in der<br />

Praxis seines Vaters. Der Vater des Geschichtsschreibers ist nämlich Arzt. Als der Chronist also damals<br />

— es ist wohl schon zwei Jahre her — bei seinem Vater in die Praxis kam, lagen da in einer Schale auf<br />

dem Tisch so ein paar Büschel weißlich-blonden Haares, das von schwärzlich-rotem Blut verklebt war.<br />

Der Chronist fragte, wem die Haare gehörten.<br />

„Die sind vom Hänschen Schlosser“, sagte der Vater, „dem hat ein andrer Junge heute morgen einen<br />

Stein auf den Kopf geworfen. Es war eine stark blutende Wunde; ich habe die Haare am Wundrand<br />

abschneiden müssen, um das Pflaster aufkleben zu können. Da siehst du mal wieder, wie gefährlich<br />

dieses Steinewerfen ist!“<br />

Das also war Stitz Schlossers erstes Auftreten im Gesichtskreis des Chronisten. Wer den Stein geworfen<br />

hat, das weiß man übrigens heute auch: nämlich Marabu! Und von diesem Zeitpunkt an besteht die<br />

Feindschaft zwischen der Teichstraße und uns, das heißt dem jetzigen Staate <strong>Neulati</strong>. Doch zurück zu der<br />

Erzählung Marabus:<br />

„Stitz Schlosser stand vor der Toreinfahrt und schnitzte wie zufällig mit seinem Hirschfänger — ihr wisst<br />

ja, was das <strong>für</strong> ein Angeber ist — seine Anfangsbuchstaben in den Torpfosten. Kaum dass ich an ihm<br />

vorbei war, steckte er das Messer weg und schlenderte hinter mir her. Ich ging also erst mal nach Hause,<br />

denn ich musste den Kasten, eine ehemalige Biskuitbüchse, zunächst an der Breitseite aufschneiden. Eh<br />

ich in der Kellertür verschwand, drehte ich mich um, und als der Stitz da auf der Straße stand — ja, ich<br />

weiß, ich hätte es lassen sollen, aber meine Schadenfreude war zu groß — da hab‘ ich ihm die Zunge<br />

rausgestreckt!“<br />

„Du Rhino!“ sagte Goggo aufgebracht. „Was meinst du, was der mit dir anfängt, wenn er dich alleine in<br />

die Finger kriegt!“<br />

„Marabu,<br />

du bist kein Winnetou!“ bekräftigte der Staatsgeschichtsschreiber besorgt.<br />

„Weiß ich“, sagte Marabu geknickt, „aber hört weiter! Im Keller hatte ich eine halbe Stunde zu tun, um<br />

die eine große Seitenfläche dieses Kekskanisters mit dem Meißel rauszuschneiden. Als ich dann aufs<br />

neue aus der Türe trete, ist der Stitz natürlich nicht mehr da.“<br />

„Eine halbe Stunde zu warten, ist unter seiner Würde“, bemerkte Goggo.<br />

„Jawohl!“ rief Marabu. „Aber vor der Türe spielten statt dessen zwei Teichsträßer Fußball. Ganz<br />

gemütlich. Schoben sich den Ball im Flachpass zu. Haargenau vor unsrer Haustür.“<br />

„Das wird ja spannend!“ sagte der Chronist.<br />

„Leider“, seufzte Marabu. „Ich klemme mir also meine Zwiebackbüchse unter den Arm und ziehe los.“<br />

„Und die beiden Teichsträßer stecken natürlich ihr Bällchen ein und folgen dir ganz unauffällig“,<br />

ergänzte Goggo.<br />

„Haargenau“, bestätigte Marabu. „Und als ich in die Nähe unsrer Schonung kam und die beiden immer<br />

noch hinter mir herpatrouillierten, bin ich wieder ins Wohnviertel zurückgestiefelt und habe sie in den<br />

Straßen durch Zickzacklaufen und Hakenschlagen abgeschüttelt.“<br />

„Marabu,<br />

dich segne Manitou!“ reimte der Chronist erleichtert.<br />

Marabu aber schloss mit dem Satz: „Und deshalb bin ich etwas später eingetrudelt, als ich wollte.“<br />

Dann begann die Arbeit an der Baustelle. An den Kastenschlitten Marabus band man an beiden Enden<br />

jeweils eine Kordel von zehn Meter Länge. Goggo und der Geschichtsschreiber luden ihn am Büdchen<br />

mit der Kohlenschaufel voll, und Marabu, am Rand des Bombentrichters kniend, zog den vollen Kasten<br />

mühelos den Hang hinunter durch die niedrige Passage bis zum Trichter, wo er ihn ausleerte. Der<br />

Geschichtsschreiber zog ihn dann mit der anderen Kordel wieder herauf —es war ein Pendelverkehr, der<br />

jedes Mal etwa zwei Eimer Erde beförderte.<br />

Als die Grube 30 cm tief war, richtete sich Goggo auf, strich sich mit lehmverkrusteter Hand durch die<br />

schwarze Frisur, wobei er sie mit gelben Lehmbröckchen berieselte, und fragte ächzend: „Warum ist<br />

denn Knabe noch nicht da?“<br />

„Konfirmandenunterricht!“ rief Marabu vom Trichter her.<br />

„Ach so“, sagte Goggo, „dann also weiter!“<br />

Das Ausschachten war unter dem niedrigen Wust von Buchenzweigen nur auf den Knien möglich und<br />

strengte mörderisch an. Der Chronist knipste mit der Rosenschere die zahlreichen Wurzeln ab.<br />

6/49


„Hoffentlich gehen die Bäumchen nicht kaputt“, sagte Goggo, „sonst würden sie nämlich durch ihr<br />

welkes Laub unser Büdchen verraten.“<br />

Nach einer Stunde machten die Ausschachter eine Pause. Der Chronist knetete aus dem Lehm einen<br />

Schneeball und warf ihn im Steilfeuersystem über die Buchen hinweg in den Trichter. Man hörte, wie er<br />

dumpf im Trichter aufschlug, und sofort darauf das Zetern des empörten Marabu, den der Knubbel<br />

scheinbar voll aufs Dach getroffen hatte: Er kam, die Haare und die Augenbrauen gelb bepudert und<br />

berieselt, ein paar Meter weit den Schlittengang emporgekrochen und brüllte: „Heiliges Kanonenrohr,<br />

seid ihr denn noch ganz bei Trost?“<br />

„Leute, zettelt keinen Bürgerkrieg im Staat <strong>Neulati</strong> an!“ warnte Goggo. „Ein Bürgerkrieg ist die Bankrotterklärung<br />

jedes Staates.“<br />

„Ach Marabu, ich geb‘ ja zu, ich war ein Gnu;<br />

doch konnt‘ ich wirklich nichts dazu!“<br />

entschuldigte sich der Chronist; dann ging die Arbeit weiter. Goggo wurde von Marabu abgelöst, und<br />

nach insgesamt dreistündiger Arbeit hatte die Grube die Tiefe von 70 cm erreicht. Sauber abgestochene<br />

Wände, es sah schon respektabel aus. Wir trampelten anschließend den Lehmhaufen im Trichter fest und<br />

bedeckten ihn mit welkem Laub und Gras, auch die Schlittenspur wurde verwischt. Dann robbten wir<br />

den Hang hinunter bis zum Weg. Dort hielt man vorsichtshalber an. Der Chronist streckte den Kopf ganz<br />

langsam aus der Dickung, um festzustellen, ob kein Zeuge das Verlassen der verbotenen Schonung<br />

bemerke. Er wandte erst den Kopf nach rechts: Kein Lebewesen war zu sehen. Dann nach links: Und<br />

hastig fuhr sein Kopf in das Buschwerk zurück! Denn keine zehn Meter entfernt, am jenseitigen Rande<br />

des Weges, saß ein Junge, mit dem Rücken gegen einen Buchenstamm gelehnt, und beobachtete den<br />

Rand der Schonung!<br />

„Kommt nur ruhig raus, ihr Helden“, sagte — Knabe, denn er war es- „ihr macht ja einen Spektakel, dass<br />

man bis zum Weg herunter beinah jedes Wort versteht. Außerdem habt ihr euch redlich mit Lehm bekleckert<br />

Dass ihr ein Büdchen ausgeschachtet habt, kann jeder Blinde mit dem Krückstock fühlen.“<br />

Wir klopften uns, so gut es ging, den trockenen Lehmstaub von Knien und Kleidern.<br />

„Wie lang hast du denn hier gesessen?“ fragte Marabu. „Zirka eine Stunde“, sagte Knabe, „ich habe euch<br />

sozusagen bewacht. Es brauchte bloß ein Teichsträßer vorbeizukommen, und die ganze Büdchenbauerei<br />

hing an der großen Glocke. Muss in Zukunft leiser werden!“<br />

Auf dem Heimweg stiftete Knabe seinen Taschenkamm, damit sich Marabu die Erde aus den Haaren<br />

kämmen konnte: Der Lehmball des Chronisten war ihm nämlich mitten auf dem Kopf zerplatzt. Der<br />

Weg, der unter der Buchenschonung die Talsohle entlanglief, war übrigens von einem Bach begleitet,<br />

und dieser Bach lief 300 m weiter unten in den sogenannten Teich. Der Teich war ziemlich schlammig,<br />

in der Mitte etwa anderthalb Meter tief und eher zum Floßfahren als zum Schwimmen geeignet. Von der<br />

Stadtmauer zu ihm hinunter lief die Teichstraße. Und auf dieser Teichstraße geschah es, dass wir auf dem<br />

Rückweg Stitz Schlosser sozusagen in die Finger liefen.<br />

Er stand vor der Kellertür, seitlich am Haus, und hackte Holz, mit nacktem Oberkörper. Seine sehnigen<br />

Arme schwangen das Beil mit einer Wucht, die uns durch Mark und Bein ging. Gott sei Dank, dass wir<br />

zu vieren waren! Als wir vorbeikamen, sah er Marabu mit vernichtendem Blick von oben bis unten an.<br />

Marabu wurde unsicher und senkte den Blick. Und was er da an seinen Schuhen sah, das war nicht sehr<br />

erfreulich:<br />

Nämlich dicke Klumpen Lehm!<br />

Und Stitz Schlosser hatte sie gesehen!<br />

Und er wusste, dass <strong>Neulati</strong> ein Büdchen baute!<br />

Er schleuderte mit markiger Kopfbewegung sein Haar über die Stirne zurück und hieb mit <strong>für</strong>chterlicher<br />

Wucht auf seinen Holzklotz ein. Es krachte, als sei der ganze Staat <strong>Neulati</strong> explodiert...<br />

20. August<br />

Wenn der Chronist es richtig überdenkt, dann hätte man mit der ganzen Büdchenbauerei und der<br />

Staatsgründung schon in den Ferien anfangen sollen! Jetzt, nachdem die Schule seit 4. August wieder<br />

läuft, kriegt man nur noch selten Zeit, mal einen ganzen Nachmittag dem Ausschachtungsgeschäft zu<br />

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opfern. Andererseits aber ist es besser, nicht so Tag <strong>für</strong> Tag in der Schonung zu spuken, weil die<br />

Teichsträßer uns dann leichter auf die Schliche kommen würden. Sie können schließlich nicht aufs<br />

Geratewohl die ganze Schonung durchkämmen, das ist in diesem Dickicht glatt unmöglich. Aber dass sie<br />

uns gefährlich auf der Spur sind, bewies schon der heutige Nachmittag!<br />

Heute Nachmittag nämlich, gegen drei Uhr, holte der Chronist den ganz in seiner Nähe wohnenden<br />

Goggo ab, und beide pilgerten zur Schonung, wo auch Knabe zu erwarten war: Man wollte die<br />

Ausschachtung energisch weitertreiben. Marabu war entschuldigt, er hatte Tennisstunde; sein Vater will<br />

das, und er ist im übrigen nicht unbegabt, er kriegt schon mitunter ganz saubere Schmetterbälle zustande.<br />

Als wir beiden also auf dem Weg an der Schonung entlang etwa auf der Höhe des Büdchens<br />

angekommen waren, fanden wir Knabe gemütlich am Wegrand im Grase liegen.<br />

„Da liegt das Faultier und kuckt in die Wolken“, begrüßte ihn Goggo.<br />

„Es kuckt auch noch woanders hin“, versetzte Knabe seelenruhig. „Es kuckt zum Beispiel in die Buche<br />

rauf, die ihr da vorne seht; bitte redet leise und glotzt nicht so auffällig hin!“<br />

Wir hoben unsre Blicke so verstohlen, wie es ging, in die Buche hinauf, die Knabe uns mit einer leichten<br />

Kopfwendung bezeichnet hatte. Und in der Buche, es war kaum zu glauben, da saß doch wahrhaftig ein<br />

Teichsträßer drin! Seine Beine baumelten von einem Ast, in mindestens zehn Meter Höhe, er musste die<br />

ganze Schonung überblicken können.<br />

Goggo drehte sich langsam wieder um und fragte, als wolle er bauchreden: „Kennst du den?<br />

Teichsträßer?“<br />

„‘türlich“, sagte Knabe und streichelte angelegentlich seine Schuhriemen, um ja nicht in Richtung der<br />

Buche zu blicken, „das ist der Hubba Sauerbrei, der war auf der Volksschule ‘ne Klasse unter uns, der<br />

kennt uns alle. Freund von Stitz.“<br />

„Wie ist der Saftsack bloß da raufgekommen?“ staunte Goggo.<br />

„Mit ‘ner Wäscheleine“, sagte Knabe, „er hat sie aufgewickelt in der Hand, damit er sich dann später<br />

wieder runterlassen kann, wenn er genug gesehen hat. Er belauert mich schon seit den zehn Minuten, die<br />

ich hier bin; ich ihn aber auch! Ahnt noch nicht, dass er entdeckt ist. Ich bin jetzt da<strong>für</strong>, wir marschieren<br />

lustig unter seinem Bäumchen durch und verraten dabei laut brüllend, dass unser Büdchen in dem<br />

Gebüschstreifen am Friedhof liegt!“<br />

„Blendend!“ lobte der Chronist. „Und anschließend entdecken wir ihn, holen ihn runter und erpressen<br />

Schweigepflicht <strong>für</strong> unser Geheimnis! Denn wir müssen doch so tun, als läge uns Gott weiß was an der<br />

Geheimhaltung des Büdchens; das wirkt dann echter.“<br />

„Und außerdem müssen wir den Kerl da runterholen, damit wir überhaupt in die Schonung können“,<br />

überlegte Goggo, „denn sonst sähe er uns ja! Können uns doch nicht gefallen lassen, dass man uns ‘nen<br />

Ausguckposten vor die Nase setzt!“<br />

„Wenn wir ihn laufen lassen“, meinte Knabe, „dann klettert er sofort, nachdem wir außer Sicht sind,<br />

runter und sagt dem Stitz Schlosser Bescheid. Und ‘ne Viertelstunde später zieht dann garantiert die<br />

halbe Teichstraße hier an der Schonung vorbei in Richtung Friedhof.“<br />

„Und dabei hört sie dann zufällig einen Reim von dem Chronisten aus der Schonung dringen, und wir<br />

sind verratzt!“ schloss Goggo.<br />

„Also klarer Fall: Wir binden ihn am Teich an eine Pappel oder so und lassen ihn da stehen, er wird<br />

schon schnell genug entdeckt.“<br />

„Und wie wollt ihr ihn da aus dem Baum herunterkriegen?“ fragte Knabe.<br />

„Steinewerfen“, sagte der Chronist lakonisch, „aber selbstverständlich nicht gezielt! Nur so durch die<br />

Äste pfeifen, und ich garantiere, dass der Kerl nach drei Minuten runterkommt.“<br />

„Also dann avanti, Leute“, sagte Knabe und erhob sich. Es war ein sehr komischer Kriegsrat gewesen:<br />

Man redete in einem fort von Hubba, aber keiner guckte in die Richtung, wo er saß, die ganzen fünf Minuten<br />

lang!<br />

Wir zogen also gleich darauf in laut gebrüllter Unterhaltung unter dem Horchposten durch, und Goggo<br />

rief dabei programmgemäß: „Ein Glück, dass die dämlichen Teichsträßer noch nicht dahinter gekommen<br />

sind, dass unser Büdchen in der Hecke vor dem Friedhof liegt. Die glauben immer noch, wir hätten es<br />

hier in der Schonung!“<br />

Zwei Schritte weiter aber zischte Knabe: „Ruhe mal! Ich glaub‘, ich hab‘ da oben in der Buche einen<br />

Specht gehört!“<br />

„In welcher?“ fragte hastig der Chronist. „‘nen echten Specht? Das wäre ja toll!“<br />

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Und wir blieben stehen und starrten in die Buche rauf wie Reisende in ein berühmtes Kirchenschiff:<br />

Hubba, der entdeckte Specht, starrte käsebleich auf uns herunter; sein ängstliches Mausegesicht verriet<br />

das Entsetzen. Er hielt die aufgeknäulte Wäscheleine krampfhaft vor die Brust gedrückt und sagte keinen<br />

Piep. Auch wir standen in gespieltem Erschrecken, bis Goggo sich scheinheilig fasste und ausrief:<br />

„Heiliger Strohsack, da sitzt ja der Hubba! Mensch, was machen wir jetzt bloß? Er hat gehört, wo unser<br />

Büdchen liegt!“<br />

„Ist nicht wahr“, beteuerte Hubba, der mit echtem Namen Hubert hieß und erst elf Jahre war, „ich hab‘<br />

hier oben bloß nach ‘ner Spechthöhle gesucht!“<br />

„Das glaubt dir deine eigne Oma nicht!“ rief der Chronist. „Runterkommen, sonst passiert was!“<br />

„Ihr habt kein Recht“, versetzte Hubba hilflos, „ich hab‘ euch nichts getan, und ihr habt mir nichts zu befehlen!“<br />

Und er klammerte sich mit beiden Händen an den Stamm und hängte hinter sich die Kordel über den Ast,<br />

auf dem er rittlings saß.<br />

„Also schießen wir dich einfach ab!“ folgerte Goggo mit der Eiseskälte eines Taktikers und las sich eine<br />

Handvoll Steine auf; der Chronist und Knabe ebenfalls. Und wer einmal, hoch im Baum auf einem Aste<br />

kauernd, wehrlos einen Hagel Steine um sich rum durchs Astwerk zischen hörte, wird verstehen, warum<br />

der Hubba schon nach zwei Minuten quäkte: „Hört doch auf, ich komm ja runter!“<br />

Dann legte er seine Wäscheleine über den Ast und ließ die beiden Enden beiderseits herunterfallen, so<br />

dass er an dem doppelten Strang den Baum entlang zu Boden hangeln konnte. Da stand er nun, mit<br />

seinem verängstigten Mausegesicht, und stotterte in einem fort: „Ich hab‘ euch nichts getan, ich hab‘<br />

euch nichts getan.“<br />

„Wir tun dir auch nichts“, sagte Goggo, „wenn du uns dein Ehrenwort gibst, keinem Menschen zu<br />

verraten, wo unser Büdchen liegt.“<br />

„Welches Büdchen?“ staunte Hubba und war trotz seiner Angst noch schlau genug zu lügen.<br />

„Tu nicht so scheinheilig!“ fauchte Knabe. „Du hast genau gehört, was wir vorhin geredet haben. Aber<br />

wozu hat man überhaupt die Wäscheleine? Wir wickeln dich erst mal ein bisschen ein; bis dahin wirst du<br />

dich erinnert haben, welches Büdchen wir wohl meinen.“<br />

Der Chronist zog also nach und nach das eine Ende der Wäscheleine nach unten, so dass das andere nach<br />

oben fuhr und dann geringelt in das Laub herunterplumpste.<br />

Hubba sah sich hilflos um: Über den Spitzen der Buchenschonung sah man die Kamine von den Häusern<br />

hinter der Stadtmauer. Bis zur Teichstraße waren es sicherlich 400 Meter; der kleine Hubba war verloren.<br />

Er wurde also trotz seiner Unschuldsseufzer sorgsam um den Oberkörper rum gefesselt, die Arme nach<br />

hinten. Etwa drei Meter Leine behielten wir übrig und führten ihn daran den Weg entlang in Richtung<br />

Teich. Unterwegs gab er dann zu, unser Büdchengeheimnis gehört zu haben, aber er verweigerte das<br />

Ehrenwort, es keinem zu verraten:<br />

„Das wäre ja bloß ein erzwungenes Ehrenwort“, sagte er trotzig, „und das gilt ja nicht, das ist erpresst.“<br />

Goggo zwinkerte den beiden andern heimlich zu; das sollte heißen: Desto besser, denn er soll es ja so<br />

bald, wie‘s geht, verraten!<br />

Der Chronist aber holte sein Taschentuch raus, wickelte sich‘s um die Hand und brach damit eine<br />

Brennnesselstaude vom Wegrand ab. Er hielt sie dem entsetzten Hubba eine Handbreit vor die Nase und<br />

erklärte drohend: „Jetzt woll‘n wir doch mal sehen, ob ein erzwungenes Ehrenwort gilt oder nicht! Also,<br />

Hubba:<br />

Sagst du‘s oder sagst du‘s keinem?“<br />

„Keinem!“ winselte Hubba und nahm den Kopf zurück vor dem drohenden Stängel. „Ihr seid gemein,<br />

mit eurer...“<br />

„Sind wir auch!“ höhnte der Chronist. „Also gut, du versprichst es!“<br />

Und wir drückten ihm nacheinander mit einiger Schwierigkeit seine auf den Rücken gefesselte rechte<br />

Hand. Dann zerrte Goggo ihm sein Taschentuch aus der Hose und band es ihm quer durch den Mund und<br />

im Nacken zusammen. Hubba ließ sich alles gefallen, denn der Chronist stand mit der Brennnessel dabei;<br />

dann führten wir ihn bis zum Rand des Teiches.<br />

Im Teich schwamm seit einiger Zeit ein aus Balken und zwei Benzinkanistern gebasteltes Floß; es<br />

gehörte so ziemlich der ganzen Umgebung und nicht nur der Teichstraße, deshalb machte es auch keiner<br />

kaputt.<br />

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Auch der Staat <strong>Neulati</strong> war nicht so feige, es zu demolieren, ohne es vorher von der Teichstraße ehrlich<br />

erbeutet zu haben. Auf dieses Floß also legten wir Hubba, nachdem wir ihm auch noch die Füße<br />

zusammengebunden hatten, und stießen es ganz sachte auf den etwa 20 Meter breiten Teich hinaus, es<br />

schaukelte gemächlich in der Mitte.<br />

„Eigentlich gefährlich!“ sagte Knabe sorgenvoll. „Wenn es umkippt oder auseinander fällt, kann er sich<br />

nicht retten.“<br />

„Leider“, brummte der Chronist, „wenn er sich rührt oder rumwälzt, ist er ‘ne Leiche. Aber das Floß ist<br />

stabil; ich glaube nicht, dass was passiert.“<br />

„Also, Hubba, nicht bewegen!“ zischte Goggo eindringlich. „Sonst kippst du um und bist hinüber! Und<br />

im übrigen: Betrachtet euch von heut an als im Krieg mit uns! Sag das deinem Stitz Schlosser und den<br />

übrigen Coyoten aus der Teichstraße!“<br />

Das unterste Haus der Teichstraße war nur etwa 150 Meter weit vom Teich entfernt; man hätte Hubba<br />

auf dem Floß von dort bemerken können, wenn nicht eine Reihe Pappeln, die das Ufer säumte, die Sicht<br />

behindert hätte. Wir pirschten uns also mit schlechtem Gewissen davon, in der Hoffnung, dass man<br />

Hubba möglichst bald entdecken sollte.<br />

„Hoffentlich verrät er jetzt das falsche Büdchen auch“, meinte Knabe unterwegs. „Wenn er‘s nicht tut,<br />

war die ganze Erpressung <strong>für</strong> die Katz.“<br />

Goggo und der Geschichtsschreiber guckten sich zweifelhaft an!<br />

Fünf Minuten später aber waren wir bereits in unserm Büdchen an der Arbeit. Man konnte jetzt schon<br />

aufrecht in der Grube stehen, ohne dass der Kopf in dem Gewirr der Zweige stak. So ging die Arbeit flott<br />

vom Fleck, und nach zwei Stunden war die Grube schon einsvierzig tief; die Wurzeln der Buchen hörten<br />

bei etwa einem Meter Tiefe auf. Noch einen Tag, und das Loch ist fertig.<br />

Auf dem Rückweg kamen wir überein, nie mehr in der Nähe der Teichstraße aufzukreuzen, ohne<br />

mindestens zu dritt zu sein. Der Krieg war jetzt erklärt, und die Teichstraße hatte neben Stitz Schlosser<br />

noch vier Mann, das kleine Gemüse von neun, zehn Jahren gar nicht mitgerechnet!<br />

Der Chronist schließt <strong>für</strong> heute. Er wird, das muss er gestehen, das Gefühl nicht los, dass es nicht sehr<br />

anständig war, was <strong>Neulati</strong> heute mit dem kleinen Hubba, der doch erst elf Jahre ist, gemacht hat. Und<br />

besonders, ihn gefesselt auf das Floß zu legen, war wohl eine Quälerei. Wenn uns die Teichstraße<br />

irgendwann in die Finger kriegt, dürfte es Rache mit Blutwurst geben.<br />

23. August<br />

Heute in der Schule berichtete Marabu, wie man Hubba entdeckt hat. Marabu war gestern auf dem<br />

Stadion der TSG. zum Leichtathletik-Training und hat dort einen Neutralen getroffen, der in der Nähe<br />

der Teichstraße wohnt.<br />

Und der ist mit dabei gewesen, wie zwei Teichsträßer das Floß mit dem Gefangenen in der Mitte des<br />

Teiches entdeckten. Der eine ist dann gleich nach Haus gelaufen und hat den Stitz herbeizitiert; der<br />

andere unterdessen hat mit Steinen, die er dicht vor das Floß warf, den Hubba ans Ufer getrieben. Hubba<br />

war von den Spritzern so ziemlich klatschenass, aber das macht im Hochsommer nicht sehr viel aus. Er<br />

weinte vor Wut, als sie ihn losbanden. Dann erzählte er dem Stitz, was ihm passiert war, und gestand, er<br />

hätte das Ehrenwort gegeben, nicht zu verraten, was er wüsste. Stitz Schlosser wurde dunkelrot vor Wut;<br />

er nahm den dicksten Stein, den er am Ufer fand, und schmiss ihn mit schauerlicher Wucht ins Wasser.<br />

Hubba rieb sich schluchzend seine Handgelenke.<br />

„Heul‘ nicht!“ schnauzte Stitz. „Ich weiß jetzt, wie wir‘s machen: Du brauchst mir nicht zu sagen, wo<br />

das Büdchen liegt. Aber du darfst ruhig verraten, wo es nicht liegt! Dann hast du dein Versprechen nicht<br />

gebrochen. Ist das klar?“<br />

„Ja“, schnaufte Hubba gedrückt. „Also dann fang an und frage!“<br />

Stitz Schlosser lehnte sich finster an eine Pappel und begann: „Liegt es in der Buchenschonung?“<br />

„Nein.“<br />

„Dann vielleicht in einem Garten?“<br />

„Nein!“<br />

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„Etwa in dem Tannendreieck vor der Autobrücke?“<br />

„Nein.“<br />

„Dann weiß ich nur eine Möglichkeit“ — Stitz Schlosser spuckte im Bogen ins Wasser —‚ „es liegt in<br />

dem Gebüsch am Friedhof!“ Hubba schluckte und blickte seinen Häuptling schweigend an.<br />

„Also klare Sache“, schloss Stitz Schlosser und wandte sich an den Neutralen, der dabeistand: „Sage<br />

deinem Kumpel Marabu und den anderen Musterknaben:<br />

Rache ist süß! Sie werden schon kapieren, was das heißt. Und kannst ihnen ja auch erzählen, dass der<br />

Hubba sein Ehrenwort nicht gebrochen hat. Jedenfalls, wir werden von uns hören lassen!“<br />

Damit schlug er Hubba auf die Schulter, drehte sich rum und stiefelte den Abhang rauf in Richtung<br />

Teichstraße.<br />

25. August<br />

Gestern hat der Chronist den Anfang seiner Chronik, die bereits ein ganzes Aufsatzheft umfasst, der<br />

Vollversammlung von <strong>Neulati</strong> vorgelesen. Die Kritik fiel ziemlich saftig aus.<br />

„Du hast verdammt viel wörtliche Reden da reingezaubert“, stellte Goggo fest. „Das ist an sich nicht<br />

schlecht. Aber ob die wirklich alle nötig sind? Und ich hab‘ so das Gefühl, du machst dich da drin viel zu<br />

sehr über uns lustig!“<br />

„Und ob du die ganzen Reime auf Marabu reinbringen musstest, ist auch noch ‘ne Frage“, setzte Knabe<br />

aus. „Die haben mit der Handlung doch gar nichts zu tun!“<br />

„Und die große Beschreibung der Örtlichkeiten ist überflüssig“, fand Marabu. „Die kennen wir doch sowieso!<br />

Du tust ja manchmal, als schriebst du die Chronik <strong>für</strong> die Zeitung anstatt <strong>für</strong> den Staat <strong>Neulati</strong>. Du<br />

sollst aber keinen Roman <strong>für</strong> fremde Leser schreiben, sondern eine knappe Chronik. Also verkneif dir<br />

das Landschaftsbrimborium und konzentrier dich auf die Handlung!“<br />

Der Chronist war unter diesem Bombardement von Einwänden ziemlich zerknickt. Er hätte ihnen am<br />

liebsten den ganzen Salat hingeschmissen und gesagt:<br />

„Dann soll ihn Goggo schreiben oder Marabu!“<br />

Knabe aber meinte, dass auch manches Gute an der Chronik sei, zum Beispiel der wendige Stil und die<br />

ausführlichen Besprechungen und Abstimmungen der Staatsmitglieder. Er hätte sich jedenfalls nicht<br />

gelangweilt. Man sollte mal ruhig so weiterschreiben. Vielleicht könnte man das Ganze sogar drucken<br />

lassen; Paul Keller hätte doch auch schon mit dreizehn Jahren seine ersten Gedichte in die Zeitung<br />

gebracht!<br />

„Ach Knabe,<br />

du alte Küchenschabe,<br />

dein Lob ist mir ‘ne Labe!“<br />

reimte der ermutigte Chronist, denn auf Marabu zu reimen, hat ihm Knabe ja verboten. (Er merkt aber<br />

mit Schrecken, dass er ja schon wieder einen Reim in seine Chronik verarbeitet hat, und bittet den Staat<br />

