QUILT - Ausgabe 2007 - Münchner Aids-Hilfe eV
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„Wie das halt so läuft“ − Mario H. (35) hat eine extreme Drogenvergangenheit.<br />
Jetzt ist er Auszubildender der <strong>Münchner</strong> <strong>Aids</strong>-<strong>Hilfe</strong> und schmiedet Pläne.<br />
135 Kilometer liegen zwischen München und Bad Reichenhall, dem<br />
beliebten oberbayerischen Urlaubsort am Fuße des Predigtstuhls.<br />
Auf der Homepage lockt die Gemeinde ihre Gäste mit den Worten: „Inmitten<br />
herrlicher Natur, umgeben von den Bergen der Alpen, erleben<br />
Sie eine Mischung aus Natur, Gesundheit und Kultur. Bekannt durch<br />
das Salz, gehört Bad Reichenhall heute zu den beliebtesten Kur- und<br />
Urlaubszielen in Bayern. Das noble Ambiente und die mondäne Weltoffenheit<br />
in alpiner Landschaft bilden den eigentlichen Wesenszug<br />
Bad Reichenhalls.“ Vor 35 Jahren ist in dieser Idylle Mario H. zur Welt<br />
gekommen und aufgewachsen. Jetzt erzählt er an einem sonnigen<br />
Septembertag mit weiß-blauem Himmel in den Räumen der <strong>Münchner</strong><br />
<strong>Aids</strong>-<strong>Hilfe</strong> unweit des Goetheplatzes in anderthalb Stunden seine<br />
Lebensgeschichte. Draußen ist München im Wiesnfieber, noch zwei<br />
Tage bis zum legendären „Ozapft is“. Am Ende werden 6,7 Millionen<br />
Liter Bier durch durstige Kehlen gespült worden sein. Mario, den die<br />
leitenden MitarbeiterInnen der <strong>Münchner</strong> <strong>Aids</strong>-<strong>Hilfe</strong> auch liebevoll<br />
ihren „Vorzeige-Azubi“ nennen, gießt sich Tee ein. Von eher kleiner,<br />
muskulöser Statur ist er. Ein sportlicher Typ, gekleidet in Jeans und<br />
T-Shirt mit sympathischen, strahlend blauen Augen. Das einzig Auffällige<br />
an ihm sind die bunten Turnschuhe und mehrere Tätowierungen.<br />
Auf seinem Oberarm ist in Großbuchstaben der Name seines Sohnes<br />
zu lesen. Der ist heute fast neun Jahre alt und stolz auf seinen Papa.<br />
Doch der Reihe nach erzählt.<br />
Marios Lebensgeschichte beginnt mit einer recht beschaulichen<br />
Kindheit in Bad Reichenhall in den siebziger Jahren. Die Mutter, die<br />
in der Gastronomie tätig ist und oft 14 Stunden am Tag arbeitet, ist<br />
fürsorglich und versucht, es ihrem Buben an nichts fehlen zu lassen.<br />
Soweit das eben bei diesem Arbeitspensum geht. Vor allem die Oma<br />
kümmert sich um das Kind, das zwischen Schulzimmer und Fußballplatz<br />
groß wird. Er zeigt spielerisches Talent und Ehrgeiz, und in<br />
der Schule läuft es ganz gut. „Ich hatte eine harmonische Kindheit“,<br />
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meint Mario rückblickend und fügt lachend hinzu: „Ich war ein verwöhntes<br />
Einzelkind.“ Auch ein Scheidungskind. Der Vater hat sich früh<br />
von der Familie verabschiedet. Es gibt keinen Kontakt zwischen Vater<br />
und Sohn. Mario wird ihn im Laufe des Gesprächs nicht mehr erwähnen.<br />
Der Junge wechselt in die Realschule, wo weitere vier Jahre ohne<br />
größere Aufregung vergehen. Als Mario 14 Jahre ist, kommt der erste<br />
große Einschnitt. Oder wie man auch sagen könnte: Sein Leben gerät<br />
langsam und schleichend aus den Fugen. Warum das so ist, kann er<br />