<strong>Neulati</strong> um Verzeihung da<strong>für</strong>.) Jedenfalls wollen wir uns morgen, wenn schön‘ Wetter ist, am Büdchen<br />

treffen, um zu Ende auszuschachten.<br />

26. August<br />

Heute war es brüllend heiß. Die Vollversammlung von <strong>Neulati</strong> traf sich, wie besprochen, an der<br />

Limonadenbude. Knabe in Turnhose leimte bereits an der Seitenwand und blies in sein Blasrohr wie in<br />

eine Blockflöte, als der Geschichtsschreiber und Goggo auftauchten.<br />

„Na, du alter Kultusminister“, sagte Knabe zum Chronisten, „hast du auch ‘nen Sack voll Reime mitgebracht?“<br />

„Aber sicher, mein Knabe,<br />

du struppiger Rabe,<br />

mit deinem ewigen Blasrohrstabe!“<br />

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grinste der Chronist, der es sich nicht verkneifen kann, seine wohlgelungenen Reime weiter in die<br />

Chronik einzuflechten.<br />

„Kinders!“ sagte Goggo, der mit nacktem Oberkörper kam und nur die Lederhose und Turnschuhe<br />

anhatte, „ich bin da<strong>für</strong>, dass jeder jetzt zehn Pfennig spendiert, und dann kaufen wir ‘ne Flasche Limo.“<br />

„Akzeptiert!“ rief Knabe und begrüßte den im Dauerlauf heranstampfenden Marabu mit einer Salve<br />

Ebereschenbeeren. „Hast du gehört, du Obersportminister, wir leisten uns ‘ne Flasche mit Geschmack!“<br />

„Meinetwegen“, schnaufte Marabu und entkorkte seine leere Spritzpistole. „Ich fülle mir damit mein<br />

Pistölchen auf; dann kann ich mir, sobald ich Durst hab‘, einen Spritzer auf die Zunge schießen; nur so<br />

zur Erfrischung, weißt du.“<br />

Und während wir drei also brav aus den Pappbechern tranken, träufelte Marabu seinen Anteil in sein<br />

Spritzpistölchen und verkorkte es. Die Tante in der Limonadenbude guckte sprachlos zu.<br />

„Wie ist das eigentlich mit den siebzig Pfennig, die ich damals <strong>für</strong> den Blechkanister ausgegeben habe?“<br />

fragte Marabu und stopfte sein geladenes Geschütz behutsam in die Tasche seiner Lederhose.<br />

„Klar, das muss erledigt werden“, sagte Goggo und kramte zwei Groschen heraus. „Ich schlage vor, wir<br />

geben Marabu jeder 20 Pfennig; dann hat er 60 und braucht selber nur ‘nen Groschen zu spendieren: Wir<br />

wollen ihm die Arbeit, die er mit dem Kasten hatte, anrechnen. Seid ihr da<strong>für</strong>?“<br />

„Jawohl, Herr Finanzminister“, spöttelte Knabe; auch der Geschichtsschreiber war es zufrieden, und so<br />

kriegte Marabu sofort die 60 Pfennig in die Hand gedrückt. Das war die erste Amtshandlung der<br />

<strong>Neulati</strong>schen Staatskasse.<br />

Anschließend zogen wir ganz unverfroren am Teich vorbei, auf dem das Floß alleine in der Siedehitze<br />

schwamm, und kamen unbeobachtet am Büdchen an. Hier schoss sich Marabu zum ersten Mal ein<br />

Strählchen Limonade in den Mund, hängte dann sein himmelblaues Turnhemd überm Büdchenloch auf<br />

einen Buchenzweig und sagte: „Also ran ans Werk, ihr Leute! Zwei ins Büdchen, einer in den Trichter an<br />

den Schlitten, und der vierte als Wachtposten unten an den Weg! Ablösung nach Bedarf!“<br />

Nach drei Stunden angestrengter Arbeit waren alle Stirnen schweißbedeckt, alle Körper lehmbeschmiert,<br />

Marabus Pistölchen leer und unser Büdchen glatt einsachtzig tief!<br />

Goggo sah aus wie die Gottheit Lehms, er hatte die drei Stunden lang nur ausgeschachtet!<br />

Jetzt aber lehnte er die Schaufel in die Ecke, steckte seinen Kopf über den unteren Rand der Grube, wo<br />

sie nur einssechzig tief war, weil da der Eingang liegen sollte, und sah den letzten Schlitten Erde leise<br />

schlingernd durch die tiefzerfurchte Gasse in den Trichter runterfahren, wo ihn der Chronist mit stolzem<br />

Grinsen in die beinah ausgefüllte Trichtermulde kippte. (Das ist ein <strong>für</strong>chterlicher Schachtelsatz<br />

geworden, und ich glaube, dass ihn Waldi, unser Deutschpauker, rot unterschlängeln würde; aber das<br />

gehört ja nicht zur Chronik.)<br />

Jedenfalls trafen sich dann alle vier — der Posten Knabe wurde eingezogen — zu einer feierlichen<br />

Besichtigung der fertigen Grube. Wir sprangen hintereinander in das mächtige Viereck hinunter,<br />

streichelten die glatte, hohe, kühle Wand aus Lehm und sahen uns begeistert an. Ein paar Sonnenkleckse,<br />

die durchs Dach des Buchendickichts fielen, wackelten auf den Gesichtern.<br />

„Das ist ein tolles Loch geworden“, staunte Marabu. „Jetzt das Dach drauf, Erde drüber, und das Hauptquartier<br />

ist fertig.“<br />

„Bloß, es kam mir fast so vor, als klänge es hohl hier unterm Boden“, sagte Knabe beunruhigt und<br />

stampfte mit dem Fuße auf.<br />

„Ich glaub‘, es ist in deinem Kopf ein bisschen hohl“, rief Goggo.<br />

„Und in deinem Blasrohr“, fügte Marabu hinzu.<br />

„Ach Knabe,<br />

du alter Schwabe,<br />

mit deinem ewigen Hohlheitsgehabe!“ reimte der Chronist als dritter.<br />

„Meinetwegen“, brummte Knabe missgestimmt.<br />

„Dann ist es also nicht hier drunter hohl. Aber wenn ihr eines Tages mitsamt eurem Büdchen ‘ne Etage<br />

tiefer saust, in irgend so ‘ne unterirdische Kammer rein, dann wisst ihr, was los ist.“<br />

„Mensch!“ rief Goggo. „Was? ‘ne unterirdische Kammer? Hier unter unserm Büdchen?“<br />

„Kinders!“ brüllte der Chronist. „Das wäre phantastisch! Ich hab‘ schon öfters was davon gehört, dass<br />

hier in der Nähe der Stadtmauer...“<br />

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„Weitergraben!“ zischte Marabu, und seine Augen funkelten. „Aber erst mal hören, ob‘s hier wirklich<br />

hohl ist...“<br />

„Ruhe!“ donnerte Goggo. „Alles stille sein, ich trete jetzt mal auf den Boden hier!“<br />

Nach ein paar Sekunden war es dann soweit: Wir lagen ohne Laut um unser Büdchen rum, die Köpfe<br />

atemlos über die Kante gestreckt; bloß Goggo stand noch unten drin und hob mit feierlicher Langsamkeit<br />

den Fuß. Und in der erwartungsvollen Stille hörte man — die Stimme von Stitz Schlosser klar und laut<br />

vom Wege her: „Wenn ihr dreckigen Schakale nicht zu feige seid, kommt runter auf den Weg und lasst<br />

euch vorher eure Knochen nummerieren!“<br />

Goggos Fuß erstarrte in der Luft überm Boden des Büdchens. Keiner von uns vieren brachte ein Wort<br />

heraus.<br />

„Raus hier!“ zischte Goggo schließlich. „Alles runter an den Trichter, grabt das Werkzeug ein und deckt<br />

die Erde zu! Ich wisch die Schleifspur weg, macht dalli, Leute!“<br />

In rasender Eile schlängelten wir uns die Spur entlang in den Trichter, vergruben in dem losen Lehm den<br />

Blechkasten, Schaufel und Hacken, deckten ihn mit Gras und Laubwerk zu und putzten uns, so gut es<br />

ging, den verräterischen Lehm von Schuhen und Händen. Wir bewegten uns mit der irrsinnigen<br />

Geschwindigkeit von Trickfilmfiguren.<br />

Goggo kam gerade wie ein wildgewordener Dackel mit den Beinen voran aus dem Buchentunnel<br />

geschossen, da zerteilte schon Stitz Schlosser mit entschlossenem Gesicht das Buschwerk am unteren<br />

Rande des Trichters. Neben ihm erschien der Kopf von Hubba Sauerbrei, und hinter ihnen im Dickicht<br />

prasselte die halbe Teichstraße!<br />

Jetzt hieß es nur noch: Auf ihn mit Gebrüll! Zur demokratischen Abstimmung hatte keiner mehr Zeit. In<br />

Sekundenschnelle war der Trichter ein Gewirbel von vier <strong>Neulati</strong>ern, die mit der Wut der Verzweiflung<br />

das Geheimnis ihres Büdchens verteidigten, und fünf oder sechs Teichsträßern, die sich wortlos und<br />

erbittert mit uns durch den Trichter wälzten.<br />

Der Chronist gesteht es schamerfüllt: Die neulatischen Streitkräfte wurden gänzlich auf das Haupt<br />

geschlagen. (Ob er diesen Ausdruck nun von Goggo oder aus dem Geschichtsbuch hat, weiß er leider<br />

selber nicht.)<br />

Goggo tobte wie ein Löwe, Knabes Blasrohr ging in Trümmer, Stitz aber fertigte Mann um Mann alleine<br />

ab: Er warf sich erst auf Goggo, riss ihm mit unglaublicher Gewalt die Arme auf den Rücken, Hubba<br />

flitzte affengleich herbei und schnürte sie mit dicker Kordel fest.<br />

„Warum habt ihr auch so laut durch die Gegend gebrüllt?“ schnaufte Goggo und musste mit ansehen, wie<br />

Stitz den Chronisten verschnürte, während Knabe, der bereits gefesselt am anderen Rande des Trichters<br />

saß, erwiderte: „Als hättest du nicht auch geschrieen, du Oberheini!" Dann ging auch Marabu mit<br />

fliegenden Fahnen unter.<br />

Stitz Schlosser sandte triumphierend seine Blicke in die Runde; seine fünf Getreuen standen keuchend<br />

um ihn rum.<br />

„So, ihr räudigen Hyänen“, sagte er sind spuckte aus, „nun woll‘n wir doch mal sehen, wo euer Büdchen<br />

ist.“<br />

Überall im Trichter sah der Lehm durch die zerfetzte Schicht aus Laub und Gras! Es war nur allzu<br />

deutlich zu erkennen, dass hier in der Nähe eine Grube ausgeschachtet war. Hubba tauchte in das<br />

Dickicht, haargenau entlang der Schleifbahn, die von Goggo provisorisch zugescharrt war. Einige<br />

Sekunden voller Herzklabastern hofften wir, er werde doch das Büdchen nicht entdecken —‚ aber dann<br />

erschien er stolz und meldete: „Wir brauchen noch nicht mal die Brennnesseln, Leute! Das Büdchen liegt<br />

schon gleich hier vorne!“<br />

Stitz zog gelassen den Hirschfänger raus, sagte kalt:<br />

„Dann woll‘n wir‘s mal besichtigen“, und hieb sich mit dem Messer rücksichtslos die Gasse bis zum<br />

Büdchen frei. Wir <strong>Neulati</strong>er hätten heulen mögen: Jetzt war alles <strong>für</strong> die Katz!<br />

„Ihr habt euch da ein schönes Loch gekratzt“, meinte Stitz vom Büdchen her und rammte sich sein<br />

Messer klatschend in die Scheide. „Das lässt sich prima als Gefängnis brauchen!“<br />

Und er kam zurück, ließ uns auch die Füße noch zusammenbinden, und dann schleiften uns zwei Teichsträßer,<br />

einen nach den andern, durch die freigelegte Gasse bis zum Büdchenloch, in das sie uns dann alle<br />

vier hinunterließen.<br />

Goggo rollte mit den Augen, als wolle er den Stitz lebendig fressen, Marabu zitterte vor kalter<br />

Verachtung, Knabe aber grinste leise und zwinkerte dem Geschichtsschreiber unmerklich zu: Da<br />

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erinnerte sich der Chronist mit einer Freude, die ihm warm durch alle Glieder lief, dass Stitz Schlosser ja<br />

das Tollste gar nicht wusste: Dass es nämlich unter diesem Loch vielleicht eine weitere unterirdische<br />

Kammer gab!<br />

„Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“, versuchte ein Teichsträßer zu witzeln; Stitz aber erklärte<br />

kalt: „Wir lassen euch jetzt erst mal was allein! Kommen dann mit ein paar Hacken wieder, damit<br />

ihr euer Büdchen fleißig wieder kaputtmachen könnt.“<br />

„Bild dir bloß nicht ein, als könntest du uns dazu zwingen!“ fauchte Goggo.<br />

„Brennnesseln“, sagte Stitz Schlosser lakonisch. „Hubba, hast du ihnen ihre Messer abgenommen?“<br />

„Sicher“, sagte Hubba. „Aber bloß der Schwarze da“ —er deutete auf den Chronisten — „hatte eins, die<br />

andern hatten leere Taschen.“<br />

„Desto besser“, sagte Stitz, ließ sich von Hubba das Taschenmesser des Chronisten geben und stach es<br />

einen halben Meter überm Boden vor dem Büdchen in eines der freigelegten Buchenstämmchen.<br />

Marabus erbeutete Pistole legte er ins Gras darunter.<br />

„So, ihr Hundesöhne, ruht euch aus, damit ihr nachher euer Büdchen mit frischen Kräften wieder<br />

zuschütten könnt!“ grinste Stitz zum Abschied; dann verkrümelten sie sich.<br />

Wir vier <strong>Neulati</strong>er guckten uns verzweifelt an. Knabe lehnte mit dem Rücken an der Lehmwand, an<br />

seinen hochgezogenen Knien lehnte Goggo, auf Goggos Oberschenkel lagerte der Kopf des Chronisten,<br />

und auf des Chronisten Beinen die von Marabu, der auf der anderen Seite an die Wand gedrückt lag. Und<br />

wir waren alle vollgeschmiert mit Lehm! Es war die ungemütlichste Versammlung, die der Staat <strong>Neulati</strong><br />

jemals abgehalten hat.<br />

„Redet leise“, fing dann Knabe an und pustete mit vorgeschobener Unterlippe seine Tolle aus der Stirn<br />

zurück. „Wenn jetzt einer neben unserm Loch liegt, hört er jedes Wort von uns.“<br />

„Kriegt denn keiner seine Fesseln auf?“ rief Goggo und zappelte wütend; aber wir andern hatten schon<br />

gemerkt, dass gegen diese dicken Kordeln nichts zu machen war.<br />

„Das konnte alles nur passieren, weil wir den Posten vom Wegrand weggenommen haben und dann anschließend<br />

so laut debattiert über den hohlen Boden“, stellte Goggo klar.<br />

Das Wort elektrisierte alle!<br />

„Heiliger Bimbam!“ flüsterte Marabu. „Wenn hier drunter eine hohle Kammer ist, vielleicht ein Schatz<br />

drin oder so, und wir müssen gleich das Büdchen selber wieder zuschütten! Es ist zum Kotzen!“<br />

„Dann gehen wir übermorgen hin und schachten es von vorne aus!“ verlangte der Chronist.<br />

„Ich wäre erst doch mal da<strong>für</strong>, zu hören, ob es wirklich hohl ist“, sagte Knabe, „denn wir wissen‘s ja<br />

noch immer nicht mit Sicherheit! Kann sich keiner aufrecht stellen und mal kurz hier auf den Boden<br />

springen?“<br />

Nach zwei Versuchen gelang es Goggo, auf die Füße zu kommen. Er stand jetzt in der Mitte des<br />

Büdchens, wir andern quetschten uns an die Wand, damit er Platz hatte, und dann hopste er mit einem<br />

mühsamen Schlusssprung hoch und fiel beim Runterkommen der Länge nach hin, weil er ja gefesselt war<br />

und nicht das Gleichgewicht behalten konnte. Aber was viel toller war, das war der hohle Ton, der<br />

wirklich von unten heraufhallte! Es gab jetzt keinen Zweifel mehr: Hier drunter musste eine Höhle sein.<br />

„Ich hab's ja gleich gesagt“, triumphierte Knabe. „Goggo, los, spring noch mal! Aber etwas fester, wir<br />

woll'n doch mal genauer hören, wie viel Zentimeter wohl die Höhle unter unserm Boden liegt!“<br />

Goggo half sich wieder auf die Beine.<br />

Wir zappelten vor Vergnügen an allen gefesselten Gliedern: Es gab hier eine Kammer drunter, und Stitz<br />

Schlosser wusste das nicht. Es war zum Schreien schön und spannend! Goggo ging bedächtig in die<br />

Knie, dann schnellte er sich hoch mit aller Kraft. Und als er wieder runterkam - der Geschichtsschreiber<br />

freut sich, dass er endlich eine echte Sensation berichten kann -, als Goggo wieder runterkam, da gab es<br />

einen Krach, und Goggo sauste wie ein Blitzstrahl durch den Büdchenboden in die Erde rein!<br />

Wir drei andern saßen wie versteinert da und starrten auf das Loch im Boden, durch das er in das<br />

unterirdische Gewölbe eingebrochen war. Die Decke war kaum eine Handbreit dick, das Loch hatte die<br />

Form eines etwa 40 cm breiten Spaltes, der sich quer durch die gesamte Breite unseres Büdchens zog; so,<br />

wie wenn ein breites Brett aus einem Plankenboden weggebrochen wäre.<br />

„Goggo!“ kreischte der Chronist und drückte sich, am ganzen Körper bibbernd, vor dem schwarzen<br />

Abgrund an die Wand. „Goggo, ist dir was passiert, kannst du uns noch hören?“<br />

Krampfhaft starrten wir das schwarze Loch vor unsern Füßen an. Wir wussten jetzt, wie dünn die Decke<br />

war, die uns von der unbekannten Grube trennte, und erwarteten, dass jeden Augenblick der Rest der<br />

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Decke mit uns dreien in die Tiefe brechen würde. Keiner wagte nur die leiseste Bewegung. Gegen diese<br />

Folter war der Hubba auf dem Floß beneidenswert.<br />

„Goggo!“ wiederholte der Chronist. „Was ist mit dir, wo bist du, gib doch Antwort!“<br />

Wir hätten jetzt die Ankunft von Stitz Schlosser mit Erleichterung begrüßt, damit er uns aus diesem<br />

<strong>für</strong>chterlichen Schwebezustand hätte ziehen können; selbst wenn dadurch das Geheimnis dieses<br />

unterirdischen Gewölbes an die große Glocke kam.<br />

Wir fingen langsam an zu schwitzen, und zwar vor Angst. Knabe drückte sachte mit dem Absatz einen<br />

Streifen Lehm vom Rand des Spaltes los, er rutschte in das Loch hinab und landete im selben Augenblick<br />

mit klatschendem Aufschlag am Grunde der Höhle: Man hörte deutlich, dass sie höchstens zwei, drei<br />

Meter tief war. „Gott sei Dank!“ seufzte Knabe. „Das Loch ist nur zwei Meter tief, dem Goggo kann<br />

nicht viel passiert sein. Wenn man bloß nicht so gefesselt wäre!“<br />

Der Chronist erlaubt sich zu vermuten, dass diese Situation die gerechte Strafe war <strong>für</strong> das, was wir mit<br />

dem Hubba gemacht haben.<br />

„Goggo!“ rief er dann zum dritten Mal. „Gib doch Antwort, Mensch! Wo steckst du?“<br />

Und nach einigen Sekunden, endlich, hörte man die Stimme Goggos seltsam dumpf und stotternd aus der<br />

Tiefe dringen: „Ja, was ist denn, Leute? Wo bin ich?“<br />

„Er war bis jetzt bewusstlos“, hauchte der Chronist und rief dann laut: „Du bist beim Springen<br />

durchgekracht und liegst in dem unterirdischen Raum drin. Tut dir was weh?“<br />

„Bloß der Kopf“, rief Goggo, „und ich hab' die Füße, glaub' ich, was verstaucht. War ich eigentlich<br />

besinnungslos?“<br />

„Ein paar Minuten“, sagte Knabe. „Kannst du was erkennen unten drin?“<br />

„Ein bisschen“, sagte Goggo. „Es scheint das hier ein langer Gang zu sein, mit Holz gestützt. Hier liegt<br />

auch ein kaputtgebrochenes Brett, sonst ist der Gang stabil und sauber. Lasst euch doch herunter, Leute;<br />

dann findet uns der Stitz nicht wieder!“<br />

„Aber er findet das Loch und den Gang“, ärgerte sich Marabu. „Verdammt noch mal, man müsste diese<br />

Stricke auseinander kriegen!“<br />

„Beißt sie mit den Zähnen durch!“ rief Goggo. „Warum haben wir das nicht schon gleich getan? Macht,<br />

so schnell ihr könnt! Wer hat die dünnste Kordel um die Hände?“<br />

Die dünnste Kordel hatte Knabe, der ja auch der schwächste von uns war. Und weil ja Marabu auf der<br />

anderen Seite des Spaltes lag, kam bloß noch der Chronist in Frage, Knabes Fesseln durchzunagen.<br />

„Stell dich aufrecht“, sagte der Chronist, „dann knie ich mich hinter dich und will probieren, ob ich mit<br />

den Zähnen an die Kordel kann.“<br />

Knabe hob sich langsam und in ständiger Erwartung durchzukrachen auf die Beine. Der Chronist erhob<br />

sich auf die Knie, rutschte hinter ihn und packte mit den Zähnen Knabes Fesseln. Knabe kicherte, denn<br />

des Chronisten Lippen kitzelten sein Handgelenk. Marabu sah über den Spalt hinweg gebannt und<br />

wortlos zu. Der Strick war hart und ziemlich dick, nach zwei Minuten hatte der Chronist den Mund voll<br />

Faserzeug und spuckte heftig aus. In der Spucke war schon Blut, das Zahnfleisch war zerschlissen von<br />

der Kordel.<br />

„Schneller!“ brüllte Goggo, der jetzt wieder völlig munter war, von unten durch das Loch herauf.<br />

Der Chronist spuckte wiederum aus, er hatte deutlich Blutgeschmack im Mund. Die Kordel Knabes war<br />

zur Hälfte durch!<br />

„Weiter!“ raunte Marabu, der mit blitzenden Augen zusah. „Wir müssen fertig sein, bevor der Stitz<br />

zurück ist. Wenn du's fertig bringst, kriegst du das Ritterkreuz des Staates <strong>Neulati</strong>!“<br />

„Blödmann!“ knurrte der Chronist mit schmerzverzerrten Zügen, spuckte Blut und kaute weiter mit den<br />

Schneidezähnen an Knabes Kordeln herum. Endlich, etwa drei Minuten später, sprengte Knabe mit<br />

Gewalt den dünngenagten Strick und löste eilends auch die Fesseln des Chronisten.<br />

Marabu, der dann als dritter befreit wurde, drückte dem Geschichtsschreiber verlegen die Hand. „Wie ein<br />

Indianer“, sagte er. Das war das größte Lob, das er aussprechen konnte.<br />

Der Chronist erwiderte gar nichts: Ihm tat der ganze Mund von innen weh.<br />

„Kurzer Kriegsrat“, zischte Knabe hastig. „Was machen wir jetzt? Das Loch muss auf der Stelle<br />

zugestopft werden, damit Stitz Schlosser nicht dahinterkommt. Den Gang, den seh'n wir uns dann später<br />

an. Und zunächst mal holen wir Goggo da raus!“<br />

Damit ließ er sich geschmeidig in den Spalt hinunter, knüpfte unten Goggos Fesseln auf und rief<br />

begeistert: „Mensch, das ist feudal hier unten! Schade, dass wir nicht sofort den Gang erkunden können!“<br />

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Mit diesen Worten schmiss er die beiden Hälften des durchgebrochenen Bretts in das Büdchen hinauf<br />

und wurde dann von Goggo selber hinterhergestemmt. Nun zogen wir vom Rand der Grube aus - man<br />

konnte sich an Buchenbäumchen halten - auch den Goggo selbst mit einer dicken Kordel an das<br />

Tageslicht. Er sah ein bisschen blass aus von dem Schock, aber Reden halten konnte er wie immer.<br />

„Dass Stitz Schlosser uns allein ließ, war ein kapitaler Schnitzer“, stellte er strategisch fest. „Er musste<br />

uns entweder mit Draht fesseln oder einen Posten bei uns lassen. Aber jetzt mal dalli, Leute!“ Und er<br />

legte die beiden Bretterhälften quer über den Spalt, deckte den Zwischenraum provisorisch mit den<br />

Buchenzweigen zu, die Stitz Schlosser abgeschlagen hatte; Knabe aber buddelte in Eile aus dem<br />

Trichterlehm die Hacke aus. Dann stürzten alle sich fanatisch auf die Büdchenwände, rissen sie mit<br />

Hacke, Händen und Taschenmesser ein und trampelten die herunterkollernden Lehmmassen auf der<br />

zugeflickten Büdchensohle fest. Nach drei Minuten lag gewiss ein halber Meter festgestampfter<br />

Lehmschicht über dem ehemaligen Loch, und das Büdchen sah aus wie ein kleiner steiler Krater; die<br />

Baumwurzeln hingen von allen Seiten aus den Wänden.<br />

Wir hatten mit grimmiger Freude geschuftet. Der Chronist darf wohl behaupten, dass die Bauerei des<br />

Büdchens längst nicht soviel Spaß gemacht hat wie seine Zerstörung. Denn wir wussten ja, dass damit<br />

das Geheimnis unseres Büdchens Eigentum <strong>Neulati</strong>s blieb.<br />

Seit Stitz Schlossers Abzug waren kaum 10 Minuten vergangen. „Beeilung, Leute“, keuchte Goggo,<br />

„grabt die Hacke wieder in den Trichter, und dann nichts wie weg von hier! Stitz Schlosser wird sich<br />

niedlich ärgern, wenn er mit den Brennnesseln ankommt, und das Büdchen ist bereits kaputt!“<br />

Fünf Minuten später waren wir auf dem Nachhauseweg, so übermütig und so aufgekratzt wie selten:<br />

<strong>Neulati</strong> kannte ganz alleine einen unterirdischen Gang! Es war ein triumphaler Tag <strong>für</strong> unsern Staat; bloß<br />

der Chronist hatte Zahnweh, und Goggo litt an einer sogenannten leichten Gehirnerschütterung. Aber<br />

übermorgen, wenn's an die Erforschung unsres Stollens geht, ist das garantiert behoben!<br />

28. August<br />

Dem Chronisten tut zwar heute nicht mehr der Mund weh, aber da<strong>für</strong> sind's die Finger seiner<br />

Schreibhand, die seit vorgestern so etwa fünf, sechs Stunden lang das große Abenteuer vom 26.<br />

beschreiben mussten und ein bisschen lahm geworden sind. Trotzdem schreibt er heute weiter, denn es<br />

ist inzwischen allerlei passiert.<br />

Heute gegen drei Uhr nachmittags schlich man nämlich vollzählig aufs Neue in die Schonung.<br />

Selbstverständlich drangen wir von oben her ein und nicht von der Teichstraße aus. Dass die Sippschaft<br />

von Stitz Schlosser noch an dem kaputten Büdchen herumspukte, war kaum zu erwarten.<br />

Goggo hatte trotz der Hitze seine Trainingsjacke angezogen. „Ich hab' gemerkt, wie kalt das unten in<br />

dem Gang war“, sagte er. Und darunter trug er einen Lasso um den Bauch gewickelt, „falls es unten drin<br />

so Schächte oder so was gibt“.<br />

Marabu zog blinzelnd seine Spritzpistole aus der Tasche: Sie war voll Milch! Man sah sie weiß und<br />

deutlich durch die dünne Hülle aus rosa Kunststoff hindurchschimmern. „Ich habe diesmal schon zu<br />

Hause getankt“, erklärte er. „Wenn von euch vielleicht mal einer Durst kriegt und er will was frische<br />

Milch, so kann er sich ja melden.“ Und er spritzte sich genießerisch den weißen und vermutlich schon<br />

lauwarmen Strahl auf die Zunge. Knabe aber schoss aus einem neugebastelten Holunderblasrohr seine<br />

Salven in die Gegend.<br />

Ferner waren wir natürlich alle ausgerüstet mit Beleuchtungsapparaten: Goggo hatte eine Kerze und<br />

Zündhölzer, Knabe und der Geschichtsschreiber ebenfalls, Marabu besaß sogar eine mit frischer Batterie<br />

bestückte Taschenlampe; und wir alle waren lustig vor Erwartung.<br />

Knabe holte unterwegs zum Beispiel ein kleines, sorgfältig gesägtes Ordenskreuz aus Sperrholz aus der<br />

Tasche, säuberlich geschmirgelt und mit einer weißen Schlinge zum Aufhängen versehen. Er hatte auf<br />

das Holz nicht das Geringste draufgemalt, aber das Kreuzchen wirkte dadurch besser, als hätte er weiß<br />

Gott was <strong>für</strong> Verzierungen drauf angebracht.<br />

„Das ist der Orden <strong>für</strong> besondere Verdienste um den Staat <strong>Neulati</strong>“, sagte er und lächelte sein leises<br />

Knabenlächeln, „ich hab' ihn gestern ausgesägt. Den woll'n wir heute dem Chronisten feierlich verleihen<br />

<strong>für</strong> das aufopfernde Zerbeißen meiner Stricke.“<br />

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„Und <strong>für</strong> seine dicke Chronik“, fügte Marabu hinzu. „Ich würde ja rammdösig, wenn ich ewig soviel<br />

schreiben müsste!“<br />

„Dank, ihr Bürger von <strong>Neulati</strong>, hätte Geld genug mein Vati, kauft ich euch 'nen Maserati!“ reimte<br />

mühsam der Chronist.<br />

„Ich hoffe“, fuhr Knabe ironisch fort, „dass auch die andern Bürger von <strong>Neulati</strong> alles tun werden, um<br />

einer solchen Dekorierung würdig zu sein.“<br />

Aber alle Ironie ändert doch nichts daran, dass der Chronist der erste ist, der das Verdienstkreuz <strong>Neulati</strong>s<br />

auf der Brust baumeln hat! Es hängt jetzt über seinem Arbeitstischchen an der Wand.<br />

Am Büdchen angelangt, grub Goggo fiebernd unser Werkzeug aus, und in fünf Minuten war das Loch<br />

aufs Neue freigelegt. Wir rissen aber nicht die ganze Länge von anderthalb Metern auf, sondern<br />

schaufelten bloß etwa 50 cm frei, so dass sich auf dem Kratergrund ein rechteckiges Loch von etwa 50<br />

mal 40 cm öffnete. Dann gab es eine lästige Debatte: „Wenn wir jetzt alle vier einsteigen“, verkündete<br />

Goggo, „und Stitz Schlosser oder ein Teichsträßer kommt vorbei, dann weiß er alles!“<br />

„Deshalb müsste also“, sagte Knabe, „einer von uns draußen bleiben, das Loch ganz provisorisch wieder<br />

zuschütten und abwarten, bis wir klopfen, um wieder rauszukommen.“ Wir guckten uns erschrocken an!<br />

Das war ein Opfer, das man keinem zumuten konnte.<br />

„Wer bleibt freiwillig als Posten hier oben?“ fragte Knabe. „Ich säge ihm bis morgen ein Verdienstkreuz<br />

aus.“ Aber keiner hatte Lust, sich das Verdienstkreuz zu verdienen; schließlich ist es kein Vergnügen,<br />

ganz allein zwei Stunden in der Schonung rumzuhocken, während unten in dem Gang die drei andern die<br />

spannendsten Sachen erleben.<br />

„Ich selber komm ja nicht in Frage“, prahlte der Chronist. „Erstens muss ich immer mit dabei sein, um<br />

alles beschreiben zu können, und zweitens hab' ich ja schon ein Verdienstkreuz.“<br />

„Dann müssen wir auslosen“, folgerte Goggo. „Das ist wahrscheinlich noch die beste Lösung.<br />

Abstimmung: Wer ist da<strong>für</strong>?“<br />

Goggo, Marabu und Knabe hoben die Hand. Bloß der Geschichtsschreiber bestand darauf, er müsse mit<br />

auf die Erkundungsfahrt. Die andern sahen das auch ein: „Desto besser“, sagte Goggo, „dann kannst du<br />

ja der sein, der die Auslosung veranstaltet.“<br />

Der Chronist schnitt also drei Buchenstäbchen von Streichholzlänge ab, alle drei von gleicher Dicke, und<br />

in eines schnitt er eine Doppelkerbe. Er klemmte die drei zwischen Mittel- und Zeigefinger, schloss die<br />

Hand zur Faust, so dass nur die drei völlig gleichen Enden aus der Fingerritze guckten, und dann sprach<br />

er sachlich: „Zieht!“<br />

Knabe zog. Er kriegte eines ohne Kerbe.<br />

Goggo zog. Auch er erwischte eins, das nicht markiert war.<br />

Und so blieb der arme Marabu denn auf der Strecke. Er schmiss in stummer Wut sein Hölzchen hin und<br />

trampelte darauf herum.<br />

„Morgen kriegst du ein Verdienstkreuz aller Klassen“, tröstete ihn Knabe.<br />

„Ich pfeif' auf deine Kreuze aller Klassen“, keifte Marabu. Er war der jüngste von <strong>Neulati</strong> und den<br />

Tränen nah; er tat uns leid.<br />

„Kannst du uns vielleicht dann deine Taschenlampe geben?“ fragte Knabe vorsichtig. „Wir haben ja bloß<br />

Kerzen, und man weiß nicht, ob's da unten Wasser oder Zugluft gibt.“<br />

„Hier hast du sie“, sagte Marabu tonlos und streckte sie gesenkten Blicks dem fast gerührten Knabe hin.<br />

„Hals- und Beinbruch <strong>für</strong> euch drei.“<br />

„Danke“, sagte Goggo, der schon halb im Eingang stak und auf den Rändern wie im Stütz auf einem<br />

Barren hing. Dann schlüpfte er hinunter, bis er an dem Randbrett wie an einer Reckstange pendelte, und<br />

ließ sich dann den halben Meter, der noch fehlte, auf den Boden runterplumpsen. Der Chronist und<br />

Knabe turnten ebenso hinab. Marabu stand breitbeinig über dem Loch und sah uns trostlos nach.<br />

„Also Marabu“, verabschiedete sich Goggo, „du deckst das Loch jetzt wieder zu und schüttest etwas<br />

Erde drauf, aber nicht zuviel, im höchsten Fall zehn Zentimeter. Dann setzt du dich daneben ins Gebüsch<br />

und wartest. Und wenn wir dann nach ein, zwei Stunden wieder hier sind, klopfen oder rufen wir, damit<br />

du uns das Loch dann wieder öffnen kannst. Ist das klar?“ Marabu nickte melancholisch.<br />

„Und wenn ein Teichsträßer kommt oder so, halt dich im Versteck und rühr dich nicht. Und wenn wir<br />

nach spätestens zwei Stunden noch nicht wieder da sind, kommst du einfach nach und lässt das Loch hier<br />

offen. Kann man sich darauf verlassen?“<br />

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Marabu nickte verdrossen. Dann schob er rasch, damit man nicht sah, dass er weinte, die eine Bretthälfte<br />

über den Spalt, warf einige Buchenzweige dazu, so dass es plötzlich bei uns dunkel war und nur ein<br />

grünlich-trübes Dämmerlicht noch herrschte, und dann schlossen drei, vier Schaufeln Lehm uns völlig<br />

von der Tagwelt ab. Goggo und der Chronist steckten je eine Kerze an; man hörte über uns noch Marabu<br />

rumoren, ein paar Bröckchen Lehm rieselten durch die Buchenäste herunter, dann sah man sich gespannt<br />

im Stollen um.<br />

Er war in Abständen von drei Metern mit dicken Pfosten aus Eichenholz abgestützt, die Decke und die<br />

Seitenwände waren lückenlose Bretterschichten. Und durch eines dieser Bretter war ja, wie man weiß,<br />

der Goggo eingebrochen. Der Gang war etwa zwei Meter hoch und ebenso breit, er kam von der<br />

Richtung der Stadtmauer her und fiel in ziemlich steilem Winkel nach dem Tal hin ab. Die Luft war kühl<br />

und trocken.<br />

„Toll, wie das hier abgestützt ist“, sagte Goggo, „aber in dem Lehm hier würde sonst der Gang nicht<br />

halten.“<br />

„Und alles Eichenholz!“ rief Knabe staunend. „Wahrscheinlich, weil das nicht verfaulen kann. Denn<br />

wenn Eiche nass wird, wird sie bloß noch härter, aber niemals morsch; hab' ich irgendwo gelesen. Gehen<br />

wir erst nach oben - oder lieber erst da runter zu?“<br />

Wir entschieden uns <strong>für</strong> ersteres. Der Gang lief schnurgerade und im selben Anstiegswinkel wie die<br />

Buchenschonung aufwärts in Richtung der Stadtmauer. Der Kerzenschein drang höchstenfalls zehn<br />

Meter weit, aber Knabe hielt die Taschenlampe sozusagen entsichert und im Hüftanschlag bereit.<br />

„Das ist bestimmt ein Fluchtweg aus dem Mittelalter“, sagte der Chronist. „Da retteten die Leute aus der<br />

Stadt sich durch, wenn sie belagert wurden. Wenn das wirklich so ein Gang ist, ist er kilometerlang.“<br />

„Wissen wir auch“, sagte Goggo, und man stapfte schweigend weiter. Es war bedrückend still hier unten,<br />

fast unheimlich leblos, und der Chronist hatte Herzklopfen, obwohl man zu dritt war. Auch Goggo biss<br />

sich nervös auf die Lippen, und selbst Knabe sah viel ernster aus als sonst.<br />

Nach zirka 150 Metern hörten plötzlich die Holzwände auf, und der Gang lief waagrecht weiter in der<br />

Form eines gemauerten Tunnels mit halbrund gewölbter Decke.<br />

„Wir müssen jetzt unter der Stadtmauer durch sein“, erläuterte Goggo, „also sind jetzt über uns schon<br />

Häuser.“<br />

Wir starrten ungläubig die Decke an. Sie war aus groben Steinen, trocken und bucklig; komisch, sich das<br />

vorzustellen, dass nur ein paar Meter über dieser Totenstille jetzt die Stadt in der Nachmittagssonne lag.<br />

„Menschenskind, wenn das mein Vater wüsste“, sagte Goggo, denn wir hatten selbstverständlich nichts<br />

erzählt zu Hause von dem selbstentdeckten Gang. Jetzt dachten wir an unsre Eltern und hatten so'n<br />

bisschen ein schlechtes Gewissen.<br />

Aber da war schon der Gang zu Ende! Er endete in einem runden Schacht, der senkrecht hochging wie<br />

ein Brunnenrohr. Knabe knipste stolz die starke Taschenlampe Marabus an und sandte ihren Strahl in die<br />

Höhlung hinauf: Etwa sechs Meter über uns schloss eine glatte, hellbraune Steinplatte den Kamin<br />

endgültig ab.<br />

„Man müsste mit 'ner Leiter rauf und mal probieren, ob die Platte wegzuschieben geht“, sagte der<br />

Geschichtsschreiber.<br />

„Blödsinn“, sagte Goggo kurz. „Erstens sieht man, dass der Stein zu schwer ist; zweitens haben wir ja<br />

keine Leiter hier. Höchstens könnten wir mal Klopfsignale geben, ob vielleicht darüber Leute wohnen;<br />

aber dadurch würden wir den Gang verraten.“<br />

„Also wär's am besten“, meinte Knabe, „wir messen ungefähr die Länge des Ganges von hier bis zur<br />

Stadtmauer ab und gucken mal über Tage nach, wo wir hier wohl etwa sind.“<br />

Goggo rollte also seinen Lasso auf, der genau 15 Meter lang war, und maß mit ihm etappenweise die<br />

Ganglänge ab. Er und Knabe trugen die Enden der Leine und der Geschichtsschreiber die beiden Kerzen.<br />

Schließlich kamen wir aufs Neue am Beginn der Holzverschalung an.<br />

„Viereinhalb mal Lassolänge“, stellte Goggo fest. „Also zirka 67 Meter“, rechnete sich Knabe aus.<br />

„Morgen geh’n wir untersuchen, wo der Schacht wohl oben endet.“<br />

Goggo schlang sich seinen Lasso um die Schultern, richtig zünftig sah das aus, und wir folgten dann dem<br />

Gang zurück. Er war jetzt gar nicht mehr so unheimlich wie vorher, da<strong>für</strong> aber teufelsmäßig kalt: Knabe<br />

und der Geschichtsschreiber schnatterten um die Wette, Goggo tippte sich auf seine Trainingsbluse und<br />

grinste zufrieden.<br />

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Wenig später kamen wir aufs Neue an der Einstiegstelle an, über der jetzt Marabu wohl Trübsal blasend<br />

im Gebüsch saß; die Neugier trieb uns ohne Aufenthalt darunter durch. Der Stollen blieb auch jetzt genau<br />

der alte: eine viereckige Holzröhre mit glattem und trockenem Lehmboden, die sich schnurgerade vor<br />

uns in die Ferne senkte.<br />

Knabe klopfte mit dem Finger an das Holz der Seitenwand, es war ein bisschen feucht und schwärzlich<br />

und so gut wie knochenhart.<br />

„Wenn man bedenkt, dass die Bretter hier mindestens 300 Jahre alt sind!“ fiel es dem Chronisten ein.<br />

„Und was das gekostet haben muss, all das Eichenholz hier unten!“<br />

„Achtung“, unterbrach ihn Goggo, „macht der Gang da vorn nicht einen Knick?“<br />

Wirklich schwenkte unser Stollen ein paar Schritte weiter schräg nach links hinunter ab: „Ungefähr in<br />

Richtung auf den Teich hin“, tippte Goggo und marschierte, dass die Kerzenflamme, die er trug, sich<br />

platt auf den Rand ihrer Kerze drückte. Etwa 150 Meter weiter aber blieb er plötzlich stehen und<br />

lauschte.<br />

„Hört mal, Leute“, raunte er, „klingt das nicht wie Wassertropfen?“ Wirklich klang uns aus der Tiefe<br />

schwach das Glucksen und Geplinker fallender Tropfen entgegen.<br />

„Es regnet“, witzelte der Chronist und wedelte aus Angeberei mit dem Finger nachlässig durch seine<br />

Kerzenflamme.<br />

„Nein!“ rief Goggo aufgeregt. „Aber wisst ihr was, Genossen? Unser Gang läuft regelrecht unter dem<br />

Teich durch! Oder mindestens unter dem Bach. Und da sickert jetzt von oben her das Wasser ein. Weiter,<br />

Leute!“<br />

Wir hasteten mit hochgereckter Kerze weiter. Das Holzwerk fing vor Feuchtigkeit zu glitzern an, der<br />

Boden wurde schlüpfrig. Rhythmisch klang das singende Glucksen der Tropfen aus der Dunkelheit.<br />

„Knabe, mach die Lampe an und geh als erster!“ sagte Goggo plötzlich. „Es ist so rutschig hier, und<br />

deine Lampe ist doch heller.“<br />

„Meinetwegen“, sagte Knabe und knipste Marabus Scheinwerfer an, während Goggo, dem im<br />

Kerzenschein die Haare in das vorgestreckte Gesicht hingen, aufgeregt beiseite trat, um Knabe nach<br />

vorne zu lassen.<br />

In der Lichtbahn unserer Lampe streckte sich der Gang wohl 25 Meter weit hinunter, blitzend fielen hier<br />

und da die Tropfen senkrecht durch den Lichtstrahl. Knabe stapfte unerschrocken vorwärts. Nach 20<br />

Metern sanken wir bei jedem Tritt bis an die Knöchel in den Lehmbrei ein. Knabe blieb urplötzlich<br />

stehen und sagte heiser: „Seht euch das da an, ihr Leute!“<br />

Wir standen neben ihm wie festgewurzelt: Vor uns wurde aus dem Stollen ein Kanal! Wasser füllte ihn<br />

auf etwa 15 Meter Länge bis zur halben Höhe an. Hinter dieser Riesenpfütze sah man die Fortsetzung des<br />

Ganges nach oben entschwinden.<br />

„Hier sind wir also dann am tiefsten Punkt“, erklärte Goggo, der sich wieder fasste. „Auf der andren<br />

Seite hebt der Gang sich wieder und läuft weiter: Klarer Fall! Ob es Zweck hat, sich die Schuhe<br />

auszuziehen und durchzuwaten?“<br />

„Selbstverständlich“, sagte der Chronist und zog die Füße, ohne sich zu bücken, aus seinen im<br />

Lehmboden festgekleisterten Sandalen. „Aber wenn ihr nicht die Traute habt, probier ich's mal alleine.<br />

Besser ist es allerdings, ihr seilt mich an.“<br />

Während also der Chronist die lehmbekrusteten Strümpfe auszog und auf die festgebackenen Sandalen<br />

warf, rollte Goggo seinen Lasso auf und schlang ihn dem Chronisten um den Nacken und von dorther<br />

kreuzweise über die Brust unter den Armen durch auf den Rücken, wo er ihn verknotete. Dies<br />

fachmännische Anseilsystem hatte er nämlich aus einem Jugendkalender gelernt. Der Chronist krempelte<br />

sich unterdessen seine Lederhose hoch, bis dass sie einer Badehose glich. „Woll'n bloß hoffen, dass es<br />

unter Wasser nicht noch steile Löcher oder Molche oder so was gibt“, sagte der Chronist und stippte<br />

seine Zehen in den Rand des rabenschwarzen Wassers, dass ihm eine Gänsehaut den Rücken rauf und<br />

runter fuhr, vor Kälte oder auch vor Aufregung. Goggo hielt die Leine eisern um die Faust gewickelt,<br />

Knabe strahlte mit der Taschenlampe, und der Chronist stelzte los. Das Wasser gluckste um seine<br />

Waden, es musste klar wie Glas sein, aber leider drang der Schein der Kerze nicht bis auf den Boden<br />

durch, so dass es schwarz erschien wie Tinte.<br />

Der Schlamm des Grundes quoll bei jedem Schritt wie Watte um die Füße auf, ansonsten war der Boden<br />

glatt und senkte sich wie auch im Trockenen. Nach fünf Metern stand das Wasser bis zum Knie. Der<br />

Chronist zog beklommen den Atem ein und spürte dabei Goggos Lasso stramm und sicher um den<br />

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Brustkorb sitzen, das war ein schönes und beruhigendes Gefühl. Ein dicker Tropfen klatschte ihm aufs<br />

Haar. Das Wasser stieg bis an den Rand der Lederhose. Der Chronist sah sich unsicher um: „Wenn ich<br />

jetzt noch tiefer gehe, wird die Lederhose nass!“ rief er zu den Wartenden zurück, denn es dauert halbe<br />

Tage, bis eine nasse Lederhose wieder trocken ist, und zu Hause würde dann die Mutter schwer<br />

Spektakel machen.<br />

„Es hat dir ja keiner befohlen, durchzugehen“, sagte Goggo und ließ sich eine Lassowicklung von der<br />

Faust fallen; da stakte der Chronist entschlossen weiter. Es war ein fieses Gefühl, das Wasser in der Hose<br />

steigen zu spüren; nach zwei Metern stand er bis zum Bauch in der Flut, die Füße weich umschmiegt<br />

vom Schlamm des Grundes. Die Tropfen klimperten lustig auf dem Wasser, es war eine ganz komische<br />

Stimmung.<br />

Dann begann der Gang zu steigen! Jeder Schritt hob den Chronisten eine Handbreit weiter aus dem<br />

Wasser. Er schritt jetzt schneller aus und stand nach wenigen Metern aufatmend am anderen Ufer barfuß<br />

auf dem Trockenen.<br />

„Bravo!“ sagte Goggo von der andern Seite her und zuckte zusammen, denn ein dicker Tropfen klatschte<br />

wie ein Groschenstück auf seine Kerzenflamme und zerdrückte sie. Goggo starrte den dampfenden Docht<br />

eine Weile voll Verblüffung an, schob die Kerze schließlich in die Tasche und verkündete: „Wir<br />

kommen auch!“<br />

Und während Goggo und Knabe sich die Füße aus den festgeklebten Schuhen holten, band sich der<br />

Chronist den Lasso ab und nahm sein Ende in die Faust. Goggo schlang das andre Ende um sein<br />

Handgelenk, packte Knabe mit der andren Hand am Arm, und beide kamen ziemlich schnell und ohne<br />

Angst herüber. Sie standen triefend und vor Kälte bibbernd barfuß auf dem Ufer. Goggo warf sich den<br />

durchnässten Lasso auf die Schulter, „also weiter“, sagte er.<br />

Wir wateten aufwärts durch anfangs noch glitschigen Boden, dann wurde der Gang wieder trocken wie<br />

früher. Nach dem kalten Fußbad spürten wir auf einmal prickelnde Hitze durch die Beine rieseln und<br />

rannten fast, mit wehender Kerzenflamme, dem Stollengang nach.<br />

„Wenn man bedenkt, dass kein Mensch seit 300 Jahren hier unten war, das ist komisch“, sagte der<br />

Chronist. „Wenn hier wirklich mal inzwischen einer dringewesen ist, müsste man doch in dem Lehm die<br />

Spuren sehn.“<br />

„Jetzt fehlt hier bloß noch ein Haufen Gerippe oder so was“, meinte Knabe. „In allen Romanen gibt's in<br />

unterirdischen Gängen Totenköpfe oder Schätze.“<br />

„Kann ja alles noch passieren“, sagte der Chronist beklommen.<br />

Nach etwa 100 Metern steilen Anstiegs - wir mussten jetzt mitten unter dem Engelwald sein - stockte<br />

Goggo plötzlich und schnappte nach Luft. Wir guckten ihm über die Schulter und erstarrten ebenfalls:<br />

Fünf Meter vor uns lag eine Bombe!<br />

Es war ein dickes rundes Ding, das Leitwerk unbeschädigt, sicher ein Fünf-Zentner-Exemplar, zur Hälfte<br />

in die Erde eingewühlt, zersplittertes Holzwerk drum herum, und schwarze Walderde mit welken<br />

Blättern lag friedlich auf der grauen Wölbung.<br />

„Ein Blindgänger!“ hauchte Knabe. „Ist im Krieg bis in den Gang geschlagen und nicht explodiert! Was<br />

machen wir jetzt?“<br />

Der Geschichtsschreiber lehnte sich keuchend an die Wand, denn seine Knie wurden eigenartig zitterig,<br />

und versetzte mit mühsamer Festigkeit: „Überlegt euch doch mal, Leute: Diese Bombe ist schon<br />

soundsoviel Jahre alt! Warum soll sie grade heute explodieren?“<br />

„Weil wir heute die ersten sind, die sie finden“, sagte Goggo, „und die Erschütterung von unsern<br />

Tritten...“<br />

„Reicht niemals aus, um eine Bombe hochzujagen!“ rief Knabe. „Menschenskind, blamiert euch nicht<br />

vor Marabu! So jung der ist, ich glaub', der wäre nicht so feige.“<br />

„Wenn sie losgeht“, sagte Goggo, „sind wir alle drei sofort hinüber. Wenn mein Vater das hier wüsste,<br />

Mensch, der gäb’ mir wochenlange Strafarbeiten auf!“ Goggos Vater, der Deutschlehrer, straft seinen<br />

Sohn nämlich nicht mit Dresche oder Ohrfeigen, sondern mit Diktaten und Nacherzählungen oder sogar<br />

Wortschatzübungen, und vor so was hat der Goggo viel Respekt.<br />

„Gut, dann kann sich Goggo ja zurückziehen bis ans Wasser“, sagte Knabe, „der Chronist und ich, wir<br />

untersuchen dann den Fall alleine!“ Und weil Goggo viel zuviel Angst hatte, um mit seiner Kerze ganz<br />

allein zum Wasser zurückzupilgern, ging er mit uns auf die Bombe los. Dem Chronisten schlug das Herz<br />

bis in den Hals rein. Man hätte sagen können, wir sind feige. Aber der Chronist muss es beschreiben, wie<br />

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es war, und leider war es nicht wie in den Jungenbüchern, wo die Helden ganze Verbrecherbanden<br />

erledigen, ohne dabei das Witzemachen zu verlernen.<br />

Dem Chronisten sind die Finger steif vom Schreiben: Fortsetzung folgt morgen.<br />

29. August<br />

Ende der Geschehnisse vom 28. August.<br />

Der Tagesablauf des Chronisten besteht in letzter Zeit aus Schule, Hausaufgaben, Chronikschreiben, aus!<br />

Keine Minute mehr bleibt ihm <strong>für</strong> anderes. Trotzdem schreibt er heute mit erholten Fingern weiter:<br />

Über der Bombe war die Stollendecke aufgerissen, und ein runder Schacht von etwa 50 cm Dicke, den<br />

sich die Bombe im Fallen gebohrt hatte, verlor sich senkrecht in die Höhe.<br />

„Das Bömbchen hat uns netterweise einen Notausgang hinterlassen“, sagte Knabe. „Das Loch geht sicher<br />

raus bis in den Engelwald. Macht mal eure Kerze aus, ob nicht was Tageslicht da runterfällt!“<br />

Der Chronist blies seine Kerze aus. Knabe beugte sich im Licht der Taschenlampe über die Bombe,<br />

verdrehte den Hals, um nach oben in den Schacht zu sehn, und knipste dann die Lampe aus. Im Finstern<br />

hörte man den Atem Goggos.<br />

„Fabelhaft!“ rief Knabe schon nach drei Sekunden. „Man sieht ganz deutlich Tageslicht da oben! Leider<br />

hängt der Gang fast ganz voll Laub und Ästchen, aber wenn wir einen langen Knüppel hätten, könnte ich<br />

den ganzen Mist da runterstochern.“<br />

„Wohl, damit er auf die Bombe fällt und die dann auseinander fliegt!“ rief Goggo.<br />

„Trotzdem wär' es besser, wir würden uns in Zukunft diesen Schacht als Eingang nehmen“, sagte der<br />

Chronist. „Das Büdchenloch ist zu bekannt und auch zu umständlich.“<br />

„Sicher“, sagte Knabe und knipste seine Lampe wieder an, „aber da<strong>für</strong> muss die Bombe unter diesem<br />

Loch weg. Wollt ihr jedes Mal beim Einstieg mit den Schuhen auf 'ner Bombe landen?“<br />

Goggo steckte seine Kerze wieder an; er sah ein bisschen blasser aus als sonst.<br />

„Am besten warten wir, bis Marabu dabei ist“, meinte Knabe. „Zu vieren müssten wir das Ding doch<br />

wohl zur Seite wälzen können.“<br />

„Geh’n wir erst mal weiter“, lenkte Goggo ab und setzte sich aufs Neue an die Spitze, der Chronist und<br />

Knabe folgten ihm. Der Gang lief wie gewohnt in seiner Holzverkleidung weiter, 40 Meter nach der<br />

Bombe liefen wir in ihm entlang wie auf 'nem altvertrauten Dschungelpfad im Engelwald.<br />

„Wisst ihr, was jetzt hier noch fehlt?“ fragte Knabe und ließ den Strahl seiner Lampe albern durch den<br />

Stollen tanzen. „So ein weißliches Gerippe, das hier einen Schatz bewacht!“<br />

„Oder ein Gerippe, das man hat verhungern lassen!“ spintisierte Goggo weiter. „Mit den Ketten noch um<br />

die Gelenke und 'ner dicken Eisenkugel an den Füßen, damit es nicht weglaufen kann.“<br />

„Und daneben noch den leeren Wasserkrug, woraus es trank, bevor es hier verhungert ist“, phantasierte<br />

grausam der Chronist, „und das müsste uns mit seinem Totenschädel angrinsen und plötzlich aufstehen<br />

und schauerlich heulen: „Was sucht ihr hier, verwegenes Gelichter?“ brüllte Knabe in der Rolle des<br />

Skeletts. „300 Jahre hat kein Sterblicher mein stilles Schattenreich betreten; und ich hab geschworen...“<br />

heulte Goggo weiter, - „... beim Bart des Ritters, der mich hier verhungern ließ“, bekräftigte der<br />

Chronist, - „... dass ich dem ersten, der vermessen seine Füße hier in diesen Gang zu setzen wagt, den<br />

Hals rumdrehen will!“ vollendete Knabe, und Goggo imitierte abschließend des Gespenstes heiseres<br />

Gelächter: „Haha - haha -haha!“<br />

Aber schon im gleichen Augenblick stockte er und lauschte: Denn ein hohles Antwortlachen rollte uns<br />

aus der Ferne des Ganges entgegen! In der Totenstille war es deutlich zu vernehmen; unsre Kerzen<br />

fingen an zu zittern.<br />

„Was war denn das?“ hauchte Goggo.<br />

„Bloß das Echo“, sagte Knabe und war selber froh, die Erklärung gefunden zu haben.<br />

„Ach so“, meinte Goggo erleichtert, „dann müssten wir hier bald an eine Querwand kommen, die den<br />

Schall zurückwirft oder so.“<br />

Wir kamen nicht an eine Querwand, sondern einfach an das Ende unseres Stollens. Eine Lehmwand<br />

schloss ihn plötzlich ab.<br />

„Komisch“, sagte Goggo und ballerte mit der Faust an den Lehm, „warum haben diese Kerls im<br />

Mittelalter keinen Ausgang eingebaut?“<br />

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„Ist doch logisch“, sagte Knabe, „wenn der Ausgang fix und fertig wäre, hätten die Belagerer ihn jeden<br />

Augenblick entdecken können. Lieber stieß man erst im Notfall einen Schacht von hier nach oben, was in<br />

ein, zwei Stunden möglich ist, und ich möchte wetten, dass wir uns hier kaum zwei Meter unterm<br />

Engelwald befinden.“<br />

Also machte die Expedition wieder kehrt. Auf dem Rückweg kam der Gang uns gar nicht mehr<br />

verdächtig vor, selbst die Bombe schien in ihrem Lehmbett eingeschlafen, und die Spuren unsrer nackten<br />

Füße in dem Schlamm am Wasser sahen richtig ulkig aus. Wir wateten in breiter Front durch den Kanal;<br />

lehmige Wolken quollen unter Wasser in dem Schein der Taschenlampe auf, und die Wellen, die wir<br />

warfen, klatschten gluckend an die Bretterwand. Mit triefenden Hosen stiegen wir in unsre noch im<br />

Lehmgrund festgeleimten Schuhe, und nach drei Minuten standen wir schon wieder unter der<br />

Gezweigschicht unsres Einstiegloches.<br />

Goggo pumpte sich bereits die Lunge voll, um „Marabu!“ zu rufen, als ihm Marabu zuvorkam und von<br />

oben deutlich schrie: „Aua, Mensch, ihr seid gemein!“<br />

Und die Stimme von Stitz Schlosser erwiderte eisig: „Einmal habt ihr eure Fesseln aufgekriegt; aber<br />

diesmal gibt's das nicht mehr, da verlasst euch drauf!“<br />

„Mist!“ rief Goggo aufgebracht. „Oben sind sie Marabu am Fesseln! Ruhe mal: Sie reden weiter!“<br />

Und Stitz Schlosser fing mit Marabu ein richtiges Verhör an: „Also, bester Marabu, warum bist du hier<br />

an eurem Büdchen?“<br />

„Weil ich noch was suchte, was ich vorgestern bei unserm Kampf verloren hatte“, sagte Marabu aufs<br />