sich auch heute nicht so recht erklären. „Eigentlich hat es weder an<br />
Nestwärme noch an Geld gefehlt. Aber wie es sich später rausstellte,<br />
war es doch nicht das Optimale.“<br />
Langsam beginnt er sich für Mädchen zu interessieren. Für einen<br />
Jungen in diesem Alter nicht gerade untypisch. Aber zunehmend<br />
auch für Alkohol. „Da habe ich mein erstes Bier getrunken.“ Seine Clique<br />
aus gleichaltrigen Schulfreunden organisiert regelmäßig Partys.<br />
Durchfeiern ist angesagt und einen über den Durst trinken. Der Einstieg<br />
in die erste Droge Alkohol klingt so banal wie lapidar. „Wir haben<br />
Feste gefeiert. Und natürlich ist da auch was getrunken worden. So<br />
hat das seinen Gang genommen.“ Mario sieht sich nicht als Einzelfall.<br />
Er habe auch nicht mehr getrunken als die anderen. „Das war damals<br />
bei jedem so.“ Die Jugendlichen in den achtziger Jahren wissen in<br />
Bad Reichenhall nicht so recht, wohin mit sich. Die Gemeinschaft ist<br />
ihnen jedenfalls wichtig, der Zusammenhalt, Spaß haben und feiern.<br />
„Wir haben sogar eine Partyhütte gebaut.“ Und zu allen Gelegenheiten<br />
fließt reichlich der Alkohol. Wer von den Jugendlichen denkt da schon<br />
ans Ausscheren oder vernünftig sein? Noch ist die Grenze zu härteren<br />
Drogen nicht überschritten. Doch zwangsläufig lassen die schulischen<br />
Leistungen bei Mario nach. Innerhalb eines halben Jahres geht<br />
es rapide mit den Noten abwärts. Trotzdem reicht es am Ende für die<br />
Mittlere Reife. „Es wäre aber viel besser gegangen.“ Bis hier ist alles<br />
irgendwie im Lot. Seine Familie ist am Ort angesehen und verfügt<br />
über gute Verbindungen.<br />
Er beginnt gleich nach der Schule 1989 in einer ortsansässigen Autofirma<br />
seine Lehre zum Bürokaufmann. „Wie man es halt so macht.“<br />
Ab hier beginnt der Abwärtsstrudel in der Lebensgeschichte von<br />
Mario sich immer schneller zu drehen. In der Autofirma sind ältere<br />
Lehrlinge und Gesellen, die ihm Drogen anbieten. Und er probiert<br />
davon. Wieder klingt es wie eine Zwangsläufigkeit. Nicht, dass er sein<br />
Verhalten entschuldigen möchte. Er bereut seinen damaligen Drogenkonsum.<br />
Aber für ein Nein hat er zu der Zeit offensichtlich nicht den<br />
Willen. „Als ich das erste Mal Hasch genommen habe, war bei mir die<br />
Hemmschwelle weg. Ich habe dann einfach alles mal ausprobiert. Wie<br />
das halt so abläuft.“ Eine Mischung aus Abenteuer, Neugier, Trotz und<br />
Aufbegehren treibt ihn an. „Als Jugendlicher war ich ein richtiger Revoluzzer.<br />
Ich habe gemeint, dass ich viele Sachen besser weiß.“ Und er<br />
weiß ganz genau, dass er noch längst nicht aufhören will. Der Damm<br />
ist gebrochen, die Hemmschelle überschritten. Eine Drogenkarrriere<br />
nimmt ihren Lauf. Erst Haschisch als Einstieg, dann die Partydroge<br />
Amphetamin, schließlich „die ganzen Palette“. Tagsüber Lehre,<br />
abends Technopartys. „Ich wollte das einfach alles ausprobieren.“<br />
Mit 17 Jahren lernt er „einen Typen aus Nordrhein-Westfalen“ kennen.<br />
Der ist auch auf Drogen und wird sein bester Kumpel. Die Lehre wirft<br />
er nach 14 Monaten hin. Auch intervenierende Gespräche zwischen<br />
Berufsschullehrer und Chef können das nicht verhindern. Mario ist es