Geratewohl.<br />

„Und was war das?“ forschte Stitz.<br />

„Meine Spritzpistole“, flunkerte Marabu.<br />

„Das ist gelogen“, brüllte Stitz. „Die Spritzpistole hab' ich hier doch an den Stamm gelegt! Das hast du<br />

selbst gesehen, du lügnerischer Hundesohn!“<br />

„Stimmt“, rief Marabu, „ich hab' sie ja auch grade da gefunden! Aber vorgestern, da hatt' ich sie bei<br />

unsrer Flucht vergessen; weil das alles doch so eilig ging!“<br />

„Kerl, du lügst!“ rief Stitz verzweifelt.<br />

„Nein, bestimmt nicht!“ beteuerte Marabu.<br />

„Aber warum bist du dann hier eingepennt?“ verlangte Stitz.<br />

„Gott, es war so warm hier“, zögerte Marabu, „und ich hatte Zeit und war auch müde, und da hab' ich<br />

mich ins Laub gelegt, und dann bin ich einfach weggeduselt.“<br />

„Ganz gerissen!“ lobte Goggo, aber Stitz fuhr oben eisig fort: „Bindet ihm die Füße los, und dann<br />

bringen ihn zwei runter an den Teich. Hubba und Jessi, ihr könnt das am besten; legt ihn auf das Floß<br />

und passt drauf auf! Bleibt am Ufer sitzen, bis wir wiederkommen; auch wenn's Stunden dauern sollte.<br />

Tauchen mittlerweile die drei andern auf, steigt sofort zu Marabu aufs Floß und haltet euch in der Mitte<br />

des Teiches. Wenn die andern euch was wollen, biegt ihr Marabu die Finger um, bis er schreit; dann<br />

werden euch die andern schon in Ruhe lassen. Und dann ruft natürlich uns zu Hilfe. Ist das klar soweit?“<br />

„'türlich“, hörte man die Stimme Hubbas.<br />

„Wir übrigen“, schloss Stitz, „wir bleiben hier im Büdchen und erwarten die drei andern; denn ich fress’<br />

'nen Besen, wenn der Marabu uns nicht beschwindelt hat. Die hatten bestimmt 'ne Verabredung hier; was<br />

hätte sonst der Marabu an dem kaputten Büdchen noch zu suchen?“<br />

„Was der Stitz doch listig kombinieren kann!“ fand Knabe. „Wenn wir nicht den Bombenausgang hätten,<br />

säßen wir jetzt eingeschlossen hier!“<br />

Goggo fuchtelte ergrimmt mit seiner Kerze, dass das Wachs ihm auf die Finger troff; oben hörte man ein<br />

Trappeln, das sich in Richtung zum Trichter entfernte: Wir wussten, das war Marabu, den jetzt Hubba<br />

und Jessi gefesselt zum Teich eskortierten.<br />

Knabe biss sich auf die Zähne, dass seine Kaumuskeln wackelten, er sah aus wie ein Wildwestfilmheld.<br />

„Los jetzt, Leute!“ rief er, „durch das Bombenloch nach draußen, und dann hau'n wir diesen Hunden alle<br />

Knochen kurz und klein!“<br />

Wir donnerten mit ausgelöschten Kerzen den vertrauten Gang hinunter, preschten durch die Wassersenke<br />

wie wildgewordene Rheindampfer, standen zwei Minuten später keuchend, nass und lehmbeschmiert vor<br />

unsrer Bombe. Alles Folgende passierte mit zeitrafferartiger Schnelligkeit:<br />

„Leuchtet!“ zischte Knabe, drückte Goggo die Lampe in die Hand, griff ein Bretterstück vom Boden auf<br />

und kratzte in turbulenter Geschwindigkeit den Lehm rund um die Bombe sauber; vor ihr fegte er die<br />

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Blätter und die Splitter aus der Bahn, so dass die Bombe wie das Vorderrad einer Dampfwalze fertig zur<br />

Abfahrt auf der glatten Fläche lag.<br />

„Bloß zwei Meter weiterrollen!“ keuchte Knabe und griff gebückt von hinten her unter die Bombe. „Los,<br />

packt an, die rollt ja fast von selber! Stoßt nicht an den Zünder vorne, Goggo kann sich ja die Ohren<br />

zuhalten <strong>für</strong> den Fall, dass es knallt!“<br />

Goggo warf die Lampe hin, so dass ihr Licht in breiter Pfütze auf den Boden floss (kühnes Bild, nicht<br />

wahr?), stellte sich gebückt mit in die Reihe, und wir wuchteten die Bombe aus der flachen Mulde, wo<br />

sie drin lag, raus. Als sie schwerfällig drei Meter weit den Gang hinabgekollert war, warf ihr Knabe<br />

einen Brettersplitter in die Bahn, und sie lief auf diesen Bremsklotz ächzend auf und war gestoppt. Sie<br />

lag nun quer im Gang wie eine Barrikade, die Spitze mit dem Zünder ragte weit in die Mitte des Stollens,<br />

das Leitwerk aber stieß fast an die Bretterwand. Knabe griff sich wieselartig den längsten der<br />

herumliegenden Brettersplitter, enterte mit ihm an dem Chronisten hoch, bis dass er mit der Hand am<br />

Rand des Bombenlochs sich halten konnte, und stocherte mit furioser Eile Ast- und Laubwerk aus dem<br />

Schacht herunter.<br />

„Lasso ans Bein!“ keuchte Knabe von oben, und indes ein ganzer Pfropf aus Laub und Erde aus dem<br />

Loch geprasselt kam, schlang ihm Goggo lose seinen Lasso um den Fuß, der schmerzend auf der<br />

Schulter des Chronisten stand.<br />

„Knabe, du wirst mal Kaminfeger!“ ächzte der Chronist, da standen Knabes Füße schon auf seinem<br />

Kopf! Goggo stemmte sie noch etwas höher, dann musste Knabe sich alleine in der engen Röhre<br />

weiterquälen. Brockenweise plumpsten Lehm und Humuserde aus dem Loch herunter, langsam kroch der<br />

Lasso, einer Schlange gleich, in die Höhlung hinauf.<br />

Dann, als Knabe oben sich dem Rohr entwunden hatte, brach das Tageslicht mit einem Ruck herunter.<br />

Goggo knipste seine Lampe aus. Knabe band das Lassoende oben an den nächsten Baum.<br />

„Entert rauf, ihr Alpinisten!“ rief er; und wir klommen an dem dünnen, nassen, lehmbeschmierten Strick,<br />

mit den Ellenbogen an den kalten Lehm der Wandung angeklemmt, keuchend die drei Meter hoch den<br />

Schacht empor ins Freie.<br />

Knabe stand da wie ein Weidenstamm mit Vogelnestern, klopfte sich gerade seine weichgelockten Haare<br />

aus und musste lachen, als sich der Geschichtsschreiber, lehmbeschmiert, durchnässt und laubberieselt<br />

wie ein Waldgott, aus der engen Öffnung zwängte. Goggo tauchte ebenso verwildert aus der Grube,<br />

raffte schnaubend seinen Lasso auf, schmiss zur Tarnung ein paar Äste auf die Öffnung, und wir rannten<br />

überirdisch etwa auf der gleichen Linie zurück, wie wir unterirdisch angekommen waren.<br />

Wenige Sekunden später hielten wir in Deckung hinter Buchenstämmen 50 Meter oberhalb des Teiches.<br />

Unten im Talkessel waberte die Hitze, auf dem Teich schwamm einsam Marabu gefesselt auf dem Floß,<br />

Hubba saß mit Jessi am anderen Ufer und schnitzte Rindenkringel von dem Knüppel, der ihm auf den<br />

Knien lag.<br />

„Kurzes Umgehungsmanöver!“ flüsterte Goggo, der sich aus den Schlachten im Geschichtsbuch ein paar<br />

Feldherrntricks vertrichtert hatte. „Wir setzen 200 Meter oberhalb des Teiches übern Bach und packen<br />

sie im Überfall von hinten! Wenn die zwei erst mal erledigt sind, kriegen wir zu vieren auch die andern<br />

klein: Wenn wir schlau sind, haben wir schon jetzt gewonnen!“<br />

Wir pirschten eilig in den tieferen Bezirk des Engelwalds zurück, übersprangen 200 Meter vor dem<br />

Teich, fast in Höhe unsres Büdchens, den Bach und schlichen unter der Schonung entlang auf den Teich<br />

hin zurück. Schon von ferne sahen wir die beiden Wächter zwischen den Pappeln am Ufer, Jessi zog sich<br />

gerade sein Hemd aus und legte es neben sich. Man erkannte deutlich den Bindfaden, den sie an das Floß<br />

geknotet hatten, um es notfalls rasch ans Ufer ziehen zu können. Hubba hielt sein Ende zwischen den<br />

Zähnen und kaute gelangweilt darauf herum. Vom Rand der Schonung aus hatten wir bis runter an den<br />

Teich noch volle 100 Meter freies Wiesenland zu überwinden.<br />

„Blödes Gelände!“ ärgerte sich Goggo. „Wir müssen sie von hier aus im Spurt überraschen. Also ran, so<br />

schnell wie möglich! Schnappt euch erst den Hubba; ich halte solange den Jessi fest, bis ihr mit Hubba<br />

fer tig seid; nehmt die Kordel, die sie da ans Floß gebunden haben.“<br />

Wir setzten wie Banditen lautlos die Wiese hinunter zum Angriff an. Trotzdem kriegten uns die beiden<br />

Posten schon auf halbem Wege spitz. Sie flogen mit aberwitziger Behändigkeit vom Boden hoch, lotsten<br />

mit dem Faden hastig das Floß ans Ufer, und während der Chronist mit wüstem Ansprung über Hubba<br />

herfiel, konnte Jessi mit verzweifeltem Gewaltsprung noch das Floß erreichen; es schaukelte unter dem<br />

Anprall und rauschte dann schwerfällig einige Meter auf den Teich hinaus: Jessi war vorerst in<br />

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Sicherheit; er hievte rasch die Kordel aus dem Wasser, während Marabu, vor Spaß am ganzen Leibe<br />

zuckend, das Gefecht am Ufer verfolgte.<br />

Hubba kämpfte wie ein untergehendes Schlachtschiff; dass er nicht noch um sich biss, war alles.<br />

Dazwischen kreischte er aus voller Lunge. „Stihitz! Stihitz!“, und auch Jessi auf dem Floß, breitbeinig<br />

wie ein Herold, der Trompete bläst, brüllte mörderisch den Namen seines Chefs in Richtung Schonung.<br />

Wir knieten jetzt zu dritt auf Hubba, Goggo drückte ihm den Mund zu. „Schnell, ihr Leute“, rief er<br />

hastig, „wo tun wir jetzt den Kerl hier hin? Ich kann doch nicht den Lasso schon verbrauchen, denn dann<br />

bleibt uns <strong>für</strong> die andern nichts!“<br />

„Festhexen!“ rief Marabu vom Floß her, denn die Methode der Beinfessel, die man Festhexen nannte,<br />

hatte der Chronist seit einiger Zeit in <strong>Neulati</strong> verbreitet. Und wir hexten Hubba mühsam, denn er wehrte<br />

sich verzweifelt, an der nächsten Pappel fest; das heißt, wir schlangen ihm die Beine derart um den<br />

Baum, dass er trotz der freigelassenen Hände nicht mehr von dem Stamme loskam; er saß vor seinem<br />

Baum, die Arme hinten aufgestützt, und atmete mit offnem Mund; scheinbar konnte er nicht fassen, dass<br />

er damit sicherer gefesselt war als mit dem längsten Lasso.<br />

Jessi auf dem Floß rief immer noch von Zeit zu Zeit nach Stitz. Er hatte Marabu inzwischen auf den<br />

Bauch gewälzt, pulte sich den Zeigefinger des Gefangenen aus dem Knubbel seiner gefesselten Hände,<br />

hielt ihn in der Hand wie einen Maschinenhebel und sagte mit einer Mischung von Trotz und Angst:<br />

„Wenn ihr mir was wollt, dann bieg ich ihm sofort den Finger krumm!“<br />

„Kruzitürken“, zischte Goggo, „einer muss sofort ans andre Ufer, weil der Jessi sonst vielleicht an Land<br />

steigt! Und wie sollen wir jetzt an ihn ran?“<br />

Der Teich war wegen seines metertiefen Schlammes und der schlimm verfilzten Wasserpflanzen auf dem<br />

Grunde weder zum Durchwaten noch zum Schwimmen irgendwie geeignet. Wir standen da und wussten<br />

nicht, wie diese schwimmende Festung zu erobern war. Dabei war vermutlich Stitz schon unterwegs!<br />

„Nimm den Lasso“, sagte Marabu vom Floß her, „angle dir das Floß ans Ufer!“ Und indes der<br />

Geschichtsschreiber im Dauerlauf den Teich umging, um eine Landung Jessis auf der anderen Seite zu<br />

verhindern, machte Goggo, der der beste Lassowerfer von <strong>Neulati</strong> war, seine Schlinge wurfbereit.<br />

„Wenn ihr mit dem Lasso werft, dann räch' ich mich an Marabu!“ drohte Jessi ängstlich von dem Floß<br />

her; auf den Knien hockte er neben dem Gefesselten und hielt den Marterfinger kaltentschlossen in der<br />

Hand. „Schmeißt den Lasso!“ brüllte Marabu. „Macht doch schnell! Und wenn ich schreie, das macht<br />

nichts!“ Und im nächsten Augenblicke schrie er schon, denn Goggo ließ die Lassoschlinge fliegen; sie<br />

klatschte neben Jessi auf das Floß, und Goggo holte sie erbittert ein. Knabe stand am Ufer und ballte die<br />

Fäuste, Marabu schluckte die Tränen herunter und schluchzte: „Was wartet ihr denn? Werft nur weiter;<br />

wenn ich schreie, ist egal!“<br />

„Jessi, du gemeiner Feigling!“ brüllte Knabe außer sich. „Mensch, ich frikassiere dich mit eignen<br />

Händen, wenn du Marabu noch einmal an den Finger packst!“<br />

„Dann hört auch mit dem Lasso auf“, versetzte Jessi unsicher.<br />

„Wenn ich nur was in die Schlinge kriegte“, knurrte Goggo, „aber auf zehn Meter ist mein Ziel schon<br />

miserabel! Marabu, beiß auf die Zähne, mit dem Jessi machen wir das hinterher genauso!“<br />

Der Lasso surrte durch die Luft, und Marabu jaulte aufs Neue. Die Schlinge landete auf Jessis Schulter,<br />

er stieß sie ängstlich von sich, Goggo zog sie grimmig wieder ein. Marabu zappelte stumm mit den<br />

Beinen, seine Unterschenkel winkelten sich hilflos auf und ab, er lag ja auf dem Bauch und konnte seine<br />

Knie beugen.<br />

„Wirf doch, Goggo!“ heulte er zum drittenmal, Knabe war fast selber schon am Weinen. Jessi brüllte<br />

Stitzens Namen todesmutig auf die Schonung zu.<br />

Goggo presste grimmig seine Augen zu Schlitzen zusammen und warf zum drittenmal. Die Schlinge<br />

schwirrte durch die Luft, und unter Marabus Folterbrüllen fiel sie über seine hochgereckten<br />

Unterschenkel; Goggo zog geschwinde an, und die Schlinge schnurrte um die Fußgelenke Marabus<br />

zusammen!<br />

„Zieh doch, Mensch!“ rief der Chronist. „Reiß ihn einfach durch das Wasser!“ Knabe sprang vor Freude<br />

in die Luft. Goggo stemmte sich entschlossen in den Uferlehm und spannte den Lasso, dass er spritzend<br />

aus dem Wasser schnellte. Marabu flutschte torpedoartig mit den Füßen voran in den Teich; sein<br />

Schatten schoss, vom Lasso fortgerissen, wie ein Haifisch unter Wasser vier bis fünf Sekunden lang dem<br />

Ufer zu; Jessi hockte wie ein Fakir auf dem plötzlich leeren Floß, während Goggo den tapferen Marabu,<br />

triefendnass und lehmbesudelt, auf das Trockne zog. Er spuckte benommen das erdige Wasser aus,<br />

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während Knabe ihm die Fesseln löste. Seine ersten Worte waren: „Schmeißt dem Drecksack sämtliche<br />

Knochen kaputt!“ Mit dem „Drecksack“ meinte er natürlich Jessi, der von seinem Floß aus gellend nach<br />

dem Retter Stitz verlangte.<br />

Goggo hockte schon am Wasser, knetete sich aus dem steifen Uferschlamm eine Serie faustdicker<br />

„Schneebälle“ und rief zum Chronisten hinüber: „Jetzt wird der Jessi bombardiert!“ Der Chronist<br />

versorgte sich auf gleiche Weise mit Geschossen, und dann hagelten von beiden Seiten schwere nasse<br />

Knubbel auf das Floß und seinen Kapitän. Jessi stand zunächst noch aufrecht, um den Brocken des<br />

Chronisten auszuweichen, aber da<strong>für</strong> warfen ihn einige Volltreffer Goggos, die von hinten kamen, fast<br />

vom Floß. Er legte sich, verzweifelt „Stitz!“ und „Hilfe!“ brüllend, schließlich flach auf seine<br />

Bretterfläche, steckte aber weiterhin einige Volltreffer ein: Bei bloß zehn Metern Entfernung platzte<br />

jeder zweite, dritte Lehmball dumpf und schüttelnd auf dem Liegenden. Wir genossen unsere Rache mit<br />

brutaler Genugtuung (sagte Goggo später, er hat ja immer fabelhafte Ausdrücke <strong>für</strong> so was). Schon nach<br />

zwei Minuten war der Jessi völlig lehmbekrustet, heulte hemmungslos und hatte nicht den Mut, sich zu<br />

ergeben. Marabu und Knabe halfen mit, ihn mürbzuschießen.<br />

„Wir schmeißen, bis du von selber ans Ufer kommst“, erklärte Goggo und stemmte einen<br />

kindskopfgroßen Lehmball auf das Hinterteil des Foltermeisters, der dann auch nach wenigen Sekunden<br />

„gut, hört auf, ich komme!“ schluchzte und den Lasso, den ihm Goggo zuwarf, heulend auffing und so<br />

lange festhielt, bis das Floß ans Ufer stieß. Goggo putzte ihm mit einigen Ohrfeigen den größeren Teil<br />

des Lehmes vom Gesicht, dann schnürte Marabu ihm einige Meter der dünnen Kordel, die am Floß hing,<br />

um Hände und Füße. Der Chronist und Knabe schmissen ihn gemeinsam in ein nahes<br />

Brennnesselgebüsch; wenn er sich darin bewegte, musste er sich übel stechen. Er wimmerte leise, aber<br />

protestierte nicht, denn er wusste, dass ihm recht geschah.<br />

„Der fromme Sänger ist gerochen!“ zitierte Goggo und klopfte sich die Hände aus. „Marabu, ich glaub',<br />

du kannst zufrieden sein!“<br />

„Bin ich“, sagte Marabu und hielt sich seinen misshandelten Finger fest.<br />

Wenige Sekunden später sahen wir Stitz mit zwei weiteren Teichsträßern unterhalb der Schonung<br />

entlanggerast kommen; er musste die letzten Jammerschreie Jessis noch gehört haben und nahte im<br />

Galopp und einer Staubwolke (geistreicher Ausdruck, findet der Chronist!).<br />

„Macht euch fertig, Leute“, sagte Goggo mit der gelassenen Übersicht eines siegessicheren Generals,<br />

„du, Chronist, und ich, wir knöpfen uns den Stitz persönlich vor. Ihr“ - er nickte Marabu und Knabe zu-,<br />

„ihr befasst euch mit den andern beiden. Wenn wir erst den Stitz mal unterkriegen, sind die andern kleine<br />

Fische!“ Knabe guckte rasch noch nach dem festgehexten Hubba, der mit hoffnungsloser Miene auf<br />

seine verschlungenen Beine starrte. „Der kommt nicht von selber frei“, stellte er fest. Goggo legte den<br />

Lasso in Schleifen über seine Hand.<br />

Dann fegte Stitz Schlosser mit seinen Kadetten lautlos wie ein Indianertrupp den Wiesenhang herunter<br />

auf uns zu. Der Chronist und Goggo traten ihm geduckt entgegen. Und während Marabu und Knabe sich<br />

bereits im Zweikampf mit den beiden andern die Wiese hinabwälzten und Stitz mit <strong>für</strong>chterlichen<br />

Schwingern sich auf Goggo stürzte, riss ihm der Chronist von hinten her die Beine weg; er fiel nach<br />

vorne auf die Hände, Goggo warf sich über ihn, und es wurde eine schonungslose Schlägerei. Stitz<br />

erwischte den Chronisten mehrmals im Gesicht, aber grade weil es weh tat, haute der<br />

Geschichtsschreiber erbittert zurück. Es dauerte glatte fünf Minuten, bis sich Goggos Lasso um die<br />

knochigen Gelenke des Tobenden schlang: Stitz lag zuckend auf dem Boden wie ein Fisch im<br />

Trockenen, Goggo hatte Nasenbluten, dem Chronisten war die Lippe aufgeplatzt.<br />

Dann liefen wir Knabe zu Hilfe, der seinen stämmigen Teichsträßer im Schwitzkasten hatte und mit einer<br />

Art von krampfhaftem Hüpftanz den wüsten Tritten auswich, mit denen der Umhalste nach seinen<br />

Beinen zielte. Wir hexten ihn zu dritt an einer Pappel fest; dann war es nur noch eine Bagatelle, auch den<br />

Partner Marabus auf gleiche Weise kaltzumachen.<br />

Drei Teichsträßer saßen jetzt ingrimmig zappelnd an drei Pappeln festgehext, an die vierte banden wir<br />

Stitz Schlosser selber mit den Stricken Marabus. Er hielt die Augen verächtlich zusammengekniffen, das<br />

weißblonde Haar im Gesicht, und sagte kein Wort.<br />

Goggo tupfte sich mit blutbeschmiertem Taschentuch die Oberlippe ab, musterte die Galerie der<br />

Gefangenen und sagte ausnahmsweise - gar nichts. Wir vier Sieger sahen aus wie eine Mischung von<br />

Landstreicher, Höhlenforscher und Nackttaucher, während unsere vier Gefesselten recht sauber und<br />

gepflegt vor ihren Bäumen saßen, etwa wie ein Tisch voll Richter, der über uns, die verwahrloste Horde,<br />

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ein Urteil zu verhängen hätte. Es war am Nachmittag um etwa Viertel nach fünf; glücklicherweise kam<br />

nur selten ein Erwachsener auf dem Weg über den Pappeln vorbei.<br />

Wir ließen uns erschöpft und schnaufend am Teichrand ins Gras kippen und bildeten dadurch die<br />

triumphalste Vollversammlung, die der Staat <strong>Neulati</strong> jemals abgehalten hat. Der Geschichtsschreiber<br />

klemmte die kaputte Lippe in den Mund, das wärmte, und dann tat sie nicht so weh; er hatte wenig Lust<br />

zu sprechen. Goggo aber zog entschlossen seine Nase hoch und sagte: „So, jetzt fragt es sich, was<br />

machen wir mit dieser Bande?“<br />

„Wir können sie alle mit Brennnesseln auspeitschen und dann stehen lassen“, meinte der immer noch<br />

rachsüchtige Marabu, „gehen dann durch die Teichstraße nach Hause und sagen da so'n paar Knirpsen<br />

Bescheid, damit die hingehen und sie losmachen.“<br />

„Damit der Krieg dann ewig weitergeht und Stitz uns eines Tags aus Rache selber peitscht!“ rief Knabe<br />

missgestimmt und schoss mit seinem Blasrohr kleine Knubbel Lehm ins Wasser, wo sie glucksend Ringe<br />

machten. „Nein, wir müssen ihn versprechen lassen, dass er uns in Zukunft einfach nix mehr tut!“<br />

„Du meinst, wir lassen ihn Urfehde schwören?“ spreizte sich Goggo, der aus dem Geschichtsbuch mal<br />

wieder den richtigen Ausdruck hatte. „Mir scheint das gar nichtschlecht, ihr Leute! Das wäre ein<br />

vernünftiger Friedensvertrag!“<br />

„Sicher“, sagte Marabu und füllte seine Spritzpistole mit Teichwasser, „aber vorher peitschen wir sie<br />

durch! Nutzt den Sieg doch aus, ihr Leute! Denn so bald passiert's nicht wieder, dass wir alle hier<br />

gefesselt sitzen haben! Täten euch die Finger weh wie mir, wärt ihr längst am Peitschenschneiden!“<br />

„Sei vernünftig!“ mahnte Knabe. „Jessi ist weiß Gott genug bestraft! Und die andern waren alle fair.<br />

Schließlich haben wir den Krach ja angefangen, mit dem Hubba auf dem Floß und so. Nein, wir lassen<br />

sie Urfehde schwören, und dann ist der Krach zu Ende.“<br />

„Abstimmung!“ forderte Goggo; der Politiker in ihm erwachte. „Also: Wer ist <strong>für</strong> Bestrafung?“<br />

Marabu erhob den Arm. Wir drei andern grinsten schadenfroh.<br />

„Also lassen wir sie schwören“, sagte Goggo, „aber selbstverständlich nur den Stitz! Die haben ja 'ne<br />

Diktatur, da reicht es, wenn der Führer schwört, das andere kleine Volk hat nichts zu meckern.“ Und er<br />

hob sich stöhnend aus dem Grase, pflanzte sich vor Stitz und sagte: „Stitz, du gibst es zu, ihr habt<br />

verloren.“<br />

Stitz Schlosser maß ihn einen Augenblick mit kaltem Hohn, drehte dann den Kopf zur Seite und fragte<br />

Hubba, der die Nachbarpappel innehatte: „Wo ist eigentlich der Jessi?“<br />

„Jessi haben sie gefesselt und da hinten in die Brennnesseln geschmissen“, sagte Hubba kleinlaut.<br />

„Warum in die Brennnesseln, Feiglinge!“ fragte Stitz und sah uns alle frech und fordernd an.<br />

„Weil er mir die Finger umgeknickt hat, als ich auf dem Floß gefesselt war“, rief Marabu.<br />

„Dann schmeißt gefälligst mich in die Brennnesseln!“ forderte Stitz. „Denn das war mein Befehl! Hätte<br />

er das nicht getan, verlasst euch drauf, dann schmisse ich ihn rein, noch heute Abend!“<br />

Wir <strong>Neulati</strong>er starrten uns fassungslos an: Das war also Diktatur! Wir waren noch niemals so stolz auf<br />

unsere Demokratie wie in diesem Moment.<br />

Knabe und der Geschichtsschreiber holten den Jessi sodann aus den Brennnesseln raus und warfen ihn<br />

vor Stitz ins Gras. Er war in einer Lehmschicht förmlich eingebacken und sah zu seinem Häuptling<br />

ängstlich auf.<br />

„Wie haben sie das Floß erobert?“ fragte ihn Stitz. „Mit 'nem Lasso“, sagte Jessi, „haben sie den Marabu<br />

runtergefischt und dann mich mit Lehm so lange bombardiert, bis ich nicht mehr konnte und ans Ufer<br />

musste.“<br />

Stitz Schlosser nickte befriedigt und fragte uns trocken: „Na los, wo bleiben eure Brennnesseln?“<br />

„Die Brennnesseln lassen wir flachfallen“, sagte Goggo, „vorausgesetzt, dass du jetzt Urfehde schwörst!“<br />

„Dass ich was schwöre?“ fragte Stitz.<br />

„Urfehde!“ erläuterte Goggo. „Das heißt, du schwörst uns, dass du nie mehr gegen uns was unternehmen<br />

wirst, dass wir ewig Frieden mit euch haben und wir so lange in der. Teichstraße rumlaufen können, wie<br />

wir wollen, ohne dass ihr uns was tut.“<br />

„Wenn das so ist“, sagte Stitz, „dann schwöre ich diese dämliche Urfehde nicht.“<br />

„Und warum nicht?“ fragte Goggo verblüfft.<br />

„Weil ich euch beim nächsten Mal die Fresse blutig schlage, dass ihr euch nicht gegenseitig<br />

wiederkennt“, sagte Stitz mit Seelenruhe.<br />

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Wir starrten ihn ungläubig an. „Wenn das so ist“, brüllte Goggo, „bin ich hundertprozentig <strong>für</strong><br />

Brennnesseln, Leute! Abstimmung: Wer ist jetzt auch da<strong>für</strong>?“<br />

Marabu und Goggo hoben die Hand. Stitz Schlosser sah das und war ganz betroffen. Er blickte zwischen<br />

uns und dem vor ihm liegenden Jessi hin und her und fragte laut: „Hast du zufällig 'ne Ahnung, was das<br />

<strong>für</strong>'n Theater sein soll?“<br />

„Was das <strong>für</strong>'n Theater sein soll, kann ich dir genau erklären!“ keifte Goggo und starrte ihn feindselig an.<br />

„Das ist Demokratie!“<br />

„Ach so“, sagte Stitz, „und da stimmt ihr jetzt ab, ob ihr Brennnesseln wollt oder nicht?“<br />

„Haargenau!“ rief Goggo. „Aber weil die Stimmen jetzt zwei gegen zwei sind, müssen wir das Los<br />

entscheiden lassen. Wer von uns kann einen Pfennig stiften?“<br />

Da senkte Stitz Schlosser den Kopf und fing an zu lachen, dass die Pappel wackelte - er lachte uns<br />

regelrecht aus! Ein gefesselter Diktator, der sich glattweg über seine Sieger lustig macht: Der Chronist<br />

kapiert das noch bis heute nicht.<br />

„Lasst den Pfennig stecken!“ rief der Geschichtsschreiber dann. „Ich bin jetzt ebenfalls <strong>für</strong> Brennnesseln!<br />

Der Stitz soll mal merken, wie lächerlich unsere Demokratie ist!“ Und er zog dem Gefesselten den<br />

Hirschfänger aus der Lederhose und machte sich daran, am unteren Ende des Teiches ein paar<br />

Brennnesselstauden zu schneiden. Wenige Sekunden später kam er, einen Strauß der hohen Stängel in<br />

der taschentuchgeschützten Faust, wieder vor der Marterpappel an. Goggo, der ob Stitzens Lästerung in<br />

Weißglut war, riss ihm die Hälfte des Straußes sofort aus der Hand, baute sich vor Stitz mit<br />

zusammengebissenen Zähnen auf und fragte knirschend: „Also schwörst du uns Urfehde jetzt oder<br />

nicht?“<br />

„Ich hab' doch schon gesagt, ich schwöre euren Käse nicht“, versetzte Stitz. Da rammte Goggo ihm den<br />

Strauß mit vollem Büschel ins Gesicht! Die festgehexten Teichsträßer stöhnten vor Wut.<br />

Goggo senkte den Strauß und starrte seinen Todfeind lauernd an: „Schwörst du sie jetzt oder nicht?“<br />

Stitz Schlosser spuckte mit verzerrten Zügen vor ihm auf den Boden, kniff die Augen zu und knirschte:<br />

„Nein!“<br />

Es wurde uns allmählich unheimlich. Wer einmal auch nur einen Brennnesselstich in der Haut hatte,<br />

stelle sich vor, wie es ist, wenn man hundert hat, und alle im Gesicht! Und ohne dass man kratzen kann,<br />

man ist ja festgeschnürt! Goggo starrte ungläubig auf Stitz und dann auf seinen Nesselbusch, er schmiss<br />

ihn wütend hin und drehte sich rum und brüllte: „Dann macht doch, was ihr wollt, verdammt noch mal!“<br />

„Wenn ich euch noch einmal in die Finger kriege!“ stöhnte Stitz. Er zog den Atem zischend durch den<br />

Mund, er musste schauerliche Schmerzen haben. Wir hatten regelrechte Angst vor ihm, schon jetzt, wo<br />

er noch wehrlos an der Pappel stand. Äußerlich auf der Gesichtshaut sah man nichts, es gibt ja erst die<br />

Quaddeln, wenn man kratzt. Wir standen ratlos da und hatten das Gefühl, dass Stitz der eigentliche<br />

Sieger war. Plötzlich aber riss sich Knabe aufgeregt das Pusterohr vom Mund und zischte: „Vorsicht,<br />

Leute, oben kommt der Flurschütz!“<br />

Wir sprangen auf und sahen in der Tat den grünbejoppten Kerl energisch von der Schonung runter auf<br />

uns zugestiefelt kommen. Goggo sah zu Stitz hin und erklärte laut: „Wenn der Stitz uns jetzt dem Kerl<br />

verpetzt, ist es besser, dass wir gleich verduften!“<br />

Stitz, der ebenfalls den Flurschütz schon erkannte, lehnte sein gemartertes Gesicht mit Eiseskälte an den<br />

Stamm zurück und streifte uns aus halbgeschlossenen Augen mit verachtungsvollem Blick. Goggo<br />

wühlte mit dem Fuß verzweifelt in dem hingeworfenen Brennnesselbusch: Keiner konnte jetzt von Stitz<br />

verlangen, dass er uns dem Flurschütz nicht verriet; einfach wegzulaufen, war erst recht verdächtig. Der<br />

Geschichtsschreiber lutschte an seiner zerrissenen Lippe und entsann sich schwül der abgezwickten<br />

Wurzeln und der dadurch wohl kaputtgemachten Buchenbäumchen, Knabe steckte umständlich sein<br />

Blasrohr ein.<br />

„Nein!“ schrie endlich Marabu. „Soll der Stitz uns ruhig mal verklatschen! Setzt euch hin und wartet ab!<br />

Stitz soll merken, dass wir uns noch lange nicht vor so 'nem Flurschütz in die Hose machen!“<br />

Und so hockten wir uns bleich ins Gras und taten harmlos, während uns im Brustkorb laut das<br />

Herzklabastern rumste. Dann zerteilte der Flurschütz das Pappelgeäst und überflog mit forschem Blick<br />

das Ufer. Er kam in seinen Stiefeln auf uns zu, stockte, als er die Gefesselten bemerkte, schritt auf<br />

Stitzens Pappel zu und fragte zornig: „Weshalb seid ihr festgebunden, dumme Jungens!“<br />

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Goggo schnellte in die Höhe, um mit seiner Antwort Stitz zuvorzukommen, wedelte verlegen mit der<br />

Hand und sagte hastig: „Weil wir - wissen Sie - wir spielen Indianer!“ Stitz durchbohrte ihn mit kaltem<br />

Blick und sagte nichts.<br />

„Unsinn!“ schrie der Grünbejoppte. „Deshalb braucht ihr euch nicht derart stramm die Arme<br />

abzuschnüren!“ Und er riss sein Messer raus und bückte sich nach Stitzens Strick, der oberhalb der Knie<br />

um die Schenkel lief! Keiner von <strong>Neulati</strong> wagte das geringste Widerwort; stumm und mit Entsetzen<br />

mussten wir erleben, wie uns dieser Spielverderber um den wüst erstrittenen Sieg betrog.<br />

Stitz sah kalt auf den gebückten Kerl herunter, der das Messer schon energisch an die Kordel setzte, und<br />

dann sagte er fast flehentlich: „Bitte, lassen Sie mich so!“<br />

Wir <strong>Neulati</strong>er saßen erstarrt: Dieser Stitz, dem noch die Nesselstiche beizend auf der Stirne brannten,<br />

lehnte mit der Fairness eines alten Indianers ab, dass ihn jemand künstlich um die eigene Niederlage<br />

brachte! Wir <strong>Neulati</strong>er schämten uns beinah vor diesem Diktator, den wir grade noch gefoltert hatten.<br />

Der Flurhüter sah ihn betroffen von unten her an, steckte dann das Messer ein und sagte: „Also, wie du<br />

willst! Aber an euch alle hab' ich jetzt 'ne Frage, und ich hoffe, dass ihr ehrlich seid: Wer von euch hat<br />

oben in der Schonung dieses große Loch gegraben?“<br />

Wir <strong>Neulati</strong>er sahen uns unsicher an: Sich zu melden, war der reinste Selbstmord. Was zu Hause jedem<br />

von uns blühte, wenn ein Protokoll ins Haus kam, wusste jeder ganz genau. Und beweisen konnte uns der<br />

Grünbejoppte nichts. Wir schielten ungewiss zu Stitz hinüber. Er maß uns mit dem kalten Blick, in dem<br />

wir wieder die Verachtung spürten. Ein halber Satz von ihm genügte, um uns reinzureißen.<br />

„Seid nicht feige, Jungens!“ rief der Flurschütz. „Sagt mir, wer es war! Sonst muss ich euch alle<br />

verdächtigen; besser, ihr meldet euch! Los, wer weiß was von dem Loch da?“<br />

Stitz sah streng auf seine festgehexte Garde runter und erklärte laut: „Herr Flurschütz, ich schwöre Ihnen,<br />

dass es keiner aus der Teichstraße war. Und ob's vielleicht die andern waren, das wissen wir nicht.“<br />

„Gut“, sagte der Flurschütz und wandte sich zu uns, „das war eine deutliche Antwort. Und jetzt frag' ich<br />

also euch: „Seid ihr das gewesen oder wisst ihr, wer es war?“<br />

Goggo starrte zwischen seinen Knien auf den Boden und sagte kein Wort; der Chronist betastete sich<br />

zärtlich mit dem Finger seine wunde Lippe; Marabu starrte die Stiefel des Fragenden an. Eigentlich<br />

blamierten wir uns ganz erbärmlich! Diese halbe Minute voll Schweigen war im Grund ein bitterböser<br />

Augenblick <strong>für</strong> unsern Staat <strong>Neulati</strong>.<br />

Endlich drückte Knabe entschlossen die Knie durch, hob den Kopf und sagte: „Ja, das waren wir; alle<br />

vier.“ Dem Chronisten fiel es auf, dass er unwillkürlich reimte, aber um zu grinsen, dazu raunzte uns der<br />

Flurschütz viel zu beängstigend an: „Schön, ihr seid ja wenigstens nicht feige! Deshalb stell' ich euch<br />

jetzt etwas frei: Wollt ihr lieber jeder eine Ohrfeige jetzt, oder lieber 'nen Brief an die Eltern? Und in<br />

jedem Fall verpflichtet ihr euch dann, das Loch, das ihr gebuddelt habt, im Lauf der nächsten Woche<br />

wieder zuzuschütten. Na, wie steht's?“<br />

„Ich glaube, dass wir das wohl machen können“, zögerte Goggo und sah sich fragend in <strong>Neulati</strong> um,<br />

„bloß der Stitz dahinten muss versprechen, dass er uns dabei nicht stört.“<br />

„Solang ihr in der Schonung mit dem Loch beschäftigt seid“, erklärte Stitz von seiner Pappel her,<br />

„solange tut euch keiner was; auch nicht, wenn ihr kommt und abhaut; Ehrenwort.“<br />

„Na gut“, rief Goggo, „also, dann schütten wir's zu. Und was mich angeht: Ich will lieber 'ne Ohrfeige!“<br />

„Vertu dich nicht, mein Junge!“ warnte der Flurhüter. „Wenn ich dir jetzt eine klebe, ist das nicht ein<br />

Kinderspiel! Willst du also trotzdem eine?“<br />

Stitz hob jetzt den Kopf und guckte interessiert herüber.<br />

„Ja“, erklärte Goggo und streckte willig das Kinn vor. Der Mann holte aus. Und dann hörte man ein<br />

Mittelding von Krachen und Klatschen, und Goggo stand nur noch auf einem Bein; mit dem andern<br />

strampelte er in der Luft herum, bis er sein Gleichgewicht zurückgewonnen hatte. Er hielt sich den Kopf<br />

fest und sah vor sich hin auf die Erde.<br />

„Wie steht's jetzt mit euch?“ rief der Flurschütz. „Ihr habt geseh'n, ich haue ziemlich feste. Soll ich eure<br />

Namen jetzt notieren, oder wollt ihr auch so'n Ding?“<br />

„Ich will auch eins“, sagte der Chronist beklommen. „Aber bitte hau'n Sie es von links, ich habe rechts<br />

die Lippe was kaputt.“ Der Chronist versichert, dass das wirklich keine List war, weil man ja mit links<br />

gewöhnlich schwächer haut, sondern bloß die ganz ehrliche Angst, die Ohrfeige könnte die Lippe noch<br />

weiter zerreißen.<br />

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„Wie du willst“, erklärte der Flurschütz, „täusch dich nicht, ich kann's mit links genauso saftig!“ Und er<br />

scheuerte ihm eine mit der Linken, dass ihm Kringel vor den Augen hopsten. Die Teichsträßer guckten<br />

der Abstrafung aufmerksam zu, aber keiner lachte oder grinste bloß.<br />

Knabe stellte sich als nächster. Sein schmächtiger Körper schaukelte unter der Ohrfeige wie ein<br />

Bäumchen im Herbststurm, der Kerl sah einen Augenblick besorgt auf ihn herunter. Dann guckte Knabe<br />

treuherzig hoch und sagte: „Ich glaube, es ist nichts passiert.“<br />

Also kriegte Marabu den letzten Schlag. Er legte vorsichtshalber seine Spritzpistole weg und machte vor<br />

dem Hieb die Augen zu, er taumelte wie auch wir anderen und strich sich mit erstauntem Ausdruck seine<br />

Haare aus der Stirn. Der Flurhüter grinste unmerklich. „Schön, dann sind wir also quitt jetzt“, sagte er<br />

und zupfte sich die Jacke glatt. „Also Jungs, ich hoffe, wir verstehen uns! In der Schonung treff' ich euch<br />

noch nächste Woche, aber übernächste nicht mehr! Ist das klar?“<br />

„Jawohl“, sagte Goggo, der als erster wieder reden konnte; dann stiefelte der Flurschütz an dem Teich<br />

entlang talab. Wir hielten uns die Backen fest und starrten ihm benommen nach. Stitz sah wieder<br />

ausdruckslos die Bäume auf der andern Seite an.<br />

„Ich glaube, Leute, wir können jetzt abhau’n“, stellte Goggo fest und hob sich auf die Beine; seine Backe<br />

war rot wie eine Adventskerze. Knabe probierte aus, ob sein Blasrohr noch funktionierte, der Chronist<br />

belutschte seine Lippe. Er hob den Hirschfänger Stitzens vom Boden und drehte sich dem Eigentümer<br />

zu: „Den kriegst du wieder, keine Angst!“ Dann steckte er ihn ein.<br />

Marabu hob seine Spritzpistole auf:<br />

„Wenn du meine Rache überleben willst, du Gurke“, sagte Stitz und sprach über Marabu weg in die Luft,<br />

„dann schieß mir jetzt was Wasser ins Gesicht; das brennt so.“<br />

„Kannst du haben“, sagte Marabu, „aber deine Rache überleben, du Diktator, da verzicht ich drauf!“ Und<br />

er schoss Stitz Schlosser, der genießerisch die Augen schloss, mehrmals einen Strahl des lauen, trüben<br />

Wassers ins Gesicht. Stitz schüttelte sich erleichtert die Tropfen vom Kinn und bedankte sich mit dem<br />

Ratschlag: „Mach mal schon dein Testament!“<br />

Dann zogen wir, nicht grade triumphal, der Heimat zu; Goggo ließ den Lasso an Stitz Schlossers<br />

Händen, und wir ließen die Gefesselten alleine auf dem Ufer, das den militärischen Sieg und die<br />

moralische Blamage <strong>Neulati</strong>s erlebt hatte. Unterwegs hat sicher jeder dran gedacht, was dieser Stitz doch<br />

<strong>für</strong> 'n toller Charakter war.<br />

Als wir durch die Teichstraße kamen, quatschte der Chronist das erste beste Mädchen an, das da auf der<br />

Straße ein paar winzig kleine Kinderchen verwahrte: „Hör mal“, sagte er, „du kennst vielleicht per Zufall<br />

Schlossers Stitz?“<br />

Das Mädchen, das vielleicht zehn Jahre war, sah ihn erstaunt aus blauen Augen an. „Unser Hänschen?“<br />

rief es schließlich. „Sicher kenn ich den, das ist mein Bruder!“<br />

„Gut“, versetzte der Chronist und zog das Messer Stitzens aus der Tasche, „also schnappst du dir jetzt<br />

mal dies Messer, und dann gehst du runter an den Teich und schneidest deinen Bruder los! Den haben<br />

nämlich da so böse Jungens an 'nen Baum gebunden. Wiederseh’n!“<br />

Und wir ließen sie belustigt steh’n und sah’n sie noch den Hang hinuntersausen, um den großen Bruder<br />

abzuschneiden. Der Chronist war ziemlich stolz auf diesen Witz.<br />

Trotzdem tun ihm jetzt die Finger weh, und er schmeißt den Füller hin und sagt sich: „Gute Nacht!“<br />

Dieser Nachmittag, der mit Erlebnis förmlich vollgestopft war, hat ein ganzes Schreibheft voll gegeben!<br />

30. August<br />

Heute in der Schule eröffnete uns Goggo, dass er wegen seiner nassen Lederhose und der<br />

lehmbeschmierten Socken eine schwere Wortschatzübung aufgekriegt hat.<br />

„Weißt du was?“ fiel's Knabe ein, „dann kommen wir heut Nachmittag bei uns im Garten mal<br />

zusammen, und dann machen wir den Wortsalat zu vieren! Viere wissen mehr als einer.“<br />

„Und dann les' ich euch bei der Gelegenheit das zweite Heft der Chronik vor“, erbot sich der Chronist; er<br />

ist ja jetzt bereits im dritten Heft.<br />

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„Und ich“, rief Knabe, „führe euch die neuen Raketengeschosse <strong>für</strong> Blasrohre vor, eine schwer<br />

gefährliche Erfindung. Außerdem kriegt Marabu <strong>für</strong> tapferes Verhalten auf dem Floß das<br />

Staatsverdienstkreuz erster Klasse.“<br />

Marabu schoss ihm zum Dank ein Strählchen Kranenwasser in die Haare und erklärte: „Ich beantrage<br />

meinerseits, dass der Chronist mir auf dem Heimweg alles von dem Stollen mitteilt, was ich selber ja<br />

verpasst hab. Übrigens war ich am Büdchen tatsächlich ganz eingepennt! Deshalb hat mich Stitz so leicht<br />

erwischt.“<br />

Und der Geschichtsschreiber musste dem unzuverlässigen Wachtposten alles erzählen, was sich in dem<br />

Gang ereignet hatte. Marabu kann kaum erwarten, sich den Stollen auch mal selber anzusehen. Aber<br />

vorher schütten wir das Büdchen zu.<br />

Um halb viere fand sich der Chronist am Haus der Knabeschen Familie ein. Die Mutter wies ihn in den<br />

Garten, wo er Knabe, mit dem Kopf nach unten, in den Kniekehlen an einem Eisengatter baumeln fand;<br />

er guckte durch sein Blasrohr von unten wie durch ein Fernglas herauf und grinste über das Heft, das der<br />

Chronist sich vorne aus der Lederhose nestelte.<br />

Goggo tanzte wenig später an, auch er mit einem Heft bewaffnet, und man legte sich zu dritt ins Gras.<br />

Marabu, der wasserschießend ebenfalls ein bisschen später eintraf, warf sich pustend neben uns und<br />

fragte: „Na, was hat der Papa denn dem Goggo aufdiktiert?“<br />

„Synonyme“, sagte Goggo.<br />

„Was <strong>für</strong> Nüme?“ fragte Marabu.<br />

„Synonyme“, wiederholte Goggo. „Das sind Worte, die so ungefähr dasselbe sagen. Etwa >heiß< und<br />

>warm< - oder >idiotisch< und >verrückt< und >wahnsinnig< oder so.“<br />

„Also Polizist, Schupo, Wachtmeister, Schutzmann?“ vermutete Knabe.<br />

„Haargenau!“ bejahte Goggo. „Oder: besoffen, beschwipst, berauscht, betrunken, voll, blau,<br />

sternhagelvoll, angesäuselt, unter Alkohol, benebelt, angeheitert, beschnapst, vielleicht sogar noch<br />

Bierleiche. Ich hoffe, ihr habt jetzt kapiert, was wir sollen.“<br />

„Sicher“, sagte der Chronist, „und was ist denn nun das Wort, zu dem du Synonyme suchen sollst?“<br />

„Den Hintern versohlen“, sagte Goggo kleinlaut. „Mein Vater hat gesagt: Ich will dir ja nicht jetzt den<br />

Hintern versohlen, aber wenigstens die Synonyme sollst du dazu suchen. Dann weißt du, was dir blüht,<br />

wenn du noch einmal so nach Hause kommst. - Also los, wer weiß jetzt welche?“<br />

„Vermöbeln“, begann der Chronist. „Vertrimmen“, fand Marabu. „Verkloppen“, rief Knabe.<br />

„Halt!“ schrie Goggo. „Nicht so schnell, ich muss doch mitschreiben! Also verkloppen. Und weiter?“<br />

„Verdreschen!“ triumphierte der Chronist. „Verwamsen“, schaltete sich Knabe ein. „Verkeilen“,<br />

entdeckte Marabu. „Verwichsen“, frohlockte Goggo. „Verhauen!“ jauchzte Knabe.<br />

„Da seht ihr mal, wie schnell das geht, wenn so ein ganzer Staat zusammensitzt und Wortschatz sucht.“<br />

„Verprügeln“, fiel es Goggo ein. „Übers Knie legen“, erweiterte Marabu. „Senge geben“, löste der<br />

Chronist ihn ab. „Den Stock zu schmecken geben“, ergänzte Knabe. „Das wären dann schon die<br />

zusammengesetzten Formen“, meinte Goggo, „also etwa: den Hosenboden strammziehen!“<br />

„Einem ein paar überziehen“, erinnerte sich Marabu; jetzt fielen uns die Wörter nur noch spärlich ein,<br />

selbst der berufsmäßige Chronist durchwühlte sich den Kopf - und kapitulierte.<br />

„Ist ja auch genug!“ rief Goggo. „Jetzt als zweites: Eine runterhauen!“<br />

„Prima“, brüllte der Chronist, „eine Ohrfeige geben!“ „Eine Maulschelle verabreichen“, fuhr Knabe fort.<br />

„Einen Backenstreich verabfolgen“, vervollständigte Marabu.<br />

„Eine Backpfeife verpassen“, schrieb Goggo, „und weiter?“<br />

„Jemandem eine kleistern“, schlug Marabu vor. „Eine kleben“, steuerte der Geschichtsschreiber bei.<br />

„Eine schmieren“, meldete sich Knabe.<br />

„Eine scheuern“, trumpfte Goggo auf. „Eine tafeln“, jubilierte Marabu.<br />

„Eine verkasematuckeln“, radebrechte der Chronist. „Eine vertubacken“, fügte Knabe hinzu, dann trat<br />

auch hier die Ebbe ein. „Eine schwalben oder schallern“, schrieb Goggo noch hin, dann war die<br />

neulatische Wortschatzkiste endgültig geplündert.<br />

„Das reicht ja auch“, fand Goggo, „mein Alter wird staunen. Er hat zum Beispiel auch gesagt: Wenn's <strong>für</strong><br />

irgendeine Handlung viele Synonyme gibt, dann ist das ein Beweis da<strong>für</strong>, dass diese Handlung<br />

ungeheuer oft passiert.“<br />

„Tut sie ja auch“, grinste Knabe. „Hast du noch ein drittes Wort?“<br />

„Jawohl“, versetzte Goggo, „nämlich: regnen.“<br />

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„Kinderei!“ schrie Knabe. „Gießen!“ „Schütten“, packte der Chronist aus. „Plästern“, gab Marabu von<br />

sich. „Fisseln und nieseln“, notierte sich Goggo. „Jetzt kann man auch die Substantive nehmen, also<br />

etwa: Wolkenbruch.“ „Platzregen“, fiel der Chronist ein. „Landregen“, äußerte Marabu. „Niederschlag“,<br />

spendierte Knabe. „Schauer“, schloss Goggo die Serie ab. „Ich glaube, jetzt reicht es, ihr Leute! Ende,<br />

fertig, aus, vorbei!“<br />

Ganz <strong>Neulati</strong> hätte nie geglaubt, dass das Wortschatzsuchen soviel Spaß macht. Aber wohl die tollste<br />

Leistung hat jetzt grade der Chronist vollbracht, der die ganze Szene lang mit Synonymen <strong>für</strong> das<br />

Wörtchen >sagen< nur so um sich warf und stolz drauf ist. Mach es nach, wer kann!<br />

Der nächste Punkt der Tagesordnung war die Dekorierung Marabus. Knabe holte aus dem Haus das<br />

nagelneue Staatsverdienstkreuz erster Klasse, er hatte es eben erst gebastelt. Der Orden baumelte an<br />

langer Schlinge aus Gardinenkordel feierlich von Knabes Zeigefinger und war von bombastischem<br />

Ausmaß: Sicher dreimal größer als das Kriegsverdienstkreuz des Chronisten, aber auch nur aus<br />

geschmirgeltem und roh gelassenem Sperrholz. Knabe hängte es dem ziemlich stolzen Marabu bedächtig<br />

auf die Heldenbrust; es prangte wie ein mattgelber Riesenschmetterling von dem karierten Cowboyhemd.<br />

„Möge diese Ehrung allen anderen Bürgern <strong>Neulati</strong>s ein Ansporn zu weiteren Taten sein“, rief Knabe<br />

und gebrauchte den schwülstigen Stil der offiziellen Feierreden mit einer Echtheit, die den Chronisten<br />

beinah neidisch macht. „Falls in Zukunft Goggo eine tolle Heldentat vollbringt, säge ich ihm mit<br />

Vergnügen noch ein weiteres von diesen Kreuzen aus!“<br />

„Und wenn das so weitergeht, dann holt der nächste sich das Dingsbums mit 'nem Leiterwagen ab“, rief<br />

Goggo, „und das übernächste ist so riesig, dass wir unsern Knabe gar nicht mehr dahinter wiederfinden!“<br />

Marabu legte sich faul in den Rasen zurück, trommelte mit den Fingern auf dem Kreuz herum, das ihm<br />

fast die ganze Brust bedeckte, und phantasierte sehr respektlos: „Wenn mir jetzt ein Vogel auf die Brust<br />

macht, hab ich wenigstens 'nen Schild da<strong>für</strong>!“<br />

„Lästere nicht“, gähnte Goggo und verschränkte seine Arme unterm Kopf, „lieber möcht' ich jetzt mal<br />

hören, wie uns der Chronist in seiner Chronik wieder mal durch den Kakao gezogen hat.“<br />

„Leider hab ich keine Reime mehr auf Marabu und nur sehr wenige auf Knabe“, sagte der Chronist und<br />

schlug das Heft der Chronik auf, „deshalb ist nicht sehr viel drin gedichtet. Und auf Goggo reimt ja leider<br />

gar nichts.“ Und er las der Vollversammlung mehr als eine halbe Stunde lang den zweiten Teil der<br />

Chronik vor; es gab Gelächter und Protest.<br />

„Dein Stil wird immer mehr erwachsen“, brummte Goggo und zerkaute einen Grashalm. „Du schreibst<br />

das fast, als sollt man das verfilmen. Und uns selber stellst du meistens nur als Hampelmänner oder<br />

Hasenfüße dar.“<br />

„Seid ihr ja auch meistens“, wehrte sich der Geschichtsschreiber. „Aber wenn du's besser kannst, du<br />

kritikwütiger Literaturpapst, dann überlass' ich dir die Chronik mit Vergnügen! Ich schreib' sie sowieso<br />

in Überstunden.“<br />

„Schreib sie weiter“, quakte Goggo und räkelte sich, „ich sage gar nichts mehr; ich merke, dass du doch<br />

nach deiner Nase schreibst. Und sie hört sich ja im Ganzen witzig und auch spannend an. - Knabe, hattest<br />

du nicht vor, uns noch so'n Feuerwerk mit deinem Blasrohr vorzuführen?“<br />

„Natürlich“, erinnerte sich Knabe, „wartet grad, ich hole die Raketen.“ Und nach fünf Sekunden kam er<br />

wieder aus dem Haus und hatte eine Büchse voll Distelknospen in der Hand, die sahen aus wie dicke,<br />

kleine Bomben. Rundlich, sich nach hinten zu verdünnend und am Ende wieder pinselartig in den<br />

dichten Kranz aus Blütenfasern auseinanderstrahlend; etwa so wie Diabolo-Luftbüchskugeln.<br />

„Diese Bömbchen sind zum Blasrohrschießen wie geschaffen“, belehrte Knabe uns und steckte eins in<br />

seine hohle Waffe. „Der Büschel hinten schließt die Röhre luftdicht ab und wirkt dann unterwegs als<br />

Leitwerk.“<br />

„Ist das alles?“ fragte Goggo schläfrig und lutschte an seinem Grashalm.<br />

„Eben nicht!“ rief Knabe. „Was die Sache nämlich erst gefährlich macht, das ist die Stecknadel, die ich<br />

von hinten da durchstecke!“<br />

Goggo spuckte seinen Grashalm aus und schnellte hoch: Das war ja tadellos erfunden! Knabe drückte<br />

eine Stecknadel von hinten durch die ganze Distelknospe der Länge nach durch, sie drang dann vorne aus<br />

dem runden Kopf zwei Zentimeter weit hervor und sah elegant und gefährlich aus. Knabe schob das<br />

Geschoss in sein Blasrohr und zielte auf Marabu. Marabu prallte beunruhigt hoch, sein Orden schwankte<br />

auf dem Cowboy-Hemd, und ehe er noch „Lass das sein!“ gerufen hatte, fluppte die Rakete aus dem<br />

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Rohr und saß mit hartem „zock“ auf Marabus gewaltiger Dekoration, mitten in das Kreuz hineingenagelt;<br />

wir waren begeistert.<br />

„Ich ziele ziemlich sicher“, grinste Knabe, „lass das Ding mal stecken, ich schieß dir noch auf jede Ecke<br />

eins.“ Und wirklich pflanzte Knabe mit den nächsten vier Schüssen vier weitere Knospen mit unfehlbarer<br />

Präzision auf die vier Ecken des Kreuzes; Marabu schielte mit zusammengefaltetem Kinn auf seine Brust<br />

herunter, wo die Dinger knackend eines nach dem andern hingezaubert saßen.<br />

„Du kommst bestimmt noch mal zum Zirkus“, lobte Goggo. „Aber gegen die Teichsträßer dürfen wir das<br />

nicht verwenden; wäre zu gefährlich, glaub' ich.“<br />

„Die Dinger würden zentimetertief ins Fleisch eindringen“, bestätigte Knabe selbstbewusst und zupfte<br />

seine fünf Raketen wieder aus dem Kreuz. „Ich glaube auch, das kann man nicht im Ernst verwenden. Ist<br />

'ne Art Turniergeschoss <strong>für</strong> friedliches Scheibenschießen auf die Zimmertür, Kaliber zehn bis fünfzehn<br />

Millimeter.“<br />

„In jedem Fall beantrage ich, mit einem von euch so bald wie möglich unsern Gang zu besichtigen“,<br />

verlangte Marabu. „Ich bin doch schließlich auch gespannt, wie das da unten aussieht.“<br />

„Ist verständlich“, sagte Goggo weise, „aber warum willst du nicht alleine? Hast wohl Angst, du<br />

Taufrosch, was?“ (Taufrosch ist das neueste Juxwort von Goggo; es stammt aus dem Biologieunterricht,<br />

da sind wir jetzt bei den Amphibien.)<br />

„Wieso denn Angst?“ begehrte Marabu auf. „Wenn keiner mitwill, geh' ich auch alleine! Ich kenn' den<br />

Gang schon halb durch die Beschreibung in der Chronik, und ich stell' mich schließlich nicht so zittrig an<br />

wie ihr, ihr gelbbäuchigen Unken!“ (Die Unken hatte er ebenfalls aus der Biologiestunde.)<br />

„Blendend“, schmunzelte Goggo, „dann hab' ich 'ne Idee: Wir gehen morgen alle vier mit Eimern zum<br />

Büdchen und schütten es zu. Vorher aber steigt der kühne Marabu hinunter und besichtigt unsern Gang,<br />

und dann holen wir ihn eine Stunde später durch das Bombenloch heraus.“<br />

„Sofern ihn nicht die Ganggespenster mittlerweile totgeschlagen haben“, grinste der Chronist.<br />

„Pass nur auf, dass ich dich nicht totschlage“, giftete Marabu; er hatte doch vielleicht ein bisschen Angst.<br />

„Beruhigt euch“, fiel Knabe ein, „der Vorschlag Goggos ist doch ganz patent! Der Bombenschacht wird<br />

dann von jetzt ab unser Dauereingang; wir hängen einen Lasso rein als Leiter und schmeißen regelmäßig,<br />

wenn wir abhauen, Äste auf die Öffnung. Und dann ist der Gang in Zukunft unser Hauptquartier.“<br />

„Und die Bombe?“ fragte der Chronist.<br />

„Ach, die Bombe“, sagte Knabe zögernd. „Eigentlich müssten wir die ja beim Rathaus melden, und dann<br />

schicken die so'n Sprengkommando, und das macht sie unschädlich.“<br />

„Und am nächsten Tag steht's in der Zeitung, und die ganze Stadt kennt unsern Gang!“ hohnlachte<br />

Marabu und spritzte Knabe Wasser ins Gesicht. „Seid ihr denn bekloppt, Genossen? Eher wäre ich da<strong>für</strong>,<br />

sie rauszuholen und im Engelwald irgendwo hinzulegen, dann kann das Entschärfungskommando ja<br />

immer noch kommen.“<br />

„Du bist plemplem, mein Freund“, erklärte Goggo, „denn das Bömbchen wiegt so zwischen vier, fünf<br />

Zentner.“<br />

„Also lassen wir sie, wo sie ist“, entschied Knabe, „sie stört uns ja nicht. Aber wollten wir nicht noch<br />

erkunden, wo der Schacht am andern Ende mündet? Ihr erinnert euch, 67 m hinter der Stadtmauer, das<br />

hatten wir doch abgemessen, Goggo!“<br />

„Selbstverständlich!“ brüllte Goggo. „Ich hab' schon eben bei der Chronik dran gedacht! Ich bin da<strong>für</strong>,<br />

wir fahren hin, sofort! Wer fährt mit von euch? Zwei Mann genügen.“<br />

„Ich hab' kein Rad da“, sagte Marabu.<br />

„Ich auch nicht“, schloss sich der Geschichtsschreiber an.<br />

„Dann fahren also Knabe und ich, und ihr zwei andern seid entlassen!“ kommandierte Goggo. „Morgen<br />

berichte ich dann dem Chronisten von unserm Ergebnis.“<br />

Damit war die Vollversammlung im Knabeschen Garten zu Ende. Goggo und Knabe gondelten los mit<br />

den Rädern, Marabu und der Chronist verschwanden in Richtung nach Hause…<br />

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31. August<br />

Heute Goggos Bericht über die Erkundung des anderen Gang-Endes entgegengenommen. Das Ergebnis<br />

ist enttäuschend: Der Stollen endet wahrscheinlich im Keller eines großen Wohnhauses, dessen<br />

Grundmauern auf den Resten mittelalterlicher Befestigungen aufsitzen. Knabe hat die Leute im Haus<br />

interviewt, das war ein raffinierter Einfall: Er hat gesagt, wir hätten <strong>für</strong> die Schule auf, das Alter unserer<br />

Stadt festzustellen, und müssten deshalb die ältesten Hausreste untersuchen, die in der Nähe der<br />

Stadtmauer liegen. Da hat er dann erfahren, dass an dieser Stelle früher mal ein Turm gestanden hat; das<br />

war so ziemlich alles, was die Leute wussten. Das reichte ja auch; es ist schließlich nicht allzu<br />

bedeutsam, dies Ende des Ganges zu kennen, denn wir haben ja den dünnen Schacht im Engelwald, der<br />

viel gefährlicher und schöner ist.<br />

Weil es heute regnet, wird das Büdchenloch erst morgen zugeschüttet. Marabu hadert mit Petrus; er hätte<br />

so gerne schon heute den Stollen besichtigt. Der Chronist ist stolz auf das seltene Verbum „hadern“.<br />

Goggos Vater war mit unsrer Wortschatzübung sehr zufrieden; hat ja nicht erfahren, dass da viere dran<br />

beteiligt waren. Der Geschichtsschreiber freut sich, dass er endlich Zeit hat, den Old Shurehand II zu<br />

Ende zu lesen. Ende der Eintragung.<br />

1. September<br />

Es regnet auch heute. Der Bombentrichter dürfte mittlerweile ein Becken voll klebrigen Matsches sein.<br />

Marabu zappelt vor Ungeduld.<br />

„Geh doch heute Nachmittag alleine!“ hat Goggo ihm vorgeschlagen, aber Marabu hat heute<br />

Tennisstunde. „Trotz des Regens?“ fragte der Chronist.<br />

„Jawohl!“ rief Marabu. „Bei Regen ist das Training in der Halle! Außerdem: Ich käm' ja ohne eure Hilfe<br />

gar nicht wieder raus.“<br />

Der Chronist vermutet, dass Marabu Angst hat. Schließlich ist es kein Spaziergang, ganz alleine durch<br />

'nen unbekannten Gang zu schleichen; der Geschichtsschreiber täte das ebenso wenig. Beginnt mit<br />

„Huckleberry Finn“, geliehen von Marabu. Ende der Eintragung.<br />

2. September<br />

Heute regnet's nicht, der Lehm im Trichter dürfte zu trocknen beginnen. Morgen also<br />

höchstwahrscheinlich Großeinsatz des Staates <strong>Neulati</strong> zum Büdchenzuschütten. Marabu hat seine<br />

Taschenlampe mit frischer Batterie versehen, der Chronist seinen Füller mit Tinte. Huckleberry Finn ist<br />

elefantös! Im Übrigen störend viel Schulsachen. Ende der Eintragung.<br />

3. September<br />

Ungeheuerlichster Tag in der Geschichte des Staates <strong>Neulati</strong>! Der Chronist ist derart durchgeschüttelt,<br />

dass er kaum den Füller halten kann. Der Bericht folgt morgen. Ende der Eintragung.<br />

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4. September<br />

Gestern gegen drei Uhr nachmittags holte der Geschichtsschreiber Goggo ab, und beide pilgerten in<br />

Richtung Teich, wo man auch Marabu und Knabe zu treffen hoffte; die Teichsträßer hatten ja<br />

versprochen, uns nicht auf dem Wege zum Trichter zu stören. Goggo schwenkte einen Eimer - teils, um<br />

drin den Lehm zu tragen, teils, um offen anzuzeigen, dass wir nur zum harmlosen Büdchenzerstören<br />

einherzogen, teils, um sich an seinem Rand die Knie wundzustoßen, wenn er schnelle Schritte machte.<br />

Unweit des Teiches fanden wir sämtliche Teichsträßer beim Fußballspiel, auf einer Wiese, die schon<br />

ganz zerschlissen war. Stitz Schlosser machte Alleingänge und ballerte Tore aus zwanzig Metern<br />

Entfernung; er guckte mürrisch Goggos Eimer an und spielte weiter. Marabu in Trainingsjacke lehnte<br />

unternehmungslustig neben Knabe hinterm Teich an einer Pappel, mit dem Lasso auf der Schulter, und<br />

anstatt der Spritzpistole sah ihm ausnahmsweise mal der Stiel der Taschenlampe aus der<br />

Lederhosentasche. Die Brennnesseln schwammen verwelkt, aber immer noch als deutliche Erinnerung,<br />

in dem lehmigen Wasser des Teiches, in das der Bach mit einer Art Hochwasser bräunlich<br />

hineinrauschte. Knabe hatte sich seinen Eimer als Helm über'n Kopf gestülpt, so dass er bestenfalls noch<br />

seine Füße sah, und quakte dumpfig „Heil <strong>Neulati</strong>!“ darunter hervor.<br />

„Heil <strong>Neulati</strong>!“ echote Goggo und klopfte neckisch mit dem Finger an den Eimer. „Kommen Sie mal<br />

bitte raus, Herr Blasrohrminister!“<br />

Der Blasrohrminister nahm den Eimer rechts und links am Rand und hob ihn sich langsam von den<br />

Schultern empor; der Hals erschien, das Kinn, und dann der Mund, und in dem Mund ein kurzes<br />

Blasrohr, das, sobald der Eimerrand die Mündung freigab, Goggo eine Salve speichelnasser Beeren ins<br />

Gesicht prasseln ließ. Dann senkte sich der Panzerturm wieder über das Geschütz, und Knabes Stimme<br />

grunzte grabesdumpf: „Jetzt kannst du wiederschießen!“<br />

Im gleichen Moment aber riss er sich wieder den Kübel vom Kopf und zischte: „Seid mal stille, Leute!<br />

Hört ihr da nicht jemand rufen?“<br />

Wir guckten uns unsicher um: 15 Meter hinter uns, schräg überm Teich, die fußballspielende<br />

Teichstraße; vor uns die rauschende Mündung des Baches; in den Pappeln plapperte der Wind, jenseits<br />

stieg der Engelwald den Hang hinan. Und ganz oben, auf der Kuppe, zwischen silbergrauen<br />

Buchenstämmen, stand ein Mädchen, kaum erkennbar durch das Zweiggewirr, und quäkte hell und eifrig<br />

über uns hinweg auf die Teichsträßer zu: „Hänschen! Hänschen!“<br />

Wir wandten die Blicke nach Stitz hin. Er schnappte den Ball mit den Händen, anstatt ihn zu köpfen,<br />

hielt ihn vor die Brust gepresst, drehte sich dem Wald und der Stimme zu und brüllte: „Jaha! Was denn?“<br />

„Komm mal schnell hier rauf!“ trompetete das Mädchen. „Hier oben ist ein ganz, ganz tiefes Loch!“<br />

„Mich laust der Affe!“ fauchte der Chronist. „Die meint doch wohl nicht unsern Bombeneingang?“<br />

„Wo denn?“ brüllte Stitz. „In deinem Kopf? Damit dein Vogel raus und rein kann?“<br />

„Nein!“ versicherte die helle Stimme zurück. „Im Boden drin, da waren Zweige drüber, und das ist ganz<br />

tief, da kann man reinfallen!“<br />

„Mensch, ich kenn' das Mädchen wieder“, sagte plötzlich der Chronist. „Wisst ihr, Leute, wer das ist?<br />

Das ist die Schwester vom Stitz; ihr wisst doch: Der Witz mit dem Messer!“<br />

„Ach du Schande!“ sagte Goggo tonlos und ließ sich schlaff auf seinen rumgedrehten Eimer sinken.<br />

„Und das Ditti muss nun ausgerechnet unsern Bombeneingang finden! Himmel, Arm und<br />

Wolkenbruch!“<br />

Stitz Schlosser guckte zweifelnd zu den Mädchen rauf und dann auf uns. Knabe hielt den Eimer<br />

selbstvergessen vor den Bauch gedrückt und horchte angestrengt; es sah fast aus, als habe er ihn grade<br />

leergetrunken und lausche auf das Kullern aus dem überfüllten Magen.<br />

Wir guckten geknickt und verbissen von einem zum andern: Unser Bombeneingang war gefunden! Es<br />

war nur eine Frage von Stunden, und die Teichstraße kannte den Gang! Stitzens Schwester stand nur<br />

etwa 30 Meter vor dem Eingang, auf die Kuppe vorgetrippelt, um den großen Bruder anzurufen. Der<br />

Chronist bereute fast den Witz, den er sich seinerzeit mit ihr geleistet hatte; jetzt war die Strafe da. Stitz<br />

Schlosser roch ebenfalls, dass dieses Loch 'ne Untersuchung wert war. Er kam, den Fußball unterm Arm,<br />

im Dauerlauf herangestampft, die ganze Truppe hinter ihm. Er blieb knapp vor uns auf dem Ufer stehen<br />

und sah uns finster an:<br />

„Ihr seht den Bach“, erklärte er markig, „rechts davon ist euer Büdchen, keiner stört euch. Kommt ihr auf<br />

das linke Ufer, gibt's 'ne Himmelfahrt, klar?“<br />

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Marabu steckte die Hand in die Tasche, damit man das Ende der Lampe nicht sah, und erwiderte lässig:<br />

„Wenn wir mal Lust auf 'ne Himmelfahrt kriegen, dann kommen wir rüber!“<br />

Stitz flog mit federndem Satz übern Bach und setzte den Abhang hinauf, seine Horde eifrig hinterdrein.<br />

„Der hat sich schwer vertan, der Taufrosch!“ kicherte Goggo mit Ingrimm. „Der wird sich wundern, dass<br />

wir eher an der Bombe sind als er. So ganz ohne Blutverlust kommt der uns nicht in den Stollen, verdorri<br />

noch mal!“<br />

Wir spurteten im Gänseeilmarsch in die Schonung; Knabe schippte mit rasch aus dem Trichter<br />

gebuddelter Schaufel die Lehmschicht vom Deckbrett des Eingangs. „Gott sei Dank, dass Marabu die<br />

Lampe hat“, freute sich Goggo, „und den Lasso noch dazu! Rein, ihr Leute!“<br />

Und wir turnten unsre Barrenstütz- und Reckhangübung mit der grimmigen Sicherheit von Kriegern vor<br />

der Schlacht, wenn sie wissen, dass der Krieg verloren ist, auch wenn sie noch die Schlacht gewinnen<br />

sollten. Den Eimer ließen wir stehen und den Eingang geöffnet; die Teichstraße würde sich wohl nur auf<br />

den Bombeneingang konzentrieren, deshalb durfte das <strong>Neulati</strong> auch.<br />

Dauerlauf den Gang hinunter, Marabus Lichtstrahl taumelte kampflustig über die Holzwände, durch das<br />

Wasser ging's in vollem Schuhwerk. Vorsichtig quetschte man sich an der Bombe vorbei. Marabu staunte<br />

und tuschelte ehr<strong>für</strong>chtig: „Mann, ist das ein Riesenbrocken! Habt ihr die drei Meter weit gerollt?“ „Wie<br />

'nen Sack Kartoffeln!“ hauchte der Chronist. „Wie wir das so konnten, weiß ich selber nicht. Hatten<br />

wahrscheinlich zum Angsthaben gar keine Zeit.“ „Haltet doch den Schnabel!“ zischte Goggo. „Marabu,<br />

Latüchte aus!“ Marabu knipste gehorsam die Lampe aus, und wir standen in dem bisschen Tageshelle,<br />

das der Schacht heruntersandte. Oben hörte man die Stimme Stitzens: „Ruhe jetzt, ich schmeiß 'nen Stein<br />

da runter; woll'n mal hören, wo er aufschlägt!“<br />

„Weg da!“ tuschelte Knabe. „Ich schnapp ihm den Stein weg“, und bückte sich geschmeidig unter den<br />

Schacht. Wir sahen sein gespanntes Gesicht nach oben in den bleichen Strahl gedreht, dann zog er rasch<br />

den Kopf zurück und fing den Stein, der runterkam, mit nachgiebig federnder Hand aus der Luft. Er kam<br />

zurück, so lautlos wie ein Gummimensch, und grinste: „Kinders, stellt euch jetzt den Stitz vor!“ Wir<br />

mussten kichern.<br />

„Komisch!“ hörte man dann Stitzen wettern. „Der Stein ist gar nicht aufgeschlagen, das Loch muss ja<br />

unheimlich tief sein! Aber einmal hätt' ich fast geglaubt, ich säh' da unten ein Gesicht, das raufguckt!“<br />

„Dann ist da Wasser drin, das war dein Spiegelbild!“ hörte man die Stimme seiner Schwester.<br />

„Kappes!“ brummte Stitz. „Dann hätt' der Stein doch laut geklatscht. Hätt' ich bloß 'ne Bohnenstange<br />

hier!“ „Nimm 'nen Lasso“, hörte man Jessi, „Ich hab' meinen zufällig da.“<br />

„Her damit!“ rief Stitz. „Wer lässt sich anleinen und geht freiwillig runter? Ich kann ihn am Lasso dann<br />

jederzeit rausreißen.“<br />

„Wenn einer runterkommt, den machen wir kalt!“ flüsterte Marabu.<br />

„Also, wenn sich keiner meldet“, schnauzte Stitz von oben, „dann befehl ich eben: Hubba, du bist wohl<br />

der dünnste, du machst es. Los, komm her, ich seil' dich an.“<br />

„Kinders, ist das ein Diktator!“ schüttelte sich Marabu. „Aber wisst ihr, was wir machen? Wir schneiden<br />

den Lasso durch, und dann zieht er das Ende wieder rauf und glaubt, der Hubba wäre abgestürzt! Bin<br />

doch mal gespannt, was ein Despot in so 'nem Fall dann macht!“ Hubba oben sagte nichts, er wurde<br />

fraglos angeseilt.<br />

„Ich bind' zur Sicherheit das Lassoende an den Baum hier“, hörte man Stitzen, „damit du nicht Angst<br />

hast, du flutschst in so'n Bergwerk.“ Dann pfropfte sich der Körper Hubbas wie ein Aufzug in die Röhre,<br />

und es wurde völlig finster.<br />

„Achtung, Leute“, zischte Goggo; „packt ihn gleich um Brust und Beine; Marabu hält ihm den Mund zu,<br />

und ich schneid' den Lasso durch!“<br />

Wir standen um den Schacht herum auf Lauer. Hubbas Beine erschienen. „Wie geht es?“ schrie Stitz<br />

noch von oben.<br />

„Ich glaube, ich komm' in 'nen Hohlraum“, rief Hubba, „meine Beine sind schon frei. Lass noch<br />

kommen!“ Dann erschien der Oberkörper, und am Ende auch der Kopf; das Licht fiel voll herunter, und<br />

wir fielen über Hubba her. Er brachte keinen Laut heraus, Goggo säbelte den Lasso durch am höchsten<br />

Punkt, zu dem er reichen konnte, Stitz flog oben höchstwahrscheinlich auf den Hintern.<br />

Im Eilschritt schleiften wir Hubba, der jetzt erst zu zappeln begann, in die Tiefe des Stollens und<br />

machten 30 Meter weit vom Einstieg halt. Marabu knipste die Lampe an: Hubba starrte in das Licht wie<br />

in eine Atombomben-Detonation und auf uns wie auf Gespenster; wir ließen ihm nicht lange Zeit, vor<br />

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Verblüffung den Mund aufzusperren, sondern stopften ihm ein Taschentuch hinein; ein andres banden<br />

wir ihm quer davor und um den Nacken, zugleich wurde er mit dem Rest seines eigenen Lassos, den er<br />

um den Brustkorb trug, gefesselt. Goggo war am Loch zurückgeblieben.<br />

Wir schleppten den Gebündelten bis an das Ende des Stollens, er war jetzt sicher 6o Meter von dem<br />

Einstiegloch entfernt und konnte unter seinem Knebel maunzen, wie er wollte, bis zu Stitz drang sein<br />

Geröchel nicht.<br />

Goggo am Schacht, als wir wieder zu ihm stießen, horchte amüsiert in die Höhlung hinauf: Das Mädchen<br />

oben weinte hell und quiekend.<br />

Stitz fuhr sie ungnädig an: „Wenn du heulen willst, verschwinde!“ schrie er, und man merkte an der<br />

Stimme, dass er ziemlich ratlos war.<br />

„Dieser Lasso ist doch nicht gerissen! Jessi, ist der durchgerissen?“<br />

„Es sieht so aus, als wär er abgeschnitten“, sagte Jessi zaghaft.<br />

„Na also“, herrschte Stitz, „da unten gibt es welche, die ihn abgeschnitten haben!“<br />

„Kann ja auch ein scharfer Stein gewesen sein“, vermutete Jessi.<br />

„Stein oder Gespenster, ich geh' jetzt persönlich!“ donnerte Stitz. „Knoten in den Lasso, dass man besser<br />

klettern kann, und dann macht ihn an 'nem Knüppel fest und legt den quer hier übers Loch, dann bleibt<br />

der Lasso lang genug.“<br />

„Das ist ja bestens!“ rieb sich Marabu die Hände. „Jetzt wird der Stitz genauso glatt gefrühstückt wie der<br />

Hubba.“<br />

Der Lasso klatschte durch das Loch herunter; er reichte fast bis auf den Boden und war mit Knoten zum<br />

besseren Klettern bestückt.<br />

„Schneid ihn ab!“ riet der Chronist.<br />

„Taufrosch!“ zischte Goggo und klappte sein Dolchmesser auf. „Dann kommt der Stitz ja nicht bis<br />

runter! Aber bind ihm mit dem Ende seine eignen Beine aneinander, dann kriegen wir ihn schneller<br />

kaltgemacht.“ „Prima“, hauchte der Chronist und nahm das Lassoende in die Hand; Stitzens Körper<br />

verdunkelte bereits den Lichtschacht und begann herunterzuhangeln. Marabu machte seinen Lasso flott,<br />

Knabe hielt sein Taschentuch, zum Knebel geballt, in der Faust; dem Chronisten fing der Knotenlasso an<br />

zu zittern wie ein Glockenseil. Bloß, dass oben keine Glocke an ihm zerrte, sondern Stitz.<br />

Schon kamen die Fußballschuhe des Kletterers zum Vorschein, beiderseits ans Seil geklemmt und ruhig<br />

von Knoten zu Knoten herunterrutschend; als die Brust schon sichtbar wurde, legte der Chronist das<br />

Lassoende locker um die starken Knöchel, und indessen Knabe den plötzlich fahl in der Helle des<br />

Schachtes erscheinenden Stitzkopf im Hochsprung umklammerte, riss der Chronist ihm die Schlinge um<br />

die Füße zusammen.<br />

Marabu hing an den Schultern des Häuptlings und bog ihm die Finger vom Lasso, und, durch das<br />

Gewicht der beiden von der Leine abgerissen, kippte Stitz mitsamt den beiden nach hinten in den Stollen<br />

hinunter. Er prallte auf Marabu auf und wälzte sich zuckend im Knäuel der Unsrigen; bloß die Beine<br />

schwebten in der Lassoschlinge etwa 40 cm überm Boden.<br />

Stitz Schlosser bäumte sich auf wie ein Tiger: Goggo flog, von einem Volltreffer ins Gesicht erwischt,<br />

ziemlich groggy an die Wand; Knabe brüllte auf, von Stitz gebissen, dem er seinen Knebel in die Zähne<br />

stopfen wollte; Stitz bekam den Kopf frei, erkannte den Lasso um seine Gelenke und brüllte: „Zieht<br />

rauf!“<br />

Schon begann der Lasso zu rucken; weiß der Kuckuck, wo jetzt Goggos Messer war, Marabu erwischte<br />

einen Rippenstoß und sackte röchelnd an die Wand. Stitz bekam zum zweitenmal den Mund frei und<br />

donnerte: „Zieht doch! So feste ihr könnt!“<br />

Oben rissen sie mit aller Kraft den Lasso an sich, der Chronist warf sich auf Stitzens Brust. „Kapp den<br />

Lasso!“ schrie er keuchend, „sonst ziehen sie den Stitz wieder rauf!“<br />

„Aber das Messer!“ schrie Knabe und schmiss sich mit der Brust über Stitzens Gesicht, seinen Hals zu<br />

umklammern. „Wo ist denn das Messer?“<br />

Oben zogen sie mit Pferdekräften: Stitz hing, um sich schlagend, an den Beinen wie ein<br />

Glockenschwengel aus der Öffnung. „Zieht doch!“ brüllte er und ließ seine Fäuste blindwütig um sich<br />

herumwirbeln - dann entschwebte er, ein tobender Herkules, in den Kamin! Der Chronist saß am Boden<br />

und lachte sich scheckig. Oben hievten sie ihren zerzausten Diktator mit den Füßen voran aus dem<br />

Schacht, sein Kopf war sicher puterrot vom Hängen nach unten.<br />

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„Menschenskind“, sagte Goggo und spuckte ganz erschlagen vor sich hin, „das ist ja 'ne Szene zum<br />

Filmen! Wie willst du die beschreiben, du Oberchronist?“ Knabe lehnte mit schmerzverkniffenem<br />

Gesicht an der anderen Wand und fragte trocken: „Idiot, wo ist dein Messer?“<br />

„Messer?“ babbelte Goggo. „Weiß ich nicht. Ich weiß bloß, der hat mir das Kinn in Stücke gehauen. Das<br />

ist doch ein humorloser Bruder, dieser Stitz.“<br />

Der humorlose Bruder hatte mittlerweile ebenfalls wieder seine Geister gesammelt. „Wisst ihr, wer das<br />

ist da unten?“ hörte man ihn sich entrüsten. „Das ist diese lachhafte Demokratengesellschaft; wüsst' ich<br />

bloß, wie ich da runterkomme!“<br />

„Haben Sie 'ne angenehme Himmelfahrt genossen?“ höhnte der Chronist hinauf. „Sie hatten uns ja eine<br />

versprochen, Herr Diktator!“ Ganz <strong>Neulati</strong> musste lachen.<br />

Der Herr Diktator aber grübelte verbissen und laut vor sich hin: „Wie sind die Kaffern bloß da<br />

reingekommen?“<br />

„Vielleicht von ihrem Büdchen aus?“ mutmaßte Jessi.<br />

„Quatsch!“ rief Stitz. „Das Büdchen hab' ich doch geseh’n, von da aus gab es keinen Eingang. Ist ja auch<br />

schon halb verschüttet. Also holen wir 'ne Leiter; Edi und Günter, ihr wisst, wo unsre Leiter hängt?“<br />

„Jawohl“, rief Edis Stimme, „das ist doch die in eurem Appelbaum?“<br />

„Genau!“ rief Stitz. „Geht hin und holt sie, schnell! Sieht euch meine Mutter, sagt ihr, ich hätte beim<br />

Onkel Eduard Äppel zu pflücken, klar?“<br />

„Der Stitz ist dämlich!“ freute sich Goggo. „Der verrät ja, was er tun will! Guter Krieger, aber schlechter<br />

Stratege. Wenn er mit der Leiter kommt, binden wir ihm die Füße rechts und links an die Holmen, noch<br />

ehe er halb unten ist!“<br />

„Gar nicht nötig!“ eiferte Marabu. „Sondern wir machen 'nen Ausfall durch das Büdchenloch, zu zwei,<br />

drei Mann, und fangen sie ab unterwegs.“<br />

„Fabelhaft!“ schrie Goggo und hieb sein Messer, das er grade wiederfand, in einen Pfosten der<br />

Verschalung. „Marabu und ich, wir sausen los! Ihr zwei andern haltet hier den Eingang. Messer lass ich<br />

hier, zum Lassokappen, falls die oben noch mal runterwollen; Taschenlampe aber nehmen wir mit: Hell<br />

genug hier unterm Loch. Heil <strong>Neulati</strong>!“<br />

Damit sprangen sie über die Bombe den Stollen hinunter davon; und das, was sie oben im Tageslicht<br />

anstellten, muss der Chronist sich nach ihren Erzählungen rekonstruieren: Sie wateten also mit rudernden<br />

Armen durch die Wasserfurt, stemmten und zogen sich ächzend durchs Büdchenloch, hielten drei<br />

Minuten später am Rande der Dickung. Edi und Günter verschwanden soeben in Richtung der<br />

Teichstraße, kurz darauf erschienen sie im Trab und mit der Leiter auf der Achsel, einer vorn und einer<br />

hinten. Sie schnauften die Wiese hinunter auf den Teich zu wie ein Kreuzer, der vom Stapel laufen will.<br />

„Los!“ sagte Goggo und spritzte mit Marabu aus dem Gebüsch. „Du den vorne, ich den hinten! Und<br />

sobald du deinen unterkriegst, hex ihn fest am nächsten Baum!“<br />

Sie schnitten dem Kreuzer mit flinkem Manöver den Weg ab und erreichten ihn noch vor der<br />

Pappelreihe. Die Teichsträßer schmissen die Leiter zu Boden, brüllten „Stihitz!“ in den Engelwald hinauf<br />

und hüpften ängstlich um die Leiter rum, die sie nicht kampflos fahren lassen durften. Goggo und Edi<br />

verbissen sich sofort miteinander in purzelndem Ringkampf, Edi war ebenfalls dreizehn und lieferte ein<br />

ziemliches Gefecht. Marabu hatte es leichter mit dem zwölfjährigen Günter, er erwischte ihn am rechten<br />

Handgelenk und wand es ihm mit zugekniffenen Augen auf den Rücken: Günter überschlug sich heulend<br />

auf dem Boden. Marabu zwang ihn an dem halbverrenkten Arm auf die Beine zurück, bugsierte ihn mit<br />

diesem Polizeigriff vor den nächsten Pappelstamm und fauchte: „Los, nun hex dich fest! Weißt doch, wie<br />

das geht. Sofort!“ Und Günter umschlang mit der Linken die Pappel, wickelte brav seine Beine unter sich<br />

auf vorgeschriebene Weise um den Stamm, und Marabu senkte ihn dann mit Gewalt in den Schneidersitz<br />

runter - fast eigenhändig hatte sich der Gegner festgehext.<br />

Marabu stürzte nun Goggo zu Hilfe; Goggo lag auf dem Rücken und luftradelte irrsinnig mit den Beinen,<br />

Edi hockte auf ihm wie ein Frosch und neigte sein ganzes Körpergewicht auf die Handgelenke Goggos,<br />

die er rechts und links von dessen Kopf ins Gras gewuchtet hielt: Goggo war schmählich auf die<br />

Schultern gelegt.<br />

Marabu flog im Hechtsprung über den Teichsträßer her, beide kugelten von Goggo runter, der sich flugs<br />

vom Boden hob und mithalf, den Edi zu bändigen. Man zwang auch ihn, der gellend Stitz um Hilfe<br />

anrief, sich an einer Pappel festzuklemmen - dann spannten sich die Sieger vor die Leiter, schleiften sie<br />

im Galopp an das Wasser hinunter, und die beiden Festgehexten mussten, an dem unbequemen Stamm<br />

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vorbei, zusehen, wie die Leiter, mit perlender Doppelbugwelle, wuchtig in den Teich hinein vom Stapel<br />

lief. Sie überquerte ihn gemessen zwischen langen, schräggestreckten Wellchen und rannte sich am<br />

andern Ufer fest in einer flachen Lehmbank: Ohne Floß war nicht mehr an sie ranzukommen.<br />

Gleichzeitig tauchte im Engelwald oben auf der Kuppe Jessi auf und übersah das Schlachtfeld: Die<br />

beiden <strong>Neulati</strong>er strebten im Dauerlauf wieder der Schonung zu.<br />

Indessen hockten der Chronist und Knabe urgemütlich unterm Bombenloch wie um ein Lagerfeuer und<br />

brachten Stitz, der oben wartete, mit hetzenden Witzen total aus dem Häuschen. Er sagte zwar nicht viel<br />

und brüllte nicht, er war ja nie ein großer Redner, aber was er sagte, troff nur so von Hass und Rachsucht.<br />

„Am liebsten schmiss ich euch 'ne Bombe runter“, knirschte er.<br />

„Famos!“ rief der Chronist vergnügt. „Dann legen wir den Hubba unters Loch, und herzlichen<br />

Glückwunsch zur Himmelfahrt dann.“<br />

Das war ein recht gemeiner Witz, und Stitz versetzte nichts, sondern setzte sich ohnmächtig neben das<br />

Loch und zerkaute seine Wut zwischen knirschenden Zähnen.<br />

Wenig später piepten schwach die Hilferufe Edis durch den Wald herauf. Jessi sprang zur Kuppe vor und<br />

kam gestikulierend zurückgestürzt:<br />

„Edi und Günter sind abgeschnappt!“ krähte er eilig. „Von zwei von den Heinis da unten! Die Leiter<br />

schwimmt im Teich; die beiden andern laufen Richtung Schonung.“<br />

„Was?!“ schrie Stitz. „Dann sind ja unten in dem Loch nur zwei! Lasso her, ich geh' als erster; ihr kommt<br />

nach!“<br />

Der Chronist und Knabe flogen hoch!<br />

„Messer her!“ schrie Knabe. „Kommt der Stitz noch mal hier runter, macht er uns zu Knochenmehl.<br />

Dreh ihm, wenn er kommt, die Füße rum! Ich schneid' den Lasso ab, sobald er runterfällt.“<br />

Der Lasso fiel; was half es, dass Knabe ihn abschnitt einen halben Meter unterm Loch? Schon erschienen<br />

Stitzens Füße; der Chronist ergriff den einen an Spitze und Absatz und drehte ihn seitlich mit aller<br />

Gewalt, die die Angst ihm verlieh. Der Körper von Stitz gab dem Hebeldruck nach, er drehte sich<br />

bohrerartig in der Röhre, aber rutschte unerschrocken tiefer: Dadurch, dass er mitrotierte, tat ihm ja das<br />

Dreh’n nicht weh.<br />

„Hau ab!“ schrie der Chronist in höchster Angst, indessen Knabe ein verbissenes Zielboxen auf Stitzens<br />

sich drehende Schenkel vollführte; dann ließ sich Stitz wildwestfilmartig aus der Röhre fallen und<br />

landete auf den Knien im Gang. Sein Gesicht, im bleichen Licht des Schachtes, warf menschenfressende<br />

Blicke ins Dunkel, dann fuhr er pantherartig auf uns los. Knabe kippte unter seinem Ansprung<br />

hinterrücks in Richtung Bombe, der Chronist versuchte, Stitz die Füße zu verrenken, alles purzelte in<br />

wahnwitziger Verkralltheit durcheinander. Das war kein Kampfspiel mehr, das war ein Wehetun um<br />

jeden Preis! Knabe riss an Stitzens Haaren, bog ihm den keuchenden Kopf in den Nacken, schon rutschte<br />

Jessi lassoabwärts in den Gang hinein, - da kreischte aus dem Schlachtgewirbel Knabes schrill entstellte<br />

Stimme:<br />

„Weg hier, die Bombe rollt ab!“<br />

Wir fuhren auseinander wie Elektrisierte - man hörte das klobige Rumpeln der Bombe, die, den<br />

Bremsklotz überrollend, schattenhaft den Gang hinunter aus dem Lichtkreis fortzukollern begann -, wir<br />

sahen sie ins Dunkel tauchen, ihr gewichtiges Bullern erschütterte den Boden, wir standen mit<br />

wackelnden Knien.<br />

„Mensch, der Zünder!“ brüllte Knabe. „Wenn die mit dem Zünder an die Wand haut! Rennt, wir müssen<br />

weg!“<br />

Wir stoben - und Stitz mit dazwischen - ins andere Ende des Stollens hinein; den Lasso raufzuklettern<br />

hatte keiner mehr Zeit; wir rissen Jessi mit und hasteten zehn Meter weiter schon blindlings ins<br />

Schwarze. „Lauft!“ schrie der Chronist. „Der Gang ist 50 Meter lang und immer geradeaus!“<br />

Wir stolperten mit vorgestreckten Händen, ständig in Erwartung der hinter uns alles zerfetzenden<br />

Explosion, ins stickige Dunkel des Stollens; endlich bohrten sich die Finger des Chronisten in den<br />

straffen Lehm der Endwand, seine Füße stießen an das Bündel Hubba. „Schmeißt euch hin!“ schrie<br />

Knabe mit zitternder Stimme. „Wenn die losgeht, die haut uns um!“<br />

Wir warfen uns verzweifelt in den Lehm, der kühl die Backe des Chronisten drückte, und horchten<br />

atemlos den Gang hinab, wo jeden Augenblick der Blitz der Bombe alles auseinander jagen musste.<br />

„War das ein Blindgänger?“ zischelte die Stimme Stitzens neben uns.<br />

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„Natürlich“, sagte der Chronist gepresst; dann schwankte der Stollen unter dem zuckenden Donner der<br />

Explosion! Den Gang herauf tobte ein Schwall aus krachender Luft; es splitterte, schmetterte, schrie um<br />

uns rum; der Luftdruck hieb auf uns herunter wie ein unsichtbarer Gummihammer - dann war es vorbei,<br />

und wir lagen unter Dunkelheit und Totenstille, ineinandergekrampft wie ein Nest junger Mäuse.<br />

„Wo seid ihr?“ fragte Knabe mühsam. „Ist euch was passiert?“<br />

„Mir nicht“, meinte Stitz, „hoffentlich sind wir nicht verschüttet.“<br />

„Mir auch nicht“, stotterte der Chronist. „Wo ist der Jessi?“<br />

„Hier“, sagte Jessi, „was ist mit dem Hubba?“<br />

„Der liegt hier noch gefesselt“, sagte der Chronist beschämt und knüpfte dem neben ihm Liegenden<br />

tastend das Taschentuch ab. „Hubba, rede! Ist dir was passiert?“<br />

„Nein, ich glaube nicht“, nuschelte Hubba mit trockenen Lippen, „aber was war das denn <strong>für</strong>'n Knall<br />

vorhin, was ist denn los?“<br />

„Ein Blindgänger ist hochgegangen“, sagte Stitz; seine Stimme kam klar und friedfertig durch die<br />

Schwärze; man spürte in dem Dunkel kaum noch, dass man selber da war, bloß die Stimmen redeten um<br />

einen rum wie ein Hörspiel im verdunkelten Wohnzimmer. „Hat einer 'n Streichholz da?“ fragte der<br />

Geschichtsschreiber. „Ja, ich“, versetzte Jessi. „Aber es sind bloß noch zwei oder drei in der Schachtel;<br />

wer hat was Papier?“<br />

Ein dumpfes Geraschel begann um uns rum, jeder wühlte seine Taschen durch und hatte in dem Dunkel<br />

das Gefühl, als wären es die Taschen eines anderen: Man kam sich vor wie unter Ruß vergraben.<br />

„Ich habe noch zwei Margarinebildchen“, rückte schließlich Hubba raus. „Wenn keiner was anderes hat,<br />

dann spendiere ich die.“<br />

„Ich hab' die Zehnerkarte da vom Freibad“, sagte Knabe, „aber ist die nicht zu schade?“<br />

„Also dann das Bildchen, Hubba!“ kommandierte Stitz.<br />

„Hast du's fertig?“ fragte Jessi. „Dann reiß' ich jetzt ein Streichholz an.“<br />

Kratzend sprang die Flamme auf und strahlte die begierigen Gesichter an, wir blinzten überrascht und<br />

fanden uns wieder: Alle fünf auf einem Knubbel sitzend, in dessen Mitte Hubba jetzt sein Bildchen in die<br />

Flamme Jessis streckte, bis es an der Ecke brannte und der afrikanische Wasserfall, der knallig bunt da<br />

draufgepinselt war, Feuer fing.<br />

„Geh’n wir schnell zurück zum Eingang“, sagte Stitz. „Das Bildchen hält nicht lange vor.“<br />

Wir sprangen auf, und Hubba ging voran und leuchtete mit dem brennenden Wasserfall; wir gingen<br />

langsam auf dem glatten Lehm. Der Gang war ganz wie sonst; schon sah man zwanzig Meter weiter fahl<br />

das Licht des Schachtes dämmern, da quäkte Hubba plötzlich „Au verdammt!“ und ließ das fast<br />

erloschene Bildchen fallen, das ihm die Finger versengte. Nun ließen wir uns nur noch von dem Licht<br />

des Schachtes leiten und standen wenig später alle fünf darunter; der Lasso hing mit seinen Knoten<br />

regungslos von oben runter wie eine dünne tote Schlange, die alle zehn Zentimeter eine Maus gefressen<br />

hat.<br />

Zum Zeitpunkt der Explosion waren Goggo und Marabu grade an dem Saum der Schonung angelangt,<br />

Goggo bog schon das Gezweig beiseite, da riss sie der plötzlich im Talkessel aufbrüllende Donnerschlag<br />

herum: Sie sahen, wie der Teich sich hob in eine ungeheure Wassersäule, ein ganzer gelblich-brauner,<br />

weißbeschaumter Gasometer aus Teichwasser, eine krachende Fontäne, die die Pappeln überstieg und<br />

grollend dann in sich zusammenbrach; sie prallte in die leere Mulde des Teiches zurück und überspülte<br />

die Ufer auf zwanzig Meter Breite mit tosender Wasserschicht. Der Explosionsknall kollerte langhallend<br />

durch den Engelwald herauf, die Bäume bebten ringsherum, und Goggo befand sich am Boden, ohne zu<br />

wissen, wieso.<br />

Unten am Teich lief das Wasser in Fladen vom Ufer herab in das Teichbett zurück; man sah die beiden<br />

Festgehexten etwa 30 Meter vor dem Wasserloch von ihren Bäumen in das Gras zurückgekippt, die<br />

untere Hälfte der Leiter stak schräg etwa zehn Meter vor ihnen im Boden, als hätte jemand sie an einen<br />

nicht vorhandenen Baum gelehnt, die andere Hälfte kreiste schlammüberspült auf dem bräunlichen<br />

Wasser um einen Strudeltrichter herum wie ein Nachtfalter um die Laterne; der Strudel bohrte<br />

höchstwahrscheinlich seine Wasser in den aufgebrochenen Gang hinab, sein gefräßiges Schlürfen war<br />

deutlich zu hören. Die Splitter des Floßes staken rings am Ufer in dem Lehm herum.<br />

„Menschenskind, die Bombe“, sagte Marabu. Das war nicht allzu geistreich.<br />

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Goggo hob sich schwankend auf, hielt sich fest an einem Buchenstämmchen und sagte verdattert:<br />

„Genau unterm Teich, Mann! Wie ist die da runtergekommen?“<br />

„Mensch, die beiden Festgehexten!“ brüllte Marabu und raste schon mit Goggo talwärts an den Teich<br />

zurück. Sie hoben die beiden Gefesselten an schlaffen Schultern aus ihrem magisch verschlungenen<br />

Schneidersitz, betteten sie auf das Gras an den Bäumen, und Marabu setzte sich neben sie, und fing an zu<br />

heulen.<br />

Den beiden Hingestreckten fehlte äußerlich nichts; sie hatten die Augen zu in den blassen Gesichtern, das<br />

Haar in der Stirn, und die Hände, nach oben geöffnet, weit von sich gestreckt auf der Pappellaubschicht.<br />

Goggo stand daneben und horchte auf das verworrene, dumpfe Geschrei aus der Teichstraße: Es kämen<br />

sicher bald die aufgescheuchten Leute! Marabu lag auf dem Bauch und schluchzte in den Ärmel seiner<br />

Trainingsbluse; im Teichbecken gurgelte emsig der langsam sich schließende Trichter, die Leiter<br />

taumelte darum herum wie ein müdes Karussellpferd um die Achse seines Karussells.<br />

Goggo kniete sich tapfer neben den leblosen Edi, hob ihm das kraftlose Handgelenk auf und würgte zu<br />

Marabu hin: „Heul doch nicht - sonst heul' ich auch noch. Sag mir lieber, wo der Puls ist, rechts oder<br />

links?“<br />

„Weiß ich nicht“, wimmerte Marabu eigensinnig vor sich in die Trainingsanzugswolle. „Ich glaube, auf<br />

beiden.“<br />

Goggo tastete aufs Geratewohl mit ängstlichem Daumen auf dem Handgelenk des Liegenden herum;<br />

plötzlich kriegte sein Gesicht was Horchendes. „Mensch, das schlägt noch!“ schrie er außer sich. „Hör<br />

doch auf zu heulen, Taufrosch!“<br />

„Was, das schlägt noch?“ schluckte Marabu und drehte sein verheultes Gesicht auf dem Ärmel zur Seite<br />

- da klappte Edi die benommenen Augen auf! Er starrte fassungslos den über ihn gebeugten Goggo an<br />

und murmelte wacklig: „Aber was - was ist denn los?“<br />

„Mann, er lebt noch!“ jubilierte Goggo und warf sich auf Günter, auch ihn zu befühlen. Marabu hob sich<br />

vom Boden, zog schamhaft die Nase hoch, denn Edi sollte doch nicht merken, dass er heulte. „Tut dir<br />

denn was weh?“ erkundigte er sich.<br />

„Mir?“ näselte Edi und blinzelte, als käme er nach langer Nacht ans Tageslicht. „Nein, mir nicht. Was<br />

war denn los?“<br />

„Unterm Teich ist eine Bombe hochgegangen“, klärte Marabu ihn auf, „und der Luftdruck hat euch beide<br />

umgeschmissen und besinnungslos gemacht. Gott sei Dank, dass nichts passiert ist.“<br />

„Kinder, der Puls ist auch hier noch am Schlagen!“ jauchzte Goggo mit dem Daumen auf dem<br />

Handgelenk des andern; wirklich gingen auch bei Günter schon nach wenigen Sekunden wie<br />

programmgemäß die Augen auf, und er stammelte: „Wo bin ich denn?“<br />

„Gott sei Dank noch nicht im Himmel!“ sagte Marabu, es war ein halber Witz. „Könnt ihr aufsteh’n, oder<br />

ist euch übel?“<br />

„Bisschen dusslig“, seufzte Edi und richtete sich auf den Armen halb empor, „aber sonst, ich glaub', ich<br />

könnte laufen.“<br />

Von der Teichstraße her sah man Leute herbeifluten, Kinder und Frauen. „Die brauchen uns hier nicht zu<br />

finden“, rief Goggo, „könnt ihr laufen? Dann kommt mit!“<br />

Günter hob sich torkelnd auf die Beine. „Wenn mein Vater weiß, dass ich bewusstlos war, das gibt dann<br />

bloß 'ne Aufregung“, be<strong>für</strong>chtete er. „Am besten ist, wir hau'n jetzt ab.“<br />

Goggo zog behutsam Edi von dem Boden auf, Marabu zog Günter mit sich, und so trabten sie das<br />

glitschige Ufer entlang bis zum Bach. Sie übersprangen das kaum meterbreite Rinnsal alle vier aus eigner<br />

Kraft und krabbelten den Hang hinauf in Richtung Bombenloch. Unten am Teichufer sah man das Volk<br />

sich versammeln, man hörte deutlich eine Frau: „Das ist ja unsre Leiter!“ kreischen; die Frau war sicher<br />

Stitzens Mutter.<br />

Am Einstiegloch hockte noch einer der Teichsträßer, einsam wie ein Hund am Grab des Herrn: Es war<br />

der sechste Mann der Bande neben Hubba, Jessi, Edi, Stitz und Günter, und der einzige, der oben noch<br />

am Schacht gestanden hatte, als von unten Knabe was von „Bombe“ schrie; er sah recht ratlos und<br />

verdattert drein und war auch erst elf Jahre alt.<br />

„Wo sind die andern?“ forschte Marabu.<br />

„Ins Loch da runter“, klagte der Teichsträßer. „Dann schrie da einer was von Bombe, und das Mädchen<br />

rannte weg, und ein bisschen später kracht' es, und seitdem ist alles still.“<br />

„Ach du großes Ei!“ rief Goggo. „Also nix wie runter, nachseh’n, was mit denen los ist!“<br />

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„Gar nicht nötig!“ unterbrach ihn des Chronisten Stimme überraschend aus dem Loch herauf. „Wir sind<br />

noch sehr mobil hier unten, bloß: Was ist mit euch passiert?“<br />

„Uns geht's bestens“, meldete Marabu. „Dann ist ja also keinem was passiert? Mensch, ich spring' noch<br />

in die Luft vor Spaß!“<br />

„Kommt runter“, sagte Stitz, „den Gang besichtigen; der Hubba kann uns leuchten mit dem Bildchen.“<br />

„Das Bildchen kann er sparen“, meinte Knabe. „Marabu hat doch die Taschenlampe.“<br />

„Leider nein“, bereute Marabu, „ich hab' sie dummerweise unterm Büdcheneingang liegen lassen, ich<br />

Kamel!“<br />

„Also doch das Bildchen“, entschied Stitz.<br />

Hubba nickte melancholisch und grub sich gehorsam das Bild aus der Tasche. Und indessen die fünf<br />

Oberweltler schön am Lasso in den Stollen rutschten, steckte Jessi also auch das zweite Bildchen an - es<br />

war eine kitschig geschmierte Gorillajagd -, und alle zehn wanderten wir gespannt den Gang hinab in<br />

Richtung Wasser. Die Flamme des brennenden Gorillas tanzte über Hubbas vorgestreckter Hand; bereits<br />

nach 50 Schritten aber stockte er und sagte: „Hier ist Wasser.“<br />

Dann war der Gorilla zu Ende gebrannt, und Hubba ließ mit ärgerlichem „Aua!“ das verkohlte und mit<br />

Funken bestickte Papierchen fallen; es zischte in dem Wasser auf, und alles war dunkel.<br />

„Also schneid' ich mal 'nen Splitter von dem Balken“, sagte Stitz. Man hörte den Hirschfänger<br />

knirschend im Holzwerk des Ganges rumoren, dann hatte Stitz 'nen langen Splitter von dem Pfosten<br />

abgespalten und verlangte im gewohnten Telegrammstil: „Jessi, Streichholz!“<br />

Jessi riss sein letztes Streichholz an, Stitz Schlosser tunkte seinen Fidibus mit der feilenförmig<br />

zugeschnittenen Spitze in die Zündholzflamme, und der feuchte Span fing leise dampfend Feuer. Stitz<br />

hielt ihn gesenkt wie einen kurzen Säbel vor sich hin - man sah jetzt deutlich, dass von dieser Stelle an<br />

der ganze Gang voll Wasser war; zehn Meter weiter klatschte es bereits mit trüben Wellchen an die<br />

Deckenbalken.<br />

„Das ist der Wasserspiegel aus dem Teich!“ rief Marabu. „Der ganze Stollen ist ersoffen, bloß die beiden<br />

höheren Enden sind noch trocken: Klarer Fall!“<br />

„Schöner Stollen“, sagte sparsam Stitz und sah sich mit gesenkter Fackel anerkennend um, „läuft unterm<br />

Teich durch; und wo kam er raus?“<br />

„Du wirst lachen“, sagte Goggo, „aber der kommt raus in unserm Büdchen.“<br />

„Bist verrückt“, erklärte Stitz gelassen.<br />

„Nein“, versicherte Knabe, „damals, als du uns gefesselt in das Loch geschmissen hast, da haben wir das<br />

erst gemerkt, und Goggo ist gefesselt eingebrochen; und dann haben wir die Kordel durchgenagt, das<br />

Loch im Büdchenboden zugedeckt und Erde draufgekratzt vom Büdchenrand.“<br />

„Sehr gerissen“, sagte Stitz und lächelte, „und ich kam mit meinen Nesseln, fand das Büdchen leer und<br />

halb verschüttet; seid 'ne pfiffige Gesellschaft, ihr verdammten Demokraten!“<br />

„Geh'n wir rauf!“ schlug Goggo vor. „Wir woll'n euch noch das andere Ende zeigen.“<br />

Wir klommen in den Engelwald empor wie eine schon verloren geglaubte U-Boots-Besatzung; am Rand<br />

des Loches saß das Mädchen und hörte sofort auf zu heulen, als Stitz aus der Öffnung erschien.<br />

„Dummes Stück du!“ brummte er mit einer Art von Zärtlichkeit und stopfte sich mit spatenförmig<br />

flachgestreckter Hand sein rausgequollenes Cowboyhemd in die Hose zurück; dann stiefelten wir<br />

einträchtig vor auf die Kuppe.<br />

Unten im Talkessel standen die Volksmengen brodelnd am Ufer des Teiches, ein Schlauchboot<br />

schwamm auf seiner Mitte, und drei Feuerwehrleute standen darin und stocherten mit Einreißhaken in<br />

dem lehmig-trüben Wasser.<br />

„Die halbe Stadt ist alarmiert!“ freute sich diebisch der Chronist. „Menschenskinder, wenn die wüssten,<br />

dass das wir gewesen sind!“<br />

„Und natürlich: Keiner sagt was!“ schärfte Goggo allen ein. „Keiner braucht zu wissen, wie das mit der<br />

Bombe wirklich war. Denn sobald das rauskommt, ist der Stollen stadtbekannt.“<br />

„Unterschreib' ich“, sagte Stitz. „Also, Leute: Keiner sagt was von dem Stollen!“ Seine fünf Gefolgsleute<br />

nickten ergeben: Je kürzer Stitz befahl, umso energischer war es gemeint. - „Mann, die Leiter!“ stockte<br />

plötzlich Stitz und sah betroffen auf den Teich hinunter. „Mensch, die Leiter ist ja mittendurch!“<br />

„Leider“, seufzte Marabu, „was würde wohl 'ne neue kosten?“<br />

„Quatsch“, erklärte Stitz, „ich bau' die neue selber. Brauche bloß zwei lange Balken, Sprossen hab' ich<br />

noch genug.“<br />

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„Und was kosten wohl die Balken?“ fragte Goggo. „Vier-fünf Mark wohl“, kalkulierte Stitz.<br />

„Au Backe“, sagte Goggo zögernd, „dann wird <strong>Neulati</strong> wohl zusammenlegen müssen.“<br />

„<strong>Neulati</strong>?“ fragte Stitz. „Was soll das heißen?“<br />

„<strong>Neulati</strong>“, dozierte Goggo stolz, „das ist der Name des demokratischen Staates, den wir vier begründet<br />

haben.“<br />

„Ach so, dieser Abstimmungszauber?“ lächelte Stitz.<br />

„Genau!“ erklärte Goggo siegessicher. „Und damit du mal siehst, du alter Despot, wozu dieser<br />

Abstimmungszauber oft gut ist, wollen wir jetzt mal abstimmen, ob wir dir die Leiterbalken bezahlen<br />

wollen oder nicht! Denn die Leiter in den Teich geschmissen haben wir, und deshalb ist sie jetzt kaputt.<br />

Jeder hätte also dann von seinem Taschengeld 'ne volle Mark zu blechen. Abstimmung: Wer ist da<strong>für</strong>?“<br />

Alle vier <strong>Neulati</strong>er rissen die Hand hoch: Das war ein moralischer Triumph der Demokratie!<br />

„Mensch, ich dank' euch!“ sagte Stitz und sah uns voll in die Gesichter. „Denn ich wüsste nicht, woher<br />

ich sonst die Balken kriegen sollte, und mein Vater gibt mir heute Abend Dresche, aber keinen Pfennig<br />

Geld. Ihr seid doch 'ne verdammte Bande, ihr Demokraten.“<br />

„Komisch!“ hänselte ihn der Chronist. „Komisch, dass sogar die Diktatoren noch verdroschen werden!“ -<br />

und er merkte mit Verblüffung, dass kaum zehn Minuten seit dem Bombenknall verstrichen waren ...<br />

5. September<br />

... und man schon mit Stitz die gleichen Witze machen konnte, die man sonst nur innerhalb <strong>Neulati</strong>s riss:<br />

Diese Aussöhnung ging sonderbar von selber.<br />

(Diese Unterbrechung mitten in dem mühsam aufgebauten Satz erfolgte gestern Abend gegen halb elf,<br />

als der Chronist von seiner Mutter eine Ohrfeige kriegte, weil er, statt im Bett zu liegen, noch an seinem<br />

Tisch bei Lampenlicht besessen an der Chronik schuftete. Das hat man also dann von seinem<br />

Arbeitsfanatismus! Trotzdem schreibt er heute ungebrochen weiter:)<br />

„Sagst uns also in den nächsten Tagen, was die Balken kosteten“, schloss Goggo mit der Großzügigkeit<br />

eines Kapitalisten. „Kommt jetzt, Leute, geh’n wir rüber an das Büdchen.“<br />

Wir übersprangen den Bach etwa 200 m oberhalb des Teiches; man sah das Tal hinab die schwärzlich<br />

angestaute Menschenmasse um den Teich gedrängt, und auf dem Teich das Schlauchboot mit der<br />

Feuerwehr; Stitzens Schwester hing am Arm des großen Bruders, trampelte vor Neugier und wollte mit<br />

ihm hin.<br />

„Geh alleine“, sagte Stitz, „in dem Teich ist bloß 'ne Bombe explodiert, das ist alles.“ Und das Mädchen<br />

hüpfte mit wippenden Zöpfen den Weg hinab an den Sensationsweiher.<br />

Wir aber erklommen die Schonung und stiegen durchs Büdchenloch ein in den Stollen, alle zehn auf<br />

einem Haufen, und statt Hubba mit dem Bildchen ging jetzt Marabu mit der gezückten Taschenlampe<br />

vorneweg. Mit dem wissenden Stolz eines Fremdenführers sandte er am Ende des Stollens den Strahl an<br />

die steinerne Schließplatte des Sechs-Meter-Schachtes hinauf; Stitz sah angestrengt am Strahl empor, so<br />

dass sein Adamsapfel aus dem bunten Kragen trat, dann kniff er auf einmal die Augen zusammen, als<br />

solle die Idee, die er urplötzlich hatte, nicht durch seine Lider schlüpfen, und fragte scharf und rasch:<br />

„Was ist hier drüber?“<br />

„Altes Wohnhaus“, sagte Goggo. „Keller ist noch aus dem Mittelalter.“<br />

„Welches Wohnhaus?“ fragte Stitz.<br />

„Rossmarkt 17, glaub' ich“, entsann sich Knabe.<br />

„Schön!“ rief Stitz und wandte sich an Nummer sechs, den uns noch unbekannten Teichsträßer. „Appi,<br />

wohnst du nicht in Rossmarkt 17?“<br />

„Doch“, sagte Appi; er war eine Neuerwerbung der Teichstraße, etwas schüchtern noch und<br />

semmelblond.<br />

„Hab' ich doch gedacht!“ rief Stitz. „Habt ihr da 'nen Kellerraum?“<br />

„'türlich“, sagte Appi leise.<br />

„Kommst du auch in andre Keller?“ fuhr Stitz Schlosser fort.<br />

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„Da, wo ich die Jungens kenne, schon“, versetzte Appi. „Bei Berni und Hannjo, da war ich schon öfters<br />

im Keller, bloß der vierte Raum gehört 'ner alten Tante, und die lässt uns keinesfalls da rein. Aber diese<br />

große Platte da, die ist in unserm Keller. Nur weiß keiner, dass da drunter dieser Schacht ist.“<br />

Das war ja ein wahrhaft romantischer Zufall! „Mensch!“ rief Stitz. „Dann ist ja alles klar! Klopf heut<br />

Abend auf die Platte, und probier, ob sie auf Seite geht. Denn das Büdchen muss ja zugeschüttet werden,<br />

und was soll der Stollen ohne Eingang?“<br />

„Wisst ihr was?“ fiel Goggo prahlerisch dazwischen. „Schenken wir doch einfach jetzt der Teichstraße<br />

das ganze Stollenstück auf dieser Seite! Wir haben dem Flurschütz versprochen, in der Schonung nicht<br />

mehr rumzubuddeln, und woanders kann man keinen Ausgang graben, denn im Engelwald ist's viel zu<br />

offen. Also kriegt die Teichstraße hier diese Hälfte und <strong>Neulati</strong> dann die andre mit dem Bombenschacht.<br />

Und dann können wir in unserer Hälfte Krieg spielen, solange wir wollen, und notfalls auch baden; was<br />

sagt ihr dazu?“<br />

Der Einfall war mordsmäßig! „Abstimmung!“ brüllte der Chronist. „Wer ist da<strong>für</strong>?“<br />

Die Hände von <strong>Neulati</strong> flogen hoch wie Kastenteufel! „Ewig durch den Keller Appis - ziemlich<br />

umständlich <strong>für</strong> uns“, meinte Stitz und grinste leise. „Trotzdem: Danke, ihr verflixten Demokraten!“<br />

„Könnt ja notfalls Champignons drin züchten“, riet ihm Marabu und holte den Strahl von dem<br />

Steindeckel runter; wir gingen wieder an das Büdchenloch zurück.<br />

„Es ist jetzt kurz nach vier“, bemerkte Stitz und blinzelte bedächtig durch den schwarzen Rahmen des<br />

Einstiegloches in die hellbelaubten Buchen rauf. „Wir sind zu zehn Personen hier; wenn wir alle zehn<br />

beim Büdchenverschütten jetzt mithelfen, ist das in 'ner Viertelstunde fertig.“<br />

„Stitz,<br />

du alter Spitz,<br />

das ist ein herrlicher Gedankenblitz!“<br />

rief der Chronist und freute sich, dass ihm der Name Stitz 'ne Serie von neuen Reimen anbot.<br />

„Raus hier, Leute, und dann schütten wir's gemeinsam zu!“<br />

Wir klommen nacheinander alle zehn ins Büdchen rauf; Goggo deckte sorgsam Brett und Zweigschicht<br />

übers Loch, und dann ging zwischen Trichter und Büdchen ein Furioso los! Je zwei Träger hängten einen<br />

Eimer zwischen sich, zwei weitere den Blechkanister, und dann jagten diese drei Gefäße unentwegt<br />

gefüllt die Gasse rauf und leer wieder runter; unten schippten drei Mann ständig Trichterlehm hinein, und<br />

der zehnte, nämlich Goggo, stand im Büdchenloch und trampelte das Reingekippte fest. Manchmal<br />

schnappte Stitz sich ganz allein den Blechkanister, hievte ihn sich vor die Lederhose wie einen<br />

Bauchladen und stampfte damit die Gasse hinauf; der Kerl hatte Kraft wie ein Boxer.<br />

Eine halbe Stunde später war der Trichter leer wie vor der Gründung von <strong>Neulati</strong> und das Büdchen noch<br />

erkennbar als ein Viereck frischen Lehmes zwischen den Stämmchen der nach wie vor grünenden<br />

Buchen; bloß die Gasse stand Spalier mit nackten Stämmchen, deren Ästestummel nicht zu reparieren<br />

waren.<br />

Stitz Schlosser kam in den Trichter herab wie ein Seebär über den Landesteg; er klatschte von schräg<br />

oben und schräg unten in die Hände, dass die trägen Wolken Lehmstaub nur so aus den Fingern<br />

sprudelten.<br />

„Hoffen wir, dass Appis Deckel jetzt auf Seite geht“, erklärte er, „sonst ist der Gang auf ewig zu, und wir<br />

sind ausgesperrt!“<br />

Knabe steckte sich das langentbehrte Blasrohr in die Lippen wie ein Nikotinsüchtiger seine Zigarette und<br />

beschoss die sechs Teichsträßer mit heimtückisch flitzenden Beeren - da krachten schwere Stiefel durch<br />

das Unterholz, und unser Flurschütz stand am Trichterrand!<br />

„Donnerwetter, großer Andrang!“ stellte er fest und überflog den Trichter, aus dem wir zehn jetzt sehr<br />

verlegen aufblickten. „Aber wie ich sehe, habt ihr sauber geschuftet, ihr Flegel!“<br />

Er stiefelte ans Büdchen rauf und trampelte zufrieden brummend auf dem Lehm herum; doch indes er<br />

uns den Rücken kehrte, zog sich Knabe hastig eine Streichholzschachtel aus der Tasche, schob sie auf<br />

und entnahm ihr mit verschmitztem Grinsen eine seiner Stecknadelraketen; er stopfte sie ins Blasrohr<br />

und umschloss es mit unauffällig hinabhängender Hand.<br />

Der Flurschütz kam herabgestiefelt. „Prima“, sagte er und sah uns offen an. „Also, Jungs, nun raus mit<br />

euch! Ich seh' euch keinmal mehr von jetzt ab in der Schonung. Ist das klar?“<br />

„Jawohl“, erklärte fest und deutlich Stitz; <strong>Neulati</strong> nickte. Dann wandte sich der Kerl und wollte gerade<br />

ins Dickicht verschwinden, da riss sich Knabe sein Geschütz zum Mund und ließ dem abgehenden<br />

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Hünen die Rakete messerscharf von hinten in den Aufbau seines Hutes sausen! Sie steckte in dem grünen<br />

Filz wie eine Ziernadel in einem Damenhut: Wir hielten uns den Mund und prusteten vor Lachen durch<br />

die Finger. Der Grünbejoppte merkte nichts und stiefelte davon.<br />

„Glückwunsch!“ sagte Stitz lakonisch und nickte Knabe grinsend zu; dann rafften wir unsere<br />

Buddelgeräte zusammen und stapften aus der Dickung hinaus.<br />

Am Teiche hatte sich der Volksauflauf verzogen: Eine Mondlandschaft von Fußabdrücken in dem nassen<br />

Lehm am Ufer zeugte bloß noch von der Menschenmenge. Stitz hob sich die eine Leiterhälfte mit<br />

süßsäuerlicher Miene auf die Schulter; seine Trabanten beluden sich mit der anderen, die die Feuerwehr<br />

an Land geangelt hatte. „Also tschüß dann!“ sagte er und drückte <strong>Neulati</strong> die Hand. „Wenn ihr<br />

Langeweile habt, kommt in die Teichstraße und pfeift auf den Fingern; von uns sind immer ein paar frei<br />

und spielen gerne was mit euch, Fußball oder was ihr wollt.“<br />

Dann zockelte er ab mit seiner Bande: Riese zwischen Zwergen, mit der Leiter auf der Schulter wie der<br />

Mann im Mond mit seinem Bündel, und wir guckten ihm noch lange nach...<br />

6. September<br />

Heute Nachmittag kam Marabu per Rad vorbeigefahren, Turnschuhe auf dem Gepäckträger: Er kam<br />

geradeswegs vom Stadion, wo Leichtathletik-Training war, und pfiff unterm Zimmer des<br />

Geschichtsschreibers; der sprang an das Fenster. „Na, du Sportminister“, rief er runter und legte sich mit<br />

den Ellenbogen in den Sonnenschein der Fensterbank, „hast du endlich mal 'nen Weltrekord gebrochen?“<br />

„Beinah!“ brüllte Marabu. „Es ist ein neulatischer Landesrekord geworden: 400 m in 71 Sekunden!“ Der<br />

Chronist war ziemlich neidisch - das war <strong>für</strong> 'nen Zwölfjährigen eine saubere Zeit!<br />

„Stitz war auch dabei!“ rief Marabu. „Er lief so nebenbei in Fußballschuhen mit, der Kerl ging ab wie ein<br />

Windhund, mit 68 Sekunden! Das ist 'ne phantastische Zeit, aber Stitz hat das gar nichts gemacht, er<br />

pustete ein bisschen und ging wieder Fußball spielen. Ich bin von den 71 aber schwer erschossen! Hab'<br />

ihn auch gefragt, wie's mit der Leiter steht.“<br />

„Und was sagt er?“ forschte der Chronist.<br />

„Er sagte, ziemlich miese! Hat von seinem Vater schwer den Hintern vollgekriegt!“<br />

„Was?! Womit?“ rief der Chronist und versuchte, sich mal vorzustellen, wie das aussieht, wenn man<br />

Stitz den Hintern haut.<br />

„Das hat der Stitz mir nicht verraten“, grinste Marabu, „er sagte bloß, er hätte nicht gebrüllt. Vater hat<br />

ihm dann vier Mark geliehen, dass er die zwei Balken kaufen kann; aber wenn ihm Stitz das Geld nicht<br />

in drei Tagen wiederbringt, gibt's 'ne Neuauflage von der Dresche. Stitz will hoffen, dass wir die vier<br />

Mark bis dann zusammen haben.“<br />

„Ehrensache!“ sagte der Chronist. „Morgen in der Schule bringen wir das Zeug zusammen; Stitz kriegt<br />

schließlich nicht so'n Taschengeld wie wir.“<br />

„Gar keins kriegt er!“ bekräftigte Marabu. „Bloß, wenn er beim Fußballspiel ein Tor schießt, gibt sein<br />

Vater ihm da<strong>für</strong> 'nen Preis von 50 Pfennig. Aber weil der Stitz jetzt meistens Mittelläufer spielt, kann er<br />

keine Tore schießen, ohne seinen Posten zu verlassen. Also dann bis morgen, Dichter! Wollte dir's nur<br />

melden <strong>für</strong> die Chronik. Tschüß und Heil <strong>Neulati</strong>!“<br />

„Heil <strong>Neulati</strong>!“<br />

Eine Fahrradkette surrte, und ein Fenster klappte zu. Sehr viele Schularbeiten. Morgen weiter!<br />

7. September<br />

Wir steh'n in der Zeitung! Das heißt, nicht wir, aber die Explosion unserer Bombe. Die ganze Stadt steht<br />

kopf, und keiner weiß, dass wir's gewesen sind. <strong>Neulati</strong> könnte Stadtgespräch im Laufe von- zwei<br />

Stunden sein. Aber das Geheimnis zu behalten, ist ein noch viel schöneres Gefühl!<br />

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„Kleb doch den Artikel in die Chronik!“ schlug heut auf dem Schulhof Goggo vor. „Ist zwar stures<br />

Journalistendeutsch, aber immerhin ein Dokument.“ Toll, wie Goggo über so was urteilt! Und so<br />

quetscht jetzt der Chronist den Rest der Uhu-Tube auf die leere Seite, legt den Zeitungsausschnitt sauber<br />

drauf, setzt sich feste auf das zugeklappte Heft, und nach zwei Minuten steht es da:<br />

Blindgänger im Engelwald krepiert<br />

In den Nachmittagsstunden des gestrigen Tages erlebten die Einwohner der Teichstraße und<br />

umliegenden Straßen einen heillosen Schrecken, als ein Bombenblindgänger, der seit der<br />

Kriegszeit auf dem Grund des Weihers im Engelwald gelegen haben muss, aus ungeklärten<br />

Ursachen detonierte. Die Wucht der Explosion schleuderte eine mächtige Wassersäule empor<br />

und höhlte den Boden des Teiches beträchtlich aus. Menschen kamen dabei nicht zu Schaden.<br />

Ein hinzugezogener Feuerwerker stellte aufgrund von im Teichschlamm aufgefundenen<br />

Splittern der Bombe fest, dass es sich um eine Fünfzentnerbombe gehandelt haben muss, wie<br />

sie namentlich im Sommer 1943 von Moskito-Bombern über unserer Stadt abgeworfen wurden.<br />

Dieser Vorfall gibt erneuten Anlass zu der Warnung, dass besonders Eltern ihre Kinder über<br />

die große Gefährlichkeit dieser Sprengkörper aufzuklären haben.<br />

Also alte Kamellen <strong>für</strong> den Staat <strong>Neulati</strong>! Wir wissen es besser. In der Teichstraße ist übrigens die<br />

Schaufensterscheibe eines Feinkostgeschäftes vom Luftdruck zersplittert und in tausend Stücken über die<br />

Nüsse und Nudeln im Fenster gerasselt, und das stand ja schließlich nicht mit im Programm. Aber haben<br />

wir die Bombe denn mit Absicht hochgejagt?<br />

Komisch, wenn man sich mal überlegt, dass wir beinah selbst in Fetzen jetzt im Engelwalde lägen! Aber<br />

kaum, dass dieser Knall vorbei war und die Angst uns nicht mehr schüttelte, war die Welt so seltsam klar<br />

und friedlich. Keiner weiß genau, wieso.<br />

Goggo ist zum Beispiel wütend, weil das alles so von selber ging. „War das neulich denn ein<br />

Friedensschluss?“ trompetete er heute auf dem Schulhof. „War das ein Friedensvertrag oder so was?<br />

Ging ja alles viel zu pflaumenweich und leise weinend; das ist keine staatliche Abmachung, Bürger! Wir<br />

setzen heut noch einen waschechten Friedensvertrag aufs Papier, und Stitz wird unterschreiben mit allen<br />

Schikanen; wo bleibt sonst die Diplomatie?“<br />

„Fabelhaft!“ rief der Chronist. „Und auf dem gleichen Blatt auch noch einen Nichtangriffspakt, <strong>für</strong><br />

mindestens ein halbes Jahr!“<br />

„Und da drunter kommt das Wappen von <strong>Neulati</strong>!“ brüllte Marabu und schoss eine Fontäne<br />

Kranenwasser aus der Mitte unsres Kreises in die Luft. „Mann, wir müssen eine Fahne haben!“<br />

Das Wasser klatschte vor uns in den Schulhofstaub und kollerte wie sandbeklebtes Quecksilber; Goggo<br />

kratzte sich am Kinn.<br />

„Stimmt ja!“ rief er dann. „Wir brauchen eine Fahne! Staat und ohne Fahne ist ja glatt unmöglich!<br />

Marabu, du kannst am besten malen, heute Nachmittag setzt du dich hin und machst den Entwurf.<br />

Kommst dann gegen fünf zu uns und zeigst ihn vor!“<br />

„Und wie ist das mit 'ner Hymne?“ fragte Knabe und zog die Luft mit einem Seufzer durch das Blasrohr,<br />

das ihm zigarettenartig von der Lippe hing. „Braucht ein Staat nicht auch ein Nationallied, Goggo, oder<br />

wie ist das?“<br />

„Natürlich!“ schrie Goggo. „Sofort! Der Chronist muss eins dichten! Der Kerl kann ja reimen wie<br />

Uhland, da hat er mal endlich 'ne Aufgabe!“<br />

„Und auf welche Melodie?“ rief Marabu; wir guckten uns betroffen an. Bloß <strong>für</strong> Goggo war das kein<br />

Problem: „Knabe spielt doch jahrelang Klavier“, posaunte er, „der kann doch Noten schreiben! Also,<br />

Knabe, heute Nachmittag um fünf bei mir, mit fertig aufgeschriebener Melodie!“<br />

„Pustekuchen!“ grinste Knabe und visierte den laut deklamierenden Goggo überlegen durch sein<br />

Blasrohr an. „Erst mal muss der Text doch da sein, dann erst kann ich ihn vertonen.“<br />

Goggo ließ sich dadurch gar nicht bremsen. „Also gut!“ spektakelte er in ungebrochener Organisierwut.<br />

„Dann stellt sich der Chronist um fünf mit seinen Versen vor, und um halb sechs kommt Knabe sie sich<br />

holen. Morgen vor der ersten Stunde ist die Hymne fertig komponiert. Jedenfalls: Heut Nachmittag um<br />

fünf bei uns!“<br />

Wir hopsten nach Hause, von Goggos Schwung und Feuer angesteckt. Und sofort nach Mittag dann<br />

entfaltete sich in den verschiedenen Quartieren des Staates <strong>Neulati</strong> eine begeisterte Aktivität: Der<br />

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Geschichtsschreiber rutschte reimebrummelnd, mit dem Bleistift zwischen den Zähnen, auf dem Stuhl<br />

herum; Marabu stibitzte sich aus der Wäschekommode ein schwanenweißes Taschentuch, spannte es mit<br />

Heftzwecken an die Zimmertür, kramte seinen Malkasten raus, benutzte den Pinsel als Zahnstocher, um<br />

ihn nass zu machen, und begann das Tüchlein buntzupinseln. Goggo aber malte bedächtig mit<br />

breitschnäuziger Zierschriftfeder und vor Konzentration zwischen die Lippen geklemmter Zunge große<br />

Zierbuchstaben auf das Urkundenblatt. Bloß Knabe - der Chronist macht jede Wette - saß im Garten<br />

hinter seinem Haus und spickte, statt Klavier zu üben, irgendeinen Kirschbaumstamm mit haargenau<br />

treffenden Blasrohrraketen.<br />

Punkt um fünfe jaulte dann das Gartentörchen vor der Villa Goggos; Marabu war es, der eintrat und<br />

grinste, weil hinter dem Haus, aus dem Garten her, Goggos nimmermüde Stimme wieder mal am<br />

Schwadronieren war: Goggo lag auf dem Bauch unter einer Art von Zelt aus Wolldecken, die er<br />

zwischen zwei Obstbäumen über einen straff gespannten Strick geworfen hatte. Neben ihm lag der<br />

Chronist auf dem Rücken und studierte ergeben die Zeltdecke. Goggo aber hieb mit dem Handrücken auf<br />

das Gedicht ein, das aufgeschrieben vor ihm lag, und schimpfte: „Ist doch ganz unmöglich! Muss<br />

geändert werden, Musensohn!“<br />

„Kühl dich ab!“ unterbrach ihn der herantretende Marabu und netzte Goggos flatternde Frisur mit<br />

frischen Strählchen aus der Spritzpistole. „Lies mal vor, was hat er denn verbrochen?“<br />

„Schauderbares Kinderdeutsch!“ schrie Goggo. „Hör dir's an, du Känguruh:<br />

<strong>Neulati</strong> herrscht im Engelwald<br />

Mit demokratischer Gewalt<br />

Und notfalls Klopperei;<br />

Denn wem <strong>Neulati</strong> nicht behagt,<br />

Und wer uns anzugreifen wagt,<br />

Den schlagen wir zu Brei!<br />

Chronist und Knabe, Marabu<br />

Und Goggo ebenfalls dazu,<br />

Die schlagen euch zu Brei, Juchhei,<br />

Die schlagen euch zu Brei!“<br />

„Mensch du, das ist doch ein schmissiger Song!“ brüllte Marabu. „Was willst du denn, du Gockelgoggo?<br />

Den kann man ja singen, bevor er komponiert ist.“<br />

„Grölen meinst du!“ wetterte Goggo. „Das ist ein Landsknechtschlager, aber keine Hymne. Wir wollen<br />

doch nicht ewig bloß ein Kriegslied haben.“<br />

„Ich will dir mal was sagen, Goggo“, lachte Marabu, „sobald <strong>Neulati</strong> keinen Krieg mehr macht, egal mit<br />

wem, wo<strong>für</strong> ist dann <strong>Neulati</strong> denn noch da?“<br />

Goggo pustete entrüstet in die Luft, stützte seine Backen in die Hände, guckte gemartert von unten zu<br />

Marabu rauf und stöhnte: „Zum Politikmachen natürlich! Im Krieg macht man Feldzüge und im Frieden<br />

Politik. Bis jetzt haben wir hauptsächlich Krieg gemacht, jetzt fängt die Diplomatie an. Zum Beispiel<br />

schon heute der Friedensvertrag mit der Teichstraße; wartet, ich hol' ihn mal.“<br />

Und Goggo wälzte sich aus dem Zelt und verschwand im Hause, war aber bald wieder bei uns und<br />

schwenkte die Urkunde.<br />

„Lies mal vor, den Mist“, gähnte der Chronist und klappte unter seinem schwülen Zelt die Augen zu, so<br />

dass ihm Goggos Stimme wie ein fernes Plätschern leise in den Schädel rann:<br />

„Der demokratische Freistaat <strong>Neulati</strong> schließt hiermit Waffenstillstand und Frieden mit der Diktatur der<br />

Teichstraße, das heißt mit Stitz Schlosser. Der Friede gilt <strong>für</strong> ein halbes Jahr und läuft infolgedessen am<br />

5. März des folgenden Jahres ab, kann jedoch alsbald nach Wunsch verlängert werden. Gleichzeitig<br />

übergibt <strong>Neulati</strong> das westlich des Teiches gelegene Ende des Stollens der Teichstraße als Geschenk,<br />

behält aber selber als Eigentum das andere Ende samt dem Eingang im Engelwald.<br />

Gegeben zu <strong>Neulati</strong>, den 7. September, 3 Uhr nachmittags:<br />

Goggo.<br />

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„Und jetzt müsst auch ihr noch eure Namen drunterkrakeln, denn in einer Demokratie haben alle gleiches<br />

Gewicht; und dann geh’n wir gleich zu Stitz und lassen auch ihn unterzeichnen. Seid ihr einig?“<br />

„Glasklarer Stil“, sagte der Chronist mit geschlossenen Augen. „Aber ich <strong>für</strong>chte, jetzt wird das<br />

neulatische Staatsleben ein stinklangweiliger Grießmehlpudding: Keine Kriege, keine Orden, keine<br />

Kloppereien mehr, nicht mal mehr 'ne Bombenexplosion! Ich hätte Lust, gleich anschließend jemand<br />

anderem den Krieg zu erklären!“<br />

„Können wir ja“, sagte Goggo und rollte die Urkunde auf, „aber wem denn, du Dichter?“<br />

„Den Paukern“, schlug Marabu vor; das sollte ein Witz sein. Dann prasselte plötzlich eine<br />

Begrüßungssalve aus Ebereschenbeeren in das Zelt und weckte den Chronisten auf, und Knabe kam<br />

gemächlich in den Hof spaziert. „Na, wie ist es, Hymne fertig?“ fragte er und ließ sich nieder, mit dem<br />

Rücken gegen einen Obstbaumstamm, die Beine lässig weggestreckt ins Gras.<br />

„Fertig, aber wie!“ rief Goggo und fiel in die laute Empörung zurück. „Schauerliches Machwerk draus<br />

geworden; und das findet Marabu noch gut!“ Und er las sie laut und trocken und zum zweiten Male vor.<br />

„Mensch“, rief Knabe, „gratuliere, alter Tintenfisch! Ist nicht übel, dieser Text! Singt sich fast von<br />

selber, gib ihn her! Werden wir vertonen, dass die Häuser wackeln.“<br />

Goggo war völlig erschlagen. Er biss im wahrsten Sinne des Wortes ins Gras und röchelte gebrochen:<br />

„Also Abstimmung: Wer ist da<strong>für</strong>, dass dieser grauenhafte Gassenhauer allen Ernstes unser Nationallied<br />

wird?“ Knabe, Marabu und der Chronist hoben die Hand. Goggo schnappte nach Luft wie ein<br />

todgeweihter Frosch; Knabe stopfte sich das Textblatt strahlend in die Lederhose. Goggo wälzte sich<br />

unwillig schnaufend auf den Rücken und fuhr fort: „Also dann mal jetzt das Banner! Marabu, du hast es<br />

fertig?“<br />

Marabu zückte mit Künstlerbewusstsein das verboten kolorierte Taschentuch. Er breitete es auf die<br />

haarige Fläche der Zeltdecke und fing an: „Zunächst mal hab' ich dieses Tuch in vier Quadrate aufgeteilt,<br />

als Symbol, dass unser Staat ja aus vier Mann besteht.“<br />

„Hm!“ grunzte Goggo und sah unter halboffenen Lidern weg auf Marabu. „Nicht übel! Und wie weiter?“<br />

„Weiter hab' ich in die Mitte groß das Ordenskreuz <strong>Neulati</strong>s reingesetzt, damit die Fahne nicht nur aus<br />

den vier Quadraten bestehen soll; das Kreuz wird gelb. Und die vier Quadrate, die jetzt alle von dem<br />

Kreuz zur Hälfte überdeckt sind, haben jedes eine andre Farbe: Hier oben das dunkelblaue, das ist der<br />

Chronist, wegen der Tinte, die er braucht und die ja blau ist. Das schwarze hier ist Goggo, weil er<br />

schwarze Haare hat und immer schwarzsieht.“<br />

Ein Gekicher gluckerte durch den Garten. Goggo klappte mitleidsvoll die Augen zu und lächelte<br />

verächtlich vor sich hin. Marabu aber fuhr fort im Erklären: „Das rote hier, das bin ich selber: nämlich,<br />

Rot ist meine Lieblingsfarbe...“ - „Meine auch!“ warf Knabe ein. „Tut mir leid“, erklärte Marabu, „aber<br />

zwei Quadrate rot, das wird zuviel! Für Knabe hab' ich also weiß genommen, weil er erstens so 'ne weiße<br />

Stirne hat, und“ - hier grinste Marabu schon vorher- „zweitens wegen seiner großen Weisheit!“<br />

Goggo kugelte sich vor Lachen im Gras herum, der Chronist riss vor Vergnügen das Zelt ein, Marabu<br />

schoss auf Knabe seine Spritzpistole leer und Knabe auf den Wappenmaler sein ergrimmtes Pusterohr!<br />

„Menschenskind, das ist die originellste Fahne der Welt!“ brüllte Goggo. „Marabu, du bist ein<br />

Taufrosch! Abstimmung: Wer lehnt das Wappen ab?“<br />

Keiner lehnte diese witzige Standarte ab, und so muss sie der Chronist nun sauber auch in diese Chronik<br />

pinseln. Hier ist sie:<br />

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Dann brachen wir auf mit den Rädern und fuhren zur Teichstraße. Wir brausten mit unbändigem<br />

Geklingel die Straße hinunter. Hubba sah uns, rannte nebenher, Stitz sprang aus der Türe und begrüßte<br />

uns mit Händedruck.<br />

„Also Stitz,<br />

du blökendes Kitz,<br />

nun erzähl uns mal 'nen Witz!“ reimte selbstgefällig der Chronist.<br />

„Leider keine Witze zu erzählen“, eröffnete Stitz. „Leiter hab' ich fertig, aber Vater will bis morgen die<br />

vier Mark: andernfalls gibt's Dresche.“<br />

„Reg dich ab“, riet Goggo väterlich. „Heute hat <strong>Neulati</strong> in der Schule die vier Mark zusammengelegt.<br />

Also halt die Hand auf, Langer!“ Und er wühlte sich das Geld bedächtig aus der Tasche; Stitz bekam die<br />

Münzen in die Hand gedrückt und guckte uns warm in die Augen, der alte Diktator.<br />

„Nichts zu danken!“ sagte Goggo gönnerhaft, im Vollgefühl der Würde unseres Staates. „Und nun<br />

machen wir den Friedensabschluss!“<br />

Feierlich entrollte er den Bogen an der Hauswand, und Stitz Schlosser las die großen Tuschbuchstaben<br />

langsam und ein bisschen amüsiert:<br />

„Mensch, warum denn den Tamtam?“ fragte er freundlich. „Sicher unterschreib' ich das! Aber wenn ich's<br />

mündlich sagte, wär' es ganz genauso sicher. Wer hat das denn bloß aufgesetzt von euch? Das ist ja ein<br />

Stil wie in Büchern.“<br />

„Ich, im Namen von <strong>Neulati</strong>!“ tat sich Goggo wichtig.<br />

„Gratuliere“, sagte Stitz. „Hat jetzt einer was zum Schreiben da?“<br />

Der Chronist enthülste seinen Füller, und Stitz Schlosser setzte groß und wuchtig seinen Namen unter<br />

das Dokument. Er schrieb dabei auf Hubbas Rücken, der gebückt die Hände auf die Knie stemmte, ein<br />

lebendiges Schreibpult. Stitz verschraubte stolz den Füller, streckte ihn dem Geschichtsschreiber hin und<br />

fragte: „Wie ist das eigentlich mit nächstem Sonntag? Habt ihr da was vor oder Schulsachen auf?“<br />

„Nein!“ rief der Chronist. „Von Samstag auf Montag haben wir offiziell aufgabenfrei, das ist das einzig<br />

Gute an der ganzen Penne, wo wir drauf sind. Also wären wir verfügbar. Hattest du denn da was vor?“<br />

„Allerdings!“ erklärte Stitz und lehnte sich mit forsch verschränkten Armen an die Mauer. „Nämlich,<br />

dieses Wochenende hab' ich spielfrei; unsre Schüler spielen nicht. Und da dacht' ich dann an eine<br />

Radtour! Nur so eine Nacht mal zelten, wo so schönes Wetter ist! Etwa an die Seenplatte fahren, wäre<br />

gar kein schlechtes Wochenende. Und mein Alter wird's erlauben, wenn ich ihm das Geld ersetze, das ihr<br />

mir ja grad gegeben habt. Wir fahren natürlich zusammen, <strong>Neulati</strong> und Teichstraße, alle zehn Mann!“<br />

„Also sozusagen Teichlati“, witzelte der Chronist. „Das ist 'ne Prachtidee, du alter Despot! Abstimmung,<br />

Leute: Machen wir mit?“<br />

Natürlich machten wir!<br />

„Habt ihr denn auch schon 'ne Fahne?“ fragte Marabu.<br />

„Fahne?“ furchte sich die Stirne Stitzens. „Nee. Habt ihr denn eine?“<br />

„Klar“, rief Marabu und schwenkte prahlend sein Gemälde. „Na, wie sieht das aus, Diktator? Morgen<br />

kommt das bunt in Tusche auf ein neues Taschentuch, damit's bei Regen nicht noch auseinander läuft.<br />

Wie find'st du das?“<br />

„Prima“, sagte Stitz begeistert. „Mensch, wir müssten auch so'n Wimpel haben! Darauf könnt' ich meine<br />

Leute dann Gehorsam schwören lassen.“<br />

„Typisch Diktatur“, bemerkte Knabe. „Aber überlegen wir doch mal! Welche Sachen könnten denn<br />

symbolisch <strong>für</strong> euch Teicher sein?“<br />

„Zunächst der Teich mal selber!“ brüllte Marabu und spielte seine malerische Phantasie aus. „Also<br />

einfach einen nach unten gerundeten Halbkreis, der blau ist. Wasser nämlich ist auf Wappen immer blau.<br />

Und darüber als Symbol <strong>für</strong> den Diktator Stitz, der alles hier am Teich beherrscht - was nehmen wir denn<br />

da?“<br />

„Eine aufgehende Sonne!“ triumphierte der Chronist. „Das heißt, einen roten, nach oben gewölbten<br />

Halbkreis, und das Ganze in der Mitte eines grünen Dreieckwimpels, weil der grüne Engelwald den<br />

Teich umgibt! Fertig ist die Teichstandarte!“<br />

Der Chronist setzt also nun auch diese Teichstraßen-Flagge in die Chronik. Hier kommt sie:<br />

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„Prima!“ meinte Stitz. „Ich will probieren, ob mir meine Schwester so 'nen Wimpel nähen kann; Edi soll<br />

ihn kolorieren, der ist fabelhaft in Malen. Und am Samstag, wenn wir fahren, soll das Ding an meinem<br />

Lenker flattern, und das eure weht von euren Rädern, und dann ging's doch mit dem Kuckuck, wenn wir<br />

nicht ein wunderbares Wochenende auf die Beine kriegten! Also ran, besorgen wir uns Zelte! Abfahrt<br />

Samstag um halb 3; welcher Treffpunkt?“<br />

„Treffpunkt: Limonadenbude!“ rief begeistert der Chronist!<br />

Und jetzt schmeißt er seinen Füller hin, klappt das dritte Heft der Chronik zu und verschiebt die<br />

Fortsetzung auf Montag. Knabe pfeift schon unten auf der Straße seine frischgemachte Melodie der<br />

Hymne, und der Teufel soll das Chronikschreiben holen, wenn wir morgen durch die Felder fahren und<br />

sie singen, bis die Vögel aus den Wolken fallen! Ende der Eintragung.<br />

-SENSE –<br />

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